Die größten Täuschungen der Geschichte - Johannes Seiffert - E-Book

Die größten Täuschungen der Geschichte E-Book

Johannes Seiffert

2,1

Beschreibung

Johannes Seiffert entführt seine Leser unterhaltsam, spannend und mitunter provokativ ins weite Feld der bewussten Fälschungen und Umdeutungen von historischen Begebenheiten bis hin zur regelrechten Lüge, um die Geschichtsschreibung in eine bestimmte Richtung zu lenken. Anhand von über 30 exemplarischen Fällen entschlüsselt er Mythen und Mythologien von der Regierungszeit Friedrichs II. des Großen über Geheimnisse und Geheimes rund um die Staatengründungen der DDR und der Bundesrepublik bis hin zu aktuellen Ereignissen, wie den Kriegen im Irak, in Afghanistan und anderorts, und bringt so Unwahrheiten, Halbwahrheiten und Irreführungen ans Tageslicht. Johannes Seiffert deckt die Lügen auf, betrachtet kritisch angeblich unumstößliche Tatsachen und analysiert, wie es wirklich gewesen ist. Zeitgeschichte, die sich spannender als jeder Krimi liest!

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Johannes Seiffert

Die größten

Täuschungen

der

Geschichte

edition berolina

eISBN 978-3-95841-530-0

1. Auflage

Alexanderstraße 1

10178 Berlin

Tel. 01805 / 30 99 99

FAX 01805 / 35 35 42

(0,14 € / Min., Mobil max. 0,42 € / Min.)

© 2016 by BEBUG mbH / edition berolina, Berlin

Umschlaggestaltung: BEBUG mbH, Berlin

Umschlagabbildung: Leinwandgemälde von Anton von Werner: Kaiserproklamation in Versailles am 18. Januar 1871 mit Otto von Bismarck (in weißer Uniform)

www.buchredaktion.de

Vorwort

Dass die Welt nicht so ist, wie sie uns auf den ersten Blick erscheint, ist zweitausend Jahre nach Platons Höhlengleichnis fast eine Trivialität. Es dauerte aber andererseits erstaunlich lange, bis die Menschheit verstand, dass die Erde sich beispielsweise um die Sonne dreht und nicht umgekehrt (was man lange Zeit aufgrund des »Augenscheins« »naturgemäß« annahm). Kann man also davon ausgehen, dass es einen Unterschied gibt zwischen Anschein und Sein, zwischen Oberfläche und dem darunter Verborgenen, so eröffnet sich eine weite Wunderwelt, die sich – hat man das Netz an Täuschungen und Trugbildern, an Bluffs und Camouflagen einmal ansatzweise durchstoßen – häufig ganz anders darstellt als zuvor gedacht. Dass das Christentum samt anhängendem Papsttum auf einem großangelegten Lügengebäude basiert, dass »Heldengestalten« wie Luther, Friedrich »der Große« und Bismarck bei näherer Betrachtung ziemlich unschöne Zeitgenossen waren, oder wie im Falle »Wilhelm Tells« gar nicht existierten, vermag manchen zu schockieren. Was es aber nicht sollte! Denn wer sich mit der gebotenen Portion Skepsis daran macht, solche Phänomene kritisch zu hinterfragen, hat mehr vom Leben – außer er zieht eine Existenz in »selbstverschuldeter Unmündigkeit« (Kant) vor. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen bei der Lektüre der folgenden Kapitel viel Vergnügen!

Berlin, Herbst 2016

Johannes Seiffert

Abendland: Jener Teil der Welt, der westlich (bzw. östlich) des Morgenlandes liegt. Größtenteils bewohnt von Christen, einem mächtigen Unterstamm der Hypokriten, dessen wichtigste Gewerbe Mord und Betrug sind, von ihnen gern »Krieg« und »Handel« genannt. Dies sind auch die wichtigsten Gewerbe des Morgenlands.

[Occident, n. The part of the world lying west (or east) of the Orient. It is largely inhabited by Christ­ians, a powerful subtribe of the Hypocrites, whose principal industries are murder and cheating, which they are pleased to call ›war‹ and ›commerce‹. These, also, are the principal industries of the Orient.]

Ambrose Bierce – The Devil’s Dictionary.

Christentum und Katholische Kirche

Ein Papst, der sich Prostituierte zu Dutzenden in den Palast bestellt? Der sie nackt in seinem Schlafzimmer tanzen lässt? Der mit ihnen die perversesten und brutalsten Orgien feiert? Dessen Körper am Ende seines Lebens von Geschlechtskrankheiten und Völlerei zu einer stinkenden unförmigen Fleischmasse angeschwollen ist, dem aber dennoch weiterhin Huren zugeführt werden müssen? Ein Papst, der die eigenen Kinder zu hohen Würdenträgern im Vatikan ernennt? Ein Papst, der an der Spitze eines Söldnerheeres in den Krieg zieht? Ein Papst, der Millionen dafür ausgibt, zusammen mit Geheimdiensten Regierungen und ein gesamtes weltpolitisches Bündnissystem zu stürzen, und der sich dabei auf das zu Zehntausenden zählende Heer der »Geistlichen« vor Ort stützen kann?

Unvorstellbar, meinen Sie? Und doch nur allzu reale Beispiele aus der Geschichte des Christentums während der letzten zwei Jahrtausende. Speziell die Katholische Kirche machte dabei unrühmlich auf sich aufmerksam. Die Päpste standen und stehen einer Institution vor, die auf einem Lügengebäude aufgebaut ist, auf großangelegten Täuschungen, auf gefälschten Dokumenten und »redigierten« Texten in der sogenannten Bibel. Die Figur des historischen Jesus – falls es ihn jemals wirklich gab – ist bis zur Unkenntlichkeit entstellt, seine zentralen Thesen geradezu ins Gegenteil verkehrt worden. Liebe! Demut! Armut! Gerechtigkeit! Solidarität! – Wenn man sich diese urchristlichen Ideale vor Augen führt, wird der eklatante Widerspruch dazu, in dem das institutionalisierte Christentum, in dem die heutige Amtskirche mit dem Papst an der Spitze steht, umso deutlicher. Mit dem Sieg des heidenchristlichen »Apostel« »Paulus« über die judenchristlichen Gemeinschaften in und um Jerusalem hatte diese Entwicklung begonnen, die hin zu einer immer stärkeren Hierarchisierung und Institutionalisierung der Katholischen Kirche führte.

Was wir heute unter diesem Namen vor uns haben, ist eine straff durchorganisierte, weltumspannende, nach wie vor mächtige Kultgemeinschaft, deren führende Mitglieder einer abstrusen Ideologie anhängen, und nicht zuletzt einer völlig verqueren Sexualmoral. Im Namen dieser »katholischen« Sexualmoral (Keuschheit! Körperfeindlichkeit! Zölibat!) verbietet der jeweilige Papst beispielsweise regelmäßig den Gebrauch von Kondomen (weil die Sexualität von der reinen Fortpflanzungsvereinigung hin zu einer lustbetonten Freizeitbeschäftigung verschiebend) selbst in Gegenden mit den höchsten Aids-Raten dieser Welt, sprich: Er macht sich des Völkermordes schuldig.

Wer sich nun die Mühe macht, die historischen Fundamente der Katholischen Kirche und des Papsttums zu ergründen, stößt schnell auf Sackgassen, auf historische Nebelfelder, zu Deutsch: auf heiße Luft, auf Lügen. Gräbt man tief genug, stellt sich heraus, dass für den Katholizismus, das Papsttum, ja, selbst die Figur Jesu Christi keinerlei belastbare historische Fakten vorhanden sind, die ausreichen würden, um sie zweifelsfrei zu legitimieren. Anders ausgedrückt: Kirche, Papsttum und Zentralgestalt basieren offenbar auf historischen Phantasieprodukten, die sich im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende im Denken der Gläubigen und Interessenvertreter zu Tatsachen verdichteten. Aber eben erst im Nachhinein.

Egal ob es sich um die wesentlichen Zutaten des katholischen Glaubens handelt, um die Nomenklatur der Insig­nien und Ämter, oder um die Zentralgestalt Jesu Christi selbst: Nüchtern betrachtet, ist gerade »Jesus« und die um ihn herum erzeugte Amtskirche eine Akkumulation von klassischen antiken Topoi, von damals im Umlauf befindlichen Retter-Klischees wurden in der mutmaßlich fiktiven Figur Jesus die gängigsten damals berühmten Eigenschaften von gottähnlichen mythologischen Gestalten versammelt: von Mithras, Zarathustra, Dionysos und Buddha. Indem man das beste von allen konkurrierenden Kulten übernahm, trachtete der innere Zirkel der Christenkirche (die vatikanische Kurie) danach, alle anderen Religionen aus dem Feld zu schlagen und allein siegreich auf dem Spielfeld zu bleiben. Und es gelang. Spirituell beziehungsweise ideologisch-marketingmäßig durch die Übernahme der bekanntesten Merkmale konkurrierender Kulte, aber auch ganz banal praktisch durch die Überbauung der berühmtesten Kultstätten konkurrierender Bewegungen mit katholischen Kirchen. Indem man bei anderen Kulten raubte und plünderte, requirierte, was passte und zur Überhöhung der eigenen Führergestalt »Jesus« dienen konnte, indem man also frech usurpierte, was andere Kulte eigenständig an Erfolgsrezepten entwickelt hatten, überholte man die übrigen Kulte und setzte sich für anderthalb Jahrtausende nahezu unangefochten an die Spitze der entwickelten Welt.

Das wäre alles im Sinne der Gedankenfreiheit zu tolerieren, hätte es nicht in einer frühen Phase der Kirchengeschichte eine fatale Entscheidung gegeben: den Zölibat für die Priester dieses Kultes einzuführen, die Ehelosigkeit, das Sex-Verbot. Wie es die Logik gebietet und die Erfahrung lehrt, führt ein solcher Zwang naturgemäß zu sexualkriminellen Fehlentwicklungen, Grenzüberschreitungen, Gebotsübertretungen, Missbrauch, Leid und Tod. Homosexualität, Pädophilie und Präferenzstörungen wurden und werden offenbar durch den Zölibat begünstigt beziehungsweise verstärkt. Und gerade die obersten Anführer des Christenkultes namens Katholische Kirche, die Päpste, agierten an führender Stelle dabei als teilweise krankhafte Sex-Maniacs, die für die eigene körperliche Lust vor kaum einem Verbrechen zurückschreckten. Der Begriff Pornokratie, den man als auf das heutige Zeitalter der allgegenwärtigen, kostenlos zugänglichen Pornographie gemünzt glauben könnte, wurde eigens für einen bestimmten Abschnitt der Papstgeschichte geprägt, als die Exzesse überhand nahmen.

Gerade in den letzten Jahren wurden weltweit Missbrauchsfälle im Rahmen der von den Päpsten geleiteten Katholischen Kirche bekannt, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen. Dieses Phänomen ist nicht auf Deutschland beschränkt, sondern in allen Weltregionen aufgetreten, es handelt sich mithin also offenbar um ein strukturelles Problem des Katholischen Kultes. Dieser Faktor lenkt den Blick auf ein gern unterschlagenes, unterdrücktes Element der Kirchengeschichte, der offiziell unterdrückten und verabscheuten Sexualität der Kirchenvertreter von der Basis bis an die Spitze. Es gab aber auch andere Abweichungen von der reinen Lehre, sprich: Fälle, in denen sich Amtsinhaber über die eigentlich mit ihrem Amt verbundenen Enthaltsamkeitsregeln hinwegsetzten und Reichtümer aufhäuften, Kriege führten, Verbrechen begingen oder Verbrechen deckten oder gar initiierten.

Es ist naheliegend anzunehmen, dass der historische Jesus, falls es ihn gegeben haben sollte, der Katholischen Amtskirche, wie sie sich in der Spätantike und im frühen Mittelalter um das Zentrum Rom herum entwickelte, heutzutage in diametraler Gegnerschaft gegenüberstehen würde. Dass er über die nicht zuletzt von den obersten Chefs dieser Bewegung, den Päpsten, in seinem Namen begangenen Verbrechen entsetzt und deprimiert sein würde. Dass er, ähnlich wie damals gegen die Pharisäer, heute unter Einsatz all seiner Kräfte, ja, seines Lebens gegen die in äußerlicher, kalter Pracht erstarrte, einem sinnentleerten Pomp verpflichtete Katholische Kirche kämpfen würde, dass er ihre zu Götzenanbetern degenerierten »Priester« mit der Peitsche aus den »Kirchen« hinausjagen würde. Dass er die in seinem Namen betriebene Bewegung voller Abscheu verdammen würde, dass er ihre Millionenetats, ihren Milliardenbesitz, von denen nur Bruchteile bei den Armen und Bedürftigen ankommen, geißeln, dass er nicht zuletzt Einrichtungen wie die seit dem »Reichskonkordat« 1933 (!) aus dem Haushalt des Verteidigungsministeriums (!) bezahlten Militärbischöfe beider Konfessionen, die den Soldaten bei ihrem mörderischen Tun geistlichen Beistand leisten sollen, als geradezu absurd, als diametral entgegengesetzt zu seinem eigenen Tun, zu seinen eigenen Wirkungsabsichten der Nächstenliebe und des Altruismus empfinden würde.

Kaum ein größerer Gegensatz ist denkbar als zwischen den mutmaßlichen urchristlichen Idealen und beispielsweise den jeweiligen Wahlveranstaltungen zur Neuwahl des obersten Kultbosses, wenn die in kostbare Roben gewandeten »Würdenträger« in prachtvollen Gemächern lustwandeln, in Luxuslimousinen hin- und herkutschiert, von zahllosen Köchen aufwendigst versorgt, von unzähligen »Nonnen« umhegt werden. Sie alle leben auch selbst in Palästen, werden von Bediensteten versorgt, verfügen über prachtvolle Sommerresidenzen (im Falle des Papstes der riesige Palast in Castel Gandolfo östlich von Rom). Wie konnte es so weit kommen? Das Werk des Kirchenhistorikers und Kirchenkritikers Karlheinz Deschner gibt eine Antwort darauf, angefangen von Abermals krähte der Hahn (1958) bis zu seinem Opus magnum, der 2013 abgeschlossenen vielbändigen Kriminalgeschichte desChristentums. Ihm gebührt das Verdienst, diese Sachverhalte umfassend aufgedeckt zu haben.

Auf einer erweiterten Basis kann man die Kritik an der Katholischen Amtskirche aber ausweiten auf das gesamte Christentum, also die größte Religionsgemeinschaft der Erde, mit über zwei Milliarden Gefolgschaftsmitgliedern. Von den Kreuzzügen über die »Eroberung« Nord- und Südamerikas mit dem »Holocaust« an der indianischen Urbevölkerung, über die Kolonialisierung Afrikas und Asiens bis hin zu heutigen Kriegen, die auch – gegen den Islamismus, also für das Christentum – geführt werden: Die Geschichte des Christentums ist eine blutige. Vorzuwerfen ist ihr ein Kult der Gewalt, Korruption, Aberglaube und Scheinheiligkeit.

Schon in frühchristlichen Zeiten wurde solche Kritik laut, etwa in dem Werk Gegen dieChristen (Κατὰ Χριστιανῶν) des neoplatonischen Philosophen Porphyrios (auch Malik genannt). Darin nennt er Argumente, die teilweise heute noch in der Kritik des Christentums eine Rolle spielen. So wandte er sich gegen die Wahrnehmung der Bibel als göttliche Offenbarung und nannte die christliche Lehre »vernunftwidrig«. Er legte dar, dass die allegorische Bibelexegese dem Zweck diene, Widersprüche und Unstimmigkeiten zu vertuschen, die sich bei einem wörtlichen Verständnis ergeben. Zudem kritisierte er die Herangehensweise der Christen, Stellen des Alten Testaments als Prophezeiungen für das künftige Wirken Christi zu deuten, um so die Identität von Christus mit dem »Messias« nachzuweisen. Porphyrios bestritt auch die Behauptung christlicher Autoren, im Buch Daniel sei das Wirken Christi und die Zerstörung des Tempels in Jerusalem angekündigt worden. Zudem arbeitete er die Darstellungsunterschiede der Heilsgeschichte in den vier Evangelien heraus.

Nach der Welle der Kirchenkritik im Zusammenhang mit der Entstehung des Protestantismus war dann das Zeitalter der Aufklärung der erste Höhepunkt der Kritik am christlichen Glauben. Voltaire, David Hume, Thomas Paine und der Baron von Holbach sind hier zu nennen. Sie bestritten vor allem die historische Stichhaltigkeit der Bibel­erzählungen und klagten die verbreitete Korruption innerhalb der christlichen Hierarchien an.

Immanuel Kant formulierte die erste systematische und umfassende Kritik der christlichen Theologie und ­widerlegte dabei die von Kirchenseite vorgebrachten Argumente für die Existenz Gottes. Ähnliches passierte während der Französischen Revolution, als eine neuentstandene Welle des Säkularismus, der Befreiung der Welt von kirchlichen Autoritäten und ihrem Einfluss durch Europa schwappte. Tausende Priester wurden entlassen, Kirchen geschlossen und Kircheneigentum verstaatlicht (das war schon eine der Haupttriebfedern für den Erfolg des Protestantismus unter Luther gewesen, dass er es den beteiligten weltlichen Fürsten ermöglichte, sich an kirchlichen Besitztümern, vor allem den Grundstücken und dem Großgrundbesitz, zu bereichern).

Im 19. Jahrhundert wurde die Kritik des Christentums vor allem von liberalen und linken Philosophen wie John Stuart Mill und Karl Marx getragen, welche die christliche Doktrin als konservativ und antidemokratisch kritisierten. Friedrich Nietzsche formulierte, das Christentum fördere eine Sklavenmentalität und unterdrücke die freie Entwicklung des menschlichen Willens. Die Russische und die Chinesische Revolution sowie weitere revolutionäre Bewegungen der Gegenwart führten zur Befreiung der betroffenen Gegenden von christlichen Organisationen und der christlichen Ideologie.

Im Kern geht es bei der Kritik des Christentums beispielsweise um eine kritische Analyse des Inhalts der Bibel. Seit dem 18. Jahrhundert begannen Wissenschaftler, auf die Bibel dieselben Methoden der kritischen Exegese anzuwenden, die auch auf anderen Gebieten der Geschichtswissenschaft angewandt worden waren. Es lassen sich dabei vier Hauptrichtungen unterscheiden: die Analyse der literarischen Vorläufer für bestimmte Bibelpassagen aus anderen Glaubensrichtungen und Weltgegenden; die Analyse der historischen Situation, in der die Bibeltexte abgefasst wurden; eine Analyse der Methoden, die die Autoren der Bibel anwendeten, um ihre Texte zu verfassen; und schließlich eine Analyse des Wortlauts der Bibel im Hinblick auf Textreinheit und Verständnis.

Ein wesentlicher Punkt der Kritik am Christentum betrifft die nicht eingetroffenen Prophezeiungen. Insbesondere das bereits im Alten Testament angekündigte Eintreffen des Messias hat Auseinandersetzungen hervorgerufen, ob diese durch Jesus erfüllt wurden oder nicht. Wichtig ist dabei, dass die Bibeltexte im Neuen Testament, die dies belegen sollen, häufig an den Wortlaut der Prophezei­ungen ganz offensichtlich angepasst wurden, um eine Übereinstimmung zu erzielen (siehe unten Bibelkritik). Auf besonders intensive Kritik stieß die Verbindung von Katholizismus, Orthodoxie und Protestantismus mit dem Kolonialismus, da sie die Religionen der Kolonisatoren waren und die kirchlichen Organisationen den Kolonialismus lautstark und direkt unterstützten (statt ihn als den Prinzipien der Nächstenliebe etc. widersprechend zu bekämpfen). Ähnliches gilt für die Sklaverei. Sklaverei wird in der Bibel (sowohl im Alten wie im Neuen Testament) mehrfach erwähnt – und nirgendwo problematisiert, die Sklavenhaltung also sanktioniert. Bis in die frühe Neuzeit wurde das als offizielle christliche Position zur Sklaverei akzeptiert und verbreitet. Ab 1452, als Papst Nikolaus V. die erbliche Sklaverei gefangener Muslime guthieß und alle Nichtchristen zu »Feinden Christi« erklärte, intensivierte sich dies noch. Erst im 17. Jahrhundert regte sich – zunächst in den Kreisen der Quäker, Mennoniten und Amischen – Kritik an der Unterstützung der Sklaverei durch die Kirchen. Heutzutage verurteilen alle offiziellen christlichen Glaubensrichtungen die Sklaverei als unvereinbar mit den christlichen Glaubensprinzipien.

Ein dunkles Kapitel betrifft auch das Verhältnis des Christentums zum weiblichen Geschlecht. Von feminis­tischer Seite wird bemängelt, dass es sich um einen männlichen Gott, durchweg männliche Propheten, männliche Priester und männerorientierte Erzählungen in der Bibel handle. Während die urchristliche Gemeinde noch weibliche Priester kannte, wurden diese durch die paulinischen »Reformen« und die späteren Amtskirchen bis zum Aufkommen des Protestantismus aus den Kirchen ausgeschlossen. In der Kirchengeschichte wurden Bewegungen, die eine prominentere Rolle von Frauen in der Kirche vorsahen, einfach als »häretisch« erklärt und bekämpft. Jesus selbst hat in den überlieferten Zeugnissen Frauen durchweg mit Respekt und als gleichberechtigt behandelt.

Christliche Kirchen sind auch für viele Kriege und Massaker verantwortlich, die in ihrem Namen begangen wurden oder die sie unterstützten beziehungsweise als gerechtfertigt verteidigten. Die theoretische Begründung dafür – in der Bibel beziehungsweise in den jesuanischen Worten nicht zu finden – wurde dann in der »Theorie des gerechten Krieges« (bellum iustum) gefunden, die schon frühzeitig entwickelt worden war. Während Jesus selbst Gewaltverzicht predigte und jegliche Gewalt verurteilte, ließ sich das Christentum (als Staatsreligion seit dem 4. Jahrhundert) zur Rechtfertigung nahezu jeden Krieges instrumentalisieren, den ein christlicher Herrscher vom Zaun zu brechen gedachte. Ab dem Konzil von Arles (314 unserer Zeit) kehrte sich das ursprüngliche jesuanische Gewaltverbot sogar ins Gegenteil um, als erstmals Deserteure aus der Armee des Kaisers automatisch aus der Kirche ausgeschlossen wurden. Kirchenführer befanden nun, der Staat habe die Pflicht, Krieg zu führen, wenn er angegriffen wurde, an der militärischen Bestrafung von Häretikern und Barbaren (Ungläubigen) müssten Christen sogar teilnehmen, wollten sie ihrer Mitgliedschaft in der Kirche nicht verlustig gehen. Wenig später wurde der christliche Glaube sogar Aufnahmebedingung für Freiwillige, die in die Armee eintreten wollten. Und schließlich – darauf wurde immer wieder gern verwiesen – belege das Alte Testament, dass Kriege im Namen Gottes und auf Befehl Gottes schon damals geführt worden seien.

Im Mittelalter wurden dann Missionskriege (!) militärisch geführt, um andere Völker oder Volksgruppen dem Christentum zuzuführen. Das blieb dann auch die Haltung der christlichen Kirchen weltweit, die im Zweifelsfall immer für den Krieg plädierten, wenn der Staat, in dem sie angesiedelt waren, ihn begann oder sich verteidigte. Selbst für Hitlers totalitäre Diktatur und seine Angriffskriege gegen die restliche Welt fanden sich Kirchenführer, die das begrüßten und befürworteten (bis hin zu Kardinälen). Auch der Vietnamkrieg der USA fand die Unterstützung hoher amerikanischer Kirchenführer. Im neuen Zeitalter – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – hat die USA als Mittel zum Zweck die Doktrin der »Responsibility to Protect« (R2P) verkündet. Das ist die neue Allzweckwaffe, die allumfassend, jederzeit einsetzbare Begründung, jedes noch so nahe oder entfernte Land mit Krieg zu überziehen. Natürlich im Namen der »Menschenrechte«, von »Demokratie« und »Freiheit« und »Minderheitenschutz«. Dass bei diesen Kriegszügen dann Tausende, häufig sogar Hunderttausende Unschuldiger sterben (Irak, Afghanistan) spielt nicht die geringste Rolle. Willkommen in der Neuen Weltordnung.

Insbesondere die Inquisition, die Verheerungen der Kreuzzüge, Religionskriege (wie der Dreißigjährige Krieg) und ein in kirchlich-christlichen Kreisen über viele Jahrhunderte (teilweise bis heute) verbreiteter Antisemitismus werden als die düstersten Beispiele von Verbrechen im Namen des Christentums aufgelistet. Dazu zählen natürlich auch die vielen kriegführenden Päpste, die Unterstützung der Todesstrafe, die Propagierung körperlicher Bestrafungen, die Unterstützung und Verteidigung der Sklaverei und des weltweiten Kolonialismus im Namen der Mission »Ungläubiger« für die Christenheit, die systematische Gewalt gegen Frauen, die Aufrechterhaltung von Armut, Rassismus und Sexismus. Seit ihrer Erhebung zur Staatsreligion unter Kaiser Konstantin wurde aus der christlichen Minderheitenreligion eine offizielle Institu­tion, dafür wurden sodann die bisher dominanten heidnischen Brauchtümer und Glaubensrichtungen verfolgt und ausgelöscht. Natürlich wird von christlicher Seite vorgebracht, das fehlerhafte Handeln einzelner Christen könne nicht der Religion an sich angelastet werden. Dem steht jedoch die Tatsache entgegen, dass die meisten dieser Untaten von eben den christlichen Anführern ganz offiziell, also im Namen der Religion, gutgeheißen wurden.

Basis des Christentums ist die Bibel, die als schriftgewordenes Wort Gottes gilt und der rechtsverbindliche Aussagekraft zugeschrieben wird. Nichts könnte weiter entfernt von der Wahrheit sein, nichts könnte eine größere Lüge sein. Die Bibel, wie sie heute verbreitet wird, ist eine Schriftensammlung, mit normativer Stellung für Judentum und Christentum. Denn es gibt keine Originalfassung, es gibt keine Ur-Bibel. Was wir haben, sind Dutzende von Fassungen für das Alte und Neue Testament, die ihrerseits wieder auf ältere, verlorene Textfassungen zurückgehen. Alle diese Textfassungen unterscheiden sich und sind in einem Akt der Willkür zu einem bestimmten Zeitpunkt von der Katholischen Kirche beziehungsweise von Luther (für den Protestantismus) in einem bestimmten Wortlaut für endgültig, für kanonisch erklärt worden.

Die heute verwendeten Bibelfassungen setzten sich aus sehr unterschiedlichen Teilen zusammen. So etwa aus der im Lauf der Geschichte des jüdischen Volkes in vorchristlicher Zeit entstandenen Sammlung der dreiteiligen Tanach-Schriften, bestehend aus der Tora, den Propheten­erzählungen und den Schriften. Diese wurde im vorchristlichen Jahrtausend kanonisiert, das heißt, in ihrer Zusammenstellung und in ihrem Wortlaut als verbindlich anerkannt. Das Christentum übernahm in den ersten Jahrhunderten unserer Zeit nach und nach die Schriften des Tanach und stellte sie schließlich in der kanonisch gewordenen zweiteiligen Bibel als Altes Testament dem Neuen Testament mit den im Lauf von mehreren Jahrhunderten entstandenen (und durchweg von Menschen verfassten) Darstellungen des Lebens und der Lehre Christi voran. Später wurde der Kanon, also Einzelteile und Abfolge der biblischen Schriften, noch teilweise modifiziert. Bei der Bibel handelt es sich also – das sei an dieser Stelle nochmals betont – um Menschenwerk, um von Menschen verfasste Schriften, die über den Zeitraum von vielen Hundert Jahren entstanden sind. Die zweitei­lige christliche Bibel ist das heutzutage am häufigsten gedruckte Buch der Welt. Der Islam dagegen bezeichnet die jüdisch-christliche Bibel als Offenbarung Allahs (Gottes), die von christlicher Seite teilweise verfälscht wurde.

Schaut man sich die Details der Entstehungsgeschichte an, so erkennt man, dass hinter allen bekannten Textfassungen der Bibel und ihrer Einzelschriften jeweils mehrere Autoren standen. Eine gemeinsame, verbindliche Textversion ergab sich erst am Ende dieses Traditionsprozesses. Die bis heute gültige Fassung des Neuen Testaments wurde um das Jahr 400 unserer Zeit festgelegt und enthielt 27 griechische Einzelschriften. Sie entstanden vermutlich zwischen 70 und 100 unserer Zeit und sind überwiegend in der damaligen Umgangssprache, der griechischen Koine, geschrieben. Das Neue Testament besteht daher bis heute aus insgesamt acht Textblöcken, mit den vier Evangelien (Matthäusevangelium, Markusevangelium, Lukas­evangelium, Johannesevangelium), der Apostelgeschichte, den drei Briefkonvoluten (Paulusbriefe, Katholische Briefe, Brief an die Hebräer) und der Offenbarung des Johannes. Die meisten christlichen Glaubensrichtungen sind der Überzeugung, dass der Bibeltext direkt von Gott stammt, die Autoren der Bibel daher im Kontakt mit dem Heiligen Geist standen. Auch noch im entwickelten Protestantismus galt (trotz vieler kritischer Ansätze zur katholischen Tradition) lange Zeit die Theorie der Verbal­inspiration, also der direkten göttlichen Textvermittlung für die Bibel. Teilweise wurde der Bibeltext mit Gottes Offenbarung gleichgesetzt und seinem Wortlaut daher eine »Irrtumsfreiheit« zugesprochen. Als Gegenbewegung entstand seit der Aufklärung die historisch-kritische Methode der Theologie.

Für Katholiken verleiht das Lehramt des Papstes, der auch den Bibelkanon endgültig festgelegt habe, der Bibel ihre Autorität als Wort Gottes. Für sie steht die Überwindung der Erbsünde durch das Sühneopfer Christi und die individuellen menschlichen Bemühungen sowie Gottes Gnadenangebot als zentraler Inhalt der Bibel. Für Protestanten ist es einfacher. Für sie gilt im Anschluss an Martin Luther das Gnadengeschenk Jesu Christi ohne jedes eigene Zutun, sprich: Es bedarf keiner zusätzlichen menschlichen Bemühungen. In der Katholischen Kirche ist der Papst die maßgebende Autorität zur Schriftauslegung und wird die kirchliche Tradition als gleichrangig mit der Bibel angesehen. Die Evangelische Kirche lehnt das ab, da beides nicht biblisch begründet sei. Und während die Orthodoxen Kirchen von Beginn an Bibeln in der jeweiligen Landessprache verwendeten, blieb für die Katholische Kirche allein die lateinische (und damit für die meisten Gläubigen unverständliche) Vulgata (Textfassung) maßgebend. Frühe Übersetzzungen der katholischen Bibeln in die Landessprache galten als Häresie und wurden von den kirchlichen Autoritäten verfolgt und bestraft. Erst der Protestantismus führte dann mit der Bibelübersetzung Luthers wieder zu einer Bibelfassung in Landessprache, die nicht von den Autoritäten bestraft wurde (da die Katholische Kirche im Amtsbereich des Protestantismus ihre Autorität verloren hatte). Heutzutage gibt es Gesamtübersetzungen in 511 Sprachen und Teilübersetzungen in 2.650 Sprachen.

Der Koran hat eine Reihe biblischer oder aus der Bibel-Entstehungszeit stammender Geschichten und Lehren übernommen und variiert, die Mohammed wahrscheinlich durch die Vermittlung der Syrischen Kirche kennengelernt hatte. Im Islam heißt die Tora daher Taurat, die Psalmen Zabur und das Evangelium Indschil und gelten als »Heilige Schriften«, die von Gott stammen, aber später von Menschen verändert, teils sogar verfälscht worden seien: Der Anspruch des Korans ist es, die endgültige Offenbarung Allahs wiederzugeben, die alle früheren Offenbarungen ersetzt und ihre Wahrheit wiederherstellt. Viele Bibelstellen werden als Prophezeiung der Ankunft Mohammeds und seiner Berufung zum »Siegel der Propheten« Gottes verstanden. Besonders Abraham, der »Freund Gottes«, ist für den Koran Vorbild des wahren Gläubigen. Ihm wurde auch im Koran ein Sohn verheißen, den er opfern sollte (Sure 37,99 – 113). Dabei beziehen Muslime diese Geschichte auf Ismael, den von der Magd Hagar geborenen ältesten Sohn Abrahams, der als Stammvater der Araber gilt. Abraham und Ismael sollen gemäß Koran auch die Kaaba als erstes Gotteshaus in Mekka gegründet haben. Von den Figuren des Neuen Testaments stellt der Koran Maria (Maryam), Johannes den Täufer und Jesus (Isa bin Maryam) besonders heraus. Letzterer habe die Aufgabe, das Volk Israel zum Gehorsam zu bringen und den Christen das Evangelium zu vermitteln. Er verkündet wie Mohammed Gottes kommendes Endgericht, aber nur als Mensch, der nicht gekreuzigt wurde. Seine Auferstehung wird nur angedeutet. Dagegen wird die jungfräuliche Geburt im Koran ebenso übernommen wie Jesus als der verhießene Messias (als Wort Gottes und als Mensch frei von Sünde). Als Gesandte Gottes sind die Propheten im Koran moralische Autoritäten. Daher werden ihre in der Bibel geschilderten dunklen Seiten (zum Beispiel Davids Ehebruch und Mord) ausgeblendet.

Gegen das wörtliche Verständnis der Bibel als in allen Teilen valider historischer Bericht wendet sich seit der Neuzeit die historisch-kritische Exegese. Diese stellt den jeweiligen Inhalt in den Kontext seiner Entstehung, um so zu einer »sachgerechten« Auslegung der Bibel als Dokument ihrer Entstehungszeit zu kommen. Demgegenüber betrachten konservative Theologen die Bibeltexte nach wie vor generell, ohne Ausnahme als historische Berichte, die wörtlich zu verstehen seien. Einigkeit besteht konfessions- und richtungsübergreifend darin, die Texte als wertvolle Quellensammlung für die Erforschung ihrer jeweiligen Entstehungszeit zu verstehen. Davon unabhängig gibt es nach wie vor Glaubensbewegungen, die die Bibel als magisches Buch ansehen, mit dessen Hilfe wichtige Ereignisse in der Zukunft vorhergesagt werden könnten, oder die sich damit beschäftigen, einen vermeintlichen »Bibelcode« zu entschlüsseln, um an in der Bibel enthaltene geheime Botschaften zu gelangen. Bislang waren diese Versuche vergeblich.

Kritiker der Bibel wenden sich generell nicht gegen die Bibeltexte, wohl aber gegen Interpretation und Gebrauch, der innerhalb des Christentums von diesen Texten gemacht wird. Im Fokus steht dabei die These, die Bibel sei »von Gott inspiriert« (2. Timotheus 3,16; 2. Petrus 1,21), sie habe »Gott zum Urheber«, wie es bis heute im Katechismus der Katholischen Kirche vermittelt wird. Insofern ist Kritik an der Bibel heute Teil der Kirchenkritik oder Religionskritik. Kritiker wenden sich insbesondere gegen die Glaubwürdigkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen in den biblischen Büchern: Diese stünden bekanntlich im Widerspruch zu den Ergebnissen naturwissenschaftlicher oder historischer Forschung. Zudem widersprechen sich die biblichen Aussagen an vielen Stellen. Daher wird teilweise Glaubwürdigkeit und Wert der Texte als Ganzes in Zweifel gezogen. Kritik gibt es außerdem an zahlreichen im Bibeltext vermittelten ethischen Vorstellungen, etwa hinsichtlich der Anwendung von Gewalt.

Generell gibt es einen Grundkonflikt zwischen Wissenschaft und Religion. Der Wahrheitsbegriff bei den Buchreligionen beruht auf göttlicher Offenbarung. Die heiligen Schriften als wichtigstes Zeugnis dieser Offenbarung enthalten diesem Verständnis zufolge die Wahrheit. Der Wahrheitsbegriff der Wissenschaft beruht dagegen auf Theorien und ihrer experimentellen Überprüfung. Teilweise wird versucht, diesen Widerspruch dadurch zu lösen, dass man von mehreren parallelen Wahrheiten ausgeht, die alle ihre Berechtigung haben sollen. Diese beiden verschiedenen Auffassungen von Wahrheit beziehungsweise Wahrheitsfindung kamen und kommen dann miteinander in Konflikt, wenn sie unterschiedliche Aussagen über das gleiche Thema machen. Bekannte historische Beispiele für diesen Konflikt sind die Kosmologie, die Ablösung des geozentrischen Weltbilds in der Tradition des Ptolemäus durch das heliozentrische Weltbild, das von Kopernikus, Galileo Galilei und weiteren Wissenschaftlern propagiert wurde, die Evolution, die Geologie (die Lehre von der Entstehung der Erde), die Anatomie und die Geschichtswissenschaft und die mit ihr zusammenhängende Archäologie.

Die Texte des Alten Testaments wurden teilweise viele Hundert Jahre nach den von ihnen überlieferten Ereignissen verfasst oder in ihre endgültige Fassung gebracht. Die Evangelien des Neuen Testaments und die Apostel­geschichte sind erst Jahrzehnte bis Jahrhunderte nach dem Tod Jesu in ihre heutige Form gebracht worden. Kritiker weisen darauf hin, dass manche Erzählungen im Alten Testament Mythen ohne Zusammenhang mit der historischen Wirklichkeit sind, dass die Darstellung tatsächlicher Ereignisse im Verlauf langer mündlicher Überlieferung durch Mythenbildung verfälscht worden sei, dass viele biblische Texte vom jeweiligen Autor geprägt seien und viele Schriften über große zeitliche Abstände hinweg von unterschiedlichen Autoren bearbeitet und ergänzt worden seien, zum Teil weit nach den jeweils beschriebenen Ereignissen. Daher könnten sie nur sehr eingeschränkt als tragfähige historische Berichte gewertet werden. Zudem gibt es Widersprüche in den geschichtlichen Ausführungen der Bibel, wie die widersprüchlichen Angaben zu den Vorfahren Jesu, ganz davon abgesehen, dass es auch nachweislich falsche historische Darstellungen in der Bibel gibt.

Für Bibelapologeten in der Tradition der Verbalinspiration ist die Frage nach den menschlichen Verfassern der einzelnen Bücher der Bibel bedeutungslos, da sie nur als »Werkzeug Gottes« fungierten. Für kritische Theologen steht schon die Autorschaft vieler Bücher in Frage, so etwa wird bestritten, dass Paulus der Autor der Pastoralbriefe ist. Da sich der Verfasser in den Briefen selbst als Paulus von Tarsus ausgibt, liegt somit hier eine absichtliche Täuschung vor, wie sie in der Kirchengeschichte oft angewendet wurde. Bibelkritiker sprechen hier von Betrug. Andererseits wurden solche Täuschungen für fromme Zwecke zeitweise als legitim betrachtet (pia fraus oder frommer Betrug), um die Gläubigen zum rechten Glauben (zurück-) zu bringen. Wie das Beispiel des Philosophen Kelsos (Celsus) zeigt, wurden schon in antiker Zeit solche Täuschungen durchschaut. Heute besteht wissenschaftliche Übereinstimmung darin, dass die Zusammenstellung der biblischen Schriften zum Biblischen Kanon (Kanonisierung) »Menschenwerk« war. Die Behauptung, dass die Auswahl auf Gott selbst zurückgehe, wurde durch eine Untersuchung des über mehrere Jahrhunderte andauernden historischen Prozesses der Kanonisierung entkräftet. Bestimmte Lehren wurden durch Ausschluss aus dem Kanon diskreditiert.

Im Gegensatz zur behaupteten universellen Gültigkeit der Bibel steht auch die Tatsache, dass die alttestamentlichen Erzählungen sich weitgehend auf Einzelpersonen, das Volk Israel und dessen politische wie militärische Verwicklungen sowie auf die Region des heutigen Nahen Ostens konzentrieren. Auch Jesus selbst, obwohl als Sohn Gottes bezeichnet, war regional verankert: Er sprach keine der damaligen Kultursprachen. Zudem gibt es keine Hinweise dafür, dass er mit außerjüdischen Kultur-, Denk- und Lebensweisen vertraut war. Der Widerspruch wird eklatant durch die Darstellung im Alten Testament, Gott sei einerseits Erschaffer, Herrscher und Richter der gesamten Welt, andererseits habe er sein Volk ständig gegen andere Völker und Götter oder Götzen verteidigen müssen und ist daher als regionale Gottheit, als eine unter vielen zu verstehen. Aus der Perspektive des damaligen jüdischen Volkes ist die Darstellung ihres Gottes als »oberster Boss der Welt« natürlich verständlich und hat entscheidend zum Zusammenhalt und Überleben des Volkes beigetragen, sie wirkt aber aus globaler Perspektive unglaubwürdig.

Zentraler Bestandteil der Bibel ist die Sündenlehre. Der Mensch ist demzufolge seiner Natur nach sündig als Folge des ersten Sündenfalls im Paradies, sündigt daher weiter und entfernt sich so von Gott (Erbsünde). Der von der Bibel vermittelte Anspruch an den Menschen ist, dass er sich mit Gottes Hilfe von sündhaftem Denken und Handeln fernhalten soll, auch wenn er dieses Ziel zu seinen Lebzeiten nie ganz erreichen kann. Er wird zwangsläufig (Tat-)Sünden begehen, für die er nach seinem Tod, am Jüngsten Tag, zur Rechenschaft gezogen wird. Erlösung ist durch die Gnade Gottes möglich, da Jesus Christus durch sein Opfer stellvertretend die Sünden der Menschheit am Kreuz gesühnt hat. Wer auf Jesus vertraut, wird gerettet. Daher ist es für Christen sinnvoll, ihr Leben auf Christus aufzubauen und durch die Kraft des »Heiligen Geistes« ein sündenfreies und frommes Leben zu führen. Das Leben von Christen ist also vom unablässigen, endlosen Kampf gegen die Sünde bestimmt.

Insbesondere diese Ausweglosigkeit und der Dauerkampf gegen angebliche Sünden hat logischerweise Kritik hervorgerufen. Diese entzündet sich an der angeblichen Unausweichlichkeit der Sünde. Der Mensch sei somit unentrinnbar von der göttlichen Erlösung abhängig. Die Bibel erzeugt damit eine Notlage, für die sie dann die wohlfeile Lösung anbietet. Aus Sicht der Kritiker existiert diese Notlage aber gar nicht, sondern wird dem Gläubigen nur eingeredet. Die Gläubigen werden dadurch, dass die religiösen Autoritäten mit Hilfe der Bibel festlegen, was Sünde ist, als auch die einzige Möglichkeit der Erlösung anbieten, in emotionaler Abhängigkeit gehalten, womit die Kirche sich ein besonders wirkungsvolles Instrument der Kontrolle und Herrschaft schuf. Eine logische Folge dieser Konstruktion war der von Luther besonders kritisierte Ablasshandel der Katholischen Kirche. Auch die in der Bibel (Altes Testament) vermittelte Vorstellung, man könne durch ein Opfer, gar ein Menschenopfer, einen Gott gnädig stimmen und so seine eigenen Interessen befördern, wird heutzutage als unmenschlich abgelehnt. Die im Neuen Testament überlieferte Konstruktion, dass ein liebender Vater-Gott seinen eigenen Sohn der Folterung und Hinrichtung ausliefert, gilt heutzutage als absurd. Auch der damit verbundene Erlösungseffekt macht die Sache nicht besser, zumal ein allmächtiger Gott unblutigere Mittel zur Erlösung hätte finden können und müssen.

Gott hätte zudem die Menschen von vornherein so schaffen können, dass sie der Sühne durch ein solches Opfer überhaupt nicht bedurft hätten. Die Erlösung des Menschen durch das Opfer des Gottessohnes vorab pauschal ist inkonsequent, wenn man ihm gleichzeitig das fromme und nicht-sündige Leben abverlangt, welches das Alte Testament schon vor Christi Kreuzigung forderte. Der Kreuzestod bringt somit keine wirklichen Vorteile – oder frühestens am Jüngsten Tag. Mit Hinweis auf das stellvertretende Leiden Christi wird dem Gläubigen angesichts seiner eigenen, unausweichlichen Sündhaftigkeit auch ein Schuldkomplex vermittelt, der ihn im Zweifelsfall das ganze Leben hindurch begleitet und seine psychische Entfaltung behindert. Insgesamt ist die Vorstellung von der Erbsünde und der prinzipiellen Sündhaftigkeit des Menschen eine widersprüchliche. Einerseits impliziert sie Schuld, andererseits aber kann bei einer Erblichkeit der Sündenhaftigkeit der Mensch hierfür schlecht verantwortlich gemacht werden. Zu bemängeln ist insbesondere, dass die in der Bibel definierte »Gerechtigkeit« mit heutigen Idealen wie Toleranz und Langmut inkompatibel ist. So wird die Bestrafung oder »Vernichtung« Andersgläubiger durch Gott im Alten Testament oder im Jüngsten Gericht als »gerecht« propagiert. Überhaupt zeichnet sich die Darstellung Gottes in der Bibel durch »Bipolarität« aus. Er lässt sich dieser Darstellung zufolge hauptsächlich von Zorn und Liebe leiten. Im Alten Testament liegt der Schwerpunkt beim strengen, strafenden und zornigen Gott, während im Neuen Testament die Liebe Gottes in den Vordergrund rückt. Berichte über positive Emotionen Gottes sind rar.

Heutige ethische Vorstellungen kollidieren mit denen der Bibel. Nicht zuletzt das gehäufte Vorkommen göttlich angeordneter Verbrechen und Grausamkeiten disqualifiziert die Bibel als Quelle heute akzeptierbarer Ethik und Religiosität. Von Gott angeordnete Genozide und die Aufforderung des biblischen Gottes zu einer exzessiven Anwendung der Todesstrafe sind heute nicht mehr akzeptabel, wie auch die Aufforderung, ganze Völker auszurotten. Die zahllosen, im Namen des Christentums in der Vergangenheit, aber auch bis heute begangenen Verbrechen ließen sich so bequem rechtfertigen. Suboptimal ist auch das im Alten Testament vermittelte patriarchalische Weltbild. So ist das Priesteramt ausschließlich Männern vorbehalten, trägt Gott ausschließlich männliche Züge, werden Stammbäume über die männliche Linie angegeben, fehlen bei der Nachkommenschaft Informationen zu den Müttern, werden Töchter üblicherweise übergangen, kann der Mann mehrere Frauen und Nebenfrauen haben, aber nicht umgekehrt, werden Töchter als Eigentum der Väter, Ehefrauen als Eigentum der Ehemänner betrachtet, ist die Frau nach der Geburt einer Tochter doppelt so lange unrein wie nach der Geburt eines Sohnes, fasst eine Frau im Streit einem Mann an die Geschlechtsteile, soll ihr die Hand abgehackt werden – ein entsprechendes umgekehrtes Gebot fehlt. Frauen werden generell als schwächer und unzuverlässiger dargestellt, Verräter sind oft weiblich, und die Erschaffung der Frau aus der Rippe des Mannes ist eine Umkehrung der biologischen Verhältnisse, die Frau wurde deshalb auch als dem Mann untergeordnet betrachtet. Als Ausnahmen gibt es einige wenige Frauen, die als positive Heldinnen geschildert werden, so Deborah, Rut und Ester. Angesichts der Versuche, die streng patriarchalische Haltung mit der allgemeinen Ordnung in der Antike zu erklären, muss festgehalten werden, dass es auch damals schon Gesellschaften gab, in denen Frauen ein wesentlich größeres Ausmaß an persönlicher Freiheit und Gleichberechtigung genossen, beispielsweise im Palästina benachbarten Ägypten.

Ob es sich bei der deutlich patriarchalischen Ausrichtung der Bibel um den Beleg für eine Art »Weiblichkeitsneid« der biblischen Autoren in Analogie zum von Freud formulierten (allerdings in der Zwischenzeit als haltlos anerkannten) »Penisneid« der Frau handelt, ist noch in der Diskussion. In der Genesis wird jedenfalls konsequent das Wort adam dazu benutzt, um den Menschen zu bezeichnen. Erst in späteren Bibeltexten wird dann zwischen isch (Mann) und ischah (Frau) unterschieden. Der Sündenfall wird psychologisch wiederum als verwandt mit dem Ödipuskonflikt betrachtet, da der Sohn einerseits wie der Vater sein soll, andererseits die Verbote des Vaters ihn genau daran hindern. Im Neuen Testament dagegen liegt ein anderes Frauenbild vor, zumindest in den jesuanischen Zeugnissen. Diese werden dann allerdings durch die paulinischen Ergüsse wieder in konservativer (patriarchalischer) Hinsicht korrigiert und entkräftet. So legt Paulus die Schöpfungsgeschichte bewusst patriarchalisch aus und vertritt generell eine Haltung, die an der jüdischen Tradition orientiert ist. Kirchenkritiker verweisen demgemäß immer wieder auf den eklatanten Widerspruch der Haltungen von Jesus und Paulus. In der weiteren Kirchengeschichte setzte sich die paulinische, frauenfeindliche Tradition durch und hält bis heute an. Paulus übertrifft in seinen Äußerungen teilweise noch die Strenge der jüdischen Tradition.

Der generellen Frauenfeindlichkeit weiter Teile der Bibel und der Kirche bis heute widerspricht auch nicht die prominente Rolle, die Maria sowohl in der Bibel als auch in der kirchlichen Vermittlung einnimmt. Im Gegenteil. Denn Maria steht nicht für ein fortschrittliches, modernes, autonomes Frauenbild – der im 19. Jahrhundert entwickelte Marienkult dreht sich stattdessen um ein äußerst traditionelles, geschlechtsloses Frauenbild, konzentriert in der in diesem Zuge völlig übertriebenen Rolle der Jesusmutter Maria, die wie ein autonomer, heidnischer Götze für allerlei Gnadenerweise stehen soll (bei schrankenloser Verehrung beziehungsweise Unterwürfigkeit der Gläubigen, die damit wieder in die hierarchische, patriarchalische Ordnung von Kirche und Staat eingezwängt werden). Die Katholische Kirche hat diesen kirchenstärkenden »Aberglauben« nach Kräften gefördert und verstärkt, bis hin zur Verkündung der »unbefleckten« (sprich asexuellen) Empfängnis (1854) und der leiblichen Himmelfahrt Mariens (1950), in Analogie zu Jesus Christus. Insgesamt wirkt sich das von der Kirche vermittelte patriarchalische Weltbild der Bibel (mit Ausnahme der jesuanischen Äußerungen, die aber mittlerweile nahezu wirkungslos geworden sind) bis heute auf die christlichen Gesellschaften aus.

Ganz besonderer Tobak ist der in der Bibel vertretene Kult der Gewalt gegen Sachen, Personen und Völker. Diese tritt – hauptsächlich, aber nicht nur im Alten Testament – in vielfältiger Gestalt auf, so im Kult als Opfer, als gewaltsame Vergeltung, als Bannkrieg zwischen Kleingruppen, als Blutrache, Todesstrafe, Körperstrafe, Mord, Folter, Körperverletzung, Vergewaltigung, Nötigung, als Ausbeutung, Unterdrückung, Enteignung, Entrechtung. Speziell das Verhältnis von Gottes Gewalt zu der des Menschen zieht sich als Generalthema durch die ganze Bibel. Gewalt ist ein integraler Bestandteil des biblischen Gottesbildes. Wird an die Bibel als Heilige Schrift geglaubt und werden ihre Texte als normativ für gegenwärtiges Handeln herangezogen, dienen sie oft dazu, gewaltsames Handeln zu rechtfertigen. Die angebliche Ablösung der »Gewalt­ethik« des Alten durch die »Liebesethik« des Neuen Testaments ist exegetisch unhaltbar. Das Gegenteil ist der Fall.

Die Geschichte der Gewalt beginnt mit dem Ungehorsam Adams und Evas und Gottes Reaktion darauf, der Vertreibung aus dem Paradies. Direkt darauf folgt der Brudermord als Archetyp zwischenmenschlicher Gewalt (Kain und Abel), die sich zum Völkermord, ja, zum Lebensmord an sich steigert: als »Gott« das von ihm erschaffene Leben in der Sintflut fast komplett vernichtet. Vergeltung wird so zum »Grundgesetz« der Schöpfung. Die Städte Sodom und Gomorra werden in Gottes Auftrag »vom Angesicht der Erde ausradiert« (man denkt unwillkürlich an die Pläne Hitlers für Leningrad und Moskau, die er dem Vergessen anheimgeben wollte). Beide Städte gelten als sprichwörtliches Beispiel für menschliche Niedertracht, die sich in sexuellen Perversionen und Vergewaltigungen zeigt, womit sie »notwendigerweise« das »vernichtende Gericht Gottes« auf sich ziehen.

Das ägyptische Heer des Pharao wird bei der Verfolgung der Hebräer im Roten Meer ersäuft, der Tod vieler Tausend ägyptischer Soldaten als »herrliche Tat« gepriesen. Israels Gott zeigt sich damit als nationaler Kriegsgott Israels, der ein Volk rettet, während er das andere vernichtet. Bei äußerer Existenzbedrohung sorgt der »israelische« Gott dafür, dass ein fähiger Heerführer gewählt wird, der die Zwölf Stämme Israels in die Schlacht führt und »natürlich« über andere Völker (und andere Götter) siegen lässt – es geht also auch um einen Wettstreit »im Olymp«, wer der mächtigste Gott ist. Dass dies ausgerechnet der »israelisch«-christliche Gott sein soll, ist dabei keineswegs »gottgegeben«, sondern von Menschen so postuliert (mangels Gottesbeweis). Kriegerische Gewalt wird somit in der Bibel legitimiert, der »gerechte Krieg« als Kategorie eingeführt und die Tradition des »Heiligen Krieges« begründet. Fremde Nachbarvölker Israels werden »natürlich« im Auftrag Gottes bei der israelischen Landnahme ausgerottet, Frauen und Kinder nicht verschont. Mittlerweile wird die biblische Darstellung der Eroberung Ka­naans als Rückprojektion nach den Eroberungsfeldzügen Davids angesehen, weil der Ansiedlungsprozess in der Realität lange Zeit als friedliches Einsickern der Halbnomaden geschah und die Stadtstaaten Kanaans zunächst weiterexistierten. Wenn »Gott« dann zur Ausrottung der Amalekiter aufruft, wird dies als Kampf gegen die Übernahme ihrer Kulte gedeutet. Verbrechen von Heldengestalten wie König David (Ermordung Uriahs, um dessen Witwe zu heiraten) werden zwar formal mit kritischer Intention überliefert, festigen jedoch entgegen der Absicht eher das Bild des allmächtigen, über den Gesetzen und über den Frauen stehenden Mannes.

Obwohl es sich also um einen »Nationalgott« Israels handelt, wird Gott dennoch ambitioniert als »Herr aller Herren und König aller Könige« bezeichnet, der alle Gewalt innehat. Die Regierungsgewalt wird den Menschen übertragen, die sich die Erde untertan machen sollen, was heute ebenfalls im Sinne der Ökologie kritisch gesehen wird. Nicht zuletzt sorgte der ultrakonservative, antijesuanische Paulus dafür, dass Christen sich treu und brav an die vorgegebene staatliche Ordnung halten sollen, was noch im Nationalsozialismus als Argument dafür benutzt wurde, keinen Widerstand gegen das absolutistische Terrorregime von Hitler & Co. zu leisten. Schließlich hatte Paulus sich nicht entblödet zu formulieren, dass alle staatliche Gewalt von Gott stamme, jede sei von Gott eingesetzt. Wer sich der staatlichen Gewalt widersetze, stelle sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstelle, werde dem Gericht verfallen.

Es ist eine der wegweisenden Errungenschaften der Neuzeit, im Gefolge der Französischen Revolution die Trennung von Staat und Kirche in Gang gesetzt zu haben, obwohl dieser Prozess noch lange nicht abgeschlossen ist. So ist nicht einzusehen, warum in staatlichen Schulen christlicher Religionsunterricht Pflichtfach ist oder warum der Staat, etwa in der BRD, für die Kirche Steuern erhebt (Kirchensteuer) und dieser nahezu ohne Abzug überweist, und nicht zuletzt sollte das aus der Zeit der Säkularisierung, der Beschlagnahmung von Kirchengütern durch den Staat unter Napoleon, stammende Abkommen, dass der Staat für die bauliche Unterhaltung der Kirchengebäude zuständig ist, und den Kirchen hierfür Jahr für Jahr Hunderte Millionen Euro überweist, endlich beendet werden. Die Kirchen sind nach wie vor Großgrundbesitzer in der BRD und anderswo und sollten ihren milliardenschweren kirchlichen Besitz endlich für soziale Zwecke nutzen, statt einfach Profitvermehrung zu betreiben. Dazu gehört auch, dass in kirchlichen Sozialeinrichtungen endlich so normale Dinge wie Betriebsräte gesetzlich durchgesetzt werden müssten (was bis jetzt verboten ist, dank des Konkordats, das Hitler 1933 zur Durchsetzung seiner Herrschaft mit der Kirche schloss und in dem er viele Wohltaten verpackte, zum Dank dafür, dass ihn die Kirche als »rechtmäßigen« Herrscher anerkannte und seinem unchristlichen Terrorregime keinen Widerstand entgegensetzte, was sich aus dem grenzenlosen Antikommunismus der Kirche speiste, die sich hier auf einer Linie mit Hitler, hier gemeinsame Ziele mit ihm sah und umsetzte). In Religionsgemeinschaften wie den Mennoniten, den Amischen oder den Bibelforschern (unter anderem Zeugen Jehovas, Wachtturm-Gesellschaft) wurde schon früh der Gewaltverzicht und die Verweigerung des Kriegsdienstes konsequent befolgt. Daher wurden diese Religionsgemeinschaften in Zeiten der Gewaltherrschaft wie unter Hitler immer wieder verfolgt und ausgegrenzt.

Nero

Eines der tragischsten Opfer von Lügenmärchen, die über ihn erzählt wurden, und Täuschung der Nachwelt über seine vermeintlich durch und durch verderbte, perverse Natur ist der römische Kaiser Nero, mit vollem Namen Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus (37– 68), der im Alter von nur 30 Jahren starb. Mit 17 Jahren Kaiser geworden, herrschte er von 54 bis 68 unserer Zeitrechnung über das Römische Reich als letzter Kaiser der julisch-claudischen Dynastie. Unter Kaiser Caligula (ebenfalls in den Horrorgeschichten der Nachwelt als »perverses Schwein« vermittelt worden, dank vieler Lügengeschichten und entstellter, verzerrter Darstellung der tatsächlichen Ereignisse, um Kindern und Erwachsenen Schauer über den Rücken zu treiben) wurde Neros Mutter ins Exil verbannt.

Da zum damaligen Zeitpunkt die dynastischen Auseinandersetzungen hauptsächlich über Mord und Giftmord ausgetragen wurden, ist es ein Wunder, dass er überhaupt das Erwachsenenalter erreichte. Man ermordete damals gern und gnadenlos die Kinder der jeweiligen Widersacher, um auch künftig vor Herrschaftsansprüchen konkurrierender Clans sicher zu sein. Neros Mutter Agrippina heiratete nach dem Tod ihres zweiten Mannes Passienus im Jahre 49 den amtierenden Kaiser Claudius, ihren Onkel. Dadurch rückte ihr Sohn Nero in die unmittelbare Erbfolge auf, es bestand also die Aussicht, dass er seinen Stiefvater irgendwann beerben würde als Kaiser. Zur Vorbereitung auf das Amt sorgte seine Mutter für eine umfassende Bildung Neros in Literatur, Rhetorik und Mathematik. Nach Vollendung seines zwölften Lebensjahrs beauftragte sie den Philosophen Seneca, der dazu extra aus der Verbannung zurückgeholt wurde, mit der weiteren Ausbildung Neros. Seneca prägte das Leben Neros entscheidend. Nero zeigte sich Seneca gegenüber für die genossene Bildung und Ausbildung sehr dankbar, auch in materieller Hinsicht. Das Steuerverzeichnis Roms führt Seneca wenig später mit einem Vermögen von 300 Millionen Sesterzen als einen der reichsten Männer des Imperiums auf. Allein auf der britischen Insel standen ihm Kreditrechte in Höhe von 40 Millionen Sesterzen zu.

Ein Jahr nach der Heirat Agrippinas adoptierte Kaiser Claudius seinen 13-jährigen Stiefsohn Nero und machte ihn damit offiziell zum Thronfolger. Wie damals (und noch bis ins Mittelalter und die frühe Neuzeit) üblich, wurde er mit 14 Jahren für erwachsen erklärt und zum Senator und Prokonsul ernannt. Der leibliche Sohn von Claudius, der drei Jahre jüngere Britannicus, rückte damit an die zweite Stelle hinter Nero. Drei Jahre später arrangierte Agrippina die Hochzeit zwischen dem 16-jährigen Nero und der 13-jährigen Octavia, einer leiblichen Tochter des Claudius. Angeblich ließ nun Agrippina, um ihren Sohn auf den Thron zu befördern, den amtierenden Kaiser Claudius vergiften. Dieser starb jedenfalls im Herbst 54. Nero wurde daraufhin vom Prätorianerpräfekten Burrus, einem Freund Agrippinas, zum Kaiser ausgerufen.