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Märchen und Mystik sind sich auf den ersten Blick fremd, haben aber tiefe innere Übereinstimmungen. Es ist die innere Haltung, die hier wie dort den Ausschlag gibt für Heil oder Unheil. Es geht um Kommunikation, und Hören und Gehorchen, um frohen Mut, um Geradlinigkeit und Treue, um Bereitschaft zum Dienen, um die Fähigkeit zu lernen, um Geschick, Aufrichtigkeit, Liebe – um nur einiges zu nennen. Hier wie dort bedient man sich gerne der Bild- und Symbolsprache, weil man letzte Dinge besser an-deutet und erzählt als begreift und einordnet. Was die Frage der Tiefe angeht, hängt das natürlich von den Geschichten ab - aber auch vom Zuhörer. Wie im Sufismus oder in den Gleichnissen Jesu werden von weisen und begnadeten Menschen gerne einfache Erzählungen verwendet, um die Zuhörer auf tiefere Zusammenhänge aufmerksam zu machen – nicht immer so, dass sie alles verstehen, aber so, dass sie etwas ahnen und sich auf etwas Neues ausrichten können. In diesem Sinne sind auch Märchen geeignet, uns auf Dinge zu stoßen, die sehr wahr sind und unser Herz erreichen wollen.
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Seitenzahl: 93
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Mystische Dimensionen in den Märchen
Jürgen Wagner
© tao.de in J. Kamphausen Mediengruppe GmbH, Bielefeld
1. Auflage (2014)
Autor: Jürgen Wagner
Umschlaggestaltung: tao.de
Umschlagfoto: Ivan Bilibin „Der weiße Reiter“
Verlag: tao.de in J. Kamphausen Mediengruppe GmbH, Bielefeld,
www.tao.de, eMail: [email protected]
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
978-3-95802-245-4 (Paperback)
978-3-95802-246-1 (Hardcover)
978-3-95802-247-8 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig.
Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und sonstige Veröffentlichungen.
Inhalt
Die weiße Taube
Vorwort
1. Die Suche
Das Wasser des Lebens
2. Reinheit des Herzens und des Geistes
Die goldene Gans
3. Blindheit
Der Korb mit den wunderbaren Sachen
4. Schweigen
Die Prinzessin, die keiner zum Schweigen bringen konnte
5. Liebe
Die blaue Rose
6. Die Schwere des Weges
Die Gänsehirtin am Brunnen
7. Nichts
Die Sterntaler
8. Erlösung
Die Alte im Wald
9. Was von uns gefordert ist
Frau Holle
Nachwort
Die weiße Taube
Vor eines Königs Palast stand ein prächtiger Birnbaum, der trug jedes Jahr die schönsten Früchte, aber wenn sie reif waren, wurden sie in einer Nacht alle geholt, und kein Mensch wusste, wer es getan hatte. Der König aber hatte drei Söhne, davon ward der jüngste für einfältig gehalten, und hieß der Dummling.
Da befahl er dem ältesten, er solle ein Jahr lang alle Nacht unter dem Birnbaum wachen, damit der Dieb einmal entdeckt werde. Der tat das auch und wachte alle Nacht, der Baum blühte und war ganz voll von Früchten, und wie sie anfingen reif zu werden, wachte er noch fleißiger, und endlich waren sie ganz reif und sollten am andern Tage abgebrochen werden; in der letzten Nacht aber überfiel ihn ein Schlaf und er schlief ein, und wie er aufwachte, waren alle Früchte fort, und nur die Blätter noch übrig.
Da befahl der König dem zweiten Sohn ein Jahr zu wachen, dem ging es nicht besser, als dem ersten; in der letzten Nacht konnte er sich des Schlafes gar nicht erwehren, und am Morgen waren die Birnen alle abgebrochen.
Endlich befahl der König dem Dummling ein Jahr zu wachen, darüber lachten alle, die an des Königs Hof waren. Der Dummling aber wachte, und in der letzten Nacht wehrte er sich den Schlaf ab, da sah er, wie eine weiße Taube geflogen kam, eine Birne nach der andern abpickte und fort trug. Und als sie mit der letzten fortflog, stand der Dummling auf und ging ihr nach.
Die Taube flog aber auf einen hohen Berg und verschwand auf einmal in einem Felsenritz. Der Dummling sah sich um, da stand ein kleines graues Männchen neben ihm, zu dem sprach er: »Gott segne dich!« »Gott hat mich gesegnet in diesem Augenblick durch diese deine Worte«, antwortete das Männchen, »denn sie haben mich erlöst, steig du in den Felsen hinab, da wirst du dein Glück finden.«
Der Dummling trat in den Felsen, viele Stufen führten ihn hinunter, und wie er unten hinkam, sah er die Weiße Taube ganz von Spinnweben umstrickt und zugewebt. Wie sie ihn aber erblickte, brach sie hindurch, und als sie den letzten Faden zerrissen, stand eine schöne Prinzessin vor ihm, die hatte er auch erlöst, und sie ward seine Gemahlin und er ein reicher König, und regierte sein Land mit Weisheit.
Märchen der Brüder Grimm
Vorwort
Die Sehnsucht nach Erlösung ist sicher eine der tiefsten in der Menschheit. Und einer der Gründe, warum Märchen erzählt werden, warum es spirituelle Wege gibt, warum es auch so mühevolle Wege wie die Mystik gibt. Volksweisheit und Religion haben vermutlich doch mehr gemeinsam, als das auf den ersten Blick erscheint. Beide bieten Wege und Lösungen an, die nicht immer so weit voneinander entfernt sind: ein einziges Segenswort, eine einzige Begegnung kann, wie unser Eingangsmärchen zeigt, die Erlösung bewirken. Aber ohne Selbstüberwindung und einen Weg in die Weite und Tiefe wird es, wie das Märchen wunderbar schildert, kaum gehen.
Dieses Buch stellt im Folgenden weitere 9 Märchen vor, die mit einer kurzen Auslegung versehen transparent werden für Tiefendimensionen, die man ‚mystisch‘ nennen kann. Ein leerer Korb mit wunderbaren Sachen (Kap 3), das Wasser des Lebens (Kap 1), mit nichts dastehen (Sterntaler Kap 7), gefangen im Spinnennetz und die Befreiung (die weiße Taube), der Durchbruch zum Stillsein-können (Kap 4), das ‚Koan‘ einer ‚‘blauen Rose‘ (Kap 5), was das Leben in Wahrheit von uns verlangt (Frau Holle Kap 9), der reine Geist (Kap 2), die Verführung des kostbaren Geschmeides und die erlösende Kraft des schlichten Ringes (Kap 8), die weise Lehrerin, Prophetin und Behüterin (Kap 6).
Es liegt in der Natur der Sache, dass weitschweifige Ausführungen hier nicht am Platze sind. So bleibt es mehr bei Andeutungen, als dass vollständige Interpretationen gegeben werden. Dies muss kein Mangel sein.
Kurze mystische Texte im Anschluss lassen die Bezüge aufleuchten und stellen vielleicht das eine oder andere Märchen noch einmal in ein anderes Licht, als wir es gewohnt sind.
Mystik (wohl von griech. µúειν die Augen oder Lippen schließen) ist im Kern eine Erfahrung von tiefer Versenkung oder auch spontaner Einheit. Das ist im Kindesalter gar nicht mal so selten. Völlig versunken sein (in ein Spiel) oder sich rundum eins fühlen erleben manche. Eine Erfahrung völliger Gelöstheit ist wahrscheinlich eher einem gefestigten und gereiften Menschen möglich. Die Mystik mündet gesunderweise in einem angemessenen alltäglichen Weg:
„An meinen täglichen Verrichtungen ist nichts Besonderes,
ich bin einfach in natürlichem Einklang mit ihnen.
An nichts mich haltend und auch nichts zurückweisend
finde ich keinen Widerstand und bin nie abgetrennt.
Was soll mir denn der Prunk von purpurnen Gewändern?
Der reine Gipfel ward von keinem Staubkorn je befleckt.
Meine magische Kraft und geistige Übung liegt im Wasserholen und im Holzhacken.“
Plang Yün (Zen-Laie des alten China)
In vielen Kulturen und Religionen ist die Mystik ein spiritueller innerer Weg, der in die Stille führt und erhofftermaßen zu eben diesen Erfahrungen von Tiefe und Frieden, von Freiheit und Einheit.
„Es war einmal – es wird wieder sein“ – Volksmärchen sind alte und doch zeitlose Erzählungen. In ihrer Bilder- und Symbolsprache schildern sie geheimnisvoll und dramatisch das Lebensschicksal und den Lebensweg in einer Weise, die dem Hörer zu Herzen geht. Die Märchen erreichen ebenfalls eine Tiefe jenseits des Verstandesdenkens - so, dass er es nicht weiß, aber sich danach ausrichten mag und kann. Sie zeigen ihm dabei ungeahnte Lösungswege auf. Deshalb lohnt es sich, gleichsam in den ‚Brunnen‘ hinabzusteigen und einmal behutsam auszuloten, wohinein sie sprechen oder sprechen können.
Man kann Märchen ebenso wie biblische Geschichten auf mehreren Ebenen lesen oder hören: auf der Erzählebene, auf der symbolischen Ebene, auf der psychologischen Ebene – z.B. Nicht alle, aber manche Geschichten können uns wohl tief und innerlich berühren.
Ivan Bilibin
1.
Die Suche
Ivan Bilibin
Das Wasser des Lebens
Es war einmal ein König, der war krank, und niemand glaubte, dass er mit dem Leben davonkäme. Er hatte aber drei Söhne, die waren darüber betrübt, gingen hinunter in den Schlossgarten und weinten. Da begegnete ihnen ein alter Mann, der fragte sie nach ihrem Kummer. Sie sagten ihm, ihr Vater wäre so krank, dass er wohl sterben würde, denn es wollte ihm nichts helfen. Da sprach der Alte ‚ich weiß ein Mittel, das ist das Wasser des Lebens, wenn er davon trinkt, so wird er wieder gesund: es ist aber schwer zu finden.‘ Der älteste sagte ‚ich will es schon finden,‘ ging zum kranken König und bat ihn, er möchte ihm erlauben auszuziehen, um das Wasser des Lebens zu suchen, denn das könnte ihn allein heilen. ‚Nein,‘ sprach der König, ‚die Gefahr dabei ist zu groß, lieber will ich sterben.‘ Er bat aber so lange, bis der König einwilligte. Der Prinz dachte in seinem Herzen ‚bringe ich das Wasser, so bin ich meinem Vater der liebste und erbe das Reich.‘
Also machte er sich auf, und als er eine Zeitlang fortgeritten war, stand da ein Zwerg auf dem Wege, der rief ihn an und sprach ’wo hinaus so geschwind?, ‚Dummer Knirps,‘ sagte der Prinz ganz stolz, ‚das brauchst du nicht zu wissen,‘ und ritt weiter. Das kleine Männchen aber war zornig geworden und hatte einen bösen Wunsch getan. Der Prinz geriet bald hernach in eine Bergschlucht, und je weiter er ritt, je enger taten sich die Berge zusammen, und endlich ward der Weg so eng, dass er keinen Schritt weiter konnte; es war nicht möglich, das Pferd zu wenden oder aus dem Sattel zu steigen, und er saß da wie eingesperrt. Der kranke König wartete lange Zeit auf ihn, aber er kam nicht. Da sagte der zweite Sohn ‚Vater, lasst mich ausziehen und das Wasser suchen,‘ und dachte bei sich ‚ist mein Bruder tot, so fällt das Reich mir zu.‘ Der König wollt ihn anfangs auch nicht ziehen lassen, endlich gab er nach. Der Prinz zog also auf demselben Weg fort, den sein Bruder eingeschlagen hatte, und begegnete auch dem Zwerg, der ihn anhielt und fragte, wohin er so eilig wollte. ‚Kleiner Knirps,‘ sagte der Prinz, ‚das brauchst du nicht zu wissen,‘ und ritt fort, ohne sich weiter umzusehen. Aber der Zwerg verwünschte ihn, und er geriet wie der andere in eine Bergschlucht und konnte nicht vorwärts und rückwärts. So geht’s aber den Hochmütigen.
Als auch der zweite Sohn ausblieb, so erbot sich der jüngste, auszuziehen und das Wasser zu holen, und der König musste ihn endlich ziehen lassen. Als er dem Zwerg begegnete und dieser fragte, wohin er so eilig wolle, so hielt er an, gab ihm Rede und Antwort und sagte ‚ich suche das Wasser des Lebens, denn mein Vater ist sterbenskrank.‘ ‚Weißt du auch, wo das zu finden ist?, ‚Nein,‘ sagte der Prinz. ‚Weil du dich betragen hast, wie sich’s geziemt, nicht übermütig wie deine falschen Brüder, so will ich dir Auskunft geben und dir sagen, wie du zu dem Wasser des Lebens gelangst. Es quillt aus einem Brunnen in dem Hofe eines verwünschten Schlosses, aber du dringst nicht hinein, wenn ich dir nicht eine eiserne Rute gebe und zwei Laiberchen Brot. Mit der Rute schlag dreimal an das eiserne Tor des Schlosses, so wird es aufspringen: inwendig liegen zwei Löwen, die den Rachen aufsperren, wenn du aber jedem ein Brot hineinwirfst, so werden sie still, und dann eile dich und hol von