Heitere Märchen für ernste Zeiten - Jürgen Wagner - E-Book

Heitere Märchen für ernste Zeiten E-Book

Jürgen Wagner

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Beschreibung

"Lachen ist die beste Medizin!" – das ist nicht nur Volksweisheit, es ist auch wissenschaftlich erforscht. Wenn die Zeiten ernster werden, brauchen wir auch ein Gegengewicht, z.B. fröhliche und heitere Geschichten, wie sie in diesem Buch gesammelt sind. Sie helfen uns, heil und gesund durch die Zeiten zu kommen. Weil ihnen meist auch eine Prise Ernst beigemischt ist, sind sie nicht nur Zerstreuung, sondern auch eine wohltuende Lektüre und reiche Fundgrube, die man gerne mit anderen Menschen teilt!

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Seitenzahl: 186

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Heitere Märchen für ernste Zeiten

Jürgen Wagner und Heidi Christa Heim

Impressum

© 2025 Jürgen Wagner

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Titelbild: Warwick Goble, The Fairy Book – Sie stieg aufeinen Baum und brach einen Ast, 1913

Der Humor ist die kürzeste Brücke zwischen den Menschen

Sprichwort

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

I Lachen ist gesund

Wie Bauer Groschenklauber Geburtstag feierte (China)

Sepp auf Brautschau (Deutschland)

Der Bauer und der Krämer (Ukraine)

Der verwünschte Esel (Deutschland)

Der betrunkene Hahn (Portugal)

Der Geizhals (Russland)

Meisen

II Mit List und Witz gegen Mächtige

Widewau (Deutschland)

Die fliegende Truhe (Ukraine)

Von dem Bauer, der gewandt zu lügen verstand (Weißrussland)

Die goldene Schale (Sibirien)

Wie Aldar–Kosse den Chan ausspielte (Kaukasus)

Wie Aldar–Kosse einen Richter um Rat fragte (Kaukasus)

Wie Aldar–Kosse einen löcherigen Tschapan gegen einen Fuchspelz tauschte (Kaukasus)

Wie Aldar–Kosse das Lied in Schutz nahm (Kaukasus)

III Von Neunmalklugen

Das rote Kleid (Kroatien)

Tu dich auf, gold‘nes Haus (Karibik)

Das zanksüchtige Weib (Russland)

Was die Äffchen sagen (Amerika)

Die guten Tage (Italien)

Von dem Manne, der das Haus besorgen sollte (Norwegen)

IV Allerlei Liebesleute

Maria mit dem rotgefärbten Unterrock (Portugal)

Gudbrand vom Berge (Norwegen)

Die schöne Beduinin (Arabien)

Weiberlist (Arabien)

Helene und der Mann im Fass (Italien)

Die schöne Königstochter im Garten (Deutschland)

V Heiter–spirituelle Geschichten

Der Affenbuddha (Japan)

Das Grab des Allerheiligsten (Dagestan)

Wie Aldar Kosse einen geizigen Mullah bestrafte (Kaukasus)

Der Büttel im Himmel (Deutschland)

Der heilige Josef und seine Verehrer (Italien)

VI Heiterer Alltag

Königliche Sichtweise

Tiefe Weisheit

Der Tempel der tausend Spiegel (Indien)

Ein vorbildlicher Patient

Ein doppeltes Klavierkonzert

Gefährliche Mission

Keine gute Hausfrau

Wie alt?

Lincolns Schönheit

Die Parabel von den Krücken

Der richtige Arzt

Warum?

Nimm zwei

Der Nöck

VII Kreative Ideen

Der Hirt und die drei Krankheiten (Griechenland)

Der Juwelenacker (Deutschland)

Puschkin fliegt das Geld in den Schornstein (Kaukasus)

Weiberlist geht über Männerkraft (Rumänien)

VIII Weisheitsgeschichten von Mullah Nasrudin

Der Kessel

Notbremse

Die vollkommene Frau

Nasrudin im Hammam

Der Schmuggler

Der gute Rat

IX Lachen – Geschichten und Bräuche

Vom Lachen im Volksglauben

Lachbräuche neuerer Zeit

Das Schaf, an dem alles hängen blieb (Finnland)

Die Insel des Lachens (Irland)

Der Zaubertrank (Ukraine)

Armer schwarzer Kater (Deutschland)

Der Bauer als Arzt (Frankreich)

X Narren

Die Drei Narren (England)

Die Schildbürger bauen ein neues Rathaus (Deutschland)

Der wiedergefundene Zehnte (Deutschland)

Der Streit über die Schafe (England)

Die Nachtigall (Ukraine)

XI Das verborgene Lächeln der Volksmärchen

Die Schüsseln der Schlange (Zaire)

Die Lüge der Wahrheit (Frankreich)

Der Tänzer unserer Lieben Frau (Frankreich)

Der Brunnen der Jugend (Japan)

Der Traum des Kojote (Amerika)

Der verhexte Ring (Italien)

Die Sternenfrau (Argentinien)

Zu guter Letzt

Anhang

VORWORT

Wenn die Zeiten ernster werden, braucht es auch ein Gegengewicht. Was wäre da besser geeignet als fröhliche und heitere Geschichten? Manchen Völker ist sogar zu eigen, dass dann, wenn man es gar nicht mehr aushält, man sich Witze erzählt und sich so seelisch über Wasser hält.

Das alte Wort von ‚heiter‘ – heiðr – meint einen klaren, hellen, wolkenlosen Himmel. Wir brauchen gerade in dunklen Zeiten etwas Helles und Leuchtendes, damit wir nicht nur schwarz sehen.

Humor kommt aus dem Lateinischen und hat die Wortwurzel ‚feucht‘ (vgl. humiditiy). Wie die Pflanze Wasser zum Leben braucht, so braucht unsere Seele ebenfalls etwas Fließendes, Feuchtendes: sie braucht Freude, Fröhlichkeit, Heiterkeit, ohne welche sie verdorrt. – Und dieses Helle, Leuchtende und Lebensspendende in allen Geschichten unseres Buches hat eine wundervolle Eingenschaft: Alles Komische kann heilend wirken!

Guter Humor ist durchaus eine Kunst. Beißender Spott und beleidigende Spässe lassen sich leichter kreieren und werden gerne auch als Waffe genutzt. Wenn man den Gegner lächerlich machen kann, hat das meist mehr Wirkung als ein gutes Argument. Doch guter Humor geht nicht auf Kosten eines Anderen. Er ist ein geistiger Genuss und wird mündlich tradiert. Und er ist kein Feind des Ernstes, sondern schließt diesen heimlich noch ein.

In diesem Buch sind vor allem Märchen und Volksgeschichten gesammelt, die auch heute noch anregend und erheiternd sind. Auch die Volksmärchen kennen eine ganze Breite von Humorformen: da gibt es Listige, Geizige, Neunmalkluge, Narren, Schelme, allerlei Leute, die auf‘s Korn genommen werden oder andere auf’s Korn nehmen. Von unterhaltsamen Schwankmärchen bis hin zu gesellschaftskritischem Schelmengeschichten und weisheitlichen Erzählungen ist alles vorhanden.

Und wenn ihr beim Lesen nicht nur selbst lacht oder schmunzelt, sondern immer wieder ein Märchen weitererzählt oder weitergebt, dann werden sich Licht und Fröhlichkeit weiter verbreiten und dann finden immer mehr Menschen Zuversicht und Kraft in dunklen Zeiten.

I Lachen ist gesund – von der heilenden Kraft des Lachens

Lachen ist die beste Medizin – das ist nicht nur eine Redensart. Auch Wissenschaftler haben es mittlerweile erforscht, wie gut es auf Körper und Seele wirkt.

Volksmärchen sind „Unterhaltung und Existenzerhellung“ (Max Lüthi). Sie weisen jeder Generation auf’s Neue die Wege, die sich bewährt haben. Sie tun das nicht so ernst wie die Mythen, aber in den zentralen Anliegen decken beide sich. Manchen Märchen gelingt es, die Moral so gut zu verpacken, dass man sie überhaupt nicht mehr als mahnend und störend empfindet.

WIE BAUER GROSCHENKLAUBER GEBURTSTAG FEIERTE

Es war einmal ein Bauer, der war so geizig, dass er niemandem etwas gönnte und sich selbst auch nicht. Er war hinter jedem Groschen her wie der Teufel hinter einer sündigen Seele. Die Leute hatten seinen richtigen Namen längst vergessen, niemand nannte ihn anders als Bauer Groschenklauber.

Nun rückte der Geburtstag des Bauern Groschenklaubers näher und er hoffte, hier umsonst zu einem guten Wein zu kommen. So schlug er seinen Schwiegersöhnen vor, dass er ihm jeder zum Geburtstag doch einen Bottich Wein schenken möge.

Da sagte sich der älteste Schwiegersohn: „Wenn die beiden jüngeren je einen Bottich Wein schenken, könnte ich dem Bauern einfach Wasser bringen. Und wenn man den Wein aus allen Bottichen zusammenschüttet, wird es niemand merken.“ Doch auch den jüngeren Schwiegersöhnen tat es um den Wein leid, sie hatten den gleichen Einfall. Inzwischen hatte Bauer Groschenklauber im Hof eine große Tonne bereitgestellt, in die sollten die Schwiegersöhne den geschenkten Wein gießen. Bauer Groschenklauber wollte dabei selbst den Anfang machen. „Aber meinen Wein hinein zu gießen, das wäre doch ewig schade. Ich will ein bisschen Wasser hineinschütten, niemand wird etwas merken.“ Und das tat er dann auch.

Am Geburtstag kamen die Schwiegersöhne zum Schwiegervater und beglückwünschten ihn. Jeder leerte, wie besprochen, den Inhalt seines Bottichs in die Tonne. Es wurde Mittag. Auf dem Tisch standen in dampfenden Schüsseln die Speisen.

„Ich will jetzt einmal ein Gläschen leeren“, sagte der Bauer Groschenklauber und trank mit Lust. Doch bald schüttelte er sich vor Abscheu. denn es war pures Wasser, aber er sagte laut: „Das ist aber wirklich ein vorzüglicher Wein, alles was Recht ist!“ Nun schenkten sich auch die Schwiegersöhne die Gläser voll und tranken mit Lust. „Aber das ist doch pures Wasser“, dachte sich jeder, doch sie ließen sich nichts anmerken, sondern lobten den Wein überschwänglich. „Den muss ich auch kosten, wenn alle ihn so lieben“, sagte sich der Knecht, und heimlich tat er einen tiefen Zug. Doch sofort spuckte er das Zeug wieder aus. „Pfui T!“, machte er seinem Herzen Luft, „ich verstehe nicht, was die feinen Herrschaften an so einem Gesöff finden!“1

SEPP AUF BRAUTSCHAU

„Es ist heute Kirchweih“, sagte die alte Bauersfrau, die seit Jahren krank im Bett lag. Sie richtete sich mühsam auf. „Sepp, und du wirst heute Abend wieder allein zu Tanz gehen, wie voriges Jahr und wie vorvoriges und wie immer. Hast du mir nicht versprochen, dir in diesem Jahre eine Frau zu nehmen? Aber es wird wohl nichts werden, solange ich lebe, und nachher auch nicht.“

Da antwortete der Sohn kleinlaut, dass die Mädchen im Dorf ihm alle gleich gut gefielen und dass er nicht wisse, welches er erwählen solle. „So geh ins Dorf“, sagte die Mutter, „und achte genau darauf, was die Mädchen, von denen du glaubst, dass sie für dich passen, machen, und dann komm zurück und sag es mir.“ Und der Sepp ging.

„Nun“, rief die Mutter, als er zurückkehrte. „Wie war‘s? Wo bist du gewesen?“ – „Bei der Ursel. Sie kam aus der Kirche, hatte ein schönes Kleid an und neue Ohrringe.“ Da seufzte die Mutter und sagte: „Geht sie oft in die Kirche, wird sie den lieben Gott bald vergessen lernen. Der Müller hört die Mühle auch nicht klappern. Nichts für dich, mein Junge.

Wohin bist du nachher gegangen?“ „Zur Käthe, Mutter.“ – „Was tat sie?“ – „Sie stand in der Küche und rückte an allen Töpfen und Tellern.“ – „Wie sahen die Töpfe aus?“ – „Schwarz.“ – „Und die Finger?“ – „Weiß.“ Da sagte die Mutter: „Schlicker, Schlecker! Naschig und lecker! Backt sich Kuchen und süßen Brei, vergisst die Kinder und ‘s Vieh dabei. Lass sie laufen, Sepp!“

„Darauf bin ich zur Bärbel gegangen. Sie saß im Garten und band drei Kränze – einen von Veilchen, einen von Rosen, einen von Nelken. Sie fragte mich, welchen sie zur Kirchweih aufsetzen solle.“

Die Mutter schwieg eine Weile und sagte dann: „Ein silbernes Herrchen und ein goldenes Närrchen gibt ‘ne kupferne Eh‘ und viel eisernes Weh! Weiter, mein Junge!“

„Zu viert bin ich zur Grete gekommen. Stand vor der Haustür und gab armen Leuten Butterbrote.“ Da schüttelte die Mutter den Kopf und sagte: „Tut sie heute etwas, was alle Leute sehen sollen, tut sie ein anderes Mal wohl etwas, was keiner sehen soll. Steht sie am Tage vor der Haustür, hat sie wohl am Abend auch schon dahinter gestanden. Wenn der Herr aufs Feld kommt, während die Leute essen, springen nur die faulen Knechte auf, um zu mähen, die fleißigen bleiben sitzen.

Bleib lieber ledig, Sepp, eh‘ du die nimmst! – Bist du nicht weiter gekommen?“

„Zuletzt bin ich noch zur Anne gegangen.“ – „Was tat sie?“ – „Gar nichts, Mutter!“ – „Sie wird doch irgendetwas getan haben?“, fragte die alte Bauerfrau noch einmal. „Nichts ist sehr wenig, Sepp!“– „Ganz ehrlich“, antwortete der Sohn, „sie machte gar nichts!“ – „Dann nimm die Anne, mein Junge! Das gibt die besten Frauen, die gar nichts tun, was die Burschen erzählen können!“

Und der Sepp nahm die Anne und wurde über–glücklich. „Mutter, Ihr hattet recht“, sagte er später oft.

Die Ursel und Käth‘,

die Bärbel und Gret‘,

die wiegen zusamm‘

nicht halb meine Ann‘!

Dann schmunzelte er: „Jetzt könnte ich Euch schon viel von ihr erzählen – aber ich tu es nicht.“2

DER BAUER UND DER KRÄMER

Ein Bauer kam in einen Kramladen. „Zeig mir mal das Glas dort mit den Bonbons!“ sagte er zum Krämer. Der Krämer gab es ihm, und der Bauer roch daran. „Nein, die will ich nicht, zeig mir die andern.“ Der Krämer tat es. Der Bauer roch daran, doch auch diese Bonbons behagten ihm nicht. „Zeig mir jene dort!“ rief er. Ärgerlich reichte ihm der Krämer die dritte Sorte. Ihr Geruch behagte dem Bauern wiederum nicht. Er stellte sie auf den Tisch zurück und schickte sich an, den Laden zu verlassen. Da wurde der Krämer wütend über die unnütz vergeudete Zeit. „Halt!“ rief er. „Du musst noch bezahlen!“ „Wofür?“ fragte der Bauer erstaunt. „Fürs Riechen!“ antwortete der Krämer. Da kehrte der Bauer um, zog einige Geldstücke aus der Tasche, ließ sie über den Tisch klingeln und steckte sie dann ein. „Warum nimmst du sie wieder an dich?“ rief der Krämer. „Was fragst du?“ gab jener zurück. „Wie der Kauf, so die Bezahlung. Ich hab an den Bonbons gerochen, und du hast das Geld klingeln gehört, somit sind wir quitt.“3

DER VERWÜNSCHTE ESEL

Es war einmal ein junger Taugenichts, der hatte allerlei Teufeleien im Sinn und hatte sein Leben noch nichts Vernünftiges getan, was alle Rechtschaffenen verdross. Zuletzt durfte er sich unter den ehrlichen Leuten nicht mehr sehen lassen.

Da lief er in den Wald zu einer Räuberbande und sagte, er hätte auch ihren Beruf, sie sollten ihn bei sich aufnehmen. Sie sagten: „Gut, aber mache erst dein Probestück.“

Da kam just ein Bauer durch das Holz gelaufen, der zog einen Esel hinter sich her. Die Räuber sagten: „Geh hin und nimm dem Bauer den Esel weg, ohne dass er davon etwas merkt.“ Da schlich der Taugenichts hinter dem Bauer her, streifte dem Esel den Halfterzaum vom Kopf, tat ihn sich selbst um und ließ den Esel ins Holz laufen, wo ihn die Räuber fingen. Der Bauer hatte nichts bemerkt. Er schritt immer weiter durch das Holz und der Dieb an dem Eselstrick hinter ihm her.

Als der Dieb aber müde wurde, blieb er stehen und sagte: „Ach, lieber Herr, schenkt mir die Freiheit!“ Da sah sich der Bauer um und erschrak gewaltig, als er sah, dass er einen Menschen am Zaum hatte. „Herrje“, rief er, „ich meinte, du wärst ein Esel. Wie kommt es, dass du auf einmal ein Mensch bist?“

„Ach Herr“, klagte der Dieb, „als ich ein kleiner Junge war, hab ich nichts Gutes getan und immer nur Karten gespielt. Da hat mich meine Mutter auf sieben Jahre in einen Esel verwünscht. Schenkt mir doch die Freiheit!“

Da sagte der Bauer: „Was soll ich mit dir machen? Ich kann dich ja doch nicht als Esel gebrauchen.“ So ließ er ihn gehen. Der Dieb lief zurück zu den anderen Spitzbuben und fragte er: „Und? Habe ich mein Probestück gut gemacht?“ Sie sagten: „Ja, du musst aber morgen auf den Markt, um den Esel zu verkaufen.“

Der Bauer aber ging nach Hause und sagte zu seiner Frau: „Denk nur, unser Esel ist unterwegs zu einem Menschen geworden, denn seine Zeit war um.“ „Hab ich dir nicht immer gesagt“, wetterte die Frau, „unser Esel wäre so klug, er hätte mehr Verstand als mancher Mensch? Nun musst du morgen auf den Markt, um einen neuen zu kaufen. Aber nimm dich in Acht, dass es dir nicht wieder so geht.“

Am nächsten Morgen ging der Bauer auf den Markt, um einen neuen Esel zu kaufen. Da standen viele Esel in einer Reihe und wie er genau hinsah, war auch sein alter Esel darunter. Der Bauer schmunzelte und dachte: ‚Mit dem wird heute wieder einer betrogen.‘

Er zeigte auf den Esel und rief: „Wer den kennt, der kauft ihn nicht. Mehr will ich nicht sagen.“ Damit gab er dem Esel eins über den Rücken und raunte ihm ins Ohr: „Sag, hast du wieder Karten gespielt? Mich täuschst Du nicht noch einmal!“4

DER BETRUNKENE HAHN

Es war einmal ein betrunkener Hahn, der suchte auf einem Hügel kleine Zweige und fand eine Geldbörse. Er sagte: „Ich will dem König diese Börse bringen.“ Er machte sich mit der Börse im Schnabel auf den Weg.

Er kam an einen Fluss und sagte: „Fluss, tritt zurück, damit ich hinübergehen kann.“

Aber der Fluss kümmerte sich nicht darum. Da trank der Hahn das ganze Wasser aus.

Er ging weiter und traf einen Fuchs: „Lass mich vorbei.“ Doch weil der Fuchs sich nicht rührte, verschlang er ihn. Er ging weiter und stieß auf eine Fichte: „Geh aus dem Weg, damit ich vorbeikann.“ Doch da sie sich nicht regte, schob der betrunkene Hahn sie in sich hinein.

Weiter des Wegs traf er einen Wolf und schluckte ihn, danach auch noch eine Eule.

Als der in das Schloss des Königs kam, fragte er nach dem König und gab ihm die Geldbörse. Der König befahl daraufhin, ihn in den Hühnerstall zu sperren und gut zu behandeln.

Als der betrunkene Hahn sich im Hühnerstall befand, begann er zu krähen:

Kikerikiii,

meine Börse mit Geld, man bringe mir sie.

Als er sah, dass nichts passierte, ließ er den Fuchs heraus, den er auf dem Weg verschlungen hatte. Der Fuchs fraß die gesamte Hühnerschar auf. Man erstattete Meldung von dem Vorfall, und der König befahl, das betrunkene Hähnchen in einen Gläserschrank zu sperren. So geschah es, aber das betrunkene Hähnchen krähte weiter:

Kikerikiii,

meine Börse mit Geld, man bringe mir sie.

Wieder passierte nichts. Da ließ es die Fichte heraus und alle Gläser im Gläserschrank brachen entzwei. Da befahl der König, das betrunkene Hähnchen in einen Pferdestall zu sperren. Dort krähte es die ganze Zeit:

Kikerikiii,

meine Börse mit Geld, man bringe mir sie.

Dann ließ es den Wolf heraus, und der Wolf fraß die Pferde. Darauf befahl der König, das betrunkene Hähnchen in eine Ölkanne zu stecken, aber es ließ nun die Eule heraus und die trank das ganze Öl aus.

Da der König nun nicht mehr wusste, was er tun sollte, ließ er den Backofen anheizen und das Hähnchen dort hineinstecken. Aber selbst im Backofen begann es zu krähen:

Kikerikiii,

meine Börse mit Geld, man bringe mir sie.

und ließ den Fluss heraus, den es getrunken hatte. Als das Schloss schon fast unter Wasser stand, befahl der König, man solle dem Hähnchen die Geldbörse bringen und es dann fortschicken, bevor es den ganzen Fluss hinauslassen könnte.

Da lief der betrunkene Hahn fröhlich heim – mit der Geldbörse im Schnabel.5

DER GEIZHALS

Es war einmal ein reicher Kaufmann, der hieß Mark und es gab keinen ärgeren Geizhals als ihn. Einmal ging Mark spazieren, da traf er auf dem Wege einen Bettler, der war ein alter Mann und bat um ein Almosen.

„Gebt, Rechtgläubige, um Christi willen!“

Mark der Reiche ging an dem Bettler vorüber, aber hinter ihm kam ein armer Bauer, der hatte Erbarmen mit dem Alten und gab ihm eine Kopeke. Da schämte sich der Reiche, blieb stehen und sagte zu dem Bauern: „Höre, Landsmann, leihe mir eine Kopeke, ich will sie dem Armen geben und habe kein kleines Geld.“ Der Bauer gab Mark eine Kopeke und fragte: „Und wann kann ich mir mein Geld wieder holen?“

„Komm morgen zu mir.“

Am nächsten Tag kam der Arme in des Reichen schönen Hof, um seine Kopeke zu holen.

„Ist Mark der Reiche zu Hause?“

„Ja, was willst du?“

„Ich komme wegen meiner Kopeke.“

„Ach, Bruder, komm später wieder, ich habe wirklich kein Kleingeld.“

Der Arme sagte: „Ich komme morgen wieder“, verneigte sich und ging.

Am nächsten Morgen kam er, da hieß es:

„Ich habe wirklich gar kein Kleingeld, außer du willst auf hundert herausgeben – sonst – komm in zwei Wochen wieder.“

Nach zwei Wochen kam der arme Bauer wieder zu Mark. Als der ihn durch das Fenster kommen sah, sagte er zu seiner Frau:

„Hör, Frau, ich ziehe mich nackt aus und lege mich unter das Heiligenbild. Deck mich mit einem Leintuche zu, setz dich hin und weine, als wäre ich tot. Kommt der Bauer um sein Geld, sag ich wäre heute gestorben.“ Gut, wie es der Reiche befohlen hatte, tat sein Weib. Sie saß da und zerfloss in heißen Tränen, als der Bauer ins Zimmer trat, und fragte ihn:

„Was willst du?“

„Ich komme zu Mark dem Reichen, wegen seiner Schuld“, sagte der Bauer.

„Ach, Bäuerlein, gerade ist er gestorben.“

„Leicht sei ihm das Himmelreich! Erlaub, Frau, dass ich ihm für meine Kopeke einen Dienst erweise und seinen sündigen Leib abwasche.“

Mit diesen Worten ergriff er einen Topf mit siedendem Wasser und brühte Mark damit ab. Mark hielt es kaum aus und zuckte mit den Beinen.

„Zapple so viel wie du willst, aber gib die Kopeke zurück!“ sagte der Arme. Er wusch und schmückte den Kaufmann wie es sich schickt und sprach zur Frau:

„Geh Frau, kauf einen Sarg und lass Mark in die Kirche tragen, ich werde bei ihm bleiben und Psalter für ihn lesen.“

Da legten sie Mark in den Sarg und trugen ihn in die Kirche und der Bauer las Psalter für ihn.

Die dunkle Nacht brach an und plötzlich ging in der Kirche ein Fenster auf und Diebe stiegen ein. Der Bauer verbarg sich hinter dem Altar.

Die Diebe verteilten Beute untereinander, aber bei der Verteilung blieb ein gold‘ner Säbel übrig, den wollte jeder von ihnen haben. Da sprang der Arme hervor und schrie: „Was streitet ihr lange? Wer von euch diesem Toten den Kopf abschlägt, dem gehört der Säbel!“

Da sprang Mark der Reiche voller Angst auf. Die Diebe erschraken, warfen ihre Schätze nieder und liefen davon.

„Nun, Bäuerlein, lass uns das Geld teilen.“

Sie teilten alles in zwei gleiche Teile und für jeden gab es viel. „Was ist es mit der Kopeke?“ fragte der Bauer.

„Ach, Bruder, du siehst es ja selbst, ich habe kein Kleingeld.“ So kam es, dass Mark der Reiche die Kopeke nicht zurückzahlte.6

MEISEN

Eines schönen, oder eher nicht so schönen Tages, kam wieder mal alles zusammen. Das durchaus nicht unübliche und gewohnte Chaos hatte an Fahrt aufgenommen und sich zu einem unbekömmlichen, schwer zu durchschauenden Durcheinander ausgewachsen.

Ein Techniker war dabei, eines unserer Röntgengeräte zu überprüfen und im Vorbeigehen sagte ich zu ihm: „Also i glaub, heit hauts mir no a Vogel naus hier!“

Er schaute mich nur kurz an, erfasste die Problematik unverzüglich und antwortete:

„Ich verstehe! Über der Uni kreist bereits ein ganzer Meisenschwarm!“ Genial, diese Schlagfertigkeit!.

Später dachte ich darüber nach und kam zu folgender Schlussfolgerung: nach etlichen Berufsjahren und mit wachsender Lebenserfahrung ist es doch gar nicht so ungewöhnlich, dass man so einen kleinen Vogel im Oberstübchen beherbergt; warum auch nicht? Er trällert da oben sein Liedchen, fühlt sich wohl und versüßt unser Leben mit allerlei Kurzweil. Schlimm wird es dann, wenn es ihm zu viel wird und er Reißaus nimmt. Das ist dann eben der Moment, wo es uns den Vogel hinaushaut!7

II Mit Witz und List gegen die Mächtigen

Wie soll man sich gegen mächtige und reiche Menschen wehren, wenn sie ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, wenn sie andere bedrücken, übervorteilen, von sich abhängig machen, gar berauben? Schon die Propheten des Alten Testaments haben damit gerungen und Gerechtigkeit eingefordert.

Auch die Volksmärchen ringen mit diesem Thema. Der Philosoph Franz Vonessen war überzeugt von der großen Rolle, welche die Gerechtigkeit im Volksmärchen spielt: „Das Märchen in seinen eindringlichsten Beispielen steht fest im Glauben an die Gerechtigkeit.“ Es zeigt uns die Vergeblichkeit immer wieder auf’s Neue, etwas Falsches und Schlechtes mit Gewalt erreichen zu wollen. Der unerschütterliche Glaube des Märchens an die Gerechtigkeit führt zum glücklichen Ende so vieler Geschichten, die uns Mut machen, wie die Märchenhelden selbst heiter und gelassen, aber auch findig und entschlossen mit den Ungerechtigkeiten der eigenen Zeit umzugehen.

WIDEWAU

Vor langer Zeit lebte einmal ein Müller, der war ein grober Mann und ein rechter Geizhals dazu und niemand wollte gerne etwas mit ihm zu tun haben. Doch weil er weit und breit der einzige Müller war, mussten die Leute doch bei ihm mahlen lassen und so wurde er reich und hochmütig. Er war so knickerig, dass er weder Mahlburschen noch Magd hielt. Der schuftete lieber selbst und Frau wie Tochter mussten wie Mägde schuften.