Geh und füll das Sieb mit Wasser! - Jürgen Wagner - E-Book

Geh und füll das Sieb mit Wasser! E-Book

Jürgen Wagner

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Beschreibung

'Geh und füll das Sieb mit Wasser!' – wie der Heldin aus einem englischen Märchen stellt auch uns das Leben manchmal vor unlösbar scheinende Aufgaben. Die MärchenheldInnen lösen das mit einem Menschheitswissen, das im schamanischem Animismus wurzelt. Da wusste man: die Welt ist beseelt! Bildhaft erzählen die Märchen noch heute davon: da sprechen Tiere, helfen Winde, raten Naturgeister und man hat gegen Unholde und Drachen zu kämpfen. Übersetzen wir die Bilder, können sie uns helfen, uns wieder in der Welt heimisch zu fühlen und die Aufgaben unserer Zeit mutig anzugehen. Alles in allem ein aufregendes Buch, das einen großen Bogen schlägt zu den Erfahrungen der frühen Menschheit, die die Volksmärchen bewahrt haben, in welcher Zeit man vermutlich auch begonnen hat, sich am Feuer Geschichten zu erzählen.

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Seitenzahl: 187

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Geh und füll das Sieb mit Wasser!

Der schamanisch-animistische Hintergrund unserer Volksmärchen

Jürgen Wagner

Impressum

Copyright: © 2025 Jürgen Wagner

Epubli Berlin

www.epubli.de

Titelbild: Jane Ray, The Well, 2000, Wikimedia Commons

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

1. Der Aufstieg in die ‚himmlische‘ Welt

Der Wunderbaum

2. Die Reise in die Unterwelt

Die zertanzten Schuhe

3. Die Begegnung mit dem geistigen Helfer

Die Nixe im Teich

4. Die Begegnung mit dem Krafttier

Der Brunnen am Ende der Welt Gevatterin Kröte

5. Der mutige Wanderer

Der gläserne Sarg

6. Tod und Wiedergeburt

Von dem Machandelboom

7. Die Macht der Liebe

Östlich der Sonne und westlich vom Mond

8. Reife und Mitgefühl

Der goldene Vogel

9. Die alte Weise

Die Gänsehirtin am Brunnen

10. Tierheit und Menschheit

Das Borstenkind

11. Der Morgen ist weiser als der Abend

Wassilissa, die Wunderschöne

Anhang

VORWORT

‚Geh und füll das Sieb mit Wasser!‘ – wie der Heldin aus dem englischen Märchen1 stellt auch uns das Leben manchmal unlösbare scheinende Aufgaben. Die Volksmärchen erzählen dies nicht nur zur Unterhaltung. Sie haben ein Menschheitswissen bewahrt, das uns auch heute noch helfen kann, mit schwierigsten Situationen umzugehen. Diese Geschichten schöpfen aus dem Strom der Lebenserfahrung der Völker, die in den Jäger-Sammler-Kulturen Form annahm. Deren Weltsicht, Kultur und Religion umschreiben wir heute mit schamanischem Animismus. Kurz gesagt: die Welt ist beseelt! Nicht nur Menschen, Tiere und Pflanzen sind lebendig, auch der Wind, das Feuer, die Flüsse, die Sterne! Vieles machte Angst, weil man es nicht kannte und so vieles war bedrohlich. Da konnten manchmal die Schamanen helfen, die in der Lage waren, mit den Dingen zu kommunizieren, so dass man Vereinbarungen treffen, um Hilfe bitten oder ein Unheil oder eine Krankheit auch mal rituell-magisch beenden konnte. Hilfe gab es in Träumen, in der Trance, in Eingebungen, von Tier-, Pflanzen- und Naturgeistern.

Auf diesem Hintergrund wird deutlicher, warum die Märchen so sind, wie sie sind. Warum geht es in ihnen so zauberhaft zu, so magisch? Warum sprechen dort die Tiere und Naturgeister, müssen Menschen erlöst und befreit werden? Warum sind die Erzählungen ganz auf das Gute ausgerichtet und beschwören ein glückliches Ende? Das alles wird klarer, wenn wir die Märchen auf diesem schamanisch-animistischen Hintergrund lesen, von dem sie zehren und dem sie sich letztlich verdanken.

In den Märchen scheint die Welt viel lebendiger zu sein als unsere Alltagswirklichkeit: da sprechen Tiere, da erscheinen Erdgeister, da helfen Winde, raten Sonne und Mond, da werden Zaubergaben geschenkt, es wird gegen Drachen und Zauberer gekämpft und um die schöne Prinzessin oder den stattlichen Prinz geworben. Das alles sind natürlich Bilder. Aber wenn wir sie übersetzen, werden wir merken: die Natur ist immer noch lebendig und zauberhaft! Und die Ungeheuer, gegen die wir zu kämpfen haben, gibt es in vielerlei Gestalt nach wie vor. Immer noch sind wir auf der Suche nach der Liebe, nach dem Glück, aber auch nach dem, was heilt, erlöst, befreit – und müssten wir dafür bis ans Ende der Welt gehen!

Ist die Welt nicht immer noch seelenvoll und kommuniziert mit uns? Die Sonne muss nicht „Guten Morgen!“ sagen und der Mond nicht „Gute Nacht!“ Sie sagen es schon mit ihrem Aufgehen und wer das begrüßen kann, hat in ihnen treue Gefährten.2

Die Märchen haben so viel bewahrt von dem, was durch das Christentum in die Versenkung verschwunden ist:

Im Märchen haben die

Krafttiere und Naturgeister

des Schamanen und die Totemtiere der Stämme überlebt als die Begleittiere und Helfer des Märchenhelden

3

. Sie sind ebenso magisch, hilfreich und rettend wie sie es auch für die Naturvölker waren und hier und da auch noch sind.

Im Märchen finden wir die Ehrung der

Ahnen

wieder als die große Hilfe der Märchen-Alten, die von irgendwoher kommen und irgendwohin wieder verschwinden.

Im Märchen können

Menschen

zu Tieren und

Tiere

zu Menschen werden. Das kannten die Menschen vom Schamanen, in dem sich ein Tiergeist manifestieren kann oder er selber auch in und mit dem Tiergeist reisen kann. Der Schamane selbst trägt in seiner Ritualkleidung die Signen seiner Krafttiere: Geweih, Federn, Klauen etc. Er kann kurzzeitig zum Tier werden wie umgekehrt auch die Tiergeister sich durch ihn und mit ihm menschlich artikulieren und präsentieren können.

Im Märchen finden wir den Ausgleich von

Nehmen und Geben

zwischen dieser und der anderen Welt wieder.

Im Märchen spiegelt sich der

initiatische Weg

des Schamanen wie des jungen Mannes und der jungen Frau wieder als die

Heldenreise

derer, die über die sieben Berge gehen, in den tiefen Brunnen springen, den himmelhohen Baum erklettern, das Wasser vom Brunnen am Ende der Welt schöpfen und das Licht aus der Hütte der Baba-Jaga mit den vielen Totenschädeln holen. Sie zeigen Mut, dienen treu und werden reich belohnt. Umgekehrt sind sie auch gierig, faul und bekommen ihre gerechte Strafe. Oft zeichnet das Märchen den schwarz-weißen Gegensatz, der sehr klar macht, worum es geht – und worum nicht.

Im Hollemärchen KHM 26 reisen die Heldinnen durch die Oberwelt, in „Die zertanzten Schuhe“ KHM 133 ist eine typische Unterweltsfahrt geschildert. Das Mädchen, das zum „Brunnen am Ende der Welt“ wandert, bewegt sich, schamanisch gesprochen, in der mittleren Welt, bis sein Helfertier ihm die Lösung seiner Aufgabe zeigt.

4

Ausgesprochen magisch ist das Lebenswasser in KHM 97, das nur durch den Rat eines Zwerges gefunden werden kann. Es dient allein der Heilung und “quillt aus einem Brunnen in dem Hofe eines verwünschten Schlosses“, das so gut wie unbetretbar ist. Auch hier zeigt sich das alte schamanische Wissen, das kein Uneingeweihter und Unwürdiger erringen darf. Immer sind die Märchen auf das Gute aus so wie auch der Schamane und die Schamanin dazu verpflichtet sind, ihrem Stamm und Volk in Rat und Tat zu helfen.

Auf diesem Hintergrund könnten wir die Volksmärchen neu lesen und sie als Zugang zu einem alten Wissen nutzen. Sie öffnen uns das Tor zu einer frühen Phase Menschheit, auch in uns selbst. Das war die Zeit, als die Welt noch magisch und geistvoll erlebt wurde. Wir haben das alle in uns und durchleben es in unserer Kindheit als magische und mythische Zeit, bis wir die Urteilsfähigkeit entwickeln und anfangen, auch kritisch nachzu-fragen.

Die Volksmärchen tradieren altes Wissen, aber sie mussten es auch mit neuen Traditionen wie den Hochreligionen in Einklang bringen. So integrierten sie in Europa die christliche Nächstenliebe und Frömmigkeit genauso wie in Asien das buddhistische Ethos des Mitgefühls oder in Afrika die Götter und Mythen einzelner Stämme.5

Aber die Märchen tun auch selbst einiges hinzu von den Dingen, von denen wir alle leben: die Liebe, der Humor, die Unterhaltung, die Hoffnung und das Glück. So sind die ausgewählten Märchen dieses Buches nicht nur Übermittler von Weisheit, sie sind auch gute Unterhaltung für uns heute, Nahrung für Seele und Geist und Mutmacher zu Liebe und Lebensglück.

1. Der Aufstieg in die ‚himmlische‘ Welt

Der Wunderbaum

Ein Hirtenjunge erblickte eines Tages, als er die Schafe weidete, auf dem Felde einen Baum, der war so schön und groß, dass er lange Zeit voll Verwunderung dastand und ihn ansah. Aber die Lust trieb ihn hinzugehen und hinaufzusteigen; das wurde ihm auch sehr leicht, denn an dem Baume standen die Zweige hervor wie Sprossen an einer Leiter. Er zog seine Schuhe aus und stieg und stieg in einem fort neun Tage lang. Siehe, da kam er in ein weites Feld, da waren viele Paläste von lauter Kupfer, und hinter den Palästen war ein großer Wald mit kupfernen Bäumen, und auf dem höchsten Baume saß ein kupferner Hahn; unter dem Baume war eine Quelle von flüssigem Kupfer, die sprudelte immerfort, und das war das einzige Getöse; sonst schien alles wie tot, und niemand war zu sehen, und nichts regte und rührte sich.

Als der Knabe alles gesehen, brach er sich ein Zweiglein von einem Baum, und weil seine Füße vom langen Steigen müde waren, wollte er sie in der Quelle erfrischen. Er tauchte sie ein, und wie er sie herauszog, so waren sie mit blankem Kupfer überzogen; er kehrte schnell zurück zum großen Baum; der reichte aber noch hoch in die Wolken, und kein Ende war zu sehen. "Da oben muss es noch schöner sein!" dachte er und stieg nun abermals neun Tage aufwärts, ohne dass er müde wurde, und siehe da kam er in ein offenes Feld, da waren auch viele Paläste, aber von lauter Silber, und hinter den Palästen war ein großer Wald mit silbernen Bäumen, und auf dem höchsten Baum saß ein silberner Hahn; unter dem Baum war eine Quelle mit flüssigem Silber, die sprudelte immerfort, und das war das einzige Getöse, sonst lag alles wie tot, und niemand war zu sehen, und nichts regte und rührte sich.

Als aber der Knabe alles gesehen hatte, brach er sich ein Zweiglein von einem Baum und wollte sich aus der Quelle die Hände waschen; wie er sie aber herauszog, waren sie von blinkendem Silber überzogen. Er kehrte schnell zurück zum großen Baum, der reichte noch immer hoch in die Wolken, und es war noch kein Ende zu sehen. "Da oben muss es noch schöner sein!" dachte er und stieg abermals neun Tage aufwärts, und siehe da war er im Wipfel des Baumes, und es öffnete sich ein weites Feld; darauf standen lauter goldene Paläste, und hinter den Palästen war ein großer Wald mit goldenen Bäumen, und auf dem höchsten Baum saß ein goldener Hahn; unter dem Hahn war eine Quelle mit flüssigem Golde, die sprudelte immerfort, und das war das einzige Getöse; sonst lag alles wie tot, und niemand war zu sehen, und nichts regte und rührte sich. Als der Knabe alles gesehen hatte, brach er sich ein Zweiglein von einem Baum, nahm seinen Hut ab, bückte sich über die Quelle und ließ seine Haare ins sprudelnde Gold hineinfallen. Als er sie aber herauszog, waren sie übergoldet. Er setzte seinen Hut auf, und wie er alles gesehen hatte, kehrte er zurück zum großen Baum und stieg nun in einem fort wieder hinunter und wurde gar nicht müde. Als er auf der Erde angelangt war, zog er seine Schuhe an und suchte seine Schafe; doch er sah von ihnen keine Spur. In weiter Feme aber erblickte er eine große Stadt; jetzt merkte er, dass er in einem andern Lande sei. Was war zu tun.

Er entschloss sich hineinzugehen und sich dort einen Dienst zu suchen. Zuvor jedoch versteckte er die drei Zweiglein in seinen Mantel, und aus dem Zipfel desselben machte er sich Handschuhe, um seine silberigen Hände zu verbergen.

Als er in der Stadt ankam, suchte der Koch des Königs gerade einen Küchenjungen und konnte keinen finden; indem kam ihm der Knabe zu Gesicht. Er fragte ihn, ob er um guten Lohn Dienste bei ihm nehmen wolle. Der Junge war da zufrieden unter einer Bedingung: er solle den Hut, den Mantel, die Handschuhe und die Stiefel nie ablegen müssen, denn er habe einen bösen Grind und müsste sich schämen. Das war dem Koch nicht ganz recht; allein weil er sonst niemanden bekommen konnte, musste er einwilligen. Er gedachte bei sich: "Du kannst ihn ja immer nur in der Küche verwenden, dass niemand ihn sieht." Das währte so eine Zeitlang. Der Junge war sehr fleißig und tat alle Geschäfte, die ihm der Koch auftrug, so pünktlich, dass ihn dieser sehr liebgewann.

Da geschah es, dass wieder einmal Ritter und Grafen erschienen waren, die es unternehmen wollten, auf den Glasberg zu steigen, um der schönen Tochter des Königs, die oben saß, die Hand zu reichen und sie dadurch zu erwerben. Viele hatten es bisher vergebens versucht; sie waren alle noch weit vom Ziele ausgeglitscht und hatten zum Teil den Hals gebrochen. Der Küchenjunge bat den Koch, dass er ihm erlauben möchte, von ferne zuzusehen. Der Koch wollte es ihm nicht abschlagen, weil er so treu und fleißig war, und sagte nur: "Du sollst dich aber versteckt halten, dass man dich nicht sieht!" Das versprach der Junge und eilte in die Nähe des Glasberges.

Da standen schon die Ritter und Grafen in voller Rüstung mit Eisenschuhen, und sie fingen bald an, der Reihe nach hinaufzusteigen; allein keiner gelangte auch nur bis in die Mitte, sie stürzten alle herab, und manche blieben tot liegen. Nun dachte der Knabe bei sich: "Wie wäre es, wenn du auch versuchtest?" Er legte sogleich Hut und Mantel und Handschuhe ab, zog seine Stiefel aus und nahm den kupfernen Zweig in die Hand, und ehe ihn jemand bemerkt hatte, war er durch die Menge gedrungen und stand am Berge; die Ritter und Grafen wichen zurück und sahen und staunten; der Knabe aber schritt sogleich den Berg hinan ohne Furcht, und das Glas gab unter seinen Füßen nach wie Wachs und ließ ihn nicht ausgleiten. Als er nun oben war, reichte er der Königstochter demütig das kupferne Zweiglein, kehrte darauf sogleich um, stieg hinab, fest und sicher, und ehe sich's die Menge versah, war er verschwunden.

Er eilte in sein Versteck, legte seine Sachen an und war schnell in der Küche. Bald kam auch der Koch und erzählte seinem Jungen die Wunderdinge von dem schönen Jüngling mit den kupfernen Füßen, den silbernen Händen und den goldenen Haaren, und wie er den Glasberg erstiegen und ein kupfernes Zweiglein der Königstochter gereicht habe und wie er dann wieder verschwunden sei; dann fragte er den Jungen, ob er das auch gesehen habe. Der Junge sagte: "Nein, das habe ich nicht gesehen, das war ich ja selbst!" Aber der Koch lachte über den dummen Einfall und erwiderte im Scherz: "Na, da müsste ich dann ein großer Herr werden!"

Am andern Tage wollten es mehrere Ritter und Grafen wieder versuchen und versammelten sich vor dem Glasberg. Der Junge bat den Koch abermals, er möchte ihm erlauben, aus der Ferne zuzusehen. Der Koch konnte es ihm nicht abschlagen und sagte nur: "Du sollst dich aber versteckt halten, dass niemand dich sieht!" Das versprach der Junge und eilte an seinen gestrigen Platz. Die Ritter fingen an hinaufzusteigen, allein vergebens: sie stürzten alle herab, und mehrere blieben tot. Der Junge zögerte nicht länger und versuchte zum zweiten Mal. Er hatte schnell seine Kleider abgelegt; er nahm das silberne Zweiglein und schritt, ehe man es merken konnte, woher er kam, durch die Menge, und alles wich vor ihm zurück, und er ging ruhig und sicher den Glasberg hinan, und das Glas gab nach wie Wachs und zeigte die Spuren, und wie er oben war, überreichte er demütig der Königstochter das Zweiglein; gerne hätte sie auch seine Hand gefasst; er aber kehrte gleich zurück und schritt hinab und war in der Menge auf einmal verschwunden. Er warf seine Kleider um und eilte nach Hause. Bald kam auch der Koch und erzählte wieder von den Wunderdingen, von dem schönen Jüngling mit den kupfernen Füßen, den silbernen Händen, den goldenen Haaren und wie er hinaufgestiegen, der Königstochter ein silbernes Zweiglein gereicht, wie er herabgekommen und verschwunden sei. Er fragte seinen Jungen, ob er das nicht gesehen. Der Junge sagte: "Nein, das habe ich nicht gesehen, das war ich selbst!" Der Koch lachte wieder recht herzlich und sagte im Scherz; "Da müsste ich auch ein großer Herr werden!"

Am dritten Tage wollten es einige Ritter und Grafen noch einmal versuchen und versammelten sich vor dem Glasberg. Der Junge bat den Koch wieder, er möchte ihm erlauben, aus der Ferne zuzusehen. Der Koch wollte es ihm' nicht abschlagen und sagte nur; "Du sollst dich aber versteckt halten, dass niemand dich sieht!" Das versprach der Junge und eilte sogleich an seinen Platz. Die Ritter und Grafen versuchten's, aber umsonst; sie stürzten alle herab, und mehrere blieben tot liegen. Der Knabe dachte: "Noch einmal willst du es auch versuchen; er warf seine Kleider von sich, nahm das goldene Zweiglein und eilte, noch ehe man's merken konnte, woher er kam, durch die Menge bis zum Glasberg; alles wich vor ihm zurück. Da schritt er fest und sicher hinan, und das Glas gab nach wie Wachs und zeigte die Spuren, und als er oben war, überreichte er demütig das Goldzweiglein der Königstochter und bot ihr die rechte Hand; sie ergriff sie mit Freuden und wäre gern mit ihm den Berg hinabgestiegen. Der Junge aber machte sich frei und stieg allein hinunter und war wieder schnell unter der Menge verschwunden. Er legte seine Kleider an und eilte zurück an seinen Platz in die Küche. Als der Koch nach Hause kam, erzählte er von den Wunderdingen, von dem schönen Jüngling mit den kupfernen Füßen, den silbernen Händen, den goldenen Haaren und wie er zum dritten Mal den Glasberg erstiegen, der Königstochter ein goldenes Zweiglein gereicht und ihr die Hand geboten habe, wie er aber allein wieder herabgestiegen und unter der Menge verschwunden sei; er fragte ihn, ob er das nicht gesehen hätte. Der Junge sagte wieder: "Nein, das habe ich nicht gesehen, das war ich selbst!" Der Koch lachte wieder über den dummen Einfall und sprach: "Da müsste ich auch ein großer Herr werden!" Der König aber und die Königstochter waren sehr traurig, dass der schöne Junge nicht erscheinen wollte. Da ließ der König ein Gebot ausgehen, dass alle jungen Burschen aus seinem Reiche barfüßig, ohne Kopfbedeckung und ohne Handschuhe vor dem König der Reihe nach vorübergehen und sich zeigen sollten. Sie kamen und gingen, aber der rechte, nach dem man suchte, war nicht unter ihnen. Der König ließ darauf fragen, ob sonst kein Junge mehr im Reich wäre. Der Koch ging sofort zum König und sprach: "Herr, ich habe noch einen Küchenjungen bei mir, der mir treu und redlich dient; der ist es aber gewiss nicht, nach dem ihr sucht! Denn er hat einen bösen Grind, und er trat nur unter der Bedingung zu mir in den Dienst, dass er Handschuhe, Mantel, Hut und Stiefel nie ablegen dürfe." Der König aber wollte sich überzeugen, und die Königstochter freute sich im Stillen und dachte: "Ja, der könnte es sein!" Der Koch musste dableiben; ein Diener brachte den Küchenjungen herein, der sah aber ganz schmutzig aus. Der König fragte: "Bist du es, der dreimal den Glasberg erstiegen hat?" - "Ja, das bin ich!" sprach der Junge, "und ich habe es auch meinem Herrn immer gesagt!" Der Koch fühlte bei diesen Worten den Boden nicht unter seinen Füßen, und die Rede blieb ihm eine Zeitlang stehen; endlich sagte er: "Aber wie kannst du hier so reden" Der König achtete indes nicht darauf, sondern sprach gleich zum Jungen: "Wohlan, entblöße dein Haupt, deine Hände und Füße!" Alsbald warf der Junge seine Kleider ab und stand da in voller Schönheit und reichte der Jungfrau die Hand, und sie drückte sie und war über die Maßen froh; es wurde die Hochzeit gefeiert, und nicht lange darauf übergab der König das Reich dem Jungen. "Glaubst du nun, dass ich es war, der dreimal den Glasberg erstiegen?" sprach der Junge zum Koch. "Was sollt' ich denn glauben, wenn ich das nicht glaubte!" sprach der Koch und bat um Verzeihung. "Nun, so sollst du auch ein großer Herr werden, wie du hofftest, und über alle Köche im Reich die Aufsicht führen."

Die junge Königin aber hätte gar zu gerne gewusst, woher ihr Gemahl die drei Zweiglein und die kupfernen Füße, die silbernen Hände und das goldige Haar habe. "Das will ich dir, mein Kind, nun sagen!" sprach der junge König eines Tages, "und du sollst auch selbst sehen, wie das zugegangen!" Er wollte mit ihr noch einmal auf den Wunderbaum steigen und die Herrlichkeit ihr zeigen; allein, als er an die Stätte kam, so war der Baum verschwunden, und kein Mensch hat weiter davon etwas gehört und gesehen.6

***

In unserem Eingangsmärchen sieht ein einfacher Hirtenknabe den, wie es in den ungarischen Parallel-Erzählungen heißt, ‚himmelhohen Baum‘. Dahinter verbirgt sich der mythische Weltenbaum, den viele Völker als Symbol in ihrerer Tradition haben. Fast jeder Schamane hat ihn in irgendeiner Weise bei sich. Der dreiteilige Weltenbaum ist ein Bild für die Einheit des Lebens, aber auch für unsere Orientierung: oben ist der Himmel, unten das dunkle Erdreich, dazwischen leben wir auf der Erde. Im Schamanismus ist die Dreigliederung auch auf die geistige Ebene übertragen. Es gibt

die lichte Oberwelt mit dem Vogel als Repräsentant der Luft- und Geistwesen,

die dunkle Unterwelt mit der Quelle und dem Reich der Toten,

die Mittelwelt mit den irdischen Wesen.

Die christliche Religion machte daraus einen scharfen Gegensatz: unser Leben zwischen Himmel und Hölle, Leben und Tod, Erlösung und Verdammnis. Doch ursprünglich gibt es diesen Dualismus nicht: oben und unten sind wertneutral. Auch im Märchen ist der Sprung in den tiefen Brunnen zugleich die Reise auf die himmlische Wiese (KHM 24). Wir selbst sind es, die Gold oder Pech, Himmel oder Hölle durch unser Verhalten heraufbeschwören.

Das Märchen hat einen deutlichen Anklang an die germanische Mythologie. Neun Nächte hing Odin am „windigen Baum“, neun Tage steigt der Märchenheld in die Höhe. ODINS Selbstopfer und seine Hingabe an den Weltenbaum waren es, die ihm die Magie der Runen und die Grundkräfte des Lebens erschlossen haben.7 Die drei Ebenen des "Wunderbaumes" sind eigentlich die Ober-, Unter- und Mittelwelt des schamanischen Weltenbaums. In der germanischen Mythologie sitzt in dessen Wipfel ein Adler. Das Märchen macht aus dem Adler den – auch im Hollemärchen begegnenden - Hahn, gliedert die Welten in die Metalle Kupfer, Silber und Gold und lässt den Helden – statt der Runen - drei Zweige mitnehmen, die ebenfalls magisch wirksam sind. Am Ende bekommt der Hirtenjunge das, was man sich als Mensch ersehnt: einen Partner, mit dem man glücklich sein kann und eine Aufgabe und Verantwortung, die einen ausfüllt. So zeigt dieses Märchen bildhaft, wie magisch es sein kann, wenn man an und über Grenzen geht.

Unser rumänisches Märchen wandelt den Mythos um in ein Märchenbild. Statt des Gottes klettert ein einfacher Hirtenjunge auf diesen hohen Baum. „Nicht eine uns ferne stehende Welt, eine nur für wenige Auserwählte erreichbare Weihe“ wird im Zaubermärchen dargestellt8 (Arnica Esterl), sondern das, was jeder und jede erfahren kann, wenn man sich an das Leben hinzugibt, so wie es einem begegnet und.an seine Grenzen zu gehen wagt.

Der Junge gelangt in Stufen zu den drei edlen Metallen, zum Kupfer, zum Silber, schließlich zum Gold. Metalle haben die Welt so tiefgreifend verändert, dass ganze Epochen nach ihnen benannt wurde. Sie legten die Grundlage für den technischen Fortschritt der Menschheit. Mit Kupfer begann es, dann kamen Bronze und Eisen. Das Märchen nimmt nur die physikalisch edlen Metalle Kupfer, Silber und Gold, um damit einen Aufstieg in die höheren Sphären anzudeuten. Eigentlich handelt es sich um einen Aufstieg ins Himmlische, Göttliche. Gold als das edelste Metall stand immer für die Aura des Göttlichen.

Wie einst David9