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Was macht die Märchen eigentlich zu Märchen? Dieses Buch gibt darauf eine klare und verständliche Antwort: es ist ihr schamanisch-animistischer Hintergrund. In unserer rational-wissenschaftlich geprägten Kultur haben viele aus den Augen verloren, dass die Natur etwas Lebendiges ist. Die Volksmärchen zeigen auf ihre Art, dass Seen und Berge, Wälder und Höhlen keineswegs seelen- und geistlos sind. Sie zehren dabei in vielen Elementen von den schamanisch-animistischen Erfahrungen der Menschheit. Aus den schamanischen Krafttieren wurden in den Volksmärchen die Helfertiere, aus der Geistreise die Reise ans Ende der Welt, aus der Anderswelt das Haus der Holle auf einer blühenden Wiese oder das Schloss des Seezaren auf dem Grund des Sees. Aus den Prüfungen und Initiationen der frühen Stammeskulturen wurden die Reisen der jungen Märchenhelden, die durch eigentlich unlösbare Aufgaben und Kämpfe hindurch zum Mann und zur Frau werden. Sie treffen auf Naturgeister, auf Ahnen, auf Pflanzen, Tiere und Steine, auf Sonne und Mond, sie kommunizieren mit ihnen ganz menschlich und bekommen Rat und Hilfe. Das mag auch in unserer Zeit eine Ermutigung sein, wieder Märchen zu erzählen und zu hören und die Magie der Natur und unseres eigenen Geistes wieder zu entdecken.
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Seitenzahl: 160
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Volksmärchen und Schamanismus
Als die Menschen noch mit Tieren und Bäumen sprachen
Jürgen Wagner
Impressum
Copyright: © 2025 Jürgen Wagner
Druck und Verlag: epubli
GmbH, Berlin, www.epubli.de
Titelbild Stepan Zavrel
Vorwort
I DAS SCHAMANISCH-ANIMISTISCHE ERBE IN DEN VOLKSMÄRCHEN
1. Feuer und Gemeinschaft
2. Prüfungen und Initiation
3. Weltbild und Transzendenz
4. Die Geist- oder Anderswelt
5. Die Helfer des Menschen: Tiere, Ahnen, Natur
6. Was von uns gefordert ist
7. Magie, Liebe und Verantwortung
8. Wandlungen
II MAGIE DES LEBENS UND DER NATUR - MÄRCHENBEISPIELE
1. Wie das Fest die Menschen verwandelt
Wie die heilige Gabe des Festes zu den Menschen kam
2. Das Miteinander von Mensch und Tier
Die weiße Schlange
3. Kreativität
Die ersten Menschen
4. Was man zum Leben braucht
Der arme Korbflechter und die drei Quellen
5. Für die Liebe bereit werden
Die drei Nelken
6. Verwandlung
Der Robbenfänger und der Wassermann
7. Wahrhaftigkeit
Starker Wind, der Unsichtbare
8. Mit der Angst umgehen
Viktoria und die Weide
9. Grenzen respektieren
Die Seele des Wals und das brennende Herz
10. Außenseiter
Fingerhut
11. Möge dein Werk dir gelingen!
Die jungfräuliche Königin
III VON MAGIERN, SCHAMANEN UND WELTENREISEN - Zaubermärchen
Was ist Magie?
1. Zu Gast bei einem Zauberer
Das Schloss der Ungewissheit
2. Dunkle und weiße Magie
Der Erzzauberer und sein Diener
3. Die Auseinandersetzung mit dem Bösen
Der grünbärtige König
4. Wer hoch hinaus will, muss tief hinunter
Der Turm zu den Sternen
5. Reise in die Unterwelt
Eine Unterweltsfahrt
6. Reise in die Oberwelt
Die Tochter des Königsgeiers
7. Das Huldreland
Die Insel Udröst
8. Was ein Schamane vermag
Der Zauberarzt Makanaholo
9. Auch Schamanen sind Menschen
Das Märchen vom Besen
Die magische Entwicklungsphase der Menschheitsgeschichte und der Standort heute
Anhang: Weitere Bücher des Autors
Volksmärchen haben nicht nur ein mythisches, sondern auch ein großes schamanisch-animistisches Erbe, das sie hüten und unbewusst bewahren. Sie zeigen nämlich auf ihre Art, dass Natur etwas Lebendiges ist, dass Steine, Pflanzen und Tiere, ja Sonne und Mond und unsere Erde keineswegs seelen- und geistlos sind. Das spüren wir auch heute noch, wenn wir sie wahr-nehmen, ihnen begegnen. Wenn wir sie nur wissenschaftlich untersuchen und einordnen, verlieren wir diese Resonanz.
Der Animismus, die alte Überzeugung, dass die Welt beseelt ist, ist schamanische Grunderfahrung. Aber sie ist nicht auf Schamanen beschränkt. Jedes Kind kann eine Beziehung haben zu einem Baum, einem Tier, einem Stein, der Erde, dem Regen oder der Sonne – und seine Erfahrungen damit machen. Und Erwachsene können es natürlich auch.
Auch die Volksmärchen leben davon: Brot und Apfelbaum rufen Marie (KHM 24), der Fuchs gibt einen guten Rat (KHM 57), Winde weisen dem Wanderer den Weg (ATU 400), das Lebenswasser heilt einen Blinden (KHM 97) usf. Eigentlich ist das nicht so schwer nachzuvollziehen, dass Ofen und Brot uns rufen, wenn sie fertig gebacken sind. Sie zeigen das auf ihre Weise. Nur verpassen wir manchmal den rechten Zeitpunkt, weil wir zu abgelenkt oder auch zu träge sind.
Die Vermenschlichung ist ein durchgehendes Stilmittel des Märchens, das man einfach so nehmen und sich daran erfreuen kann.
Die hier ausgewählten Märchenbeispiele des ersten Teils haben alle etwas mit der Lebendigkeit der Natur zu tun. Sie regen dazu an, die Nähe zur Natur, die wir alle tief in uns tragen, auch wieder zu leben. Die Volksmärchen entführen uns in die Welt der Phantasie, aber eben auch in eine tief unbewusste Vergangenheit. Es ist die magische Phase der Menschheit, die in den
Höhlenzeichnungen der Steinzeit aufbewahrt wurde und die wir in unserer Kindheit alle noch einmal in wenigen Jahren durchlaufen.
Ein Märchen aus dem Benin spricht noch ausdrücklich davon:
Zu jener Zeit konnte sich ein menschliches Wesen in ein Tier und wieder zurück verwandeln. Ebenfalls konnte der Mensch die Sprache der Tiere verstehen und umgekehrt. Auch der Baum und der Mensch sprachen damals noch miteinander ...“1
Die Tierverwandlung ist etwas, was die Menschen lange glaubten, was in alter Zeit aber nur Schamanen möglich war. S i e konnten in der Trance einen Tiergeist manifestieren, konnten mit oder auch in ihren Krafttieren (geistig) reisen. Doch ist es auch heute durchaus möglich, wenn man entspannt ist, das Verbunden-sein mit einem Tier zu spüren, ja sogar mit ihm zu kommunizieren. Auch die Volksmärchen tragen dazu bei, dieses Gefühl der Einheit mit Tieren und Pflanzen zu stärken. Sie verbinden uns mit ihrer Art des bildhaften Erzählens wieder mit der Seele der Natur und der Magie des Geistes. Und nicht nur das: wir erleben uns, wenn wir Märchen in einer Gruppe hören, auch wieder in jener gemeinschaftlichen Lebensweise, wo der Einzelne nicht nur sich selbst überlassen bleibt. Märchen erzählen ist auch eine Möglichkeit, die Einsamkeit des modernen Menschen zu durchbrechen und etwas zu lindern.
Wir wissen heute um den Sinn und die Aufgabe von Märchen und anderen Geschichten für die seelische Reifung. Auch in den Religionen wird bild- und gleichnishaft erzählt, um komplexe Sachverhalte zu vermitteln und für eine entsprechende innere Haltung zu werben. Aber nirgendwo wird wie in den Märchen eine solch umfassende Kommunikation zwischen den Wesen gepflegt. Das erinnert an paradiesische Mythen, in denen die Verbindung zwischen Mensch und Natur als ungebrochen geschildert wird. Tatsächlich ist dies ein Stück des schamanisch-animistischen Erbes der Menschheit. Der Mensch war und ist Teil der Natur – und er hat sich auch so erlebt. Und er hat es in seiner geistigen Entwicklung auch vermocht, auf der Geistebene mit den anderen Wesen zu kommunizieren. Wenn wir das heute intuitiv wiederentdecken, in der Tierkommunikation sogar ausbilden, kommen wir zu ganz neuen Möglichkeiten, in der Welt zu sein. Die Volksmärchen mit den darin sprechenden und handelnden Tieren und Pflanzen würden uns hier beipflichten, sie als gleichberechtigte Mitbewohner des Erdenhauses zu sehen. Wo Menschen sich in Tiere und Tiere sich in Menschen verwandeln können, ist der Abgrund nicht mehr so groß wie in unserer Zivilisation, wo die Tiere permanent erniedrigt, ausgebeutet, gejagt und ihnen die Lebensräume genommen werden. Auch die Naturgeister, mit denen das Märchen gerne aufwartet, könnten uns einen Hinweis darauf geben, dass die Natur nicht nur nicht tot ist, sondern lebendig beseelt ist. Alles ist miteinander verbunden und im wechselseitigen Austausch. Alles lebt voneinander und miteinander. Diese Abhängigkeit gilt es anzuerkennen und könnte uns etwas heilen von dem Wahn, wir wären die Herren der Erde. Wenn wir uns respektvoll gegenüber den Wesen und der Natur verhalten, dürfen wir hoffen, dass man uns auch so begegnet.
Obwohl uns in heutiger Zeit alle Türen offen stehen, uns zu treffen, uns zu begegnen, Feste zu feiern und Geschichten zu erzählen, erscheint es uns – nicht nur aus Zeitmangel – manchmal fast unmöglich. Selbst in Afrika, wo es vielerorts noch eine Erzählkultur gibt, spürt man ihren drohenden Untergang.
Längst haben die weltumspannenden Medien der Moderne die Dörfer Benins erreicht und haben Radio, Fernsehen und Video-Clubs die einst so angesehenen Märchenerzähler von ihrer Mittelpunktfunktion verdrängt. Die Jugendlichen lassen sich kaum mehr für die Tradition des Märchenerzählens interessieren (M.W. Tokoponto).
Es ist auf der einen Seite hocherfreulich, dass die Märchen in Europa eine Renaissance erleben, dass sie seit Jahren wieder mehr gelesen, verfilmt, erzählt und interpretiert werden. Neue Märchen werden zuhauf geschrieben und alte weiterhin gesammelt. Dennoch ist, wie obiges Zitat zeigt, der Niedergang der Erzählkultur in vielen Teilen der Welt kaum aufzuhalten. Radio, Fernsehen, Videos und Computer haben ihre Rolle übernommen und faszinieren Jung und Alt viel mehr als die alten Geschichten - auch bei uns. Ist diese Erzählkultur denn so wichtig – oder ist sie nicht einfach auch ersetzbar?
Wer Gemeinschaft erlebt hat, in der erzählt und miteinander gefeiert wird, wird sie nicht (mehr) missen wollen. Erzählte und vorgelesene Märchen und Geschichten brauchen wieder einen Platz in den Festen, an den Abenden und in den entsprechenden Jahreszeiten. Natürlich wirken sie auch in der persönlichen Lektüre oder in den modernen Medien, wo sie entsprechend aufbereitet und dargeboten werden. Wer die Erfahrung gemacht hat, dass sie zu sprechen beginnen, wird sie gerne weiter pflegen und verbreiten.
Einen großen Dank gilt an dieser Stelle Heidi Christa Heim, die nicht nur viele Märchenideen beigesteuert, sondern mit ihren Erzählfassungen auch sehr gut les- und erzählbare Fassungen hier bereitgestellt hat!
Acht Elemente schamanisch-animistischer Tradition in den Volksmärchen heben wir hier heraus:
die alte Erzählkultur
Durch die Zähmung und Beherrschung des Feuers hatte man in der Menschheit Vorteile in der Nahrungsverwertung, gleichzeitig konnten sich Geselligkeit und Gemeinschaft entfalten. Vielleicht tat man früher dasselbe, was man auch heute noch macht, wenn man abends noch Licht hat und Wärme: man unterhält sich. Man erzählt sich, was man erlebt hat, was man träumte, was man sich wünscht. So bilden sich mit der Zeit Geschichten heraus, die man auch weitererzählt. Sie sind interessant, sie machen Hoffnung, sie sind humorvoll, sie spiegeln eigenes Erleben. So entwickelten sich Erlebnisse und Ideen zu Anekdoten, Abenteuererzählungen, Schwänken, Mythen, Märchen, Sagen, Sie alle gehören in die Gemeinschaft. Mit der Zeit schleifen sich einige Dinge ab und es werden klar geformte Geschichten. Auch die Volksmärchen haben sich durch einen langen Prozess des Weitererzählens so herausgebildet. Das Erzählen bestimmter Geschichten hält nämlich zusammen, es verbindet sogar die Generationen. In einer Zeit wie der unseren, wo man primär alleine schreibt, hört und liest, wo es eine Flut von Romanen, Filmen und Büchern gibt, wird dies nicht mehr so stark erlebt.
Initiation meint die Aufnahme in eine Gemeinschaft oder die Zulassung zu den Mysterien, manchmal auch beides. Bei den Naturvölkern wurden die Heranwachsenden einige Tage der Wildnis ausgesetzt, mussten Prüfungen erdulden, damit sie in den Kreis der Frauen und Männer aufgenommen, heiraten und die Pflichten der Erwachsenen übernehmen konnten. Das kommt dem nahe, was so manche junge Märchenhelden/-heldinnen auf sich nehmen und durchmachen, bis sie heiraten und die Aussicht auf ein Erbe bekommen.
Solch einen ‚initiatischen Weg‘ geht in den Volksmärchen entweder das jüngste Kind einer Familie oder jemand, der ein Gebrechen oder ein anderes schweres Schicksal hat. Die Art und Weise, wie der Märchenheld/die Märchenheldin ihre Aufgabe meistert und wie sie ans Ziel kommen, erinnert manchmal auch an die schamanische Initiation.
Der angehende Schamane hat nicht ja nur die Aufgabe, vieles zu lernen und zu wissen, er muss auch die Fähigkeit erwerben, in der Trance in die geistige Welt zu gelangen, um dort Rat und Hilfe für die Probleme seines Stammes, Dorfes, seiner Mitmenschen zu bekommen. Dazu braucht er zuerst die Hilfe und die Begleitung eines Geistes, meist eines Krafttieres oder auch eines Ahnen. So beginnt denn auch oft die Heldenreise in den Märchen.
Die Reise des Märchenhelden ist keine gewöhnliche Reise. Sie ist eine Reise ‚ohne Wiederkehr‘ oder eine Reise ‚ans Ende der Welt‘, ein Fall in den tiefen Brunnen oder ein Ritt auf den Glasberg, die Märchenvariante des Weltenberges. Das Jenseits der Märchenreise wird immer nur angedeutet, nie ausgesprochen, denn das Märchen hat sich des spirituellen Gewandes entledigt. Es hat seine eigenen Bilder, um das Wundersame, das eigentlich Unmögliche und gänzlich zum Ausdruck zu bringen. Dort, ‚hinter die sieben Berge‘, dorthin muss die Märchenheldin. In einem ‚Schloss östlich der Sonne und westlich vom Mond, zu dem kein Weg hinführt‘ – nur dort kann der Bärenprinz erlöst werden. Das Volksmärchen kennt wie der Schamane auch drei Dimensionen der Transzendenz: Ober-, Mittel- und Unterwelt. Die Oberwelt ist der geistige Aspekt der lichten himmlischen Welt über uns, die Unterwelt ist die geistige Dimension der Urkräfte und dunklen Tiefen, die Mittelwelt ist ein geistiger Spiegel unserer Alltagswelt. Für die schamanische Reise nutzt man klare Bilder und Anker: eine Leiter z.B. für die Oberwelt. einen leerer Wurzelstumpf für die Reise nach unten, einen Garten für die mittlere Ebene. Auch die Mythen und Märchen nutzen solche klaren Bilder und Orte. Die Reise in die Oberwelt geht über einen ‚himmelhohen Baum‘, über einen ‚Turm zu den Sternen‘ oder den ‚Glasberg‘. Dann hilft auch mal ein magischer ‚Wünschhut‘ zum ‚Schloss der goldenen Sonne‘. Die Reise in die Unterwelt unternimmt man durch den Brunnen, im Meer oder Teich oder in die Erde. In der Mittelwelt reist man in die Weite, z.B. ‚ans Ende der Welt‘. Sehr oft geht es in den Märchen in die Ferne. Sie ist die wichtigste Dimension. So erfährt man es auch im Menschenleben: wer nicht von zuhause aufbricht und auch einmal in die Welt geht, kann selten Großes erlangen. Sein Horizont bleibt klein, seine Erfahrung gering.
Auch der schamanische Weltenbaum und der Weltenberg erscheinen im Märchen wieder, z.B. als ‚Der Wunderbaum‘ in einem Siebenbürgener Märchen oder als der Glasberg in vielen europäischen Märchen.
Für den Märchenhelden ist es immer ein außergewöhnlicher Gang, wenn er/sie in die Tiefe, Höhe oder Weite geht - oder gehen muss. Unter normalen Umständen ist das zu gefährlich, zu riskant. Das gilt auch für jeden, der schamanisch reisen möchte: ohne gründliche Ausbildung, gute Anleitung und Begleitung sollte man das unterlassen. Im Märchen wird oft erst die innere Haltung geprüft, erst dann bekommt man Anweisung und Unterstützung. Sonst muss man den Weg alleine weitergehen und seine eigenen Erfahrungen machen.
Es gibt sie ja, diese magische Welt, in der es nicht schwer ist, dass Tiere oder Bäume sich in Menschen verwandeln und Menschen in Tiere und Bäume. Was in der äußeren physischen Welt unmöglich ist, ist in der inneren Welt des Geistes kinderleicht. Man muss sich nur vor seinem geistigen Auge – mehr oder weniger plastisch - einen Apfel vorstellen – und mal versuchen, diesen in eine Birne zu verwandeln. Das geht, wenn man es probiert. Dann kann man aus einer Birne einen Stein machen. Dann aus dem Stein mal einen Igel. Man kann es mal ausprobieren in einem Zustand der Entspannung, sich einen Garten vorzustellen und sich selbst darin zu ergehen. Man kann, wenn man es will, sogar als Vogel in die Lüfte fliegen – oder als Pferd in die Weite galoppieren und erleben, was es dort alles gibt. Man sollte nur sich zum Menschen wieder zurückverwandeln und eine solche intensive Imagination sauber auflösen.
Was bereits in der Grundschule als ‚Phantasiereise‘ mancherorts praktiziert wird, kann einem im späteren Leben sehr helfen. Wenn man etwas krank ist und sich vorstellen kann, wie es wäre, wenn man wieder gesund ist, hat man schon mal eine klare und kraftvolle Perspektive. Oder man kann imaginieren, wie es ist, wenn man, entgegen der aktuellen Einsamkeit, mit dem Partner zusammenleben würde, den man sich wünscht. So macht man einen geistigen Anfang, der auch Signale nach außen sendet, der allemal besser ist als ein Grübeln und Brüten über dem eigenen Elend, das ja auch nach außen wirkt.
In der Steinzeit hat man sich diese Dinge, die man zutiefst brauchte und herbeisehnte, hinten in einer Höhle auf Felswände gemalt. So nahm der geistige Wunsch gravierte Gestalt an und gewann an Kraft. Auch konnte er so rituell wiederbelebt und wiederholt werden.
Während die Schamanen tatsächlich mit ihrer Seele reisen und wieder zurückkehren, finden wir in den Märchen keine reale Magie mehr. Hier wird aus der mühevollen, fast übermenschlichen Anstrengung ein müheloser, selbstverständlicher Akt. In den Volksmärchen ist das Übernatürliche und Magische selbstverständlich. Sie kleiden es in ein Gewand, das für jeden anschaubar ist.
Wir vermuten es heute nicht nur, wir wissen es, dass die innere Einstellung mitsamt der Einbildungskraft ein entscheidender Faktor der Lebensbewältigung und des Erreichens von Zielen sein kann. Deshalb praktizieren Sportler mentales Training, nehmen Kranke Seelsorge in Anspruch, buchen manche Coaching-Stunden. Wer Märchen und Mythen hört und aufnehmen kann, hat hier auf jeden Fall schon einen Vorsprung. Denn diese wollen nichts anderes als uns helfen, das Leben in rechter Weise zu meistern. Das mag schwierig sein, aber nicht unmöglich!
Auch im Alltag jenseits allen Schamanismus muss man manchmal ein Löwe sein, manchmal eine fleißige Biene, manchmal ein giftiger Fingerhut, manchmal ein stilles Veilchen. Die Dinge sind nicht so weit weg, wenn wir sie anzuschauen vermögen.
Niemals gelingt das dem ausziehenden Märchenhelden einfach so, sein Leben zu meistern oder seine Aufgabe zu bewältigen. Allein ist er zum Scheitern verurteilt. Er braucht für die schwierigen Dinge, die auf ihn warten, unbedingt einen Rat und Hilfsmittel. Diese bekommt er, wie der Schamane, von Tieren, von alten Männern und Frauen (Ahnen), von Naturgeistern. Während die älteren Geschwister im Märchen auf ihre eigene Kraft setzen, sich selbstsicher und hochmütig verhalten, achtet der/die Jüngste die Wesen, die ihm begegnen und spricht mit ihnen. Manchmal gibt er etwas – und bekommt etwas Großes wieder. Wie der Schamane nur mit seinen Hilfsgeistern und Krafttieren seinen Weg durch die Anderswelt nehmen und sich zurechtfinden kann, so kann auch der Märchenheld nur über die helfenden Tiere oder Wesen sein Ziel erreichen.
In manchen Märchen ist es sogar das Tier selbst, das den Menschen auf seinen Rücken nimmt und ihn trägt: ein Pferd, ein Bär, ein Wolf, ein Hirsch. Das Opfer, das der Schamane immer gibt, hat auch im Märchen seinen Niederschlag gefunden. Das Mädchen, das in den ‚7 Raben‘ auf den Glasberg will, muss einen Finger dafür hergeben. Die Tochter des ‚Zauberers Palermo‘ lässt sich sogar zerstückeln, um einen Ring aus dem Meer heraufholen zu können und ihr Prinz gibt dem Adler, der ihn trägt, Fleischopfer.
Die Tiere, die schon die Menschen der jüngeren Steinzeit nicht nur gejagt und gegessen, sondern auch eindrücklich dargestellt und geehrt haben, sind in den Märchen Begleiter und Ratgeber des Menschen. Sie sind, wie beim Besuch der Anderswelt auch, sprechend und magisch. Sie können kommen und gehen, können sich verwandeln, können den Rat und die Zaubergaben geben, die nötig sind.
Die Volksmärchen schildern in den Grundzügen weltweit erstaunlich übereinstimmend, was vom Menschen gefordert ist: eine rechte innere Einstellung, d.h.
- das Achten des Anderen, ja jeden Wesens, wie arm oder seltsam es auch aussieht
- die Herzlichkeit und Freundlichkeit gegenüber anderen
- die Bereitschaft zu geben, wenn es sein muss, auch mal über das vernünftige Maß hinaus
- der Ausgleich von Geben und Nehmen
- das zu tun, was einem geboten oder geraten ist und das anzugehen, was an der Zeit ist
Das spräche dafür, dass es doch so etwas wie eine Grundüberzeugung, ja Grundeinsicht gibt, wohin der Mensch sich eigentlich entwickeln soll. Er soll nicht in die bekannten Versuchungen verfallen wie Habgier, Hochmut oder Geiz, er soll Rat annehmen und ihn befolgen, er soll Konsequenz und Geduld entwickeln, er möge bescheiden und zufrieden sein Leben verbringen, ohne dass das große Ziel je aus den Augen verloren wird. Vielleicht wird er dafür kämpfen, ja sein Leben einsetzen müssen, aber er soll es nicht aufgeben. Das sind im Grund dieselben Grundzüge, die auch die Religionen weltweit entwickelt haben, nur sind sie ohne Bezug auf den Gott oder die Götter.