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Man hat behauptet, in den Volksmärchen sei von "eigentlicher Erotik wenig zu spüren" (Max Lüthi). Doch darf man die alten Erzählungen nicht aus dem Blickwinkel von heute beurteilen. Damals war ein verlorener Frauenschuh durchaus erotisch, auch ein langes goldblondes Haar oder eine zarte schneeweiße Haut, rote Lippen und dunkle Augen. Neben dieser dezenten Märchenerotik gab es natürlich auch Geschichten nur für Erwachsene, wo es direkter und deftiger zur Sache ging, die man sich in Spinnstuben, bei Hochzeitsfeiern oder unter Wanderburschen erzählte. Dieser Band ist ein reicher Fundus erotischer Liebesmärchen, der zunächst klassische Liebesmärchen wie Froschkönig, Dornröschen, Die Schöne und das Tier in ihren Urfassungen präsentiert, dann aber auch den Horizont weitet und pikante Erzählungen aus 1001er Nacht bietet, aus der asiatischen und afrikanischen Folklore sowie aus dem Pentamerone und Decamerone.
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Seitenzahl: 561
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Wo die Lieb‘ erwacht
Volksmärchen von Eros, Liebe und Sexualität
Jürgen Wagner
Impressum
© 2025 Jürgen Wagner
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Titelbild: Pheobe Anna Traquair,
Una küsst den Heiligen Georg in Rüstung, 1914
Wo die Liebe erwacht,
stirbt das Ich,
der dunkle Despot
Du, lass ihn sterben in der Nacht
und atme frei im Morgenrot
Rumi
Vorwort
Erotik und Sexualität in den Volksmärchen?
Die Kinder- und Hausmärchen der Grimms
Erotisches in den Volksmärchen
Die dunkle Seite
Die Märchen von 1001er Nacht
Märchen und Mythen
Zu diesem Buch
I Eros, Liebe und Sexualität in bekannten Märchentypen
Tisch und Bett teilen: Der Froschkönig
Der Brunnen am Ende der Welt (England)
Der Froschkönig (Deutschland)
Die schweigende Sultanstochter (Türkei)
Mythisches Motiv: Der Brunnen am Weltenbaum
Animalisch: Die Schöne und das Tier
Das Froschmädchen (Armenien)
Die Froschkönigin (Russland)
Das singende, springende Kleeblatt (Deutschland)
Der schwarze Stier von Norroway (Schottland)
Von dem Sommer- und Wintergarten (Deutschland)
Der Jäger und die Schlangenfrau (Nigeria)
Mythisches Motiv: Amor und Psyche
Schönheitswahn, Schönheitsleid: Schneewittchen
Schneewittchen (Deutschland
Goldbaum und Silberbaum (Schottland)
Siebenschön (Deutschland)
Mythisches Motiv: Die Göttin Freyja
Der verlorene Schuh: Aschenputtel
Aschenputtel oder Der gläserne Schuh (Frankreich)
Die wahre Braut (Deutschland)
Ye Xian (China)
Mythisches Motiv: Rhodopis und eine lange Geschichte
Fatale Gelüste: Rapunzel
Petrosinella (Italien)
Persinette (Frankreich)
Rapunzel (Deutschland)
Was er gemacht hat (Algerien)
Mythisches Motiv: Danae, die Prinzessin von Argos
Die schlafende Schöne: Dornröschen
Die schlafende Schöne im Wald (Frankreich)
Sonne, Mond und Thalia (Italien)
Dornröschen (Deutschland)
Mythische Motive: Troylus und Zellandine, Sigurd und Sigrdrifa
Zu jung und zu unwissend: Das Rotkäppchen
Das kleine Rotkäppchen (Frankreich)
Das Rotkäppchen (Deutschland)
Der Wolfsmythos
Den Drachen lieben
König Lindwurm (Dänemark)
Der Schlangenbräutigam (Italien)
Mythisches Motiv: Schlangenkult und Schlangenverwandlung
Der verzauberte Brahmanensohn
Die Jungfrau und das Wasser des Lebens
Das Wasser des Lebens (Deutschland)
Die Königstochter im Berg Muntserrat (Deutschland)
Die Jungfräuliche Königin (Kaukasus)
Die schöne Königstochter im Garten (Deutschland)
Mythisches Motiv: Leben und Wasser im Johannesevangelium
Liebe zwischen den Welten: Die Nixe im Teich
Die Nixe im Teich (Deutschland)
Die Nixe im Mansfelder See (Deutschland)
Die Myrtenfee (Italien)
Mythische Anfänge: Geistwesen im Schamanismus
II Eros, Liebe und Sexualität in den Märchen der Völker
Im Zauber des Orients
Die Geschichte des Lastträgers und der 3 Damen (1001 Nacht)
Die Geschichte von Mus'a und Âïscha (1001 Nacht)
Die Liebhaber der hölzernen Jungfrau (Persisches Papageienbuch)
Die schöne Beduinin (Arabien)
Der väterliche Rat (Persien)
Der blinde Maler (Syrien)
Die Rosen-Schöne (Türkei)
Das Petersiliengärtlein
Aus dem französischen Mittelalter
Der Ritter, der die geheimen Münder der Frauen zum Sprechen brachte
Aus dem italienischen Mittelalter
Helene und der Mann im Weinfass (Italien)
Der verliebte Stallknecht (Italien)
Der Mann in der Kiste (Italien)
Das Nachtlager im Wirtshaus (Italien)
Aus Russland
Nein, nein, nein!
Was ist das?
Der Schiedsspruch über die Küh
Die Zaubersalbe
Die Füchsin und der Hase
Die Zauberpfeife
Aus der asiatischen Märchenwelt
Für eine Nacht (Japan)
Laos Schmetterlinge (China)
Der unsterblich Verliebte (Japan)
Aus Afrika
Die drei Wünsche
Der Liebeskünstler (Algerien)
Legende von den Amazonen (Niger)
Die Lehrmeisterin (Niger)
Liebestoll (Sudan)
Eros und Klerus
Hans im Kloster (Deutschland)
Die Dirne im Schlafsaal (Italien)
Der Klostergärtner (Italien)
Der Mekkapilger und der Muezzin (Sudan)
Der versteckte Braten (Russland)
Das naturgetreue Kruzifix (Italien)
Anhang
Was ist an unseren Volksmärchen denn erotisch, fragt sich so mancher Märchenkundige? Von „eigentlicher Erotik“ sei im „europäischen Volksmärchen wenig zu spüren“, urteilt der Märchenforscher Max Lüthi1. Aus dem heutigen Blickwinkel, wo viele Tabus alter Zeit gebrochen wurden und wir reizüberflutet und abgestumpft sind, mag das sogar stimmen. Aber wer die Volksmärchen aus ihrer Zeit heraus hört und liest, dem zeigt sich ein anderes Bild.
Die Welt der europäischen Volksmärchen ist im Wesentlichen die des Europas am Ausgang des Mittelalters, als unsere Volksmärchen begannen, verschriftlicht zu werden. Es war die Welt der Könige und Königinnen, Bauern und Adligen, Mönche und Pfarrherrn, der Jungfrauen und Ritter, die auch die Figuren und Stoffe unserer Märchen prägte. Das Mittelalter jedoch war nicht so prüde, wie so mancher meint, auch wenn das Christentum wesentlichen Einfluss auf Moral und Werte hatte. Es hatte Geschichten für Kinder, aber natürlich auch welche für Erwachsene, die derber, gewalttätiger und auch erotischer waren. Auf ländlichen Hochzeiten wurde bekanntermaßen solch erotische Folklore gepflegt. Aber auch in den Spinn- und Lichtstuben, bei wandernden Handwerksburschen, Studenten und Soldaten, in Zünften, Vereinen und Wirtshäusern waren deftige Volkslieder und Geschichten anzutreffen.
Was ist denn nun erotisch in unseren Volksmärchen? Aus dem Empfinden vor 500 Jahren sehr vieles! Z.B. der zierliche Schuh Aschenputtels, den sie am Tanzabend verliert, das herrlich lange blonde Haar Rapunzels, das sie aus dem Turm herablässt samt ihrer hellen Mädchenstimme, die schwarzen Augen, roten Lippen und die weiße Haut Schneewittchens, das Mädchen mit dem kecken roten Käppchen, das ganz alleine durch den Wald läuft, das in der Burg tief schlafende Dornröschen, das der Prinz behutsam küsst, die prachtvoll gekleidete und tanzende Allerleihrauh, der Blick und Kuss der Jungfrau am gut gehüteten Brunnen mit dem Wasser des Lebens, der schöne Prinz, der auf einmal neben der jungen Frau liegt, wo sie gerade noch fürchtete, mit einem Frosch ins Bett gehen zu müssen und mit dem sie vergnügt einschläft. Da mag auch unseren heutzutage überfluteten und stumpferen Sinnen helfen, durch die Märchen wieder einen feineren Sinn für die Spiele und Zeichen der Liebe zu bekommen.
In den Grimm-Märchen ist alles sehr dezent erzählt und auch für Kinder gut hörbar. Es ist jedoch gut zu wissen, dass unsere Grimm-Märchen diesbezüglich entschärfte Erzählfassungen sind. Bei Gewalt und Verbrechen drückte die Gesellschaft im 19. Jahrhundert ein Auge zu, aber Sexuelles und alles, was darauf hindeutet, empfand sie als peinlich und unschicklich.
So bekommen wir einen anderen Blick auf die wahre und volle Gestalt der Volksmärchen, wenn wir ins italienische Pentameron schauen, in die französischen und keltischen Feenmärchen, in die Märchen von 1001er Nacht, in arabische und afrikanische, japanische und chinesische Märchen. Jedes Land hat seine Märchen und Geschichten, die immer und überall erzählt werden können. Es hat aber auch solche, die nur für Erwachsene bestimmt sind und auch nur in bestimmten Kreisen und zu bestimmten Anlässen erzählt werden. Das Märchen lebt wie die andere Literatur und Filmwelt von den Dramen des Daseins, nicht vom Alltäglichen. Krankheit und Schicksal, Schrecken und Ungerechtigkeit, Liebe und Verbrechen sind bis heute der Stoff, aus dem unsere Geschichten sind. Beauty and horror, sex and crime sind auch die Zutaten eines Märchens wie Dornröschen, besonders dann, wenn man die älteren französischen oder italienischen Erstfassungen liest.
„Der romantische Dichter Clemens Brentano wollte Anfang des 19. Jahrhunderts ein Märchenbuch herausgeben. Also bat er zwei junge Studenten, als seine Praktikanten zu arbeiten und Geschichten zu sammeln. Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm sammelten daraufhin drei Jahre lang Texte aus alten Büchern“ (Eva Lindner) und ließen sich Märchen erzählen. Als sie alles 1812 veröffentlichen, wollte das aber keiner lesen. Märchen verkauften sich nicht. Erst als Wilhelm Grimm die Geschichten sprachlich überarbeitete, die wissenschaftlichen Anmerkungen seines Bruders Jacob herausstrich, Bilder hinzufügte und „jeden für das Kindesalter nicht passenden Ausdruck sorgfältig gelöscht“ (L. Röhrich) hatte, wurden die Grimm-Märchen zum Erfolg. Das Meisterwerk hieß nun „Kinder- und Hausmärchen.“ Heute ist es in 170 Sprachen übersetzt und gehört zu den bekanntesten Schriften weltweit. Der Preis war eine weitestgehende Enterotisierung der Volksmärchen, so dass Kinder beim Hören des Rotkäppchens Angst vor dem dunklen Wald, der Hexe und dem Wolf bekamen anstatt vor Erwachsenen, die vielleicht böse Absichten hatten. Etwas märchenhaft Reines war geschaffen, aber auf Kosten des realen Lebens, das ohne die Freuden und Gefahren der Sexualität nicht existieren würde. Die Evolution hat es so eingerichtet, dass die Lust der Geschlechter aneinander sehr hoch ist, damit sie sich finden und aneinander entzünden und den Funken des Lebens an die nächste Generation weitergeben.
So wird es Zeit, den Volksmärchen wieder die Farben und Töne zurückzugeben, die ihnen die Gelehrten des 19. Jahrhunderts genommen haben, insbesondere das Rot der Liebe und des Eros, der Lust und der Sexualität. Es fällt auf, dass die Grimm’schen Märchenhelden im entscheidenden Augenblick des tatsächlichen erotischen Abenteuers leider zu müde sind, zu zurückhaltend – oder schlicht keine Zeit haben:
Und weiter kam er in ein Zimmer, darin stand eine schöne Jungfrau, die freute sich, als sie ihn sah, küsste ihn und sagte, er hätte sie erlöst und sollte ihr ganzes Reich haben, und wenn er in einem Jahre wiederkäme, so sollte ihre Hochzeit gefeiert werden. Dann sagte sie ihm auch, wo der Brunnen wäre mit dem Lebenswasser, er müsste sich aber eilen und daraus schöpfen, eh es zwölf schlüge. Da ging er weiter und kam endlich in ein Zimmer, wo ein schönes frischgedecktes Bett stand, und weil er müde war, wollt er erst ein wenig ausruhen (Das Wasser des Lebens, KHM 97).
Statt mit der jungen Frau die kostbare Zeit zu verbringen, legt sich der Märchenheld lieber allein ins Bett und schläft. Dafür nimmt er sich die Zeit. Doch auch für die Liebe muss Zeit sein – so sieht es jedenfalls das Parallelmärchen von Johann Wilhelm Wolf:
Er küsste sie erst leise, dann kühner, er nahm sie in seine Arme, herzte und drückte sie an sich und betrachtete sie mit wonnelachenden Augen,aber sie schlief so fest, dass sie nicht erwachte. Da war ihm mit einem Male, als hörte er das graue Männchen seinen Namen rufen und es fiel ihm ein, dass es höchste Zeit sei, zu eilen, wenn er nicht in den Berg gesperrt sein wollte (Die Königstochter im Berg Muntserrat).
Noch etwas ausgedehnter geht es der russische Held an:
Nun wollte Iwan in die Gemächer eintreten und sehen, wie zur Mittagszeit die Jungfrau-Zar schläft, Marja die Schöne mit dem langen Zopf. Er wanderte durch die Gemächer und die Zimmer, und alle Jungfrauen schliefen auf ihrem Lager. Und er gelangte in das Gemach der Jungfrau Marja der Schönen mit dem langen Zopf. Die Jungfrau aber war über die Maßen schön. ‚Was soll mir meine Ehre!‘ dachte der junge Held in seinem Herzen, ‚ich will bei der Jungfrau mein Ross tränken!‘ Bei der Schönen aber sah man durch das Hemd den Körper. Und er entflammte sich und wollte tun nach seiner Lust. Die Jungfrau aber merkte nichts von dem, was er im Sinn hatte. Und er legte sich zu ihr und tat nach seinem Willen. Danach ging er still und leise aus den Gemächern hinaus. Er kam auf den weiten Hof, da stand sein Ross, und es war sehr ermattet. Er führte es zum Quell und begoss es von oben bis unten mit frischem Wasser; dann sammelte er verjüngende Äpfel auf, schöpfte vom Wasser des Lebens und des Todes in die Gläser und ritt dann fort aus dem Reich (Die Jungfrau Zar).
Es geht bei unserem Thema nicht darum, statt zu Grimm zu den Bänden von 1001er Nacht zu greifen, sondern sich dafür zu sensibilisieren, dass auch unsere eigenen Volksmärchen das gesamte Leben widerspiegeln, wenn wir genau hinschauen und hinhören. Es genügt, sich einzufühlen in eine Situation, die das Märchen schildert wie beispielsweise in Dornröschen. In der deutschen Fassung wird diese sehr zurückhaltend dargeboten:
Da kam der Königssohn endlich in den alten Turm, da lag Dornröschen und schlief. Da war der Königssohn so erstaunt über ihre Schönheit, dass er sich bückte und sie küsste, und in dem Augenblick wachte sie auf, und der König und die Königin, und der ganze Hofstaat (KHM 50 Erstfassung).
Den Originalton des Märchens hören wir eher in der italienischen Fassung 180 Jahre vor den Grimms:
Endlich gelangte der König in das Zimmer, in dem die bezauberte Prinzessin sich befand, und rief sie, weil er glaubte, dass sie schliefe; da sie aber trotz seines Schreiens und Rüttelns nicht erwachte, er aber von ihrer Schönheit durch und durch erglühte, trug er sie in seinen Armen auf ein Lager und pflückte dort die Früchte der Liebe (Basile, Sonne Mond und Thalia).
Hier ist von ‚eigentlicher Erotik‘ durchaus etwas zu spüren und zu lesen.
Nicht viel anders ist es im Rotkäppchen. Während in der französischen Fassung der Wolf ganz schamlos zum Rotkäppchen sagt:
Viens te coucher avec moi! – Komm und schlaf mit mir!
(Charles Perrault, Le petit chaperon rouge, 1697).
heißt es in der deutschen Fassung nur:
Rotkäppchen wunderte sich, dass die Tür aufstand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor, dass es dachte: Ei, du mein Gott, wie ängstlich wird mir's heute zumut, und bin sonst so gerne bei der Großmutter! Es rief: "Guten Morgen," bekam aber keine Antwort. Darauf ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück. Da lag die Großmutter und hatte die Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah so wunderlich au (KHM 26).
Die Liste lässt sich fortsetzen. Der Liebhaber der Rapunzel mit dem langen Haar genießt in der italienischen Fassung sein Liebesglück in vollen Zügen:
Oben angelangt, kroch er durch das Fensterchen in die Stube, genoss in reichem Maß von jener Petersilienbrühe Amors und stieg, ehe noch der Sonnengott seine Rosse durch den Reifen des Tierkreises springen lehrte, wieder auf der nämlichen Goldleiter hinab, um nach Hause zurückzukehren (Basile, Petrosinella).
Im Grimm‘schen Märchen wird die Erotik sublimiert. Aus Verlangen wird Freundlichkeit und statt das Liebeslager zu teilen, legt man die Hand ineinander und gibt sich ein Eheversprechen:
Anfangs erschrak Rapunzel gewaltig, als ein Mann zu ihr hereinkam, wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten doch der Königssohn fing an ganz freundlich mit ihr zu reden und erzählte ihr, dass von ihrem Gesang sein Herz so sehr sei bewegt worden, dass es ihm keine Ruhe gelassen und er sie selbst habe sehen müssen.Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte, ob sie ihn zum Mann nehmen wollte, und sie sah, dass er jung und schön war, so dachte sie: "Der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel," und sagte ja, und legte ihre Hand in seine Hand.
Noch in der Erstausgabe hatten die Grimms den ursprünglichen Ton der Erzählung unzensiert wiedergegeben:
So lebten der Königssohn und Rapunzel lustig und in Freuden eine geraume Zeit,
woraufhin dem „schönsten Kind unter der Sonne“ mit der lieblichen Stimme bald die Kleider zu eng werden und es gar nicht weiß, wie ihm geschieht. Doch dieses war dann vielleicht doch zu anstößig und fiel der Märchenzensur zum Opfer. Aus diesem Grund werden in diesem Band die Grimm‘schen Märchen weitgehend nach der Erstausgabe wiedergegeben.
Märchenzensur gab es nicht nur in Deutschland. In Russland empfand man Afanasjews Sammlung erotischer Märchen aus dem Volksmund als einen Schlag gegen die ‚Ehre‘ des Landes und verbot die Publikation.
Verglichen damit geht es im deutschen Froschkönig kühl und überaus sittsam zu. Selbst der englische Frosch geht sehr viel inniger und erotischer mit seinem Wunsch an das Mädchen heran als der deutsche:
Go with me to bed, my hinny, my heart,
Go with me to bed, my own darling;
Mind you the words you spoke to me,
Down by the cold well, so weary.
Meine Süße, mein Herz, geh mit mir zu Bett
Geh mit mir ins Bett, meine Liebste;
Erinnere dich an deine Worte, die du zu mir sprachst
Da drunten am kalten Brunnen, so müde.
Welch anderen, unerotischen Ton schlägt der deutsche Froschkönig an! Der ist nur müde und will schlafen:
Ich habe mich sattgegessen und bin müde;
nun trag mich in dein Kämmerlein
und mach dein seiden Bettlein zurecht,
da wollen wir uns schlafen legen.
Ich bin müde, ich will schlafen so gut wie du:
heb mich herauf, oder ich sag's deinem Vater.
‚Die Schöne und das Tier‘ ist ein altes Erzählmuster, das bis heute großen Anklang findet. 1740 fragte das Tier jeden Abend,
si elle vouloit la laisser coucher avec elle - ob es mit ihm schlafen dürfe (Mme de Villeneuve, La Belle et la Bête).
Doch jedes Mal verneint die Frau. In einer Grimm‘schen Version dieses Typs ATU 425c ersetzt das Essen die Erotik:
Das schwarze Tier aber trug die schöne Jungfrau in sein Schloss, da war's gar wunderbar und schön, und Musikanten waren darin, die spielten auf, und unten war der Garten halb Sommer und halb Winter, und das Tier tat ihr alles zu Liebe, was es ihr nur an den Augen absehen konnte. Sie aßen zusammen, und sie musste ihm aufschöpfen, sonst wollte es nicht essen, da ward sie dem Tier hold, und endlich hatte sie es recht lieb (KHM 68a).
Die Tendenz zur Reduktion alles Erotischen und Sexuellen in Grimms Märchen ist offenkundig, durchgängig und gewollt. Doch auf Dauer drängt Verdrängtes erfahrungsgemäß zurück. Die Volksmärchen sind Spiegel des realen Lebens und nicht einer sittlichen Vorstellung davon. Das müssen sie auch bleiben, wenn sie kraftvoll zu uns sprechen wollen. Heutzutage ist es z.B. kein Tabu mehr, über Kindesmissbrauch zu sprechen. Was früher nie ans Licht der Öffentlichkeit trat, wird heute bewusst thematisiert: dass es so manchen Wolf gibt, der sieben hübsche junge Geißlein locker verspeist. Die Verdrängung dieses Themas muss auch in der Märcheninterpretation aufhören, damit die überlieferten Erzählungen und Bilder wieder frei sprechen können, dann werden wir die Aktualität der Märchen wieder schätzen und Gebrauch von ihnen machen.
So wollen wir im Folgenden eine bei uns fast verlorene Dimension der Volksmärchen wieder zurückgewinnen: die Freude an Erotik und Sexualität - und deren Abgründe, das Abenteuer, auf das sich junge Paare miteinander einlassen - und dessen Gefahren:
Jorinde und Joringel waren in den Brauttagen, und sie hatten ihr größtes Vergnügen eins am andern. Damit sie nun vertraut zusammen reden könnten, gingen sie in den Wald spazieren. "Hüte dich," sagte Joringel, "dass du nicht so nahe ans Schloss kommst."… (KHM 69).
Auch der Humor gehört dazu, die Doppelbödigkeit der Sprache und die Anspielungen auf Dinge, die man lieber indirekt anspricht:
„Hat er denn auch neun so schöne Zeiselschwänze wie der selige Herr Fuchs?' 'Ach nein,' antwortete die Katze, 'er hat nur einen.' 'So will ich ihn nicht haben.'“
So antwortete die von ihrem Gatten verwöhnte und anspruchsvolle Frau Füchsin auf das Werben eines jungen Fuchses (Die Hochzeit der Frau Füchsin KHM 38). Als in einer zweiten Fassung auch der Wolf sich noch als Bewerber versucht, ergeht es ihm nicht besser. Auch er hat nicht die Potenz und Geschicklichkeit im Liebesspiel wie der alte Fuchs:
'Hat der Herr rote Höslein an, und hat er ein spitz Mäulchen?' 'Nein,' antwortete die Katze. 'So kann er mir nicht dienen.
Die dunkle Seite des wenig kindgerechten Märchens KHM 38 liegt darin, dass der alte Fuchs sich nur totstellt und seine Frau in Versuchung führt, indem er sie prüft, ob sie nun neue Liebhaber empfängt oder nicht. Nach dem Tod aber ist gemäß dem Eheversprechen jeder Ehepartner frei. Der alte Fuchs aber, nachdem er ihre Untreue gehört hat, „prügelte das ganze Gesindel durch und jagte es mit der Frau Füchsin zum Haus hinaus“ (KHM 38). Fast alle diese Eheschwänke laufen darauf hinaus, dass der Mann der Herr im Hause ist und bleibt und die oft klügere und umsichtigere Frau gehorchen muss. So meint man, einer guten göttlichen Ordnung zu entsprechen (1. Mose 2/20ff, Epf 5/22ff) und sie zu bewahren, tatsächlich aber wird damit das alte Machtspiel der Geschlechter zementiert, in welchem der Mann physische Vorteile genießt.
Gewalt in der Ehe ist ein Thema, das die Märchen und Schwänke berühren (a. KHM 168 Die hagere Liese, KHM 170 Liebe und Leid teilen). Die Volksmärchen thematisieren aber auch Inzest (Allerleihrauh KHM 65), Entführung von Mädchen (Fitchers Vogel KHM 46, Die zwei Brüder KHM 60), Frauenmord (Blaubart KHM 62a, Fitchers Vogel KHM 46, König Lindwurm), Verführung Minderjähriger (Rotkäppchen KHM 26), Animalität und Gebundenheit (Das singende springende Löweneckerchen KHM 88).
Gleichgeschlechtliche Beziehungen spielen in den Märchen immer eine Rolle, gleichgeschlechtliche Sexualität nicht, auch wenn manche Autoren das gern hinein interpretieren.
Männer können Frauen ins Unglück stürzen. Doch auch Frauen können Männer ins Verderben ziehen (Die Nixe im Teich KHM 181), können stolz und machthungrig sein und ihre Freier lieber umbringen als ehelichen (Das Meerhäschen KHM 191). Eifersüchtige Frauen können zur Hexe werden und die Beneidete ins Bad einschließen und ersticken lassen und dafür dem König die eigene Tochter im Bett unterjubeln (Brüderchen und Schwesterchen KHM 11). Auch diese Liste ließe sich fortsetzen.
Besonders drängend ist der Missbrauch Minderjähriger, nicht durch wilde Tiere, sondern unbefriedigte und nicht entwickelte Erwachsene. Auch hier lohnt der genaue Blick in die Märchen. Sie sagen in ihrer Bildersprache oft sehr treffend, worum es geht:
O du allerliebstes, appetitliches Haselnüsschen du, dich muss ich knacken, das ist einmal ein süßer Kern –
so denkt der Wolf vielsagend in Bechsteins Rotkäppchen 1853. Kinder haben eine schützende Schale, aber noch keine so feste – und diese sollte man stärken und nicht knacken! Es kommt wohl auch nicht von ungefähr, dass sowohl Rotkäppchen wie auch die sieben Geißlein zwar eine Mutter, aber keinen beschützenden Vater haben.
Werfen wir einen Blick auf die alte muslimisch- orientalische Welt, in der die Frauen sich wegen des begehrlichen Blicks der Männer zu verschleiern hatten, so weiß man sofort, welchen Rang dieses Thema tatsächlich hat. Das spiegelt sich auch in den Geschichten. Schon die Rahmenerzählung der Märchen aus 1001er Nacht handelt davon. Aufgrund des Ehebruchs seiner Frau beschließt der König Schahriyar, Frauen nur noch für eine Nacht zu heiraten, seine Bedürfnisse zu stillen und sie – aus Angst vor neuer Untreue - am nächsten Morgen töten zu lassen. Scheherazade, die Tochter seines Wesirs, möchte diesen Kreislauf der Gewalt mit einer List durchbrechen. Nachdem sie mit Schahriyar in der Nacht das Bett geteilt hat, erzählt sie ihm anschließend eine Geschichte, unterbricht diese jedoch bei Morgengrauen an ihrer spannendsten Stelle wodurch der König, begierig darauf, das Ende zu hören, die Hinrichtung aufschiebt. Da Scheherazade jedoch immer wieder neue Geschichten erzählt, bzw. geschickt weitere in eine bereits begonnene einwebt, wiederholt sich der Prozess eintausend weitere Nächte lang. Am Ende rückt der König ab von seinem Schwur, seine Frauen nach der Hochzeitsnacht zu töten und gewährt seiner bezaubernden Unterhalterin Gnade.
Die insgesamt 550 Geschichten dieses Zyklus umfassen Abenteuer, Anekdoten, Liebesgeschichten – und einige sehr sinnenfreudige erotische Geschichten, verglichen jedenfalls mit unserer westlichen Erzählkultur:
Da erhob sich Ma'rûf und legte die Gewänder ab, die er trug, und setzte sich auf das Lager hin; nun hatte er das Liebesspiel im Sinn, und dies war des Kosens Beginn. Er legte seine Hand auf die Knie der Prinzessin, und sie setzte sich auf seinen Schoß und schob ihre Lippe in seinen Mund. Das war eine Stunde, die einen Menschen seinen Vater und seine Mutter vergessen lässt. Er umarmte sie und zog sie an sich und presste sie an seinen Busen und drückte sie an seine Brust und sog an ihren Lippen, bis der Honigtau von ihrem Munde troff. Und er legte seine Hand unter ihren linken Arm, bis sein Leib und ihr Leib sich nach der Vereinigung sehnten. Nachdem er nun seine Hand zwischen ihre Brüste gelegt hatte und sie bis zu den Schenkeln hinab bewegt hatte, umgürtete er sich mit ihren Beinen und erprobte, wie sich die beiden Teile vereinen. Er rief: „O Vater der beiden Kinnschleier!“ und legte das Pulver auf die Pfanne und entzündete die Lunte und zielte auf den Kompass; dann gab er Feuer und brach die Burg an allen vier Ecken. So geschah das Ereignis, das unerforschlich ist, und sie tat den Schrei, der unausbleiblich ist (Die Geschichte von dem Schuhflicker Ma'rûf).
Nicht vergessen werden soll, dass auch die Märchen ihre Geschichte haben und sich entwickelten. Sie haben sich überall auf der Welt von den Mythen und der Götterwelt emanzipiert und die alten Geschichten auf die Erde gebracht: aus Göttern wurden Menschen, aus himmlischen Dramen irdische Suchwanderungen und Entwicklungen.2 Die Motive und Bilder sind gewandert und haben sich transformiert, aber deren Gehalt und Bedeutung sind geblieben. Der Prinz, der das schlafende Dornröschen wachküsst, war vorzeiten Sigurd, der die Walküre Sigrdrifa (Brunhild) weckte, die von Odin mit einem Schlafdorn in Tiefschlaf versetzt und von einem Feuerwall geschützt wurde.3 Das schöne Schneewittchen, das bei den Zwergen Zuflucht suchte und mit ihnen eine Zeit lebte, war einmal die Frühlingsgöttin Freyja, die zu den Zwergen ging, um ein kostbares Halsband zu erwerben und dafür mit jedem von ihnen eine Liebesnacht verbrachte. Rapunzel war einmal Danae, die von ihrem Vater in ein ummauertes Gefängnis eingesperrt wurde, aber von Zeus durch das Dach hindurch aufgesucht und geschwängert wurde. Aschenputtel war einmal ein griechisches Sklavenmädchen, das um die Zeitenwende einen ägyptischen Pharao geheiratet haben soll, der sich auf die Suche nach der Besitzerin eines Sandalens gemacht hatte. Auch von einem chinesischen König wird erzählt, dass er so vernarrt in den Pantoffel einer jungen Frau war, dass er den zierlichen Fuß der Besitzerin dieses Schuhes unbedingt heiraten wollte.4
Die Tierehe im Märchen war einmal die Verbindung der hübschen Königstochter Psyche mit dem jungen Gott Amor. Es war ihr nur eingeredet worden, er sei ein Ungeheuer, dabei entpuppte er sich als außergewöhnlich schöner junger Mann. So stellen wir im Folgenden einige Geschichten- und Motivstränge aus dem großen Schatz der Weltmärchen zusammen, die die Freude und Lust der Geschlechter aneinander zeigen und würdigen, ohne die dunkle Seite zu verschweigen.
Eros war der griechische Gott jener Liebe, die das andere Geschlecht sucht und begehrt. Es ist die Liebe, deren Pfeil einen treffen, verwunden und selig machen kann. Es ist auch die Liebe, die Flügel und ungeahnte Kräfte verleiht. Deshalb wird Eros gern geflügelt und mit Pfeil und Bogen dargestellt.
Dieses Buch würdigt zunächst die verhüllte und dezente Erotik in den uns bekannten und vertrauten Märchen und zeigt, dass diese Triebfeder ein wesentlicher Bestandteil unserer Märchen ist, so, wie es eben zur jeweiligen Zeit in einer Kultur gepflegt und tradiert wurde. Dass muss auch so sein, denn sonst wären die Märchen lebensfremd. Tatsache ist: ohne Eros wäre das Leben auf der Erde nicht möglich. Weder würden Bienen die farbigen Blumen und duftenden Blüten anfliegen und deren Nektar genießen und einholen, noch würden die Geschlechter der Tier- und Menschenwelt einander suchen, sich vereinigen und eine neue Generation zeugen.
Der zweite Teil ist eine ausgewählte Sammlung amouröser und erotischer Märchenliteratur aus verschiedenen Ländern und Kulturen. Die meisten Geschichten habe ich bearbeitet und zumeist auch gekürzt, um sie für unsere Zeit und unsere Kultur besser les- und erzählbar zu machen. Vieles musste ich einfach weglassen. Wer will heute noch an einem Märchenabend erzählen, wie der nordamerikanische Trickster Coyote ein Holzscheit zwischen die offenen Schenkel einer jungen Hexe rammt, die daraufhin lustvoll aufstöhnt und er ihr am Ende sein Messer ins Herz sticht?5 Das sind nicht die Geschichten, die wir heute tradieren müssen. Auch bei uns gibt es diese Märchen, die kein Mensch mehr braucht:
„Sie brachten eine andere Jungfrau mitgeschleppt, waren trunken und hörten nicht auf ihr Schreien und Jammern. Sie gaben ihr Wein zu trinken, drei Gläser voll, ein Glas weißen, ein Glas roten, und ein Glas gelben, davon zersprang ihr das Herz. Darauf rissen sie ihr die feinen Kleider ab, legten sie auf einen Tisch, zerhackten ihren schönen Leib in Stücke und streuten Salz darüber.“ (KHM 40 Der Räuberbräutigam).
Es geht hier also nicht um Erotik um jeden Preis, auch nicht um eine unantastbare Märchenkunde, sondern um eine Wertschätzung dieser Lebenskraft in den Märchen der Weltliteratur und um erzählbare und brauchbare Geschichten für uns heute. Sie mögen anregend und stimulierend sein wie ein Aperitif, sie können festlich und prickelnd sein wie ein Glas Sekt, sie können leicht und unterhaltsam sein wie ein fruchtiger Cocktail, sie dürfen auch Tiefgang haben wie ein guter roter Wein.
Liebe und Erotik sind ein fester Bestandteil der Volksmärchen in aller Welt, auch in unserer Tradition. Nicht selten übernehmen Tiere den Part des stürmischen und triebhaften Liebhabers, z.B. der Frosch. Dass das garstige Tier sich als „ein schöner, junger Prinz“ entpuppt, zeigt sich erst, als die junge Frau in ihre Kraft kommt und sich nicht mehr nur helfen lässt, sondern dem Liebeswerber etwas entgegensetzt. Das ist es, was die beiden letztlich zusammenbringt und sie die Freuden der Liebe auch genießen lässt.
Aber der Frosch fiel nicht tot herunter, sondern wie er herab auf das Bett kam, da war‘s ein schöner junger Prinz. Der war nun ihr lieber Geselle, und sie hielt ihn wert wie sie versprochen hatte, und sie schliefen vergnügt zusammen ein (KHM 1).
Doch bevor die Liebenden vergnügt und vertraut miteinander ist, muss erst einmal die Angst und die Scham zu überwinden, was das Märchen sehr deutlich macht:
Am andern Tage, als sie mit dem König und allen Hofleuten sich zur Tafel gesetzt hatte und von ihrem goldenen Tellerlein aß, da kam, plitsch platsch, plitsch platsch, etwas die Marmortreppe heraufgekrochen, und als es oben angelangt war, klopfte es an die Tür und rief: "Königstochter, jüngste, mach mir auf!" Sie lief und wollte sehen, wer draußen wäre, als sie aber aufmachte, so saß der Frosch davor. Da warf sie die Tür hastig zu, setzte sich wieder an den Tisch, und es war ihr ganz Angst. Der König sah wohl, dass ihr das Herz gewaltig klopfte, und sprach: "Mein Kind, was fürchtest du dich, steht etwa ein Riese vor der Tür und will dich holen?" - "Ach nein," antwortete sie, "es ist kein Riese, sondern ein garstiger Frosch."
Der Frosch gehört zu den Tieren, die Eros und Fruchtbarkeit verkörpern und stehen hier für den Mann, der sich seiner Geliebten zumutet, so wie er ist. Nur, wenn sie ihn genauso so nimmt, kann das Abstoßende erlöst werden. Er sagt zu der Prinzessin:
Deine Kleider, deine Perlen und Edelsteine und deine goldene Krone, die mag ich nicht: aber wenn du mich liebhaben willst, und ich soll dein Geselle und Spielkamerad sein, an deinem Tischlein neben dir sitzen, von deinem goldenen Tellerlein essen, aus deinem Becherlein trinken, in deinem Bettlein schlafen (KHM 1).
Wir steigen hier mit der englischen Version des Froschkönigs in die Thematik ein. Sie konfrontiert uns gleich mit dem ersten Satz mit der Transzendenz und gibt einen Hinweis darauf, dass wir diese Liebesgeschichte vielleicht auch noch auf einer anderen Ebene deuten und verstehen können. Was ist das, was nie war - und doch eine gute Zeit ist? Eine lange Suchwanderung an die Grenzen der vertrauten Welt führt ein Mädchen zum „Brunnen am Ende der Welt.“ Dort, jenseits des Gewohnten und bislang Vertrauten, dort eröffnet sich dem Mädchen die Stimme und Tiefe eines Brunnens. Das kann die eigene innere Stimme sein, es kann die göttliche Stimme sein, es kann die Stimme eines anderen Unbekannten sein. Jedenfalls ist es die Stimme dessen, mit dem man an Ende sich vereinigt und glücklich wird. Die Vereinigung von Mann und Frau ist etwas Ekstatisches und Höchstes. Gleiches gilt auch, wenn ein Mensch eins wird mit sich und eins mit dem, was ist.
Es war einmal eine Zeit – und es war eine sehr gute Zeit. Es war nicht meine Zeit, auch nicht eure, auch nicht die Zeit von irgendjemand – da war ein Mädchen, dessen Mutter verstorben war und ihr Vater heiratete noch einmal. Aber ihre Stiefmutter hasste sie, denn sie war schöner als sie selbst und so war sie sehr grausam zu ihr. Sie ließ sie alles im Hause tun, was ein Diener macht und sie ließ sie nie in Ruhe. Schließlich dachte die Stiefmutter eines Tages sogar daran, sie endgültig loszuwerden.
Sie gab ihr ein Sieb und sagte: „Geh und füll das Sieb mit Wasser aus dem Brunnen am Ende der Welt und bring es mir, oder es wird dir schlecht ergehen.“ Denn sie glaubte, das Mädchen würde den Brunnen am Ende der Welt niemals finden. Und wenn es ihn doch fand, wie sollte es Wasser in einem Sieb heimbringen?
Nun. das Mädchen machte sich auf den Weg und bat jeden, den es traf, ihm doch zu sagen, wo sich der Brunnen am Ende der Welt befand. Aber niemand konnte ihr helfen. Schließlich zeigte ihr eine alte Frau, die ganz gebückt ging, den Weg und wie sie dahin gelangen könne. Sie befolgte alles, was ihr die alte Frau gesagt hatte und kam schließlich an dem Brunnen am Ende der Welt an. Aber als sie das Sieb in das kalte, kalte Wasser tauchte, floss es hinaus. Sie versuchte es immer wieder, aber es war immer dasselbe. Zuletzt setzte sie sich hin und weinte, bis ihr Herz fast zerbrach.
Plötzlich hörte sie eine quakende Stimme, blickte auf und sah einen großen Frosch, der sie mit seinen hervorstehenden Augen anschaute. Er sprach: „Was hast du denn, mein Kleines?“
„Ach, ich weiß nicht, was ich anfangen soll. Meine Stiefmutter hat mich diesen weiten Weg machen lassen, damit ich ihr ein Sieb voll Wasser aus dem Brunnen am Ende der Welt bringe. Aber ich kann und kann das Sieb nicht füllen.“
„Nun“, sagte der Frosch, „wenn du mir versprichst, eine Nacht lang das zu tun, worum ich dich bitte, werde ich dir verraten, wie du das Sieb füllen kannst.“ Das Mädchen sagte ihm das zu, und der Frosch fuhr fort:
Verstopf es mit Moos, verschmier es mit Lehm.
So trägst du es heim leicht und bequem.
Stop it with moss and daub it with clay,
And then it will carry the water away.
Und er hüpfte hoch und wieder hoch und nochmals hoch und sprang mit einem Plumps in den Brunnen am Ende der Welt. Das Mädchen schaute sich nach Moos um und legte es auf den Boden des Siebs. Darüber schmierte sie Lehm und tauchte das Sieb in den Brunnen. Diesmal lief das Wasser nicht aus. Das Mädchen drehte sich um und wollte davongehen.
In diesem Augenblick steckte der Frosch den Kopf aus dem Brunnen und sagte: „Denk an dein Versprechen.“
„Gut, gut“, erwiderte das Mädchen und dachte: Was kann ein Frosch mir schon schaden? Es lief zurück zur Stiefmutter und brachte ihr das Sieb voll Wasser aus dem Brunnen am Ende der Welt. Die Stiefmutter war darüber sehr ärgerlich, ließ sich aber nichts anmerken.
An diesem Abend hörte die Tochter etwas unten an der Tür tap-tapsen, und eine Stimme rief:
Öffne die Tür, meine Liebste
Öffne die Tür, du mein Herz;
Denk an die Worte, die wir sprachen
Auf der Wiese beim Brunnen am Ende der Welt.
Open the door, my hinny, my heart!
Open the door, my own darling!
Mind you the word that you and I spoke
Down in the meadow at the world end’s well.
„Wer um alles in der Welt kann das sein?“ rief die Stiefmutter. Da musste das Mädchen ihr erzählen, was es dem Frosch versprochen hatte. „Sein Versprechen muss man halten“, sprach die Frau. „Geh und öffne sofort die Tür.“ Sie freute sich, dass ihre Tochter einem hässlichen Frosch gehorchen musste. Das Mädchen machte die Tür auf, und da hüpfte der Frosch hoch, hüpfte höher und sprang zum Schluss so hoch, dass er ihm ins Ohr sagen konnte:
Heb mich auf dein Knie, meine Liebste,
Heb mich auf dein Knie, du mein Herz.
Denk an die Worte, die wir sprachen
Auf der Wiese beim Brunnen am Ende der Welt.
Lift me to your knee, my hinny, my heart;
Lift me to your knee, my own darling;
Remember the words you and I spoke,
Down in the meadow, by the World's End Well.
Das wollte das Mädchen gar nicht gern tun. Doch die Stiefmutter befahl ihr: „Augenblicklich hebst du den Frosch auf, du liederliches Ding! Sein Versprechen muss man halten.“
Schließlich packte die Tochter den Frosch, und eine Zeitlang saß er auf ihrem Knie. Da sagte er:
Gib mir zu essen, meine Liebste,
Gib mir zu essen, mein Herz.
Denk an die Worte, die wir sprachen
Auf der Wiese beim Brunnen am Ende der Welt.
Give me some supper, my hinny, my heart,
Give me some supper, my darling;
Remember the words you and I spake,
In the meadow, by the Well of the World's End.
Dagegen hatte das Mädchen nichts einzuwenden. Es nahm eine Schüssel mit Milch, brockte Brot hinein und fütterte den Frosch. Als er satt war, sagte er:
Nimm mich in dein Bett, meine Liebste,
Nimm mich in dein Bett, du mein Herz.
Denk an die schweren Worte, die wir sprachen
Da unten am kalten Brunnen.
Go with me to bed, my hinny, my heart,
Go with me to bed, my own darling;
Mind you the words you spoke to me,
Down by the cold well, so weary.
Davor aber graute dem Mädchen. Die Stiefmutter jedoch sagte: „Gehorche dem Frosch, oder ich werfe dich und dein Fröschlein hinaus.“ So nahm denn das Mädchen den Frosch zu sich ins Bett, hielt sich aber so weit wie möglich von ihm entfernt. Gerade als der Tag anbrach, was verlangte da der Frosch?
Schlag mir den Kopf ab, meine Liebste,
Schlag mir den Kopf ab, du mein Herz.
Denk an die schweren Worte, die wir sprachen
Da unten am kalten Brunnen.
Chop off my head, my hinny, my heart,
Chop off my head, my own darling;
Remember the promise you made to me,
Down by the cold well, so weary.
Zuerst weigerte sich das Mädchen, denn es dachte an den guten Rat, den der Frosch ihr am Brunnen gegeben hatte. Als der Frosch aber seine Bitte immer wiederholte, sah sich das Mädchen nach einer Axt um und hieb ihm den Kopf ab. Und, o Wunder! Plötzlich stand da ein schöner junger Prinz. Er erzählte, dass ein böser Zauberer ihn verwandelt hatte. Nur wenn ein Mädchen eine ganze Nacht hindurch tat, was er verlangte, und ihm zum Schluss auch noch den Kopf abschlug, konnte er erlöst werden.
Die Stiefmutter war sehr überrascht und nicht allzu erfreut, das könnt ihr euch denken, als sie statt des hässlichen Froschs den jungen Prinzen vorfand. Er sagte ihr, er würde sie heiraten, weil sie ihn befreit hätte. Das taten sie und zogen fort und lebten fortan im Schloss des Königs, seines Vaters. Die Stiefmutter aber konnte sich nur damit trösten, dass sie es doch war, der ihre Stieftochter es zu verdanken hatte, dass sie mit einem Prinzen verheiratet sein konnte.6
In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, dass sich die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, darüber verwunderte so oft sie ihr ins Gesicht schien. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen: wenn nun der Tag recht heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald, und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens, und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder; und das war ihr liebstes Spielwerk.
Nun trug es sich einmal zu, dass die goldene Kugel der Königstochter nicht in das Händchen fiel, das sie ausgestreckt hatte, sondern neben vorbei auf die Erde schlug, und geradezu ins Wasser hinein rollte. Die Königstochter folgte ihr mit den Augen nach, aber die Kugel verschwand, und der Brunnen war tief, und gar kein Grund zu sehen. Da fing sie an zu weinen, und weinte immer lauter, und konnte sich gar nicht trösten. Und wie sie so klagte, rief ihr jemand zu „was hast du vor, Königstochter, du schreist ja dass sich ein Stein erbarmen möchte.“ Sie sah sich um, woher die Stimme käme, da erblickte sie einen Frosch, der seinen dicken hässlichen Kopf aus dem Wasser streckte. „Ach, du bist‘s, alter Wasserpatscher,“ sagte sie, „ich weine über meine gold‘ne Kugel, die mir in den Brunnen hinabgefallen ist.“ „Gib dich zufrieden,“ antwortete der Frosch, „ich kann wohl Rat schaffen, aber was gibst du mir, wenn ich dein Spielwerk wieder heraufhole?“ „Was du willst, lieber Frosch,“ sagte sie, „meine Kleider, meine Perlen und Edelsteine, dazu die gold‘ne Krone, die ich trage.“ Der Frosch antwortete „deine Kleider, deine Perlen und Edelsteine, deine gold‘ne Krone, die mag ich nicht: aber wenn du mich lieb haben willst, und ich soll dein Geselle und Spielkamerad sein, an deinem Tischlein neben dir sitzen, von deinem goldnen Tellerlein essen, aus deinem Becherlein trinken, in deinem Bettlein schlafen: wenn du mir das versprichst, so will ich dir die gold‘ne Kugel wieder aus dem Grunde hervor holen.“ „Ach ja,“ sagte sie, „ich verspreche dir alles, wenn du mir nur die Kugel wieder bringst.“ Sie dachte aber „was der einfältige Frosch schwätzt, der sitzt im Wasser bei seines Gleichen, und quakt, und kann keines Menschen Geselle sein.“
Der Frosch, als er die Zusage erhalten hatte, tauchte seinen Kopf unter, sank hinab, und über ein Weilchen kam er wieder herauf gerudert, hatte die Kugel im Maul, und warf sie ins Gras. Die Königstochter war voll Freude, als sie ihr schönes Spielwerk wieder erblickte, hob es auf, und sprang damit fort. „Warte, warte,“ rief der Frosch, „nimm mich mit, ich kann nicht so laufen wie du.“ Aber was half ihn dass er ihr sein quack quack so laut nachschrie als er konnte! sie hörte nicht darauf, eilte nach Haus, und hatte bald den armen Frosch vergessen, der wieder in den tiefen Brunnen hinab steigen musste.
Am andern Tage, als sie mit dem König und allen Hofleuten an der Tafel saß, und von ihrem gold‘nen Tellerlein aß, da kam, plitsch platsch, plitsch platsch, etwas die Marmortreppe herauf gekrochen, und als es oben angelangt war, klopfte es an der Tür, und rief „Königstochter, jüngste, mach mir auf.“ Sie lief und wollte sehen wer draußen wäre, als sie aber aufmachte, so saß der Frosch davor. Da warf sie die Tür hastig zu, setzte sich wieder an den Tisch, und war ihr ganz Angst. Der König sah dass ihr das Herz gewaltig klopfte, und sprach „ei, was fürchtest du dich, steht etwa ein Riese vor der Tür, und will dich holen?“ „Ach nein,“ antwortete das Kind, „es ist kein Riese, sondern ein garstiger Frosch, der hat mir gestern im Wald meine goldene Kugel aus dem Wasser geholt, dafür versprach ich ihm er sollte mein Geselle werden, ich dachte aber nimmermehr, dass er aus seinem Wasser heraus könnte: nun ist er draußen, und will zu mir herein.“ Indem klopfte es zum zweiten Mal und rief
„Königstochter, jüngste,
mach mir auf, weißt du nicht was gestern
du zu mir gesagt
bei dem kühlen Brunnenwasser?
Königstochter, jüngste,
mach mir auf.“
Da sagte der König „hast du’s versprochen, musst du’s auch halten; geh und mach ihm auf.“ Sie ging und öffnete die Türe, da hüpfte der Frosch herein, ihr immer auf dem Fuße nach, bis zu ihrem Stuhl. Da saß er und rief „heb mich herauf zu dir.“ Sie wollte nicht, bis es der König befahl. Als der Frosch auf den Stuhl gekommen war, sprach er „nun schieb mir dein goldenes Tellerlein näher, damit wir zusammen essen.“ Das tat sie auch, aber man sah wohl, dass sie‘s nicht gerne tat. Der Frosch ließ sich‘s gut schmecken, aber ihr blieb fast jeder Bissen im Halse. Endlich sprach er „nun hab ich mich satt gegessen, und bin müde, trag mich hinauf in dein Kämmerlein, und mach dein seiden Bettlein zurecht, da wollen wir uns schlafen legen.“ Da fing die Königstochter an zu weinen, und fürchtete sich vor dem kalten Frosch, den sie nicht anzurühren getraute, und der nun in ihrem schönen reinen Bettlein schlafen sollte. Der König aber blickte sie zornig an, und sprach „was du versprochen hast, sollst du auch halten, und der Frosch ist dein Geselle.“ Es half nichts, sie mochte wollen oder nicht, sie musste den Frosch mitnehmen. Da packte sie ihn, ganz bitterböse, mit zwei Fingern, und trug ihn hinauf, und als sie im Bett lag, statt ihn hineinzuheben, warf sie ihn aus allen Kräften an die Wand und sprach „nun wirst du Ruhe haben, du garstiger Frosch.“
Was aber herunter fiel war nicht ein toter Frosch, sondern ein lebendiger junger Königssohn mit schönen und freundlichen Augen. Der war nun von Recht und mit ihres Vaters Willen ihr lieber Geselle und Gemahl. Da schliefen sie vergnügt zusammen ein, und am andern Morgen, als die Sonne sie aufweckte, kam ein Wagen herangefahren mit acht weißen Pferden bespannt, die waren mit Federn geschmückt, und gingen in goldenen Ketten, und hinten stand der Diener des jungen Königs, das war der treue Heinrich. Der treue Heinrich hatte sich so betrübt, als sein Herr war in einen Frosch verwandelt worden, dass er drei eiserne Bande hatte müssen um sein Herz legen lassen, damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge. Der Wagen aber sollte den jungen König in sein Reich abholen; der treue Heinrich hob beide hinein, und stellte sich wieder hinten auf, voller Freude über die Erlösung. Und als sie ein Stück Wegs gefahren waren, hörte der Königssohn hinter sich, dass es krachte, als wäre etwas zerbrochen. Da drehte er sich um, und rief
„Heinrich, der Wagen bricht.“
„Nein, Herr, der Wagen nicht,
es ist ein Band von meinem Herzen,
das da lag in großen Schmerzen,
als ihr in dem Brunnen saßt,
als ihr ein Frosch wart.“
Noch einmal und noch einmal krachte es auf dem Weg, und der Königssohn meinte immer der Wagen bräche und es waren doch nur die Bande, die vom Herzen des treue Heinrich absprangen, weil sein Herr wieder erlöst und glücklich war.7
Wie wäre es, diese Geschichte umgekehrt zu erzählen? Auch dazu gibt es etliche Erzählfassungen wie die polnische ‚Froschprinzessin‘ oder die russische ‚Froschkönigin‘ (Zarewna Frosch),8 aber auch den Eisenhans, wo ein Junge mit einem goldenen Ball spielt und ihn an einen animalischen Mann im Käfig verliert. Von der erotisch-sinnlichen Seite her wäre vielleicht eine türkische Fassung am reizvollsten: Die schweigende Sultanstochter. Dort ist es eine Alte, mit der der Königssohn sich auseinanderzusetzen hat.
Es war einmal ein Padischah und der hatte einen Sohn. Dieser hatte eine goldene Kugel, mit der er tagaus tagein spielte. Eines Tages, als er wieder mal in seinem Pavillon saß und mit der Kugel spielte, kam zu der unter dem Pavillon hervorsprudelnden Quelle eine alte Frau um Wasser. Der Schehzade (Sohn des Schah's) schleuderte nur um seinen Spaß zu haben, die Kugel auf die Alte und ihr Krug zerbrach. Was hätte wohl die Alte tun können? Sie sprach kein Wort, holte einen anderen Krug und kam wieder zur Quelle. Da es dem Jüngling ein Vergnügen bereitete, dass er den Krug zerbrochen hatte, so warf er seine Kugel wieder auf die Alte und zerbrach abermals den Krug. Die Alte mochte sich noch so ärgern, aus Furcht vor dem Padischah wagte sie kein Wort; da sie nun kein Geld hatte, ging sie fort, kaufte sich einen anderen Krug auf Borg und kehrte damit zurück. Während sie Wasser schöpft, wirft der Knabe neuerdings die Kugel und zerbricht den Krug. Die Alte konnte ihren Ärger nunmehr nicht unterdrücken und sagte: „Ich will nichts weiter sagen, mein Prinz, als dass du dich in die schweigende Königstochter verlieben möchtest!“ und damit ging sie davon
Wie der Prinz dies hört, fängt er an zu grübeln, was das wohl zu bedeuten habe; es sinnt und grübelt darüber in einem fort, von Tag zu Tag, bis er anfing zu kränkeln, zu schwinden und seine Farbe zu verlieren; es schmeckte ihm weder Speis noch Trank und nach drei-vier Tagen musste man ihn, wie einen, der seit Monaten krank ist, zu Bett legen. Der Padischah kann die Sache nicht begreifen und umsonst werden Ärzte und Hodschas herbeigebracht, keiner kann ihn heilen.
Eines Tages fragt der Padischah seinen Sohn, wie ihn das Übel betroffen habe. Da erzählt der Knabe, wie er drei Tage nacheinander einer alten Frau die Krüge zerbrochen, und was ihm die Alte gesagt habe, und dass ihm nun kein Arzt, kein Hodscha helfen könne. Er bat seinen Vater um Erlaubnis, aufbrechen zu dürfen, um die Sultanstochter aufzufinden, vielleicht könnte ihn dies von seinem Übel befreien. Obgleich der Padischah nur diesen einzigen Sohn hatte, sah er doch ein, dass er auch den verlieren würde, wenn er ihm seine Bitte nicht gewähre. Eine Zeitlang zögerte und schwankte er, doch auf das Drängen seines Sohnes erlaubt er ihm endlich, mit seinem Lala9 die Reise anzutreten.
Nachdem sie sich mit an Wert schweren, an Gewicht leichten Sachen versehen hatten, brachen sie eines Tags gegen Abend auf. So gingen sie nun ihres Weges und sechs Monate hindurch taten sie nichts anderes, und da sie sich während ihrer Reise um gar nichts anderes kümmerten, so verloren sie ganz ihr menschliches Äußere. Sie wussten nicht mehr was Rasten und Schlafen sei; Speis und Trank kamen ihnen nicht in den Sinn. Und wie sie so über Stock und Stein wanderten, gelangten sie auf den Gipfel eines Berges. Dort bemerkten sie, dass Stein und Erde so glänzt, wie die Sonne, und wie sie so hin und her schauen, begegnen sie einem alten Manne. Sie gehen zu ihm hin und erkundigen sich, worauf er ihnen die Auskunft gibt, dass dies die Berge der schweigenden Sultanstochter wären; sie selbst säße unter einem siebenfachen Schleier und der Glanz ringsherum sei der Widerschein ihrer selbst. Die Wanderer fragen, wo sie sich aufhalte Der Alte erwidert hierauf, dass man sechs Monate lang reisen müsse, dort haben sie ein Seraj10, wo sie wohne. Bisher hätten schon viele ihr Leben lassen müssen, weil sie der Sultanstochter kein einziges Wort entlocken konnten. Der Prinz aber ließ sich dadurch nicht beirren, sondern machte sich mit seinem Meister wieder auf die Reise. Nach langem Wandern – in den Märchen geht das schnell – da sie schon drei Monate lang gewandert waren, gelangen sie wiederum auf den Gipfel eines Berges und sehen, dass dieser an allen Seiten blutrot ist; und wie sie so herumgehen, stoßen sie auf ein Dorf. Da sagt der Prinz seinem Lala: „Ich bin sehr ermüdet; gehen wir ins Dorf um auszuruhen, und zugleich zu erfahren, wie's hier in der Gegend steht.“ Sie gehen ins Dorf, kehren in ein Kaffeehaus ein und wie sie sich der Ruhe hingeben, bemerken die Dorfbewohner, dass sie weither sind und einer nach dem andern kommt, sie zu begrüßen. Der Prinz gibt sich nicht zu erkennen und erkundigt sich, warum der Berg so blutrot wäre. Die Einwohner antworten, dass man dreieinhalb Monate lang reisen müsse, dort wohne die schweigende Sultanstochter, ihres Antlitzes und ihrer Lippen Rot färben den Berg; sie selbst säße unter sieben Schleiern, rede kein Wort, und man sagt, es hätten schon viele ihr Leben ihretwegen lassen müssen Doch der Jüngling hatte keine Geduld und machte sich mit seinem Lala wieder auf die Reise.
Doch lasst uns die Geschichte nicht hinziehen. Wie sie so wandern, erblicken sie von weitem eine Burg; der Prinz meint, dass dort der Wohnsitz der Sultanstochter sei, und darum gehen sie geradeaus in die Nähe der Burg. Dort bemerken sie erst, dass die Burg aus menschlichen Schädeln besteht, sich hundert Ellen lang endlos dahin zieht. Der Prinz sagt zu seinem Lala: „Dies werden die Schädel derer sein, die die Sultanstochter zum Reden bringen wollten; entweder wird's uns auch so ergeh‘n, oder wir werden unser Ziel erreichen.“ Bevor sie bei der Burg angelangt waren, kommen sie in eine Stadt, nehmen in einem Hân (Gasthof) Wohnung und wollten dort einige Tage zubringen. In der Stadt hören sie fortwährendes Geschrei und Wehklagen: „Ach mein Bruder, oh mein Sohn ist hin!“ Als sie nach der Ursache fragen, sagt man ihnen: „Warum fragst du? Es scheint, du bist auch gekommen um zu sterben. Diese Stadt gehört dem Vater der Sultanstochter. Wer versuchen will, sie zum Sprechen zu bringen, der meldet's früher dem Padischah; wenn er dann die Erlaubnis erhalten hat, wird er vor das Mädchen geführt.“ Als der Jüngling dies hörte, sprach er zu seinem Meister: „Wir sind am Ziele unserer Reise. Ein, zwei Tage wollen wir noch rasten, dann werden wir schon sehen, wie sich unser Schicksal gestaltet.“ Darauf lassen sie sich im Gasthof nieder, wandeln im Bazar herum.
Eines Tages sieht er, dass ein Mann in einem Käfig eine Nachtigall feilhält, die ihm so sehr gefällt, dass er sie kaufen will. Der Meister sagt ihm zwar, wozu es nützlich wäre, sie zu kaufen, da sie jetzt ganz andere Sachen vorhaben; doch der Prinz hört nicht auf ihn, sondern ersteht sie um tausend Piaster, nimmt sie nach Hause und hängt den Käfig in seinem Zimmer auf. Als der Prinz einmal allein in seinem Zimmer saß und nachdachte, wie er wohl die Königstochter zum Reden bringen könnte, und wenn ihm das nicht gelänge, wie er dann sterben müsse. Da beginnt auf einmal im Käfig die Nachtigall zu reden und sagt: „Was grübelst du, mein Prinz, was betrübt dich so sehr?“ Der Prinz ist betroffen, er weiß nicht, ob dieser Vogel ein Geist oder ein Mensch ist, und fängt aus Furcht zu zittern an; doch er besinnt sich und denkt, vielleicht ist dies die Gnade Allahs und erzählt dem Vogel, dass er sich in die schweigende Tochter des Sultans verliebt hat und nun sich den Kopf zerbricht, wie er sich ihr nähern könnte. Die Nachtigall sagt ihm hierauf Folgendes: „Wie kann man sich nur darüber den Kopf so zerbrechen? Nichts ist leichter als dies. Geh' heute Abend ins Seraj, nimm aber auch mich mit. Die Sultana sitzt unter sieben Schleiern, niemand sieht ihr Antlitz, sie sieht auch niemanden; mich stelle mit meinem Käfig unter den Schemel des Leuchters. Erkundige dich dann nach dem Befinden der Sultana und rede noch desgleichen; sie wird aber nicht antworten. Du sagst hierauf, dass wenn sie schon nicht reden will, so wirst du dich wenigstens mit dem Schemel unterhalten. Beginn nur zu reden, ich werde schon antworten.“
Der Prinz folgt dem Ratschlag und geht geradeaus ins Seraj des Padischahs. Als man dem Schah meldet, dass der Ankömmling zu seiner Tochter will, dauert ihn der Jüngling und will ihn abreden. Er hält ihm vor, das es schon viele vergebens versuchten, sie zum Sprechen zu bringen; er habe aber gelobt, wer ihr ein Wort entlocken könne, dem werde er sie zur Frau geben, wenn es aber nicht gelänge, den lasse er ihm den Kopf nehmen. Die Burg hier sei aus lauter solchen Schädeln erbaut. Der Jüngling aber beharrt bei seiner Absicht, wirft sich dem Padischah zu Füssen und gelobt, entweder auch sein Leben zu verlieren, oder sein Ziel zu erreichen. Der Padischah gibt hierauf seinen Leuten den Befehl und der Jüngling wird vor das Mädchen geführt.
Es war eben Abend, als man ihn in das Gemach der Sultana brachte. Dort nahm er den Käfig hervor und stellte ihn unter den Schemel. Dann trat er vor die Sultana, erkundigt sich nach ihrem Wohlergehen, redet noch viel über dies und das, doch das Mädchen lässt keinen Laut vernehmen. Da sagt der Prinz: „Es ist schon spät an der Zeit, und du hast noch kein Wörtlein gesagt. Ich bin der Sache überdrüssig und werde zu diesem Schemel reden. Obgleich er auch keine Seele hat, wird er doch Mitleid mit mir haben.“ Mit diesen Worten wendet er sich zum Schemel und fragt ihn: „Wie geht's dir?“ Und die Nachtigall antwortete: „Gut geht's mir. Wie viel Jahre sind vergangen, ohne dass nur einer gekommen wäre, der mich angeredet hätte. Dich hat heute Allah zu mir gesendet; heute gehört die ganze Welt mir. Die hast mich erfreut und darum werde ich dich diese Nacht unterhalten. Wenn du mir zuhörst, erzähle ich dir eine Geschichte.“ Der Prinz nickte zustimmend und die Nachtigall begann:
„Einmal hatte ein Schah, wie du einer bist, eine Tochter, in die sich drei verliebt hatten und sie heiraten wollten. Der Vater des Mädchens sagte den Freiern: ‚Ein jeder von euch erlerne ein Handwerk, und wer es dann darin am weitesten gebracht hat, der bekommt meine Tochter.‘ Da gingen die drei auf Reisen. Unterwegs kommen sie zu einer Quelle und dort sagten sie einander: ‚Lasst uns nicht denselben Weg gehen, sondern ein jeder schlage einen andern ein. Unsere Ringe legen wir unter den Stein der Quelle, und wer zuerst kommt, nimmt seinen heraus. So können wir dann sehen, ob wir alle nach Hause gekommen sind.‘ Der Vorschlag gefällt ihnen, sie nehmen ihre Ringe ab, legen sie unter den Stein und ein jeder geht einen anderen Weg. Der Eine lernt, wie man einen Weg von sechs Monaten in einer Stunde hinterlegen kann; der andere erlernt das Unsichtbar-werden, der dritte aber, wie man einen Toten zum Leben erwecken kann. Dann kehren sie wieder heim und kommen bei der Quelle zusammen. Der, welcher unsichtbar werden konnte, sagte, dass die Tochter des Padischahs sehr krank sei und in zwei Stunden sterben werde. Da meint der andere: ‚Ich werde eine Arznei bereiten, die auch den Toten erweckt, doch wer wird ihr dieselbe hinbringen?‘ Der dritte sagte darauf: ‚Das kann ich schon tun!‘ Er nimmt die Arznei, kommt in einer Stunde im Palast an, wo das Mädchen schon im Sterben lag. Kaum hatte er ihr die Arznei eingeflößt, als die Krankheit verschwand. Inzwischen kommen die andern beiden auch an und der Schah fragt sie, was sie gelernt hätten.“
Die Nachtigall wollte die Rede des Jünglings widerholen, der den Weg von sechs Monaten in einer Stunde zurücklegen konnte, nickte dem Prinzen zu und sprach zu ihm: „Oh mein Schehzade, wem von den drei Jünglingen würdest du deinerseits das Mädchen hingeben?“ Der Prinz antwortete: „Wenn es von mir abhinge, würde ich sie dem Bereiter der Arznei zusprechen.“ Die Nachtigall war anderer Meinung, und wie sie so hin und her streiten, dachte die schweigende Sultana: „Schau, diese hier vergessen gänzlich den, der einen Weg von sechs Monaten in einer Stunde zurücklegen kann.“ Das konnte sie nicht in sich behalten, riss auf einmal den Schleier vom Gesicht und rief; „Oh ihr Toren, wenn es von mir abhinge, würde ich das Mädchen dem geben, der die Arznei gebracht hatte. Denn, wenn der sie nicht herbeigeschafft hätte, wäre auch das Mädchen dem Tode nicht entronnen.“
Dem Padischah wurde die Nachricht sofort hinterbracht, dass seine Tochter angefangen habe zu reden. Dem Mädchen wurde es bald klar, dass man List gebraucht habe und verlangt, man solle sie dreimal so zum Reden bringen. Da sagt der Schah zum Prinzen: „Mein Sohn, wenn du sie noch zweimal zum Reden bringst, dann gehört sie dir.“ Der Jüngling steht nun auf, geht nach Hause und fängt an nachzudenken. Die Nachtigall spricht zu ihm: „Was zerbrichst du dir den Kopf? Die Sultana wird aus Zorn, dass sie zu reden begann, den Schemel zerbrechen. Stelle mich daher heute Abend auf das Wandgestell.“
So geschah's auch. Als der Abend gekommen war, nahm der Jüngling die Nachtigall und ging mit ihr ins Seraj. Als er ins Gemach des Mädchens kam, stellte er die Nachtigall aufs Wandgestell, redete die Sultana an, doch weil er keine Antwort erhielt, wandte er sich zum Gestell und sagt: „Oh du Gestell, die Sultana will mit mir gar nicht reden, drum rede ich zu dir. Wie geht's dir?“ Da kam die Antwort: „Ich danke dir, wohl. Es ist gut, dass die Sultana nicht sprechen will, sonst hättest du mich nicht angeredet. Da es aber nun so ist, will ich dir eine Geschichte erzählen, wenn du mich anhören willst.“ „Von Herzen gerne, lass sie mich hören,“ antwortet der Jüngling. Da begann die Nachtigall:
„Es war einmal in einer Stadt eine böse Frau, und die hatte drei Freunde, der eine hieß Baldschy-Oglu (Honigmachers-Sohn), der andere Jagdschy-Oglu (Fettmachers-Sohn) der dritte Tiredschi-Oglu (Gerbers-Sohn). Die pflegten die Frau so zu besuchen, dass keiner von den andern wusste. Der Jagdschy-Oglu hatte die Frau am liebsten. Als sie sich eines Tages kämmte, nahm sie ein graues Haar wahr: ‚Weh mir, sprach sie bei sich – ich beginne zu altern; in kurzem werden sich meine Freunde von mir wenden und ich werde hilflos auf der Straße bleiben. Ich werde für meine bisherigen Sünden Busse tun und heiraten.‘ Noch selben Tages lässt sie jeden ihrer Freunde zu sich berufen. Zuerst kam der Jagdschy, doch noch bevor er gekommen war, hatte die Frau ein Grab gegraben, und legte neben dasselbe ein Leichentuch. Als der Jagdschy kam, weinte und jammerte die Frau drauf los. Auf die Frage ihres Freundes, warum sie weine, antwortet die Frau: ‚Oh weh, mein Vater ist gestorben, und ich habe ihn im Garten begraben. Jetzt ist er als Hexer aus dem Grab gestiegen. Wenn du mich liebhast, hülle dich in das Leichentuch und lege dich drei Stunden lang ins Grab. Wenn mein Vater kommt, sieht er, dass man jemand andern hierher begraben hat, und geht davon.‘ Der Jagdschy