Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Jede Zeit hat ihre Märchen, welche die Herzen berühren und Antworten auf drängende Probleme der Gegenwart geben. Uns bewegen unserer Beobachtung nach heute solche Volksmärchen besonders, in denen es um die Gemeinschaft aller Wesen geht, um den Schutz von Erde und Natur und der für sie sprechenden Geistwesen. Ein Krebsübel unserer Zeit, die Habgier mit ihren katastrophalen Folgen, wird in den Märchen oft warnend aufgezeigt. Und mit Freude kann man hier viele Märchen entdecken, in denen soziales Verhalten und Verantwortung gelebt werden, wo selbstlos geholfen wird und wo eindrückliche Bilder gegen Ohnmacht und Angst aufgeboten werden. Diese 'ÖKOMÄRCHEN' können uns Menschen den Rücken stärken – zum Wohle unseres immer noch schönen Erdengartens!
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 115
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Märchen aus aller Welt zum Schutz des Erdengartens
Jürgen Wagnerund Heidi Christa Heim
Impressum
Copyright: © 2025 Jürgen Wagner
Druck und Verlag: epubli
GmbH, Berlin, www.epubli.de
Titelbild: Adi Holzer, Garten Eden, 2012
Vorwort
I DIE ERDE
Die Erde ist für alle daDer Zaubergarten
Die Schätze der ErdeSimeliberg
Geheimnisse der ErdeDie jungfräuliche Königin
Wie die Wesen entstandenTraumzeit
Ein Mädchen holt das Licht zurückDer Vogel in des Königs Brust
Der Natur etwas gebenDie Pfanne
Wie die Erde wieder fröhlich wurdeWie die Musik auf die Erde kam
Wenn die Wasser kommenDas große Wasser
Begegnung mit dem WassergeistDer alte Mann aus Cury
Als man sich auf Erden wieder freuteWie die Blumen auf die Erde kamen
Wie ein Mädchen die Stürme stillteDer Herr der Winde
II LICHT UND SCHATTEN DER MENSCHEN
Wie es zu den Menschen kamDie ersten Menschen
Einen Engel überlistenDie Alte und das Feuer
Warum sind wir in diesem Elend?Die Strahlenperle
Habgier verdirbt den MenschenEine Fee streut Blüten
Leben mit Herz und VerstandFeuer im Herzen
Frieden statt KriegWie die Streitaxt begraben wurde
III PFLANZEN UND TIERE
Hört auf die Bäume!Der mildherzige Holzhauer
Lasst die Tiere in Frieden!Die Bienenkönigin
Tiere – treuer als MenschenDie dankbaren Tiere
Kein Leid zufügenGanesha und die Katze
Geistige GabenDas Fuchsfeuer
IV BILDER DER HOFFNUNG
Der Tod gehört zum LebenDie Erde will das Ihre haben
In der Gegenwart lebenMorgen ist morgen
Wohin unser Weg führtParadies und Hölle
Die Hoffnung nicht aufgebenDas Glück des Holzfällers
Anhang
Jede Zeit hat ihre Herausforderungen und ihre Geschichten, auch die unsere. Welche Geschichten brauchen wir heute? Feenmärchen, Liebesmärchen, Heldenmärchen, episch breite Erzählmärchen? Sie haben alle ihren Platz, aber der persönliche Individuationsweg des Einzelnen ruft heute lauter nach Ergänzung, nach der Verantwortung für die Mitmenschen, die anderen Wesen, die Erde.
Wenn die Arten schwinden, brauchen wir keine Jagd-, sondern einfühlsame Tiergeschichten. Wenn die Insekten immer weniger werden, hören wir aufmerksam auf eine Geschichte der australischen Aborigines, die vom Verschwinden der Blumen, Käfer und Bienen und ihrem Wiederkommen erzählt. Wenn der Meeresspiegel steigt, erinnern wir die alten Mahn- und Hoffnungserzählungen von der Sintflut1. Und wir staunen über ein Märchen wie den Grimm’schen Simeliberg, das so deutlich von den tödlichen Folgen der Habgier spricht, wenn die Schätze der Erde ausgeraubt werden. Wir verstehen heute besser, warum diese so oft in den Märchen gezeigt wird, weil sie geradezu das Krebsübel unserer Zeit zu sein scheint.
Die Märchen, die wir heute brauchen, sind die, die etwas von Verantwortung wissen, von der Natur, von Gemeinschaft, von Selbstbeschränkung, von sozialem Verhalten, von Liebe und Mitgefühl. Unserer Beobachtung nach berühren uns heute Volksmärchen viel mehr, die an die sozialen Fragen rühren oder an die Natur und die für sie stellvertretend sprechenden und handelnden Geistwesen. Vielleicht gibt es ‚Ökomärchen‘, Märchen überall in der Welt, die uns unterstützen im Schutz und Erhalt der Erde und all ihrer Wesen. Sie müssen nur gefunden werden. Man muss seinen Blick nur etwas dafür schärfen, dann wird man viele Märchen entdecken, in denen die Helden und Heldinnen auf ihrem Weg zu hilfsbedürftigen Wesen verschiedener Art kommen, diese achten – oder nicht achten – und ihnen in ihrer Not tatkräftig und selbstlos helfen – oder eben auch nicht. Dass in einigen auch ein Mädchen die rettende Rolle spielt, wird man in unserer Zeit noch etwas bewusster wahrnehmen und schätzen. Mitmenschlichkeit, Geben und Nehmen mit der Tier- , Pflanzen- und Geistwelt, Verantwortlichkeit, selbstlose Hilfe, Mut und Bilder gegen die Ohnmacht gehören zum Schatz der überkommenden Volksmärchen. Neue Geschichten werden dazu kommen und entstehen bereits auch2. Die wahren Helden und Heldinnen in den Volksmärchen suchen das eigene Glück – ohne das fremde zu vergessen. Dabei finden sie oft auch den Menschen, den man liebt, sie fördern aber zugleich die Heilung der Natur oder die Freude des Umfeldes. Der kranke König wird gesund - und das Land atmet auf, der neue junge König erbt das Reich – und regiert es gut.
Gesprochene Volksmärchen schenken uns Bilder gegen die Ohnmacht, sie heilen, verwandeln und stärken unsere Zuversicht für die persönliche und globale Zukunft. Man kann sie in Gottesdienste integrieren oder in Jahreszeitrituale, in persönliche Feiern oder in ökologische Treffen. So wünschen wir diesen von uns gesammelten und etwas bearbeiteten Geschichten einen guten Lauf, dass sie aufgegriffen und erzählt, dass sie gehört und gelesen werden!
Heidi Christa Heim und Jürgen Wagner
Einst lebten zwei Freunde, Assan und Chassen, die waren sehr arm. Assan bestellte ein kleines Stück Land. Chassen weidete eine kleine Herde Schafe. Davon lebten sie. Beiden war die Frau verstorben. Assan hatte eine schöne und liebenswerte Tochter, sie war seine einzige Freude. Chassen hatte einen kräftigen, gehorsamen Sohn, er war seine ganze Hoffnung. Als der Frühling kam und Assan auf sein Feld gehen wollte, suchte Chassen ein Unglück heim. Die Steppe fing Feuer, und alle seine Schafe verbrannten. Jede Hoffnung verloren, auf den Sohn gestützt, kam Chassen zum Freund und sagte: „Assan, ich bin gekommen, um von dir Abschied zu nehmen . Meine Herde ist verbrannt, nun bin ich dem Tod ausgeliefert.“ Als Assan die Worte des alten Hirten hörte, drückte er ihn an sich und sprach: „Mein Freund, dir gehört die Hälfte meines Herzens, nimm also auch die Hälfte meines Feldes. Weine nicht, greif zur Hacke und gehe fröhlich an die Arbeit.“ Von nun an bestellte auch Chassen den Acker.
Viel Zeit ging ins Land. Eines Tages hörte Chassen, als er sein Feld umgrub, ein seltsames Geräusch. Hastig scharrte er die Erde auf und erblickte einen alten Kessel, bis zum Rand mit Goldmünzen gefüllt. Freudestrahlend lief er zum Freund. „Freu dich Assan, freu dich“, rief er schon von weitem, „bei dir ist das Glück eingekehrt! Ich habe auf deinem Feld einen Kessel voller Gold ausgegraben. Jetzt wirst du nie mehr Not leiden!“ Assan trat mit einem freundlichen Lächeln auf ihn zu und entgegnete: „Chassen, ich kenne deinen Großmut, aber das Gold gehört dir. Du hast den Schatz auf deinem eigenen Stück Acker gefunden.“ – „Assan, ich kenne deine Hochherzigkeit“, antwortete Chassen, „doch als du mir Acker schenktest, hast du mir nicht das geschenkt, was er in sich birgt.“ – „Lieber Freund, aller Reichtum des Bodens gehört dem, der ihn mit seinem Schweiß tränkt“, sprach Assan.
Lange währte der Streit, und jeder weigerte sich entschieden, den Schatz zu nehmen. Schließlich sagte Assan: „Begraben wir den Zwist, Chassen. Du hast einen Bräutigam, deinen Sohn, ich habe eine Braut, meine Tochter. Seit langem lieben sie sich. Verheiraten wir sie und geben wir ihnen das Gold. Mögen unsere Kinder die Armut vergessen.“ Als die Freunde den Kindern ihren Entschluss kundtaten, wären die fast vor Glück gestorben. Sogleich wurde eine fröhliche Hochzeit gefeiert. Das Fest endete erst spät in der Nacht. Am nächsten Tag fand sich das junge Paar schon im Morgengrauen bei den Vätern ein. Sie schauten besorgt drein und hielten den Kessel mit Gold in den Händen. „Was ist geschehen, liebe Kinder?“ fragten Assan und Chassen aufgeregt. „Welch ein Unglück hat euch so früh geweckt?“ – „Wir wollen euch sagen, dass die Kinder das, was ihre Eltern verschmähen, nicht besitzen dürfen. Wozu brauchen wir das Gold? Unsere Liebe ist wertvoller als alle Schätze der Welt.“ Und sie stellten den Kessel in die Mitte der Erdhütte.
Nun entbrannte abermals der Streit darüber, was mit dem Schatz zu tun sei, und er dauerte so lange, bis alle vier auf den Gedanken kamen, bei dem Weisen Rat zu holen, der sich im Volk seiner Redlichkeit und Gerechtigkeit rühmte. Viele Tage wanderten sie durch die Steppe und gelangten endlich zur Jurte des Weisen. Die schwarze ärmliche Jurte stand einsam inmitten der Steppe. Die Wanderer baten um Einlass und betraten mit einer Verbeugung die Jurte. Der Weise saß auf einer alten Filzmatte. Vier Schüler saßen neben ihm. Zwei zu jeder Seite. „Welch ein Kummer führt euch zu mir, gute Leute?“ fragte der Weise die Eintretenden. Diese erzählten ihm von ihrem Streit.
Nachdem der Weise sie angehört hatte, schwieg er lange, dann fragte er seinen ältesten Schüler: „Wie würdest du an meiner Stelle den Streit dieser Leute schlichten?“ Der älteste Schüler antwortete: „Ich würde ihnen raten, dem Khan das Gold zu bringen, denn er ist der Herrscher über alle Schätze der Erde.“ Der Weise krauste finster die Brauen und fragte den zweiten Schüler: „Und wie würdest du an meiner Stelle entscheiden?“ Der zweite Schüler gab zur Antwort: „Ich würde das Gold an mich nehmen, denn das, worauf der Kläger und der Beklagte verzichten, gehört rechtmäßig dem Richter.“ Da verfinsterte sich der Weise noch mehr, stellte dennoch dem dritten Schüler besonnen die Frage: „Sage uns, welchen Ausweg du aus dieser schwierigen Lage finden würdest?“ Der dritte Schüler sagte: „Da dieses Gold niemandem gehört und alle darauf verzichten, würde ich heißen, es wieder in der Erde zu vergraben.“
Nun wurde der Weise noch düsterer und fragte den vierten, den jüngsten Schüler: „Und was meinst du, mein Junge?“ – „Mein Lehrer, zürnen Sie mir nicht, vergeben Sie mir meine Einfalt, aber mein Herz hat so entschieden: Ich würde für dieses Gold in der öden Steppe einen großen schattigen Garten pflanzen, damit sich alle müden Armen darin ausruhen und an seinen Früchten laben können“, antwortete der jüngste Schüler. Bei diesen Worten erhob sich der Weise und umarmte den Jüngling mit Tränen in den Augen. „Es stimmt schon, wenn man sagt, ehre den Jungen wie den Alten, wenn er klug ist“, sprach er. „Dein Urteil ist gerecht, mein Junge! Nimm das Gold, begebe dich in die Hauptstadt des Khanreiches, kaufe dort den besten Samen, kehre zurück und pflanze den Garten. Mögen die Armen für ewig deiner und dieser großherzigen Leute gedenken, die sich nicht von dem großen Reichtum verlocken ließen.“ Der Jüngling steckte den Schatz sogleich in den Ledersack und trat den Weg an.
Lange wanderte er durch die Steppe, bis er endlich wohlbehalten die Hauptstadt des Khans erreichte. Dort ging er zum Basar, wo er nach den Samenverkäufern Ausschau hielt. Einen halben Tag strich er vergeblich herum, besah sich die exotischen Dinge und bunten Stoffe, als er plötzlich Schellengeläut und gellende Schreie vernahm. Der Jüngling drehte sich um: Eine Karawane zog über den Basar. Sie hatte seltsame Fracht: Statt der Warenballen waren lebendige Vögel, tausende Vögel, wie sie nur in den Bergen, in den Wäldern, in der Steppe und in der Wüste nisten, an die Kamele angebunden. Ihre Beine waren zusammengeschnürt, ihre zerflederten und zerschundenen Flügel hingen wie Fetzen herunter; bunte Federwolken wirbelten über der Karawane auf. Bei jeder Bewegung, die die Karawane machte, schlugen die Vögel mit ihren Köpfen an die Flanken der Kamele, und ihren Schnäbeln entrangen sich Klageschreie.
Des Jünglings Herz verkrampfte sich vor Mitleid. Er drängte sich durch die neugierige Menge, trat an den Karawanenführer heran, verbeugte sich ehrerbietig und fragte: „Herr, wer hat diese herrlichen Vögel zu dieser Höllenqual verdammt, und wohin führt euer Weg?“ Der Karawanenführer antwortete: „Unser Weg führt uns zum Palast des Khans. Diese Vögel sind für das Mahl des Herrschers bestimmt. Er zahlt uns fünfhundert Goldmünzen dafür.“ – „Lässt du die Vögel frei, wenn ich dir zweimal mehr Gold biete?“ fragte der Jüngling. Der Karawanenführer schaute den Jüngling nur spöttisch an und setzte den Weg fort. Da schnallte der Jüngling den Sack ab und öffnete ihn vor dem Karawanenführer. Der blieb staunend stehen, als er den Schatz sah und befahl den Treibern, die Vögel loszubinden.
Die freigelassenen Vögel erhoben sich mit einem Schwung in die Lüfte, und es waren so viele, dass der Tag für Augenblicke zur Nacht wurde und von ihrem Flügelschlag ein Wirbelsturm über die Erde fegte. Der Junge schaute den forteilenden Vögeln lange nach, und als sie seinen Augen entschwunden waren, begab er sich mit dem leeren Ledersack auf den Rückweg. Sein Herz jubelte, seine Beine trugen ihn schnell, er stimmte ein fröhliches Lied an. Doch je näher er dem Heimatort kam, desto düsterer wurden seine Gedanken, desto heftiger brannte die Reue in seiner Brust. „Wer gab mir das Recht, nach eigenem Gutdünken über fremden Reichtum zu walten? Wollte ich nicht selbst einen Garten für die Armen pflanzen? Was werde ich dem Lehrer und jenen treuherzigen Menschen sagen, die mich mit Samen zurück erwarten?“ schalt sich der Jüngling. Seine Verzweiflung wuchs, bis er sich schließlich zu Boden warf, weinte und stöhnte und den Tod herbeiwünschte. Vor Kummer und Tränen war er so ermattet, dass er einschlief. Da hatte er einen Traum: Ein schöner bunter Vogel flog von irgendwoher auf seine Brust und sang mit wundersamer Stimme: „O guter Jüngling! Vergiss deine Not! Die freien Vögel können dir das Gold nicht zurückgeben, aber sie belohnen dich anders für deine Barmherzigkeit. Wache schnell auf, wache auf!“ Der Jüngling öffnete die Augen und war starr vor Staunen: Weit und breit sah er unzählige Vögel aus aller Herren Ländern. Mit den Krallen gruben, die Vögel Löcher in den Boden, ließen aus den Schnäbeln Samen hineinfallen und scharrten sie rasch mit den Flügeln zu. Der Jüngling regte sich, da flatterten die Vögel auf. Und wieder wurde der Tag zur Nacht und von ihrem Flügelschlag fegte es wie ein Wirbelsturm über die Erde...