Märchen von den vier Jahreszeiten - Jürgen Wagner - E-Book

Märchen von den vier Jahreszeiten E-Book

Jürgen Wagner

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Beschreibung

In Europa gliedern die vier Jahreszeiten unser Jahr und machen es abwechslungsreich und fruchtbar. Wer einmal in einem Land gelebt hat, wo es nur Regen- und Dürrezeit gibt, weiß, wie kostbar dieser Wandel ist. Wo immer die Jahreszeiten Thema sind, in Kindergarten und Schule, in Jugend- und Erwachsenenarbeit, in Festen und Ritualen, da sind auch die Volksmärchen eine Bereicherung, deren Bilder und Symbole, Figuren und Motive auch die Jahreszeiten lebendig und bewusst machen. So ist dieses Buch sowohl eine pädagogische wie auch eine persönliche Empfehlung und beinhaltet einfache wie anspruchsvolle Erzählungen.

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Seitenzahl: 232

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Märchen von den vier Jahreszeiten

Jürgen Wagner

Impressum

© 2025 Jürgen Wagner

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

I MÄRCHEN VON DEN 4 JAHRESZEITEN

Der gute Jahreslauf

Von den 12 Monaten – Slowakei

Der Zyklus des Lebens

Der Engel der vier Jahreszeiten – ein parsisches Märchen

Wie man den Dingen begegnet, so begegnen sie einem

Die 12 Monate – Griechenland

Mutter Natur wandelt sich

Die Grüne Frau – ein Märchen aus dem Harz

II DER WINTER - SCHNEE UND FROST

Der Arme friert, der Reiche geht im Fuchspelz

Wie Aldar-Kosse seinen löcherigen Mantel gegen einen Fuchspelz tauschte – Kasachstan

Menschliche Wärme

Die sechs Jizos und die Strohhüte – Japan

„Mir ist warm, lieber Frost!“

Der Frost auf Brautschau – Russland

Manchmal braucht es etwas Magie

Der Zauberhut – ein Märchen der Inuit

Dem verheerenden Schneesturm entgegentreten

Der Herr der Winde – ein Märchen der Nenzen (Sibirien)

Der Herr des Waldes

Lippo und Tapio – Lappland

Den Winter bewältigen

Der alte Vater Frost und sein junger Sohn – Litauen

III DAS FRÜHJAHR – NEUBEGINN UND NEUWERDEN

Die Liebe eines Mädchens

Das Märchen vom Schneehuhnmann – ein Märchen der Tschuktschen

Magische Blume

Die Glücksblume - Belarus

Heute wird getanzt!

Die Waldfee – Tschechien

Dornröschen, das Frühlingsmädchen

Sonne, Mond und Thalia – Italien

Aufbruch ins Leben

Prinz Gajas – Georgien

Was wären wir ohne Freude und Gesang …

Der Sprosser und die Nachtigall – Kaukasus

Die Liebe zur Natur

Das Kornkind – Schweiz

Der Frühjahrsregen

Der Donnersohn – Estland

IV DER SOMMER – SONNE UND ARBEIT, REGEN UND DÜRRE

Regen ist Segen

Die Regentrude – ein Märchen von Theodor Storm

Der Hitze begegnen

Die besiegte Mittagsfrau – ein sorbisches Märchen

Der Korngeist

Die Roggenmuhme – Deutschland

Warum Sonne und Wolken sich streiten

Die Sonnenmutter – ein Märchen der Roma

Heftig oder sanft?

Der Wettstreit zwischen Sonne und Wind – Nach einer Fabel von Äsop

Eine Märchenhommage an den Donnergott

Donner, Blitz und Wetter – Süddeutschland

Wenn das Leben traurig und kalt ist

Der Weg zur Sonne - ein Märchen der Dschuang, Südchina

V DER HERBST – NEBEL, WINDE, ERNTE

Die Sehnsucht nach Willkommen-sein und Gemeinschaft

Der König des Nebelberges – Estland

Im Verborgenen geschieht es

Der väterliche Schatz – Moldawien

Vom Herbst des Lebens

Der Rat des Vaters – Karelien

Der Entwicklungsweg des jungen Mannes

Der goldene Vogel - Deutschland

Der Entwicklungsweg der jungen Frau

Das goldene Pantöffelchen – Ukraine

Seine Lebensernte einfahren

Tom, der Reimer – Schottland

Lieber ein riskantes Leben in Freiheit als ein sorgloses in Gefangenschaft

Die Nachtigall – Aserbeidschan

ANHANG

VORWORT

Jede Jahreszeit spiegelt sich auch in den Volksmärchen und manchmal auch im Inhalt des Märchens. Der Winter ist die beste Zeit für Geschichten, eine gute Zeit, Märchen zu erzählen und zu hören. Nicht wenige Volksmärchen in Mittel- und Nordeuropa handeln im Winter und vom Winter. Er war und ist die härteste und entbehrungsreichste Zeit des Jahres. Doch nicht nur in der Natur, auch zwischen den Menschen gibt es die Eiszeit, gibt es frostige Beziehungen und Gefühlskälte. Das Märchen entfaltet gerne beides parallel. Der Winter wird in den Volksmärchen gerne als Schneemädchen oder Schneekönigin1 personalisiert. Doch können auch männliche Gestalten wie „Väterchen Frost“ oder der „Wilde Jäger“ die Kälte und Stürme des Winters repräsentieren. Besonders die weiblichen Figuren zeigen etwas von der Faszination und Schönheit des Winters – und von seiner Rauheit und Kälte. Schon die Mythen personifizierten den Winter: in ‚Skandinavien‘ war es Skadi, eine Riesin und Göttin, die Slawen verehrten Marzanna/Morena und Holle/Percht findet man im germanisch-keltischen Raum. Frau Holle ist direkt in die Märchenwelt eingegangen, nicht in allen ihren Aspekten, aber doch als die, die es schneien lässt und den Winter bringt. Wie der Winter selbst sind auch seine Frauengestalten rau und ungemütlich, sogar furchterregend. Auch Marie im Holle-Märchen war es „angst und es wollte fortlaufen“ (KHM 24), als es die alte Frau mit den großen Zähnen sah. Doch auch wenn die Winterfrau herb aussieht, hat sie doch Güte. Wer sich an die Gesetze und Abmachungen im Hause hält, hat es gut bei ihr. Das ist ein Verdienst der Volksmärchen, dass sie die helle Seite des Winters mit aufzeigen und auch daran erinnern, dass nur Herumsitzen und Bequemlichkeit nicht dazu führen, dass man den Segen dieser Jahreszeit erleben kann.

Der Frühling ist die Zeit des Aufbruchs der Natur und allem, was lebt. Blumen erblühen, Bäume schlagen aus, Tiere erwachen aus dem Winterschlaf und auch die Menschen regen sich und beginnen mit der Aussaat und mit ihren Unternehmungen. Aufbruch und Neubeginn ist ein zentrales Thema der europäischen Märchen, das nicht nur in dieser Jahreszeit einen Anhalt hat, sondern auch in der jüdisch-christlichen Tradition: die Erzväter des alten Israel, die versklavten Israeliten in Ägypten, die von Jesus gerufenen Menschen: sie alle mussten aufbrechen und fast alles hinter sich lassen. Das entspricht in der menschlichen Entwicklung dem Heranwachsenden. Sie sind denn auch die Mehrzahl der MärchenheldInnen. Denn junge Leute zieht es in die Welt, sie fangen an, ihr Leben zu entfalten. Das tun sie entsprechend ihrer Natur und aller Natur. Schneewittchen wie auch Dornröschen sind Frühlingsmädchen, die aus dem Winterschlaf erlöst werden, die ihre unbewusste Kindheit hinter sich lassen und nun in das Leben gehen, heiraten und Verantwortung übernehmen. Der Winter ist die Zeit der Unfruchtbarkeit, mit dem viele dieser Märchen beginnen:

„Das ist nun lange her, … da war einmal ein reicher Mann, der hatte eine schöne fromme Frau, und sie hatten sich beide sehr lieb, hatten aber keine Kinder. Sie wünschten sich jedoch sehr welche … . Vor ihrem Hause war ein Hof, darauf stand ein Wacholderbaum. Unter dem stand die Frau einstmals im Winter und schälte sich einen Apfel, und als sie sich den Apfel so schälte, da schnitt sie sich in den Finger, und das Blut fiel in den Schnee. "Ach," sagte die Frau …: "Hätte ich doch ein Kind, so rot wie Blut und so weiß wie Schnee." Und als sie das sagte, da wurde ihr so recht fröhlich zumute: Ihr war so recht, als sollte es etwas werden. …Es ging ein Monat hin, da verging der Schnee; und nach zwei Monaten, da wurde alles grün; nach drei Monaten, da kamen die Blumen aus der Erde; und nach vier Monaten, da schossen alle Bäume ins Holz, und die grünen Zweige waren alle miteinander verwachsen. Da sangen die Vöglein … .“.2

Und nun beginnt ein neuer Zyklus.

Der Sommer bringt Sonne, Hitze und Trockenheit, aber auch warmen Regen und Fruchtbarkeit. Er erscheint in den Märchen ebenfalls in zweifacher Gestalt: in seiner wärmenden Wohltat, aber auch in sengender Hitze und Dürre. Im Sommer erreicht man den Höhepunkt des Jahres und überschreitet ihn in der Sommersonnenwende.

„Was ist vortrefflicher als der Herbst, der uns die reifen Früchte schenkt und seinen bunt gefärbten Wald, wo Jagdhörner erklingen und die Erde unter den Hufen feuriger Pferde erbebt?“ (Prinz Gajas) Der Herbst ist Erntezeit und Zeit des Erntedanks, aber er hat auch viele trübe und windige Tage, die uns nicht so angenehm sind. Wir lieben die Laubverfärbung aber die Zeichen des Endes und Todes nehmen wir auch war. Wir gedenken der Verstorbenen und erleben, wie ein Zyklus sich neigt.

I MÄRCHEN VON DEN 4 JAHRESZEITEN

Jeder Monat im Jahr hat sein Eigenes, seine Gaben, sein Wetter, sein Magie. Das Märchen macht aus jedem eine Person, so dass es bewusster wird: wir können immer beschenkt werden, wenn wir einer Jahreszeit offen begegnen.

VON DEN ZWÖLF MONATEN

Es war eine Mutter, und die hatte zwei Töchter. Die eigene Tochter hatte sie sehr lieb, die Stieftochter konnte sie nicht einmal ansehen, weil Maruschka schöner war als Holena. Maruschka musste alle Arbeit verrichten: die Stube aufräumen, kochen, waschen, nähen, spinnen, weben, Gras zutragen und die Kuh allein besorgen. Holena putzte sich nur und ging müßig und wurde dabei immer garstiger. Die Mutter dachte: „Wozu sollt' ich die schöne Stieftochter im Hause leiden? Die Burschen werden auf Brautschau kommen Maruschka wird ihnen gefallen, Holena werden sie nicht haben wollen!“ Von diesem Augenblicke an suchten sie die arme Maruschka loszuwerden; sie quälten sie mit Hunger, sie schlugen sie, doch sie ertrug's geduldig und wurde von Tag zu Tag schöner.

Eines Tages – es war in der Mitte des Eismonats – wollte Holena Veilchen haben. „Geh', Maruschka, bring' mir aus dem Wald einen Strauß Veilchen!“ – „Ach Gott, liebe Schwester, Hab' nie gehört, dass unter dem Schnee Veilchen wüchsen!“ – „Du nichtsnutziges Ding, du Kröte! Du wagst mir zu widersprechen! Geh in den Wald und bringst Du keine Veilchen, so schlag' ich Dich tot!“ Und die Stiefmutter fasste Maruschka und stieß sie zum Haus hinaus.

Bitterlich weinend ging das Mädchen in den Wald. Der Schnee lag hoch, nirgend war eine Fußstapfe. Die Arme irrte lange umher. Hunger plagte sie. Kälte schüttelte sie. Da gewahrt sie in der Ferne ein Licht. Sie geht dem Glanze nach und kommt auf den Gipfel eines Berges. Dort brennt ein großes Feuer, um das Feuer liegen zwölf Steine, auf den Steinen sitzen zwölf Männer. Drei sind graubärtig, drei sind jünger, drei sind noch jünger, und die drei jüngsten sind die schönsten. Sie reden nichts, sie blicken still in das Feuer. Diese zwölf Männer waren die zwölf Monate. Der Eismonat saß obenan; der hatte Haare und Bart weiß wie Schnee und in der Hand hielt er einen Stab. Maruschka trat näher und bat: „Ihr guten Leute, erlaubt mir, dass ich mich am Feuer wärme, die Kälte schüttelt mich!“ Der Eismonat nickte und fragte sie: „Was suchst Du hier, Mädchen?“ – „Ich suche Veilchen!“ – „Es ist jetzt nicht die Zeit der Veilchen!“ – „Ich weiß wohl, allein, bringe ich keine Veilchen, so schlagen sie mich tot. Bitte schön, Ihr Hirten, sagt mir, wo ich deren finde!“ Da erhob sich der Eismonat, schritt zu dem jüngsten Monat, gab ihm den Stab in die Hand, und sprach: „Bruder März, setz' Dich obenan!“ Der Monat März setzte sich obenan und schwang den Stab über dem Feuer. In diesem Augenblicke loderte es höher, der Schnee begann zu tauen, unter den Buchen grünte Gras und unter Gesträuch verborgen blühten Veilchen, so viele, als ob wer ein blaues Tuch ausgebreitet hätte. „Schnell, Maruschka, pflücke!“ gebot der März. Sie pflückte freudig, bis sie einen großen Strauß beisammen hatte. Dann dankte sie den Monaten und eilte froh nach Hause. Es wunderte sich Holena, es wunderte sich die Stiefmutter, als sie Maruschka sahen und der Duft der Veilchen ergoss sich durch die ganze Hütte. Holena roch an den Veilchen, ließ die Mutter riechen und steckte sie hinter den Gürtel. Maruschka aber sagten sie keinen Dank.

Des andern Tages gelüstete es Holena nach Erdbeeren. „Geh', Maruschka, bring' mir Erdbeeren aus dem Walde!“ – „Ach Gott, liebe Schwester, Hab' nie gehört, dass unter dem Schnee Erdbeeren wüchsen!“ – „Du nichtsnutziges Ding, du Kröte! Du wagst mir zu widersprechen! Geh in den Wald und bringst Du keine Erdbeeren, so schlag' ich Dich tot!“ Und die Stiefmutter fasste Maruschka und stieß sie zum Haus hinaus.

Bitterlich weinend ging das Mädchen in den Wald. Der Schnee lag hoch, nirgends war ein Fußstapfen. Die Arme irrte, irrte lange. Hunger plagte sie. Kälte schüttelte sie. Da gewahrt sie in der Ferne wieder dasselbe Feuer. Mit Freuden eilte sie darauf zu. „Ihr guten Leute, erlaubt mir, dass ich mich am Feuer wärme, die Kälte schüttelt mich!“. Der Eismonat nickte und fragte: „Warum bist Du wieder gekommen, was suchst Du?“ – „Ich suche Erdbeeren.“ – „Es ist jetzt nicht an die Zeit der Erdbeeren!“ – „Ich weiß wohl, allein, bringe ich keine Erdbeeren, so schlagen sie mich tot.“ Der Eismonat erhob sich, schritt zum Monat, der ihm gegenüber saß, gab ihm den Stab in die Hand und sprach: „Bruder Juni, setz' Dich obenan!“ Der schöne Monat Juni setzte sich obenan, und schwang den Stab über dem Feuer. In dem Augenblicke schlug die Flamme hoch empor, der Schnee schmolz, die Erde grünte, Bäume umhüllten sich mit Laub, Vögel begannen zu singen, vielerlei Blumen blühten im Walde und rote Erdbeeren reiften im Nu. „Schnell, Maruschka, pflücke!“ gebot der Juni. Sie pflückte freudig, bis sie die Schürze voll hatte. Dann dankte sie den Monaten und eilte froh nach Hause. Es wunderte sich Holena, es wunderte sich die Stiefmutter, dass Maruschka in der Tat Erdbeeren brachte und ihr Duft ergoss sich durch die ganze Hütte. Holena nahm die Erdbeeren, aß sich satt, und gab auch der Mutter zu essen. Maruschka aber sagten sie keinen Dank.

Am dritten Tag gelüstete es Holena nach roten Äpfeln. „Geh' in den Wald, Maruschka, und bring' mir rote Äpfel!“ – „Ach Gott, liebe Schwester, woher sollten im Winter Äpfel kommen?“- „Du nichtsnutziges Ding, Du Kröte! Du wagst es, mir zu widersprechen? Gleich geh' in den Wald, und bringst Du keine roten Äpfel, wahrlich, so schlag' ich Dich tot!“ Und die Stiefmutter fasste Maruschka und stieß sie zum Haus hinaus.

Bitterlich weinend ging Maruschka in den Wald. Der Schnee lag hoch, nirgend war eine Fußstapfe. Allein diesmal ging das Mädchen gerade auf den Gipfel des Berges, wo das große Feuer brannte und die zwölf Monate saßen. „Ihr guten Leute, erlaubt mir, dass ich mich am Feuer wärme, die Kälte schüttelt mich!“ Der Eismonat nickte und fragte: „Weshalb bist Du wieder gekommen, was suchst Du?“ – „Ich suche rote Äpfel.“ – „Es ist jetzt nicht die Zeit der Äpfel!“ – „Ich weiß wohl, allein, bringe ich keine roten Äpfel, so schlagen sie mich tot.“ Da erhob sich der Eismonat, schritt zu einem der älteren Monate, gab ihm den Stab in die Hand und sprach: „Bruder September, setz' Dich obenan!“ Der Monat September setzte sich und schwang den Stab über dem Feuer. Das Feuer glühte rot, der Schnee verlor sich, die Bäume umhüllten sich mit Laub, blühten und es reiften die Früchte. Maruschka gewahrte einen Apfelbaum und hoch auf ihm rote Äpfel. „Schnell, Maruschka, schüttle!“ gebot der September. Sie schüttelte freudig und es fiel ein Apfel herab. Maruschka schüttelte noch einmal; es fiel ein zweiter herab. „Schnell, Maruschka, eile nach Hause!“ gebot der September und sie gehorchte. Es wunderte sich Holena, es wunderte sich die Stiefmutter, dass Maruschka Äpfel brachte. Maruschka gab ihnen die beiden Äpfel. „Wo hast Du sie gepflückt?“ – „Hoch auf dem Berg, dort gibt's ihrer genug.“- „Warum hast Du nicht mehr gebracht? Oder hast Du sie unterwegs gegessen?“ fuhr Holena zornig gegen sie los. „Ach liebe Schwester, ich habe keinen Bissen gegessen. Ich schüttelte einmal, da fiel ein Apfel herab; ich schüttelte zum zweiten Mal, da fiel noch einer herab; länger zu schütteln erlaubten sie mir nicht.“– „Dass der Donner in Dich fahre!“ fluchte Holena und wollte sie schlagen. Maruschka brach in Tränen aus und floh in die Küche. Holena ließ das Fluchen und begann einen Apfel zu essen, der schmeckte ihr so, dass sie meinte, noch niemals in ihrem Leben etwas so Köstliches gegessen zu haben. Auch die Stiefmutter ließ sich's schmecken. Und es gelüstete sie nach mehr. „Mutter, gib mir meinen Pelz! ich will selbst in den Wald gehen. Ich werde schon den Ort finden und die Äpfel alle herabschütteln, ob es wer erlaubt oder nicht!“ Vergebens riet die Mutter ab. Holena zog den Pelz an, nahm ein Tuch um den Kopf, und eilte in den Wald.

Alles lag voll Schnee, nirgend war eine Fußstapfe. Holena irrte, irrte lange; ihre Begehren trieb sie immer weiter. Da gewahrt sie in der Ferne ein Licht. Sie eilt darauf zu und gelangt auf den Gipfel, wo das Feuer brannte und die zwölf Monate saßen. Holena erschrickt; doch bald fasst sie sich, tritt näher zu dem Feuer, streckt die Hände aus, um sich zu wärmen. Sie fragt die Monate nicht und spricht kein Wort zu ihnen. „Was suchst Du hier?“ fragt verdrießlich der Eismonat. – „Wozu fragst Du, Du alter Narr? Du brauchst nicht zu wissen, wohin ich gehe!“ fertigt ihn Holena störrisch ab, und wendet sich vom Feuer in den Wald. Der Eismonat runzelt die Stirn und schwingt seinen Stab über dem Haupte. In dem Augenblick verfinstert sich der Himmel, das Feuer brennt niedrig, es beginnt Schnee zu fallen und eisiger Wind weht durch den Wald. Holena sieht nicht einen Schritt mehr vor sich; sie irrt und irrt. Sie stürzt in eine Schneewehe und ihre Glieder ermatten, erstarren. Unaufhörlich fällt Schnee, eisiger Wind weht, Holena flucht der Schwester, flucht dem lieben Gott. Ihre Glieder erfrieren in dem warmen Pelz.

Die Mutter harrte auf Holena, blickte zum Fenster hinaus, blickte zur Tür hinaus. Stunde auf Stunde verstrich, Holena kam nicht. „Vielleicht schmecken ihr die Äpfel so gut, dass sie sich nicht von ihnen trennen kann“, dachte die Mutter, „ich muss nach ihr sehen!“ Sie zog ihren Pelz an, nahm ein Tuch um den Kopf, und ging, Holena zu finden. Alles lag voll Schnee, nirgends war eine Fußstapfe zu schauen. Sie rief Holena; niemand antwortete. Sie irrte, irrte lange, Schnee fiel dicht, eisiger Wind wehte.

Daheim kochte Maruschka das Essen und besorgte die Kuh. Schon dämmerte es in der Stube, doch weder Holena noch die Stiefmutter kamen. „Ach Gott, was ist ihnen zugestoßen?“ klagte das gute Mädchen und sah zum Fenster hinaus. Der Himmel strahlte von Sternen, die Erde glänzte von Schnee, es ließ sich niemand sehen. Traurig schloss Maruschka das Fenster, machte das Kreuz, und betete ein Vaterunser für die Schwester und Mutter. Beide kehrten niemals wieder. Der guten Maruschka blieb die Hütte, die Kuh und ein Stückchen Feld; es fand sich auch ein Hauswirt dazu, und beide lebten in Frieden glücklich miteinander.3

So wie das Jahr nicht nur aus dem Frühling besteht, so besteht auch das Leben nicht nur aus Jugend, Blüte und Schönheit. Alle Aspekte haben ihre Zeit und brauchen ihren Raum.

DER ENGEL DER VIER JAHRESZEITEN

Es war einmal ein reicher Kaufmann, der hatte einen einzigen Sohn. Als der fünfzehn Jahre alt war, wollte ihn der Vater verheiraten und zeigte ihm verschiedene Mädchen, aber dem Burschen wollte keine davon gefallen. „Sohn, hast du dich vielleicht bereits in eine andere Frau verliebt?“ fragte der Vater. – „Ja, Vater, ich habe im Traum ein Mädchen gesehen, das ist so schön, dass ich es gar nicht beschreiben kann!“ - „Im Traum? Willst du dich denn mit einem Traum vermählen?“ – „Nein, Vater! Ich weiß, dass es diese Schönheit wirklich gibt! Du musst mich nur ausziehen lassen, sie zu suchen!“

Der Kaufmann sah ein, dass er seinen Sohn nicht von seinem Vorhaben abbringen konnte, gab nach und sagte: „Gut, geh! Ich will dir eine Bedingung stellen: bringe das Mädchen erst heim und schlafe nicht schon vorher mit ihr!“- „Ja, Vater, das will ich tun!“ Da sattelte der Bursche sein Pferd und ritt von daheim fort. Wohin er auch kam, er suchte und fragte nach seiner Schönen und beschrieb sie, so gut er konnte, doch niemand kannte sie.

Es war schon Herbst, als der Bursche über einen Berg ritt. Oben auf dem Berg stand ein reinliches Häuschen und davor saß ein zierliches, altes Weiblein, gebeugt und verrunzelt. Er trug sein Anliegen vor, das sagte die Alte: „Was gibst du mir, wenn ich dir verrate, wo du die junge Frau finden kannst?“ – „Ich gebe dir alles, was ich bei mir trage.“ – „Gut, ich will nur den Ring, den du da an der Hand trägst.“ Nun war dieser Ring das Kostbarste, was er besaß, doch er gab ihn der Alten. Sie steckte den Ring an ihre Hand und sagte: „Komm im zeitigen Frühjahr wieder, dann wirst du deinen Traum hier vorfinden.“ Danach ritt der Bursche heim und erzählte seinem Vater alles. „Du wirst einer Schwindlerin aufgesessen sein!“ – „Nein, Vater, sonst hätte sie viel mehr von mir verlangt.“

Ganz zeitig im Frühjahr sattelte der Bursche wieder sein Pferd und ritt zu der Alten. Und wahrhaftig: vor deren Häuschen saß das wunderschöne Mädchen, von dem er geträumt hatte. Er redete mit ihr und fragte zuletzt: „Willst du mich heiraten?“ Sie willigte ein, sagte jedoch: „Du musst wissen, ich bin ein Engel der Jahreszeiten. Im Frühjahr bin ich jung und schön, im Sommer werde ich reif und üppig. Im Herbst jedoch werde ich jener Alten gleich, die du im vorigen Jahr gesehen hast und im Winter werde ich schlafen wie eine Tote. Willst du ein solches Wesen heiraten?“ – „Ja, das will ich!“ sagte der Bursche. Er brachte das entzückende Mädchen heim zu seinem Vater und dieser gab gerne seine Zustimmung zur Hochzeit, die nach drei Tagen stattfand.

Der Bursche hatte den Vater um ein eignes Haus gebeten, in dem er mit seiner jungen Frau wohnen könne. Der Vater hatte das für eine Laune gehalten, doch dafür gesorgt, dass er ein schönes Haus mit einem großen Garten erhielt. Dort schloss der junge Mann sich mit seiner Frau ein und nur eine vertraute Dienerin durfte auch die inneren Räume des Hauses betreten, sonst lebte er mit seiner Frau ganz abgeschlossen. Und alles geschah, wie sie es vorausgesagt hatte: Im Sommer war sie ein Frau von üppigem Aussahen. Im Herbst schrumpelte sie zu einem alten Weiblein zusammen und im Winter lag sie bleich und starr auf ihrem Lager, so als wäre sie gestorben. Im Frühjahr jedoch war sie wieder jung und schön und da feierte er ein großes Fest mit seinem Vater und seinen Freunden.

Eines Tages nahm ihn die junge Frau bei der Hand und sprach: „Liebster, ich will dir etwas sagen.“ - „Ja, so sprich nur!“ - „Sieben Jahre musst du mir die Treue halten, auch wenn ich mich stets verwandle. Wenn du mir treu bleibst und mich trotz allem im Hause behältst, können wir im achten Jahr zur Himmelsbrücke gehen. Dort werde ich mein Engelwesen ablegen und dann kann ich mit dir als Menschenfrau leben und altern. Wenn du mich jedoch abweist oder eine andere Frau heiratest, werde ich die Erde verlassen und ins Jenseits zurückkehren.“ – Nun, der junge Kaufmann war ein guter und treuer Mensch. Er hat sich an Weisung seiner jungen Frau gehalten und so ist aus ihr im achten Jahr eine Menschenfrau geworden. Und sie haben glücklich, wie ein normales Liebespaar, zusammen gelebt.4

Wenn es uns im Sommer zu warm, im Winter zu kalt, im Herbst zu neblig und im Frühling zu wechselhaft ist, werden wir nie auf der Erde heimisch werden. Wie gut, wenn man wie die alte Frau des Märchens die Zeiten und Wetter annehmen kann, wie sie sind und das Gute in ihnen wahrnimmt!

DIE ZWÖLF MONATE

Es war einmal eine alte Frau, die besaß ein kleines Häuschen. Aber sie hatte kein Geld, um sich im Winter Holz und Kohle zu kaufen, um zu heizen und sich zu wärmen.

An besonders kalten Tagen stieg sie hinauf in den Bergwald und sammelte dürres Laub in einem Sack, um damit ihre Stube ein wenig warm würde.

Als sie einmal gerade wieder vom Laubsammeln zurückkam, fiel aus einer kleinen Höhle, in der sie sich sonst immer ausgeruht hatte, ein heller Schein. Sie ging hin und sah in ihr zwölf schöne, junge Männer sitzen.

„Seid gegrüßt“, sagte die alte Frau freundlich.

„Grüß Gott Mütterchen“, antworteten die zwölf Männer, „heute ist es ja schrecklich kalt!“

„So schlimm ist es nun auch wieder nicht“, meinte die alte Frau, „es ist eben Winter, da muss es doch kalt sein“.

Die jungen Männer sahen sich bedeutungsvoll an, sagten jedoch nichts dazu. „Magst du denn die Kälte lieber als die Hitze?“, fragte einer der zwölf Jünglinge. „Nein“, meinte das Mütterchen, „mir ist eigentlich alles recht!“

Da strahlten sich die zwölf Männer an und wollten wissen: „Du findest also keinen Monat schlecht, Mütterchen?“

„Nein“, sagte die Frau, „ich finde, dass jeder Monat auf seine Art schön ist.

„Im Januar, da gibt es reichlich Schnee und Eis

Im Februar ist Fasching, wie man weiß

Der Frühling, der erwacht im März

Der Apfel blüht im April, mein Herz!

Die Vögel singen im Mai ihre Lieder

Herrlich warm ist‘s im Juni dann wieder

Im Juli werden die Kirschen reif

Im August ist der Weizen so weit

Im September fliegen am Himmel die Drachen

Im Oktober gibt es den Wein und manch Lachen

Die Nebel wallen sanft im November

Und Weihnachten feiern wir im Dezember

Nein, ich habe alle Monate gerne. So, jetzt muss ich wieder nach Hause.“ Sie stand auf, und die zwölf Männer halfen ihr, den Sack auf den Rücken zu heben. Wie sie aber zu Hause ankam und den Sack öffnete, was sah sie darin? Lauter Goldstücke! Von da an lebte sie glücklich und ohne Sorgen.

Im Nachbarhaus aber lebte auch eine alte Frau. Die hatte keine Ruhe, bis sie erfahren hatte, woher die andere all das Gold bekommen hatte. Sie ließ sich alles ganz genau erklären, nahm einen Sack, stopfte ihn voll mit trockenen Blättern und ging damit zur Höhle hinauf. Und tatsächlich saßen da wieder die zwölf jungen Männer. Die alte Frau begann sogleich zu jammern: „Ach, es ist so kalt draußen, es wäre besser, es gäbe keinen Winter!“ Die zwölf Männer schauten sich bedeutungsvoll an und schüttelten die Köpfe. „Wie gefallen dir denn die anderen Jahreszeiten?“, wollten sie wissen. „Die sind auch nicht besser!“, klagte da die Alte.

„Im März, da gibt es dauernd Regen

Der April, der kann sich nicht festlegen

Im Mai gibt’s Tanz mit viel Gelage

Im Juni schon werden kürzer die Tage

Im Juli ist mir’s viel zu heiß

Noch im August rinnt mir der Schweiß

Und dann wird es schon wieder kalt

Ach, ich glaub, ich werde nicht alt!

Nein, eigentlich gefällt mir keiner der zwölf Monate!“ Die zwölf jungen Männer sagten nichts. Sie halfen der unzufriedenen Frau den Sack auf die Schultern zu heben, und diese lief so schnell sie konnte nach Hause. Als sie aber den Sack öffnete, fand sie darin nur dürre Blätter. Sie hatte bekommen, was sie geredet hatte.5

Alles ist im Wandel – und dieser Wandel ist auch schmerzhaft und anstrengend. Das gilt nicht nur für unser persönliches Leben, es gilt für alles Leben und für die ganze Natur. In reichen Bildern und Symbolen spricht dieses Harzer Märchen von der Erstarrung des Winters, wie die vorwärtsdrängenden Kräfte keine Stufe mehr weiterkommen, aber auch von dem jungen Frühling, der als Mädchen den drängenden und schweren Wandlungsprozess durchläuft und Starre und Stillstand erlöst.

DIE GRÜNE FRAU

Die alte Großmutter hat es erzählt. Da unten in Windhausen unter der Laubhütte hat vor vielen Jahren einmal ein Besenbinder gewohnt, der hat viele recht hübsche Kinder gehabt. Eines Tages nimmt er seine älteste Tochter mit in den Wald, ein Mädchen von dreizehn, vierzehn Jahren mit roten Backen und leuchtenden Augen, die gerne viel redet. Sie gehen miteinander um Reiser zu holen für die Besen. Von den Ruten der Birken werden Besen gemacht und in Windhausen standen viele! Es ist schrecklich kalt gewesen, wenn auch die Sonne über Berg und Tal schien. An den Zweigen hat Eis gesessen; es hat ausgesehen, als hingen Silberstangen daran herunter.

Auf einmal bleibt der Vater bei einer großen Tanne stehen: „Sieh doch Anna, was ist denn das?“ Das Mädchen sieht da auch eine junge Frau stehen, die hat ein grünes Kleid, ein grünes Gesicht und selbst die Haare waren grün. Und während sie noch staunen, kommt die grüne Frau auf sie zu und spricht zum Vater: „Deine Tochter da, die muss ich haben!“ Und kaum hat sie das gesagt, so ist sie mit dem Mädchen verschwunden.

Vor Schreck kann der Mann keinen Schritt von der Stelle tun. Als er wieder zu sich kommt, hört er eine Stimme rufen: „August, August, August!“ Ein paar Schritte vor ihm steht ein goldener Hirsch. Weil er meint, seine Tochter wäre in ihn verwandelt, geht er auf ihn zu. Als er aber den Hirsch am Geweih fassen und festhalten will, da ist er verschwunden. So geht’s dreimal, und immer an einer anderen Stelle. Unterdessen ist der Besenbinder vor ein kleines Häuschen gekommen.