Den Drachen reiten - Jürgen Wagner - E-Book

Den Drachen reiten E-Book

Jürgen Wagner

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Beschreibung

Ob Fafnir in den Nibelungen oder Fuchur bei Michael Ende, ob die mittelamerikanische gefiederte Schlange Quetzalcoatl oder die germanische Weltenschlange Jörmungandr, ob der chinesische Long oder der griechische Ladon, ob der biblische Leviathan oder die vielköpfige griechische Hydra, ob Smaug, Tabaluga oder Frau Mahlzahn: Drachen begleiten Jung und Alt bis heute. Sie stehen für Energien der Natur, die wir auch in uns selbst wiederfinden können. Die Zeit des Drachen ist nach den traditionellen Mythen und Märchen die Zeit ungeheurer Herausforderungen: Naturkatastrophen und gesellschaftliche Umwälzungen, aber auch persönliche Such- und Initiationswege. "Wenn du den Drachen ignorierst, dann wird er dich fressen. Wenn du dich dem Drachen widersetzt, wird er dich überwältigen. Aber wenn du den Drachen reitest, wirst du Nutzen von seiner Macht und Kraft haben." Das Buch zeigt anhand der Drachenmythen und –märchen, wie man dem im Leben begegnen kann, was einem Furcht und Schrecken einjagt. Kommunikation und Kunst, Glaube und Magie, List und Mitgefühl sind ein Handwerkszeug, das uns auch die Krisen unserer Zeit meistern lässt. Es ist möglich, dass wir Menschen dadurch unser eigenes ungeheures Potential finden, es nutzen und daran wachsen. So brauchen wir uns keiner angstvollen Endzeitstimmung hinzugeben, sondern können mutig und geschickt den Gefahren der Zeit begegnen und unser Teil zum Wohl der Wesen beitragen.

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Seitenzahl: 229

Veröffentlichungsjahr: 2025

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DEN DRACHEN REITEN

Märchen, Mythen, Mächte

Jürgen Wagner

Impressum

© 2025 Jürgen Wagner

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Titelbild: Guan-Yin auf einem Drachen

INHALTSVERZEICHNIS

I DAS GEHEIMNIS DES DRACHEN

Drachenrätsel

Drachenbild und Drachenenergie

Der chinesische Drache: schöpferische männliche Wasser- und Himmelskraft

Der babylonische Drache: Krafttier und Urmutter

Der Drache in der westlichen Kultur

Wie der Drache zur Personifikation des Bösen wurde

Die einzig real existierenden ‚Drachen‘

II DRACHENMÄRCHEN DRACHEN, DIE MAN ÜBERWINDEN MUSS

Das Schloss zwischen Himmel und Erde (Montenegro)

Was uns gefangen hält

Die Königstochter in der Flammenburg (Siebenbürgen)

Der überlistete Drache

Azi-Bazi (Dagestan)

DRACHEN, DIE UNS WEITERBRINGEN

Was das Beste in uns weckt

Assipattle (Schottland)

DRACHEN ALS NATURGEWALT

Das Ende des ‚Weiter so‘

Der Nordland-Drache (Estland)

Liebe, Tapferkeit – und ein Hochwasser

Die Perle, die bei Nacht strahlt (China)

BÖSE DRACHEN

Der Lauf der Welt

Longnü und Sudhana

DRACHEN, DIE EIN GEHEIMNIS BERGEN

Das geheime Wissen

Die Drachenfedern (Österreich)

Das, was wir suchen

Der verwünschte Zarewitsch (Russland)

GLÜCKSDRACHEN

Wie aus Feindschaft Freundschaft wird

Der Drache mit den Edelsteinen (Kroatien)

Wie Drachen helfen können

Der schwarze und der rote Drache (Türkei)

MIT DRACHEN REDEN?

Wanderung durch die Welten

Der Turm zu den Sternen (Spanien)

Der Drache, der Geschichten liebt

Die Müllerssöhne und der Ashdacha (Dagestan)

WÄCHTERDRACHEN

Gegangen durch Löwen und Drachen

Prinz Schwan (Deutschland)

DRACHENGABEN, DRACHENSCHÄTZE

Die Sage von der Drachenmutter

Im Tempel der Drachenmutter (China)

Was Drachen geben können

Der sprechende Baum (Finnland)

Was Drachen fasziniert

Der Drachenkönig und der Bambusflötenspieler (China)

Kräfte der Heilung

Die Strahlenperle (Tibet)

HAUSDRACHEN UND ANDERE DRACHEVERWANDTE

Wie Drachen sich verwandeln

König Lindwurm (Dänemark)

Mit Drachen verwandt

Der Drache (Italien)

DER WEIBLICHE WEG, MIT DRACHEN UNZUGEHEN

Wie man zur Ruhe kommt

Die Madonna und der Drache (Italien)

Einen Drachen retten

Guan-Yin und der Sohn des Drachenkönigs (China)

DRACHEN UND LIEBE

Fremdes liebgewinnen

Sanlang und die Tochter des Drachenkönigs (China)

Was die Liebe vermag

Die Herberge, in der man sich nicht ängstigen darf (Südtirol)

NACHWORT: DIE ZEIT DES DRACHEN

Anhang

I DAS GEHEIMNIS DES DRACHEN

Das große Rätsel: Gibt es Drachen? Und wer sind sie?

„Drachen. Nun, es gibt hier welche. Und denk daran: ‚Komm nicht zwischen den Drachen und seinen Zorn!“

(Shakespeare, König Lear)

Wie kann ein Wesen, das niemals existiert hat, sich über Jahrtausende in der ganzen Menschheit mit der festen Überzeugung verbreiten, dass es mit langem Schwanz und feurigem Rachen in wüster Einöde, in Gewässern, Höhlen oder im Himmel lebt? Wieso kämpfen seit Jahrtausenden Männer mit Drachen, wenn es sie gar nicht gibt? Man hat dieses Wesen sogar in Lehrbüchern beschrieben und hielt die Sagen von ihm bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts für wahr. Und diese Geschichten wurden auf allen Kontinenten erzählt! „Nun, es gibt hier welche“, sagt der Dichter - schauen wir mal, wo die sind!

Drachenbild und Drachenenergie

Der Drache wird dargestellt als ein Mischwesen aus meist drei Tierelementen: dem Reptil, dem Raubtier und dem Raubvogel. In der Vorstellung der Menschen hat er in der Regel einen geschuppten Schlangen- oder Echsenleib, Adlerklauen und –flügel sowie einen Raubtieranteil vom Löwen oder Panther in seinen Tatzen oder in seinem Leib.

Wie kam man eigentlich auf solche Mischwesen, die doch nirgends so existieren: Löwenmenschen, Greife, Sphinxe, Zentauren, Nixen, Drachen? Die Ursprünge dürften im Schamanismus liegen, denn der Schamane geht seit alters her in der Trance eine Verbindung mit Tiergeistern ein. Damit dies leichter gelingt, trägt er Tierattribute seiner Krafttiere bei sich: er legt sich z.B. ein Fell über und wird für kurze Zeit eins mit einem Höhlenlöwen, einem Bison, einem Pferd oder einem Vogel. So kann er deren Kräfte und Botschaften in unsere menschliche Welt hinüberbringen. Aus der Verbindung von Mensch und Tier wurden dann in Ägypten die Götter. Aus der Verbindung von Tier und Tier wurde das, was wir heute ‚Fabelwesen‘ nennen, was aber ursprünglich kraftgeladene Geistwesen waren, die ihren Platz in den schamanischen Welten hatten und keine bloßen Fantasiegebilde waren: sie waren magische Kreationen. Das spüren wir heute noch, wenn wir Geschichten von diesen Wesen lesen, dass sie magisch und sehr wirksam sind.

Welche Kräfte wirken im Drachen? In ihm wirkt zunächst einmal die Schlangen- und Reptilienkraft. Die Schlangen sind die alten Hüter des Heiligen in vielen Kulturen. Sie hat die Verbindung zum Erdreich, zur (schamanischen) Unterwelt und ihnen werden besondere Fähigkeiten nachgesagt. In Indien haben die ‚Nagas‘ mehrere Köpfe und stehen dem Wasserelement nahe. Das alles gilt auch für die Drachen. Nur dass sie Feuer speien statt giftig zuzubeißen.

Das Wort ‚Drache‘ kommt aus dem Altgriechischen ‚drakon‘ und bedeutet ‚Schlange‘. So nährt sich unser Bild des Drachen von der Macht dieser Tiere und von unseren Urängsten ihnen gegenüber. Die empfinden wir auch heute noch, wenn wir Schlangen begegnen. Die anderen Raubtierelemente des Drachen potenzieren noch die Macht und Aggression und damit auch die Furcht eines jeden möglichen Opfers.

Schamanen können den inneren Drachen aufrufen und so magisch erschaffen. Das ist wie eine Melodie, die einen innerlich begleitet oder ein Gedanke, der einen bewegt. Das kann beseligend sein oder auch quälend, wenn es einen nicht mehr loslässt. Der Drache als eine geistige Form kann ebenfalls etwas Gutes tun: er kann etwas bewachen, hüten und schützen. Er kann aber auch vernichten und zerstören. Normalerweise müssen all diese Geistgestalten wieder aufgelöst werden, dies gehört zu den Aufgaben eines Magiers oder Schamanen. Werden sie beibehalten, muss sie gebändigt und friedlich sein.

Nicht nur Schamanen, nicht nur Mythen und Fantasiegeschichten transportierten den Drachen durch die Zeit, es waren vor allem auch weltliche Herrscher, die den Drachen für sich entdeckten. So nutzten die Krieger der Parther und die Heere der Römer die ‚Dracostandarte‘ als Identifikationssymbol. Noch im ausgehenden Mittelalter diente der Drache Maximilian I. als Kaisertier. Heute ist er zum Allgemeingut geworden. Männer und Frauen, die ihre Kraft zeigen wollen, lassen sich einen Drachen auf den Körper tätowieren. Städte nehmen ihn ins Wappen und Sportvereine in ihr Logo oder als Maskottchen. In Kinderbüchern zeigt er den Jüngsten, wie mit dem Leben umzugehen ist. In Fantasyfilmen tauchen Jung und Alt in eine Parallelwelt ein, wo Drachen die eigenen Ängste in eine Form und Beherrschbarkeit bannen. Drachen werden zu Spielzeugen, mit denen die Kleinen schon früh das Vertrauen lernen, dass die Menschheit das Ungeheure zu bändigen und zu führen weiß. Und wenn Peter Maffay sein Tabaluga-Lied singt, wissen junge Leute, dass sie ihre eigenen Wege gehen müssen:

Als junger Drache will ich Sachen machen

die ein Alter nicht tut

Ich will Feuer spucken,

mich an Bäumen jucken

Ja und fauchen kann ich auch ganz gut

Was mein Vater sagt,

ist zwar ganz schön,

doch kleine Drachen wollen meistens

eigne Wege gehen …

Drachen und Schlangen sind ursprünglich also nicht das, was wir in der christlichen Kultur gelernt haben: Personifikationen des Bösen. Sie sind eine Vielfalt von Kräften, die man so oder so nutzen kann. Drachen sind nie harmlos, aber ob ein junger Mensch sich durchsetzt und schließlich sein Leben meistert oder ob er im Aufbegehren stecken bleibt und destruktiv wird statt schöpferisch, ist die spannende Frage.

Wie die Schlange ein Bild der Lebenskraft sein kann, kann uns auch der Drache zu einem positiven inneren Bild werden. Drachen sind sehr mächtig, denn sie sind in allen vier Elementen zuhause: sie können fliegen, sind sehr gewandt im Wasser, gehen auf der Erde und speien Feuer. Sie können zu blinder Aggression verkommen, die alles verschlingen, was ihnen in den Weg kommt - oder sie können ein starkes, aktives Schutzsymbol sein.

Der chinesische Drache: schöpferische männliche Wasser- und Himmelskraft

Wenn du den Drachen ignorierst,

wird er dich fressen.

Wenn du dich dem Drachen widersetzt,

wird er dich überwältigen.

Aber wenn du den Drachen reitest,

wirst du aus seiner Stärke und Macht einen Nutzen ziehen!

(Chinesisches Sprichwort)

China hat eine ganz besondere Beziehung zu den Drachen: es ist das Land der Drachen! Die ältesten bekannten chinesischen Drachendarstellungen sind etwa 5000 Jahre alt. Er kommt dort in unzähligen Legenden, Erzählungen und Märchen vor. In der alten Religion ist er eines der vier Totemtiere: er ist das Totem der Seen, Flüsse und Meere. In der Astrologie steht er für Güte, Intelligenz, Stärke und Gerechtigkeit. Wer im Jahr des Drachen geboren wird, gilt als Glückskind, da man annimmt, dass er mit den Eigenschaften des Drachens auf die Welt kommt. Was bei uns zum neuen Jahr das Glücksschwein ist, das vierblättrige Kleeblatt, der Schornsteinfeger oder das Hufeisen, ist in China der Drache: jedes Neujahrsfest steht in seinem Zeichen. Der Drache verheißt himmlischen Segen und Glück.

Am stärksten vergeistigt ist er im I Ging: dort steht er für die beweglich-elektrische, starke, anregende Kraft, die sich im Gewitter zeigt. Sie zieht sich im Winter in die Erde zurück, erscheint im Frühling wieder als Blitz und Donner und bringt den fruchtbaren Regen. Deshalb ist der Drache letztlich eine schöpferische Kraft, die es zu achten gilt und über die man positiv denken darf.

Auch im Feng Shui spielt er eine maßgebende Rolle: wenn es um die Harmonie zwischen uns und unserer Umgebung geht, dann ist der Drache eine der 4 maßgeblichen Kräfte: er steht für die männliche Energie (Yang), die z.B. ein Hügel, eine Hecke oder Bäume verkörpern können. Er wird dem Osten, dem Holz und der Farbe Grün zugeordnet. Will man also sein Haus oder seinen Garten mit einer positiven, gewinnenden Kraft aufladen, sollte man seinen Ost-Sektor mit den entsprechenden Elementen beleben.

Der legendäre Kaiser Yu soll ein neunköpfiges Schlangenmonster getötet haben - vielleicht ein Bild für seine fleißige Ingenieursarbeit gegen die Überschwemmungen seiner Zeit. Ansonsten ist der ‚long‘ (Drache) in China weder grundsätzlich böse noch prinzipiell zu bekämpfen oder gar zu töten. Er ist vor allem ein mächtiges Kraft-, Schutz- und Glückssymbol, das mit dem Wasser und der Fruchtbarkeit in Verbindung steht. Auf der energetischen Ebene ist er ein Aspekt des Qi (Ch’i), eine Kraft, die sich für den Chinesen in Gewittern oder Überschwemmungen zeigt (s. Die Perle, die bei Nacht strahlt). Kommt es zu Fluten, fährt man traditioneller Weise mit Drachenbooten über das Wasser, um den Drachen zu besänftigen. Viele Feste wie das Laternenfest, das Drachenbootfest oder der Drachentanz stehen in Verbindung mit ihm, der als Himmelsmacht die Menschen beschützt und ihnen Gutes bringt. Das Wasser bringt ja die Fruchtbarkeit, ohne es ist alles nichts. Deshalb findet man den Drachen in China bis heute auf allen möglichen Accessoires. Selbst in Europa kommt man kaum in ein chinesisches Restaurant, ohne von einigen Drachen begrüßt zu werden.

Der babylonische Drache: Krafttier und Urmutter

Sie, die sie alle gebar (Enūma eliš)

Schlangenartige, aber auch löwenähnliche Drachen begegnen ikonographisch und literarisch in der altorientalischen Kultur schon ab dem 3. Jahrtausend v. Chr. Sie begleiten Götter und sind Wächter verschiedener Heiligtümer. Sie stehen in der Tradition schamanischer Krafttiere, die dem Schamanen bei der Erfüllung seiner Aufgaben helfen. Durch die Addition verschiedener Tierattribute erreicht man eine Steigerung der Kräfte. So schuf man imaginäre Geistwesen, die den alten Tiergeistern weit überlegen waren und mit denen man magisch arbeiten konnte.

In der Kultur der Jäger und Sammler waren die Tiergeister völlig ausreichend. Aber in den Ackerbaugesellschaften, die anfingen, erst Dörfer, dann Städte und schließlich ganze Imperien zu gründen, reichte ein einfacher Löwe oder eine einfache Schlange als Helfer- oder Schutzgeist nicht mehr aus. Deshalb gehen Gesellschaft und Religion Hand in Hand: steigern die Menschen ihre Möglichkeiten, muss auch die Geistwelt Schritt halten. So ging die Entwicklung von den Pflanzen- und Tiergeistern über die Mischwesen zu den Göttern und schließlich zu der einen Gottheit.

Die ältesten sumerischen Drachendarstellungen sind Schlangendrachen und Löwenadler auf Rollsiegeln aus der Zeit um 3000 v.Chr. Erstmals schriftlich erwähnt werden sie 2600 v. Chr. in einer Tempelhymne. Sie können als gefährliche, aber auch als schützende Wesen auftreten. Die altorientalischen Drachen sind sehr facettenreich und reichen vom wilden Schlangendrachen bis hin zu Muschuschu, dem babylonischen Löwen mit dem Schlangenkopf, einem Begleittier Marduks, des Stadtgottes von Babylon.

Im ersten Jahrtausend v. Chr. fand eine Vergeistigung und Symbolisierung dieser Mischwesen statt. Sie wurden herangezogen, um die Welt und ihre Entstehung zu erklären. Sie wurden Sinnbild des schöpferischen, aber auch chaotischen Uranfangs, den wir heute als ‚Urknall‘ beschreiben. Die Drachen wurden das Bild für eine Zeit, „als droben die Himmel nicht genannt waren und unten die Erde keinen Namen hatte“ (Enūma eliš Tafel 1). Wie im alten Ägypten Nun und Naunet, so steht auch hier eine Polarität am leeren, dunklen und trägen Eingang zur Schöpfung. Zwei Schlangen- und Meeresdrachen verkörpern den schöpferischen Beginn der Welt.

Am Anfang der Dinge waren nur die Urwasser. Als Apsu und Tiamat, das Süß- und das Salzwasser, sich mischten, gebaren sie die Götter. Die jungen Götter fingen aber bald an, tanzend inmitten der Himmelswohnung umherzuspringen und hörten nicht auf mit ihrem Geschrei. Der Urvater Apsu fand keine Ruhe mehr am Tag und keinen Schlaf mehr in der Nacht. Da ging er zu Tiamat, die sie alle geboren hatte und beschwerte sich laut bei ihr. Er wollte sie alle vernichten, damit wieder Ruhe einkehrt und man wieder schlafen kann. Doch Tiamat wurde zornig: ‚Was, vernichten sollen wir, was wir geschaffen haben? Gewiss, ihr Verhalten ist peinlich, doch sollten wir uns in Sanftmut gedulden‘.

Als die Götter von diesem Vorhaben Apsus erfuhren, töteten sie ihn. Tiamat aber, die Mutter, sah sich nun ganz alleine und in großer Gefahr und erschuf elf weitere Drachen und Meeresschlangen, um sich wehren zu können. Die Götter versuchten sie zu beruhigen, aber es gelang ihnen nicht. Da machte sich Marduk auf, der mächtigste, weiseste und jüngste unter den Göttern, Tiamat in einem Kampf zu stellen. Er bekam dazu die vier Winde, um die Mutter zu schrecken. Er ging zur Meeresmutter. Als Tiamat ihn kampfesbereit reden hörte, geriet sie außer sich und verlor den Verstand. Sie fing an zu brüllen und beide stürzten sich aufeinander. Marduk fing Tiamat in einem Netz. Tiamat riss das Maul auf und wollte ihn verschlingen. Da schickte er einen furchtbaren Wind in ihren Rachen, der ihren Leib aufblähte. Marduk schoss einen Pfeil ab, der sie tödlich traf. Dann stellte er sich als Sieger auf sie. Mit seinem Dolch teilte er sie wie einen getrockneten Fisch. Aus der einen Hälfte machte er das Himmelsgewölbe, das die Götter bewohnen sollten. Aus der anderen Hälfte schuf er die Erde, die zum Wohnort der anderen Wesen wurde. Die elf Ungeheuer verwandelte er in Statuen (nach dem Enūma eliš, 1. Jtd. v. Chr.).

Anders als in China ist der Drache hier eine Drachin. Böse ist Tiamat nicht. Aber man kann schon mal böse werden, wenn man angegriffen wird oder wenn man das Schlimmste befürchten muss. Dargestellt wurde sie als gehörnte Meeresschlange, da sie die Meereskräfte verkörpert, zugleich wurde sie aber auch als Göttin und Urmutter verehrt, sie „die sie alle gebar“ (Enūma eliš). Der Mythos zeigt sie in ihrem fraulichen Wesen sowohl geduldig und sanftmütig wie auch wütend und zornig. Der Mythos zeigt, dass das Ruhebedürfnis der Eltern dem Sturm und Drang der jungen Götter letztlich weichen muss. Die Eltern müssen abgelöst werden und gehen, damit eine neue Generation die Führung übernehmen kann. Doch werden die Eltern nicht einfach liquidiert: Apsu wird als neue Wohnstatt genutzt und Tiamat lebt weiter in dem Kosmos, den wir kennen. Die Welt, so wie sie ist, ist Tiamat, ist die Urdrachin, das große Meer des Seins, das ungeheure Potential, das in allem und in jedem schlummert. Sie ist und bleibt die mater, die Mater-ie, die Mutter. Sie ist der Stoff, aus dem alles gemacht ist.

Anders als in der chinesischen Mythologie ist der Drache hier nicht der schöpferische, männliche Impuls: den repräsentiert Marduk. Aber die Drachenenergie ist die allem innewohnende Kraft, das Qi, das Prana, das Pneuma, das in allem wirkt – so könnte man diese alten Bilder vielleicht für uns heute übersetzen.

Vielleicht gibt dieser Mythos uns auch eine Antwort auf die bedrängende Frage, warum in unserer Tradition der Drache fast immer bekämpft und getötet werden musste. Warum müssen die tapferen Männer ständig Drachen töten, Jungfrauen befreien und Schätze heben? Weil die männliche Energie schöpferisch sein muss. Ein schöpferischer Prozess aber ist immer ein Ringen mit dem Stoff – bis er Gestalt gewinnt, sei es ein gemaltes Bild oder ein geschriebener Text, eine neue Musik oder ein neuer Stuhl, ein Bauwerk oder eine neue Technik. Das Sterben ist Teil dieses Prozesses: bis ein Text steht, werden 20 Ideen verworfen, bis ein neues Serum im Handel ist, muss jahrelang geprüft und aussortiert werden. Auch wenn ich nur einen Stuhl oder eine Zeitung will, muss ein Baum sterben.

So ist der Drache auch ein Bild für das Leben selbst, für den mühevollen Weg, für all die Hindernisse, die zu überwinden und zu meistern sind, bis eine neue Ordnung gefunden ist. Der tiefste Grund des Drachenkampfes ist der, dass es eine Weiterentwicklung geben muss. Die Welt kann nicht in ihrem schlafenden Urzustand bleiben, sie muss sich entfalten, erwachen und umtriebig werden.

Der Drache ist auch in dieser Tradition ganz an das Wasser gebunden: Tiamat ist der Salzwasserozean. Wasser ist Leben und ohne Wasser gibt es kein Leben. Aber das Wasser braucht auch sein Gegenelement, das Feuer, das Licht. Zum Weichen tritt das Harte, zum Sanften das Grobe. So braucht es die Polarität, die Spannung, die Auseinandersetzung, um etwas Großes zu erschaffen. Solange der Drache auf seinen Schätzen ruht, dienen sie niemandem. Erst wenn sie ihm genommen werden, können sie einen Nutzen haben und jemandem dienen.

Der Drache in der westlichen Kultur

Auch der westliche Drache, dessen Ursprünge nach Babylonien weisen, ist vom Ursprung her keine Personifikation des Bösen, dazu wurde er erst später gemacht. Er ist ein Sinnbild für die Gefahren des Lebens, aber eben auch für seine Schätze. Man hat ihn vor allem auch als einen Spiegel unserer selbst entdeckt, der Fülle unserer verborgenen Möglichkeiten, aber auch Versuchungen und Gefährdungen. Wie man den Drachen in sich entdecken kann, hat Marianne Williamson in heutiger Sprache einmal so formuliert:

Unsere tiefste Angst ist nicht, dass wir unzulänglich sind,

unsere tiefste Angst ist, dass wir über die Maßen machtvoll sind.

Es ist unser Licht, vor dem wir am meisten erschrecken, nicht unsere Dunkelheit.

Wir fragen uns: Wer bin ich, dass ich so brillant, großartig, talentiert, fabelhaft sein sollte?

Aber wer bist du denn, dass du es nicht sein solltest?

Du bist ein Kind Gottes. Dich klein zu halten, dient der Welt nicht.

Dich klein zu halten, damit die anderen um dich herum sich nicht unsicher fühlen: das hat nichts mit Erleuchtung zu tun.

Wir sind dazu bestimmt, zu leuchten wie Kinder.

Wir sind geboren, um die Größe Gottes, der in uns lebt, zu verwirklichen.

Und diese Größe ist nicht nur in einigen von uns, sie ist in jedem Menschen.

Und wenn wir unser Licht leuchten lassen, dann geben wir unbewusst anderen Menschen die Erlaubnis, dasselbe zu tun.

Wenn wir selbst von Angst frei sind, dann sind die anderen durch unser Dasein auch frei“ (Marianne Williamson).

Wie der Drache zur Personifikation des Bösen wurde

Durch seine Kraft hat Gott das Meer erregt, und durch seine Einsicht hat er Rahab zerschmettert. Am Himmel wurde es schön durch seinen Wind, und seine Hand durchbohrte die flüchtige Schlange (Hiob 26/12f).

Die jüdische Überlieferung folgt in ihren Grundlinien den babylonischen und ägyptischen Vorlagen. Der Drache ist Teil der göttlichen Schöpfung und als solcher erst mal anzunehmen. Dass das Meer erregt wird, ist ganz natürlich. Aber seiner Gefährlichkeit muss trotzdem begegnet werden. Das geht nur mit Gewalt, denn das Meer ist eine Urgewalt. So ist der Drache in Israel hier nicht mehr die Urmutter, sondern Personifikation des gefährlich Bedrohlichen für den Menschen. Auch Israel kennt diesen Schöpfungsmythos. Alles beginnt mit dem Urchaos, dem Tohuwabohu (1. Mose 1/2f) und der Finsternis des Anfangs. Über ihr schwebt der göttliche Geist und in sie hinein spricht Gott das Licht. Der Drache wird hier nicht mehr genannt, sondern abstrakt umschrieben. Der konkrete Drache wird reserviert für das, was das israelitische Volk bedroht, insbesondere seine politischen Feinde. Israel war das Durchzugsgebiet der ägyptischen wie der assyrischen und babylonischen Heere und wurde mehrfach überfallen, zu Tributzahlungen genötigt, ausgeplündert und die Menschen verschleppt. So wird Rahab in einem Zug mit Ägypten genannt (Jesaja 30/7) und der Drache mit dem babylonischen König Nebukadnezar (Jeremia 51/34). Deshalb hat dieses mythische Motiv bei dem kleinen Volk Israel oft auch eine politische Dimension. Der Drachenkampf wird zu einem gängigen Motiv, in dem Gott die Bedrohungen des Lebens von den Menschen nimmt, die sie selbst nicht bewältigen:

Du hast dem Leviathan die Köpfe zerschlagen und ihn zum Fraß gegeben dem wilden Getier (Psalm 74/13f). Warst du es nicht, der Rahab zerhauen und den Drachen durchbohrt hat? (Jesaja 51/9). Wenn die Zeit (der Erlösung) gekommen ist, wird Gott mit seinem Schwert den Leviatan heimsuchen, die flüchtige Schlange, und den Leviathan, die gewundene Schlange, und wird den Drachen im Meer töten (Jesaja 27/1).

Je schlimmer die Gegenwart ist, desto mehr richtet sich der Blick der Menschen in die Zukunft in der Hoffnung auf Erlösung und Befreiung. Im prophetischen Buch Daniel wird das babylonische und das römische Reich folgendermaßen beschrieben:

Daniel hatte einen Traum, auf seinem Lager hatte er eine Vision: Die vier Winde des Himmels wühlten das große Meer auf. Dann stiegen aus dem Meer vier große Tiere herauf; jedes hatte eine andere Gestalt. Das erste war einem Löwen ähnlich, hatte jedoch Adlerflügel. … Danach sah ich in meinen nächtlichen Visionen ein viertes Tier; es war furchtbar und schrecklich anzusehen und sehr stark; es hatte große Zähne aus Eisen. Es fraß und zermalmte alles, und was übrig blieb, zertrat es mit den Füßen. Von den anderen Tieren war es völlig verschieden. Auch hatte es zehn Hörner (aus Daniel 7).

In der neutestamentlichen Johannesoffenbarung wird wieder ein Mischwesen beschrieben, mit dem wohl ebenfalls das römische Reich gemeint ist:

Ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das … war gleich einem Panther und seine Füße wie Bärenfüße und sein Rachen wie ein Löwenrachen. Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Thron und große Macht (Ofb 13/1f).

Hier wird die Weltmacht Rom nicht als hochstehende Kultur und als mächtiges Reich geschätzt, es ist ein Tier! Es ist unmenschlich! Es wird als ein Löwe geschaut, der seine Beute mit der Schnelligkeit und Entschlossenheit eines Panthers verfolgt, mit der Hartnäckigkeit und Festigkeit von Bärenfüßen an ihr dran bleibt und sie dann in seinem Rachen verschwinden lässt. Das könnten vermutlich viele Völker unterschreiben, die Rom damals unterworfen und sich einverleibt hat.

Im Buch Daniel steht der Panther für die schnellen Griechen unter Alexander, der Bär für die starken Medo-Perser unter Darius und Kyros, der Löwe für das majestätische Babylon unter Nebukadnezar. Das könnte hier im Hintergrund stehen, da die Römer diese Weltreiche beerbten.

Woher hat das römische Reich seine Macht? Hier kommt der Drache ins Spiel. Die Römer selbst beriefen sich in ihrem Mythos auf eine säugende Wölfin berufen und hatten den Wolf als ihr Totemtier. Der jüdisch-christliche Seher aber sieht hier „die alte Schlange“ am Werk, die schon das Urmenschenpaar verführt hatte. Aus der Sicht eines unterdrückten Volkes ist das durchaus nachvollziehbar, dass es der kulturellen Überfremdung, der drückenden Steuerlast und der politischen Entmachtung und Entmündigung nichts Positives abgewinnen kann. In seiner Sicht ist hier „der Teufel und der Satan“ (20/2) am Werk. Rom tut dasselbe wie einst der babylonische Drache, der ebenfalls die Völker ringsum unterwarf und beraubte.

Die Menschen sahen sich damals nicht in der Lage, gegen die römische Kaisermacht etwas zu unternehmen. Deshalb entlud sich ihre verzweifelte Hoffnung in mächtigen Bildern, in denen der Himmel selbst einschreiten musste, um die Unterdrückung der Menschen zu beenden. Der Drachenkampf wurde so zu einem Kampf gegen das Böse selbst.

Dann erschien ein … anderes Zeichen … am Himmel und siehe, ein Drache, groß und feuerrot, mit sieben Köpfen und zehn Hörnern und mit sieben Diademen auf seinen Köpfen. … Da entbrannte im Himmel ein Kampf; Michael und seine Engel erhoben sich, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der Drache und seine Engel kämpften, aber sie hielten nicht stand und sie verloren ihren Platz im Himmel. Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt; der Drache wurde auf die Erde gestürzt und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen (aus Ofb 12).

Die einzig real existierenden ‚Drachen‘

Viele Sagen weltweit berichten von der Begegnung mit Drachen und geben verschiedene Schilderungen dieses Wesens. Das lässt einen ahnen, dass ein Körnchen Wahrheit hinter all diesen Lind-, Tatzel- und Haselwürmern steckten könnte. In jedem Reptil, in jeder Echse und Schlange steckt nämlich ein Stück Drachen.

Tatsächlich gibt es viele Reptilien, die dem Drachen recht nahekommen: der ‚Gemeine Basilisk‘, die ‚Wasseragame‘, die Leguane oder der ‘Gemeine Flugdrache‘. Was die Gefährlichkeit, Giftigkeit und zerstörerische Energie angeht, so sind Schlangen, Krokodile und Warane an erster Stelle zu nennen. Aber all diese Arten sind auch sehr ruhige Zeitgenossen. Wenn man sie nicht stört und nicht gerade in ihr Beuteschema passt, hat man nicht viel zu befürchten.

Die großen Echsen aus vergangenen Zeitepochen könnte man durchaus als Drachen akzeptieren, auch wenn sie keine Mischwesen sind: ob Spinosaurus oder Tyrannosaurus Rex – diese Raubsauriere sind für uns heute so furchterregend wie die sagenhaften Drachen. Im Stillen könnte man sich fragen, ob die Begeisterung für Drachen vielleicht letztlich daher rührt, dass wir selbst Reptilien s i n d. Sie sind nämlich unsere Ahnen und Vorfahren, jedes Säugetier stammt von ihnen ab. Im späten Karbon schieden sich die sog. Synapsiden von den Sauropsiden. Aus den ersten entwickelten sich die Säugetiere, aus letzteren die Echsen, Schlangen, Krokodile, Saurier, Vögel und Schlangen. Wir haben uns nur so weiterentwickelt, dass wir keine Eier mehr legen, sondern die Brut in uns selbst austragen, dann nähren und ein Stück ins Leben begleiten. Unsere Finger- und Fußnägel, unsere Haar- und Hautschuppen aber erinnern uns noch an das Schuppentier, das wir eigentlich immer noch sind. Auch wir müssen unsere Haut wie die Schlangen beständig erneuern, nur dass wir das anders bewerkstelligen als sie.

So wie wir Spuren der Drachenwesen in unseren Körpern finden, so finden wir sie auch in unserer Seele. C.G. Jung meinte, sie repräsentieren unsere Begegnung mit dem ‚Ungeheuren‘ in uns. „Schrecklich (deinos) ist vieles, aber nichts ist schrecklicher als der Mensch“ – dichtete Sophokles in seiner Antigone 442 v. Chr. So begegnen wir, wenn wir uns mit den Drachen beschäftigen, immer auch einem Stück unserer eigenen Seele, unserer eigenen Fähigkeiten, unseres eigenen Abgrundes. Und darin begegnen wir jener Natur, die sehr viel größer ist als wir, gewaltiger und mächtiger. Deshalb sind Drachen auch kosmische Wesen.

II DRACHENMÄRCHEN DRACHEN, DIE MAN ÜBERWINDEN MUSS

„Der Kampf mit dem Drachen, ein Lieblingsmotiv des europäischen Märchens, erinnert zunächst an den Kampf des Menschen mit wirklichen (Un)Tieren, ein Geschehen,

das die Fantasie früherer Zeiten mit großer Gewalt beschäftigt haben muss. Gerade deshalb wird der Kampf mit dem Untier zum Symbol für den Kampf des Menschen

überhaupt, den Kampf mit der feindlichen Umwelt, mit dem Bösen außer uns und in uns, des Willens mit den Trieben, der Form mit dem Chaos, des Menschen mit dem

Jenseitigen oder mit dem Schicksal. Der Drache ist ebenso Bild für die ungestaltete und gefährliche Natur wie für das eigene Unbewusste.“

Max Lüthi

„Der Drache des Neides schlummert in uns. Sollten wir uns nicht von ihm befreien?“

Katharina Eisenlöffel

„Märchen sind mehr als wahr: nicht weil sie uns sagen, dass Drachen existieren, sondern weil sie uns sagen,

dass Drachen geschlagen werden können."

Neil Gaiman, Coraline

"Stress ist ein wichtiger Drache, den es in Seinem Leben zu töten – oder zumindest zu zähmen – gilt."

Marilu Henner