Gott im Märchen - Jürgen Wagner - E-Book

Gott im Märchen E-Book

Jürgen Wagner

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Beschreibung

Gott geht menschlicher und irdischer durch die Märchen als durch die heiligen Schriften. Dennoch wahren die Volksmärchen die Mysterien der Religionen ebenso wie ihr Ethos. Sie vermitteln die Grundwerte, die uns Gemeinschaft ermöglichen wie persönliche Weiterentwicklung. In diesem Buch sind 30 Märchen gesammelt, die an die religiösen Traditionen der Völker anknüpfen. Die Volksmärchen haben ihre eigene Art, Himmlisches auf die Erde zu bringen, manchmal durch die Gottheit, manchmal durch eine Spinne oder einen Hirsch, manchmal durch einen weisen Alten.

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Seitenzahl: 196

Veröffentlichungsjahr: 2025

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GOTT im Märchen

Jürgen Wagner

Impressum

© 2025 Jürgen Wagner

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Titelbild: Fritz Kunz, Frau Holle, um 1910

INHALTSVERZEICHNIS

I Vorwort

II Wie Gott durch die Märchen geht

‚Wohin des Wegs mit dieser Keule?‘ –

Das Buch aus reinem Silber – Sibirien

‚Hat es da nicht eben geklopft?‘

Der Besuch der alten Frau – Deutschland

‚Wieso bin ich mit ihm verfeindet?‘

Bainatscha, der Gott der Wälder und Wildtiere – Mandschurei

‚Ich bin Sabulana, ich bin Sabulana!-

Sabulana, die Freundin der Götter – Mosambik

Als der liebe Gott noch selber auf Erden wandelte

Der Arme und der Reiche – Deutschland

‚Wie erstaunlich ist der Geist dieses Jungen!‘

Die Göttin des Glücks – Nepal

‚Nun wähle dir dein Teil!‘

Vom Mann, der Gott versuchte – Sumatra

‚Die Frau hat recht getan!‘

Die Alte und das Feuer – Frankreich

Der verschwundene Schemel

Der Schneider im Himmel – Deutschland

‚Der Hollerbusch hat mir ein Zeichen gegeben!‘

Die Hollerfrau – Lothringen

‚Hier ist das Haus der Alten von Katcha!‘

Der Feuergott – Japan

Eine reisende Dame, fein gekleidet

Das Mädchen und ihre Taufpatin – Norwegen

Da lachten alle Himmelsgötter

Die Märchenschatzkiste – Ghana

Doch fehlt die Musik ...

Wie die Musik auf die Erde kam - Mexiko

‚Der Weinkrug war immer voll bis zum Rande‘

Philemon und Baukis - Griechenland

‚Glaubt nicht, dass Ihr unwert seid!‘

Die Götter gehen spazieren – China

III Himmlisches in Märchensprache

Froh zu sein bedarf es wenig

Das Glöckchen – Japan

‚Ich weiß, wo man das Wunder findet‘

Geh hin – ich weiß nicht wohin – bring das – ich weiß nicht was – Russland

‚Ich möchte mal unter die Leute‘

Der wundersame Granatapfelbaum – Nordwestafrika

‚Nun müssen wir warten‘

Die drei Ringe – Serbien

‚Freiheit ist nichts ohne Freundschaft‘

Das wissen die Götter! – China

‚Die Kirche ist schön, aber ...‘

Der Sprosser und die Nachtigall – Georgien

Er würde wohl besser ein Künstler

Der Junge, der Katzen malte – Japan

‚Nimm dieses Knäuel!‘

Die unglückliche Prinzessin – Griechenland

‚Was tust du hier?‘

Der Lohn der Angst - Orient

‚Ich habe es satt!‘

Der tapfere Esel – Kasachstan

‚Hier musst du allein eintreten!

Der Hirsch mit dem zwölfzackigen Geweih – Sibirien

Drei Tage komm mit mir!

Das süßeste Brot der Welt – Griechenland

Der Tod als der Bruder des Lebens

Eine Tasse Tee mit dem Tod – Nordamerika

‚Wie es so stand und nichts mehr hatte ...‘

Die Sterntaler – Deutschland

Nachwort: 10 Thesen

Anhang

VORWORT

Die Märchenskepsis, ja Märchenfeindschaft der christlichen Religion und Kultur ist alt: ‚Erzähl mir bloß keine Märchen!‘ Umgekehrt hat das Märchen schon vor 3000 Jahren begonnen, aus einer Götter- eine Familiengeschichte zu machen und das Mysterium vom Leben aus dem Tode mal ganz anders zu vermitteln: so im Zweibrüdermärchen des Alten Ägypten.

In den afrikanischen und asiatischen Kulturen scheinen Volksmärchen und religiöse Traditionen friedlich miteinander auszukommen. So ist es vielleicht reizvoll zu schauen, ob Religion und Volksmärchen sich nicht auch hierzulande ihrer Gemeinsamkeiten bewusst werden können – ohne dass man die Grenzen verwischen und alle Gegensätze aufheben müsste. Ansätze dazu gibt es.

Auch Märchen erzählen ‚himmlische‘ Geschichten, aber sie tun es anders als religiöse Erzählungen. Die Märchensprache ist keine religiöse Sprache, die Märchenwelt ist keine Glaubenswelt, Märchenhelden sind weder Götter noch Glaubenskämpfer. Und doch ist die Kunde der meisten Volkserzählungen erstaunlich nahe an dem, was auch religiöse Traditionen an Hilfe und Heil, Mahnung und Hoffnung, Weisung und Weisheit vermitteln. Die Märchen erzählen auf ihre Weise von Liebe und Glück, Heilung und Erlösung, Humor und Geschick, Schicksal und Lebensmut und schließen mit ihren Bildern alles ein, was wir Menschen brauchen und erhoffen. Märchen enden gerne mit dem Bild einer glücklichen Hochzeit und einer guten neuen Regierung, so dass auch das Land in Gerechtigkeit und Frieden sein kann. Schaut man z.B. ins Neue Testament, so endet man dort nicht viel anders mit der Friedenshochzeit des ‚Lammes‘ (Ofb 19/7) und einer neuen Welt und Herrschaft. Das Mysterium ist beide male dasselbe: eins zu werden und ein neues Leben zu beginnen, das auch andere einschließt. All diese Dinge kann man als äußere, aber auch als innere Prozesse verstehen.

Auf den ersten Blick wandert Gott nur selten durch die Märchen. Da ist sein Gegenspieler, der Teufel, sehr viel präsenter. Der verkörpert nicht nur das Böse, sondern ist auch Ratgeber, Drohfigur und am Ende meist der Geprellte. ‚Gott‘ erscheint in den Grimm‘schen Märchen so, wie er auch im Volk präsent ist:

„Ach Gott“ ruft Schneewittchen, klagt die Mutter der sieben Geißlein, seufzen die kluge Else, Daumendick und der arme Müllerbursche. Da heißen die böse Königin und die Hexe „gottlos“, werden Entscheidungen „in Gottes Namen“ getroffen, „durch Gottes Gnade“ Verwunschene erlöst, da soll Gott segnen, behüten, wird sich auf Gott verlassen und Gott gedankt. Auch Schutzengel kommen vor (Schneeweißchen und Rosenrot), das „Christkindlein“ (Die Bremer Stadtmusikanten), die Bibel (Die zwölf Brüder), Pfarrer (König Drosselbart, Die Goldene Gans) und der Himmel werden erwähnt. Und zweimal („Der Arme und der Reiche“, „Der Gevatter Tod“) tritt der „liebe Gott“ sogar persönlich auf (Carla Diehl).

Doch hängen die Märchen nicht am Gottesnamen. Sie bewegen sich nicht im Rahmen einer priesterlichen Dogmatik, sondern im Rahmen der Überlieferung eines Volkes. Sie folgen keinem religiösen Gebot, aber dem, was sich in der Seele eines Volkes über lange Zeit als wahr, förderlich, sozial, verlässlich und ratsam herauskristallisiert hat. Da gibt es viele Erfahrungen, die man meist ‚religiös‘ einordnet: wundersame Hilfe, vorausschauender Rat, magische Gegenstände und geduldige und Fehler verzeihende Begleitung. Die Person, die dem Märchenhelden diese himmlische Unterstützung gibt, variiert und kann aus allen Bereichen kommen: aus dem Tierreich, aus dem Totenreich, aus der Natur, aus dem menschlichen oder göttlichen Bereich. Sie ist nicht festgelegt. Dies unterscheidet das Märchen von der Religion: diese ist rituell und kultisch gebunden und schöpft daraus ihre Kraft, das Märchen ist frei und manifestiert Göttliches all überall. Dort thront und herrscht die Gottheit oben im Himmel, hier ist sie ausgebreitet in alle Bereiche, sogar der Teufel hat bisweilen göttliches Wissen und eine magische und liebenswerte Großmutter dazu (KHM 29). Dort ist Gott ein unfassbares, unsichtbares Wesen, hier erscheint er menschlich, fassbar und sichtbar: ein Wanderer, der an die Tür klopft und um ein Quartier und etwas Essen und Trinken bittet. Dass Gott Mensch geworden ist, ist eigentlich die christlich-weihnachtliche Botschaft und neutestamentliches Kerngut – in den Volksmärchen wird das manchmal sehr konkret ausgemalt.

Das Buch zeigt in Beispielen aus vielen Ländern, wie die himmlische Welt entweder direkt den Menschen zu Hilfe kommt (Kap. II) oder wie die Dinge auch namenlos und unerkannt zusammenspielen und Wundervolles hervorbringen (Kap. III). Sie bringt Märchen, die für unsere Zeit sprechend und hilfreich sein können, die uns Heutigen ein Rüstzeug geben, das wir vielleicht morgen brauchen, um gut miteinander leben und überleben zu können: Demut und Ehrfurcht, Güte und Weisheit, Geschicklichkeit und Mitmenschlichkeit.

II WIE GOTT DURCH DIE MÄRCHEN GEHT

Es gibt gute Gründe, Gott anzurufen und nach ihm Ausschau zu halten, auch in den Märchen. Ein Grund ist die Frage: warum ist das Leben an manchen Stellen so ungerecht? Man sucht einen Schuldigen, zumindest eine Instanz, wo man seine Fragen und Beschwerden loswerden kann. Das sibirische Märchen zeigt sehr anschaulich, wie nahe uns die Hilfe ist – und wie unerkannt sie auch bleiben darf. Ehrliche Wut gegen die göttliche Weltordnung wird nicht verurteilt, der aufgebrachte Mensch darf einen Weg mit ihr gehen und Erfahrungen machen.

DAS BUCH AUS REINEM SILBER

Es waren einmal zwei Brüder. Der eine war arm und hatte viele Kinder. Doch obwohl er fleißig arbeitete, konnte er sie nicht satt bekommen und war selbst auch immer hungrig.

Der andere Bruder war reich, hatte viele Diener und reiche Freunde, ja, selbst der Khan war manchmal bei ihm zu Gast.

Einmal kam der arme zum reichen Bruder, um etwas Fleisch für seine Kinder zu erbitten, aber nur dessen Frau war zu Hause. Sie nahm einen Stock und prügelte den Armen hinaus. Da dachte der: „Warum geht es mir so schlecht? Gott liebt mich nicht, er hat kein Erbarmen mit mir! Gott hilft nur den Reichen!“ Daheim nahm er eine Axt und haute aus einem Birkenstamm eine gewaltige Keule zu und wuchtete sie auf die Schulter. Er wanderte nach Osten, über Berge, durch Steppen und Wälder. Unterwegs hielt er immer wieder scharf Ausschau, ob er wohl Gott irgendwo fände.

Auf einem Bergsattel sah er einen alten Mann auf einem Schimmel heranreiten, der grüßte ihn und fragte: „Wohin des Weges mit dieser schweren Keule?“ – „Ich suche Gott! Ich bin zornig und will ihn totschlagen, weil er nur den Reichen hilft!“ - „Ich will dir beistehen! Steig hinter mir auf“, sprach der Alte. Sie ritten lange, aber Gott konnten sie nicht finden. Schließlich sagte der Alte, er müsse nun heimreiten und schenkte dem Armen ein Buch aus reinem Silber.

Der Arme kam heim, betrat seine Jurte und begann, aus dem Buch vorzulesen: „Fleisch, Sahne, Milch!“ Und was sah er? Genau diese Dinge standen auf dem Tisch! Es war genug für sie alle da. Dann las der Arme: „Brot, Butter, Honig!“ – und auch das erschien sogleich auf dem Tisch. Das Buch hatte viele Wörter und was immer der Arme vorlas, das erschien. Sie aßen sich satt, dann schlug der Arme das Buch zu und der Tisch war wieder leer.

Die Frau des Reichen erfuhr von dem Buch und ließ ihrem Mann keine Ruhe mehr: „Geh zu deinem Bruder und bringe das silberne Buch an dich! Wenn er es nicht hergibt, dann kauf es ihm ab. Wenn er es nicht verkaufen will, nimm es mit Gewalt! Wir könnten das Buch so gut brauchen für unsere vornehmen Gäste!“

Der reiche Bruder ritt also zu dem armen Bruder und bat: „Verkaufe mir doch das silberne Buch! Ich bitte dich als Bruder! Im Namen unserer Mutter bitte ich dich, verkaufe es mir!“ Schließlich gab der Arme nach und willigte ein: „Na ja, wenn’s sein muss, verkaufe ich es dir!“ – „Wieviel willst du dafür haben?“ – „Ich verlange dreihundert Rubel!“. Der Reiche war damit mehr als einverstanden, gab ihm die Hand darauf, zahlte sogleich das Geld, nahm das Buch aus reinem Silber und ritt davon.

Die Frau des Reichen lud nun alle vornehmen Beys und auch den Khan zu einem Gastmahl ein. Pausenlos musste der Hausherr aus dem silbernen Buch vorlesen, denn die Gäste wünschten sich immer neue Leckerbissen.

Dem Armen aber ging wieder das Geld aus. Diesmal schnitzte er sich zwei Keulen, wuchtete sie auf die Schultern und wanderte wieder los, um Gott zu suchen. Wieder begegnete er dem alten Mann, wieder ritten sie gemeinsam auf dem Schimmel, aber Gott fanden sie nicht. Zum Abschied schenkte der Alte ihm diesmal ein Buch aus purem Golde. Der Arme freute sich sehr. Heimgekehrt ließ er Frau und Kinder am Tisch Platz nehmen und schlug das goldene Buch auf. Es war leer, aber zwei Knüppel sprangen heraus und schlugen auf alle ein, nach rechts und links, nach oben und unten. Endlich gelang es dem Armen, das Buch wieder zuzuschlagen, da waren die Knüppel verschwunden.

Die Frau des Reichen hörte von dem goldenen Buch und verlangte vom Mann: „Bring das goldene Buch! Ich will das goldene Buch haben! Das goldene Buch muss her!“ Sie gab überhaupt keine Ruhe mehr, weder bei Tag noch bei Nacht. Der reiche Bruder ritt also zum armen Bruder. „Verkaufe mir doch auch das goldene Buch! Was wollt ihr denn damit?“ – „Wir werden es noch brauchen können! Die Kinder essen so gerne etwas Süßes!“ – „Wenn du es mir nicht verkaufst, sage ich es dem Khan. Der schickt dir dann seine Soldaten!“ – „Nun, so muss ich es dir wohl oder übel verkaufen. Aber diesmal will ich alle deine Pferde und alle deine Schafe dafür.“ Die Frau des Reichen hatte hinter der Wand zugehört. Sie erschrak, doch sie flüsterte ihrem Mann zu: „Schlag ein! Das goldene Buch wird uns reicher machen als der Khan es ist!“ Also wurde der Verkauf mit Handschlag besiegelt.

Am nächsten Tag versammelten sich die Beis, Fürsten und auch der Khan mit seiner Frau beim reichen Bruder. Alle saßen um den Tisch und erwarteten die Leckerbissen aus dem goldenen Buch. Der Hausherr öffnete das goldene Buch, die Knüppel sprangen heraus: „Bumm, bumm! Klapp, klapp!“ Sie schlugen den Gästen auf Rücken und Gesäß, auf Arme und Beine und überall hin, so dass sie laut schrien. Endlich gelang es dem Reichen, das Buch wieder zuzuschlagen. Die Gäste reisten ab und er ging mit den beiden Büchern zu seinem Bruder. „Bruder, wir haben einen Fehler gemacht, verzeih mir und meiner Frau! Nimm diese Bücher zurück, sie gehören dir und deiner Familie.“ Der Arme willigte ein und gab seinem Bruder die Tiere zurück: „wir brauchen sie nicht mehr, wir haben nun genug“. Und ein Wind strich über die Erde und der Staub tanzte in der Steppe (Märchen der Chakassen aus Sibirien).

Bey und Khan sind türkisch-mongolische Herrschertitel.

Seit der Antike gibt es dieses Motiv, dass „die Götter, Fremdlingen gleichend, die von weither sind, in mancherlei Gestalt die Länder und Städte“ durchwandern (Homer, Odyssee). Auch das Christentum lebt davon, dass man die Gottheit in dem jungen Mann Jesus von Nazareth am Werke sah (Joh 1/10.14).

Die germanischen Götter reihen sich hier ebenfalls ein. Auch sie hatten die Welten bereist, natürlich auch die Menschenwelt. Odin erschien als einäugiger Wanderer, die Göttermutter, wie dieses Thüringer Märchen zeigt, als Bettlerin, die die Menschen aufsucht und prüft. Sie hatte den Beinamen Hulda, die Huldvolle, der sich im Lauf der Zeit zu Holda und Holle verschliff.

Die Hörselberge galten schon in frühgeschichtlicher Zeit als Wohnsitz der Götter.

DER BESUCH DER ALTEN FRAU

Vor Zeiten, als die Felsenhänge des Hörselberges noch mit Urwald bedeckt waren und wilde Tiere in den Schluchten wohnten, da hauste eine arme Frau mit ihren beiden Töchtern in der Einöde. Im Sommer bewirtschaftete die Frau mit ihren Töchtern den kleinen Hausgarten, und im Winter, wenn die langen Nächte kamen, saßen sie beim Kienspanlicht um den Ofen und spannen Wolle. Obwohl sie so arm waren, wurde sie stark von Brot und Brei und Ziegenkäse.

Als nun die drei Frauen wieder einmal am Spinnrocken saßen, schlug der Nachtwind an alle Fenster und Luken und rüttelte an den Läden, so dass es einem ganz bange werden konnte. Die Mutter sagte: "Hat es da nicht eben geklopft?“ Die Jüngste erhob sich, zupfte ihre Schürze zurecht und riegelte die Tür auf. Da stand auf der Schwelle ein Mütterchen, zerzaust und gebückt und bat um ein Obdach. "Großmütterchen, friert dich? Komm, setz dich hintern Ofen und wärme dich!", rief die Mutter und schon holte sie eine Schale voll warmer Roggengrütze aus der Röhre. Die Alte wärmte ihre klammen Hände an der warmen Schale. Bald hatte sie den Brei ausgelöffelt und blinzelte nun schon ganz vergnüglich und neugierig um sich. "Fleißiges Mädchen, kurzes Fädchen", lächelte sie und deutete auf die Spindeln, "so manches Haar - so manches gute Jahr!" "Ach ja", nickte die Mutter, "ein guter Wunsch ist Goldes wert. Bertha, hol doch mal schnell ein Glas Apfelwein aus dem Verschlag, das wird der alten Muhme gut tun."

Nun hatte die Wanderin schon ganz helle Augen und als sie das Glas zum Munde hob, sprach sie: "Mir bekomm's, euch aber fromm's!". Mit großem Wohlbehagen schlürfte sie das süßsaure Getränk. "Vom Keltern versteht ihr was, ihr solltet mehr davon machen!" setzte sie hinzu.

Die Mutter aber meinte, sie wären eben arme Leute und hätten nur den einen einzigen Apfelbaum, und der Garten reiche kaum für die Küchenkräuter. Dann wiesen sie der Alten ein Bett in der Kammer zu.

Am Morgen hantierten die drei ganz sachte in der Hütte herum, um die Alte nicht zu stören. Als aber der Wind die Sturmwolken aufriss und die Sonne durch die winzigen Scheiben blickte, da klinkte die Mutter ganz vorsichtig die Tür zur Kammer auf, um nach ihrem Gast zu sehen. Sieh: das Bett war schon gemacht und die Kammer lag ganz sauber im Morgenglanz. Aber von dem Mütterchen fand sich keine Spur! Dafür zog ein Wohlgeruch von Rosen durch das ganze Haus. Da sagte die Mutter: "Mädchen, das kann nur die Frau Holle gewesen sein!"

Mit Spinnen und Singen ging der Winter dahin und der Frühling machte offenbar, wie richtig die Mutter mit ihrer Vermutung lag. Denn als die Töchter eines Morgens durch die betauten Scheiben in den Garten lugten, da standen die schönsten Apfelbäume im Schneekleid der Blüte. Die waren bislang an der Stelle noch nicht da. Also konnten sie nur von Frau Holle in einer Nacht gepflanzt worden sein, denn sie ist ja die Herrin des Gartens, die Freundin der Spinnerinnen und aller gastfroher Frauen. Das war ihr Dank für die gute Bewirtung!

Und zur großen Freude der Frauen hörten sie nun ein wunderbares Brausen und einen Summsang im Gezweig der immer noch schneeigen Baumkronen. Da spielten abertausend Bienen und Hummeln, die tauchten ihre Honigrüssel in alle Blütenkelche. Und die Bäume verspürten es prickelsüß bis herab zum feinsten Würzelchen im dunklen Erdreich. Und als Dank schwoll zum Herbst der Saft in die wangenroten Apfelfrüchte.

So konnten die drei Frauen den allerköstlichsten Apfelwein keltern, dessen süße Würze alles übertraf, was sonst im Lande Thüringen geboten wurde. Gar bald ging der Ruf von diesem Getränk durch das ganze Land und alle Welt wollte nur noch den Apfelwein aus Frau Holles Weingarten trinken. So wuchs von Jahr zu Jahr der Wohlstand der drei Frauen.

Der gute Ruf lockte auch weitere Siedler in jene Einöde. Später entstand dort, wo sonst nur Hasen und Füchse Verstecken gespielt hatten, das schmucke Dorf ‚Weingarten am Hörselberg‘. Allen Einwohnern ging es gut, es herrschte Wohlstand und Fülle - wenngleich auch niemand einen derartigen guten Apfelwein herstellen konnte wie die Mutter mit ihren zwei Töchtern.

Denn wo Frau Holle selber gepflanzt hat, da wächst nun mal die edelste Frucht! (Aus Thüringen).

Den ‚Herrn des Waldes‘ gibt es seit alter Zeit in vielen Traditionen. Er verkörpert den Geist des Waldes und der Tiere als Silvanus, Tapio, Widar oder Pashupati. In der Mandschurei erscheint er sowohl in der Gestalt eines Tieres wie der eines Menschen. Er hilft den Schwachen, den Unachtsamen aber gibt er eine Lehre.

BAINATSCHA, DER GOTT DER WÄLDER UND WILDTIERE

Früher lebten einmal einige Jäger, die immer gemeinsam auf die Jagd gingen. Sie waren alle sehr erfolgreich - nur der Jüngste von ihnen erbeutete nie etwas. Es war ihm noch nicht gelungen, e i n Tier zu erjagen und zu erlegen. Eines Abends beschlossen sie, da es schon spät war, im Wald zu übernachten. Alle waren froh und glücklich, nur der Jüngste saß mit trauriger Miene da. Plötzlich hörten sie ein knackendes Geräusch, sahen einige Flecken zwischen den Stämmen und schreckten zusammen: ein Tiger strich um ihr Lager herum. „Was für ein Pech! Unter uns muss es einen geben, der mit Utatschi, dem ehrwürdigen Tiger, verfeindet ist!“ Sie hielten Rat, was zu tun sei und beschlossen, jeder soll seine Mütze in den Wald hineinwerfen. Dann werde man sehen, wessen Mütze der Tiger aufgreift und nimmt. Dieser sei es dann, der mit dem Tiger verfeindet sei. So tat man es: jeder warf seine Mütze in eine Richtung. Aber alles blieb ruhig. Und so legten sie sich wieder schlafen.

Am nächsten Morgen gingen sie um das Lager und sammelten ihre Mützen wieder ein. Alle Mützen waren da, nur die des jüngsten war und blieb verschwunden. Dieser dachte bei sich: ‚ich habe aber auch nur Pech!‘ Er dachte darüber nach und konnte keinen Grund finden. So begann er zu weinen und zu schluchzen. Die anderen dachten, es wäre sein Schicksal und so kümmerten sie sich nicht weiter um ihn und gingen fort, ohne sich auch nur einmal umzusehen.

Als der Jüngste so ganz allein im Wald zurückblieb und es rundherum still wurde, da überkam ihn die Furcht. Mit aller Kraft kletterte er auf eine hohe Kiefer. Er beobachte von oben die Tiere und sah, wie sie kamen und wieder gingen. Als es Abend wurde, kletterte er wieder hinunter und wollte nach Hause gehen. Da sah er plötzlich den gefleckten Tiger. ‚Wieso bin ich mit ihm verfeindet? Ich hasse ihn doch gar nicht?‘ dachte er sich. Der Tiger kam Schritt für Schritt näher. Der junge Mann zitterte am ganzen Körper und seine Tränen flossen wie Bäche an ihm herunter. Aber seltsam: weder fletschte der Tiger seine Zähne noch erhob er seine Tatzen, um ihn zu fressen. Vielmehr streckte er ihm eine Tatze entgegen. Der Junge sah, dass diese einen Stachel hatte. Der kleine Jäger verstand den Wunsch des Tieres und zog ihm vorsichtig den Stachel heraus. Mit einem Stück weichem Fell verband er noch die Wunde. Der Tiger hob den Kopf als wenn er sagen wollte: ‚warte hier auf mich!‘ Dann ging er fort.

Nach einiger Zeit kam er tatsächlich wieder zurück – mit großer Beute im Maul. Der Jäger wagte es nicht, sich von der Stelle zu rühren. Daraufhin ließ ihn der Tiger auf seinem Rücken reiten und brachte ihn und das erlegte Wild nach Hause. Der Junge dachte im Nachhinein: ‚das muss Bainatscha gewesen sein, der Gott des Waldes und der Wildtiere, der so viel Mitleid hat mit den Kleinen und Unerfahrenen und denen, denen Unrecht widerfahren ist. Er war als Tiger zu mir gekommen, um mir zu helfen‘.

Bainatscha hatte auch anderen geholfen. Einem, der ebenfalls kein Jagdglück hatte, war er in Gestalt eines alten Jägers begegnet und half ihm, Beute zu machen. Am Abend trug er ihm auf: „Mein Sohn, nun gehe Reisig sammeln, damit wir ein Feuer machen können. Doch bring keines, das Funken sprüht, damit unser Feuer in Ruhe brennt.“ Der Mann ging und sammelte Holz, doch er hatte nicht groß geschaut und brachte auch reichlich harziges Holz. Als der Alte das Feuer entzündet hatte und die Funken zu sprühen begannen, und den Feuergeist auflodern sah, sprach er wütend: „Warum hörst du nicht auf mich? Du hast nicht getan, was ich dir aufgetragen habe!“ Mit diesen Worten war er verschwunden – und mit ihm die ganze Jagdbeute. So stand der Mann mit leeren Händen da und lernte, sorgsamer bei der Arbeit zu sein (Aus der Mandschurei).

Wie grundlegend wichtig Dankbarkeit und Ehrfurcht für uns Menschen sind, macht dieses afrikanische Märchen deutlich. Diese machen den Menschen nicht schwächer, sondern stärker! Lange vor der modernen Frauenbewegung kann hier ein Mädchen selbstbewusst auftreten, weil es bereit war, sich senden zu lassen und eine Aufgabe für die ganze Gemeinschaft zu übernehmen.

SABULANA, DIE FREUNDIN DER GÖTTER

Die Leute von Mahaquene pflegten den Sumpf und die Hügel zu beackern. Ihre Felder brachten viele Jahre lang im Überfluss Ertrag, aber nie opferten sie etwas zum Dank den Göttern. Da brach eine Hungersnot aus, weil nichts mehr heranwuchs.