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Diese Sammlung geheimnisvoller Geschichten erschien 1920 in der von Hanns Heinz Ewers – damals Skandalautor, Bürgerschreck und einer der erfolgreichsten deutschen Autoren – herausgegebenen achtbändigen „Galerie der Phantasten“. „Honoré de Balzac“ lautete die Autorenangabe. Tatsächlich bediente sich Ewers bei der Auswahl der zehn Erzählungen vor allem in der „Comédie humaine“ (dt. „Die menschliche Komödie“), dem Hauptwerk des großen französischen Realisten. Drei der Geschichten stammen jedoch aus anderen Federn, nämlich denen von Charles Rabou und Philarète Chasles. In seinem Vorwort zu dieser Ausgabe charakterisiert der Übersetzer Georg Goyert (der vor allem durch seine Erstübersetzung des „Ulysses“ Ansehen und Bekanntheit erlangte) den rastlosen Balzac: „Er spekuliert, jagt unmöglichen Ideen nach, heute gründet er einen Verlag, morgen will er Silbergruben ausbeuten …, und alles schlägt fehl, verschlingt das Geld, das er mühsam zusammengescharrt hat. Nichts hat er gewonnen, alles hat er verloren, nichts blieb ihm als seine Träume, in denen er schaffen konnte, was er wollte, die ihm alles gaben, was das Leben ihm versagte. Je intensiver seine Halluzinationen waren, desto glücklicher war er. Und seine Träume sind sein einziges Glück gewesen …“ Einblicke in dieses (mitunter recht düster erscheinende) Glück bieten dem Leser die Erzählungen Facino Cane (frz.: Facino Cane) El Verdugo (frz.: El Verdugo) Die rote Schenke (frz.: L'auberge rouge) Ein Drama am Meeresstrand (frz.: Un drame au bord de la mer) Eine Leidenschaft in der Wüste (frz.: Une passion dans le désert) Sarrasine (frz.: Sarrasine) Leb wohl (frz.: Adieu) Ergänzt wurde die Ausgabe durch drei Erzählungen aus den 1832 erschienenen „Contes bruns“ (eine Sammlung von zehn „Dunklen Geschichten“, in der auch Balzac mit zwei Texten vertreten ist), allerdings ohne dass deren tatsächliche Autoren genannt wurden: Der Kriminalrichter (frz.: Le Ministère public, Charles Rabou) Tobias Guarnerius (frz.: Tobias Guarnerius, Charles Rabou) Die Zaubernacht in den Highlands (frz.: L’Œil sans paupière, Philarète Chasles) Ob Ewers diesen kleinen Verstoß gegen die Herausgeberetikette wissentlich beging, lässt sich heute schwer beurteilen.
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Seitenzahl: 409
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Honoré de Balzac, Charles Rabou, Philarète Chasles:
»Mystische Geschichten«
Erstausgabe 1920 als Band 7 der von Hanns Heinz Ewers herausgegebenen »Galerie der Phantasten«
Aus dem Französischen übersetzt von Georg Goyert.
Mit einem Porträt des Übersetzers von Adolf Schulte.
Für diese E-Book-Ausgabe wurde der Text gemäß den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung gesetzt und behutsam modernisiert.
E-Book-Ausgabe Stuttgart 2017
Lektorat: red.sign GbR, Stuttgart
Satz: red.sign GbR, Stuttgart
Umschlaggestaltung: red.sign GbR, Stuttgart – Anette Vogt
Coverbild: shutterstock/villorejo: Town of Erice, Sicily, on a foggy day
Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen
© Alle Rechte an der Übertragung ins Deutsche bei dem Erben des Nachlasses von Georg Goyert
© für das Nachwort: Verein für Orts- und Heimatkunde in der Grafschaft Mark
© Deutsche E-Book-Ausgabe 2017 red.sign medien GbR, Stuttgart
ISBN 978-3-944561-57-8
www.redsign-media.de
An einem schönen Herbsttag des Jahres 1841 drängt sich ein Mann ungestüm durch die Reihen der ruhigen Spaziergänger in der Rue Poissonniere in Paris. Erstaunt und unwillig sehen sie dem Mann nach, der durch seine Gestalt und sein Äußeres auffällt. Er ist untersetzt, kräftig, der dicke, mächtige Kopf hat tiefschwarzes, wallendes Haar, das unter dem großen Hut hervorquillt. Sein Gesicht hat grobe Züge, die Nase ist knollig, der sinnliche Mund hat wulstige Lippen, das Kinn ist brutal und selbst für das mächtige Gesicht zu gewaltig. In der Hand trägt der Mann einen Stock. Hätte man den Karneolknopf sehen können, den seine Hand umschließt, man hätte auf ihm in türkischen Schriftzeichen die Devise eines Sultans lesen können: »Ich breche alle Hindernisse …« Vor einem Haus in der Straße bleibt der Mann stehen, eilt dann an dem Diener, der auf sein Klopfen die Tür öffnet, vorbei, stürmt die Treppe hinauf, reißt eine Tür auf, macht den Wirbel eines Tambours nach und schwingt seinen Stock mit dem Karneolknopf. Eine blasse Frau eilt auf den ungewohnten Lärm in dem sonst so stillen Haus herbei. Kaum ist der Mann ihrer ansichtig geworden, als er ihr um den Hals fällt, sie ungestüm an sich drückt und ruft: »Du darfst mich freudig begrüßen, ich bin auf dem besten Weg, ein Genie zu werden!« Der Mann ist Honoré de Balzac, die stille Frau seine Schwester, Madame Surville. Sie löst sich aus der stürmischen Umarmung, drängt den Bruder in eine Bergère. Und nun erzählt er von seinen Plänen, erzählt von der gewaltigen Comédie humaine, die er schaffen will, die ein Dokument werden soll, nicht nur der Gesellschaft seiner Zeit, sondern der Menschheit überhaupt. Er will nichts Geringeres, als den Menschen entdecken, seine dämonische Physiognomie, seine natürliche Perversität erkennen. Er hat die brennende Gier, den irren Hang über die Grenze des normalen Lebens hinaus, er will die Schleier von den letzten Geheimnissen reißen, er will den Untergründen der Psyche nachspüren, aus denen die Triebe in starrer Macht sich aufrichten, er will in das Land des Unbewussten und aus ihm Erkenntnisse schöpfen, die das Leben in seinen Wirren verständlicher und begreiflicher machen. Er will durch die reale Äußerlichkeit des irdischen Lebens die »vie intérieure« erfassen. Deshalb sollen seine Menschen in seiner Zeit leben, durch das Milieu beeinflußt über die Zeit hinauswachsen und Typen werden.
Er weiß, was das heißt. Es bedeutet einen Bruch mit aller bisher anerkannten Norm, mit allem bisher gutgeheißenen Gesetz. Es ist ein gefährlicher Weg, den er gehen will, aber er muss ihn gehen, denn eins hat er erkannt: Nur in der Kunst, wie er sie versteht, kann er sich all der Kräfte entäußern, die in ihm wirken und nach Gestaltung drängen. Er selbst hat sich erkannt als Komplex aller Triebe, aller Urkräfte, aller Leidenschaften, die sich ausleben wollen. Und sie sollen sich ausleben in seinen Gestalten, denen er glühend heißes Leben geben will, deren Leidenschaft in voller Intensität alle Nebenbegehrungen aufsaugen und in gewaltiger Kraft mit sich reißen soll, was sich ihr in den Weg stellt, die vernichtend schafft und in ihrer Größe schön wird. Wahre Menschen will er schaffen, will zeigen, daß das Tier im Menschen noch lange nicht tot ist, und da, wo es besiegt scheint, doch immer nur schlummert und auf den günstigen Augenblick wartet, emporzuschnellen in wilder Gier. So verstanden, müssen seine Menschen Monomanen werden, Fanatiker der intensivsten Leidenschaft, die wiederum in sich den gespanntesten, alles besiegenden Willen birgt – der allein ihm das Lebens-, das Weltgebot ist. Die so rasenden Leidenschaften will er ergründen, will sie zurückverfolgen bis zu ihren Urtiefen und so die Mysterien des Bluts enthüllen. Pandämonien sollen durch ihn entstehen, auf Infernowegen will er emporführen zu Erkenntnisgipfeln. So aber wird sein Werk eine Philosophie der Urkräfte der Psyche werden, eine Psychologie der Temperamente, der Leidenschaften.
So träumt und denkt er die Welt nach der Struktur seines Geistes, erkennt nicht, daß das Kunstwerk aus Chaos und Beherrschung besteht, weiß nicht, daß letzten Endes sein Werk an seinem Mangel an künstlerischer Konzentration scheitern wird.
Und wie der Mann erzählt, berauscht er sich an seinen eigenen Worten. Seine Stimme ist nicht melodisch, rau dringen die Töne aus der Kehle, rau klingt sein aufgeregtes, breites Lachen … Und wenn er das Werk geschaffen, wie er es erdacht, wird der Ruhm nicht ausbleiben, ein Leben voll Glanz und Herrlichkeit, voll Genuss und Freude wird ihm erstehen nach all den traurigen, trüben Jahren, die hinter ihm liegen. Voll tiefster Bitterkeit denkt er an diese schlimme Zeit. Was war das für ein Leben, wie unendlich hat er gelitten als Mensch und als Künstler! Not hat er gelitten, hat gehungert, gefroren und gedurstet, hat gearbeitet wie wohl selten ein Mensch. Um zu Geld zu kommen, hat er spekuliert und das Wenige, das er besaß, verloren. Durch die Not dazu gezwungen, hat er jahrelang sein Künstlertum verleugnen müssen, hat Schauerromane geschrieben, um nur ein paar Francs zu verdienen, hat Seite um Seite vollgeschrieben, nicht für sich, sondern für den gierigen Verleger, der mit den niederen Instinkten der Masse rechnet, die ihm eine Goldgrube werden sollen. Er hat ein Ragout zusammenbrauen müssen, dessen Düfte ihm noch heute den Atem nehmen. Es war eine furchtbare Zeit. Nun aber soll es anders werden, eine Welt will er schaffen, deren Symbol er in sich trägt, schaffen will er wie allein der echte Künstler schafft. Was kümmert ihn die Wirklichkeit, er hat nie danach gegriffen, hat in einer Welt gelebt, die nur ihm gehört. Und diese Welt soll die Menschheit kennenlernen … So spricht der Mann, und seine Augen haben einen geheimnisvollen Glanz.
Ruhig hat die blasse Frau zugehört. Sie allein hat immer an den Bruder geglaubt, als die ganze Familie sich von ihm lossagte – und jetzt mehr denn je.
Balzac springt plötzlich auf. Er muss fort, muss an die Arbeit, darf keine Zeit verlieren, muss schaffen, seine wilden Sehnsüchte stillen. Er eilt die Treppen hinunter, stürmt wieder durch die Rue Poissonnière und ist bald zu Hause. Rasch an die Arbeit! Der Stock mit der Devise des türkischen Sultans fliegt in die Ecke, der Rock wird auf das Bett geworfen, eine lange weiße Dominikanerkutte umhüllt bald seine Gestalt, noch .schnell die schwere goldene, venezianische Kette mit dem langen, weißen Falzbein um die Hüften geschlungen, die goldgestickten Pantoffeln an die Füße, und dann arbeiten, schaffen …
Und es dauert nicht lange, da ist alles um ihn her versunken, er lebt seiner Arbeit, lebt nur dem, das er vor sich sieht, dem er Gestalt geben muß, dem Kunstwerk, das sich unter Qual und Schmerzen loslöst aus seinem Innern. Er schafft voll intensiver Inbrunst, in Ekstase kommen seine Werke zustande, in Verzückung bewundert er selbst, was er schuf. Seine Gestalten leben, wachsen aus den dunklen Schatten des Zimmers, sprechen mit dem, der sie schuf, als er sie in tiefster Halluzination erschaute. Sie umstellen den Tisch, rechnen mit ihm die ungeheuren Vermögen nach, die sie alle haben – durch seine Gnade. Wandeln mit ihm hinaus aus dem engen Zimmer, füllen die Salons der Mode oder jammern mit ihm in verrufenen Vierteln über Not und Elend, führen aber alle ein Leben stärkster Kraft, sind im Bann einer wilden Leidenschaft. Und der Künstler, der sie schuf, lebt ihr Leben, lebt jeden Augenblick ein anderes Leben und doch wieder aller Leben zugleich. Alle seine Fähigkeiten sind auf einmal am Werk, auf einmal strömen sie zusammen, um den Wesen, die er handeln und sprechen lassen will, Leben zu geben … Mal lacht er, mal weint er, mal bricht er zusammen unter ungeheurer Last. Jetzt wieder belebt innige Freude seine Züge, er ist reich geworden, ist ein Herr der Welt – Freude und schlimme Qual bedeutet für den Künstler das Schaffen.
Es klopft an der Tür, jemand tritt ein. Balzac kann das Erscheinen des Fremden in seiner Welt nicht begreifen, mit Gewalt muss er sich losreißen von seinen Träumen, um zurückzukehren zur realsten Wirklichkeit.
Es ist ein Bote aus der Druckerei. Er bringt die Korrekturen der letzten Arbeiten. Ein flüchtiger Blick auf dieselben, und wütend schlägt Balzac mit der mächtigen Faust auf den Tisch, springt auf, rasch den Rock an und hinaus in die Druckerei … Man kennt den Mann von vorhin nicht wieder. Die Druckerei hallt von seinen groben, unflätigen Worten. Nie machen sie es Recht, sie alle versauen ihm seine Arbeit, so hat es im Manuskript nicht gestanden. Und als man ihm das Manuskript zeigt, muss er zugeben, dass man genau druckte, was er schrieb. Und verzweifelt greift sich Balzac an die Stirn. Gesehen in seinen Visionen hat er es anders, anders hat er es geträumt und gelebt. Dieses Ringen mit dem Stoff, den er nie bis zur letzten Vollendung bezwingt, diese grobe Kraft seines Temperaments und die wirre Anhäufung seines Wissens, die er nie bis zur Vollkommenheit meistert, das ist seine Verzweiflung.
Nun eilt er zum Verleger selbst, nun geht es ans Feilschen, ans Rechnen, ans Handeln. Soviel muss er haben, soviel will er haben. Wieder erkennen wir nicht mehr den Mann, der vor Kurzem noch Welten schuf und sich jetzt mit dem Verleger wegen einiger Louisdor herumschlägt. Wo sind seine Träume, wo sein Künstlertum? Alles versunken in dem einen großen Verlangen nach Geld und Reichtum. Schuf er als Künstler seinen Gestalten ungeheure Vermögen, lebte er in seinen Träumen den Rausch des Goldes bis zum Wahnsinn mit, auch in der Wirklichkeit wollte ihn dieser Rausch nicht verlassen, er wollte reich werden, wollte Macht haben, wollte einer der Großen der Welt werden und scheute keinen niedrigsten Weg, dies Ziel zu erreichen. Und dieser Zug seines Wesens, die Natur des Commis voyageur, ist das Unglück seines Lebens gewesen. Er spekuliert, jagt unmöglichen Ideen nach, heute gründet er einen Verlag, morgen will er Silbergruben ausbeuten …, und alles schlägt fehl, verschlingt das Geld, das er mühsam zusammengescharrt hat. Nichts hat er gewonnen, alles hat er verloren, nichts blieb ihm als seine Träume, in denen er schaffen konnte, was er wollte, die ihm alles gaben, was das Leben ihm versagte. Je intensiver seine Halluzinationen waren, desto glücklicher war er. Und seine Träume sind sein einziges Glück gewesen. Als in seine äußeren Verhältnisse Ruhe und Ordnung kommen sollte durch die Heirat mit der Gräfin Hanska, da musste er von der Erde.
Georg Goyert
Ich wohnte damals in einer kleinen Straße, die ihr sicher nicht kennt; es war die Rue de Lesdiguières; sie beginnt an der Rue Saint-Antoine, einem Brunnen in der Nähe der Place de la Bastille gegenüber, und mündet in die Rue de la Cerisaie. Die Liebe zur Wissenschaft hatte mich eine Dachkammer mieten lassen, in der ich die ganzen Nächte durcharbeitete. Die Tage verbrachte ich in der nahen Bibliothek des Monsieur. Ich lebte sehr einfach, ganz. wie ein Mönch. So sollten alle die leben, die wirklich arbeiten wollen. Kaum dass- ich mich bei schönem Wetter auf dem Boulevard Bourdon ein wenig erging. Eine einzige Leidenschaft nur hinderte mich oft an meinen ernsten Studien; aber war sie nicht auch ein Studium? Ich beobachtete die Sitten des Faubourg, seine Bewohner und ihren Charakter. In meiner Kleidung unterschied ich mich nicht von den Arbeitern, legte überhaupt auf mein Äußeres wenig Wert, und so hatten sie gar keinen Argwohn, keine Scheu mir gegenüber. Ich konnte mich unter sie mischen, zusehen, wie sie ihre Geschäftchen abschlossen und sich stritten, wenn sie ihre Arbeitsstätte verließen. Bei mir war die Beobachtung schon intuitiv geworden, sie drang in die Seele, ohne den Körper zu vernachlässigen; oder vielmehr erfasste sie die Einzelheiten des Äußeren so gut, dass sie sofort darüber hinausging; sie gab mir die Fähigkeit, das Leben dessen mitzuerleben, den sie betraf; sie gestattete mir, mich an dessen Stelle zu setzen, wie der Derwisch in Tausendundeiner Nacht Körper und Seele der Personen annahm, über die er gewisse Worte sprach.
Wenn ich zwischen 11 Uhr und Mitternacht einem Arbeiter und seiner Frau begegnete, die zusammen aus dem Ambigu-Comique heimkehrten, dann folgte ich ihnen gern vom Boulevard du Pontaux-Choux bis zum Boulevard Beaumarchais. Die braven Leute sprachen zuerst von dem Stücke, das sie gesehen hatten; es dauerte aber gar nicht lange, dann waren sie bei ihren Sorgen; die Mutter zog ihr Kind hinter sich her, ohne auf seine Klagen und Fragen zu hören; die beiden Gatten rechneten aus, wie viel Geld man ihnen am nächsten Tage auszahlen würde und gaben es auf zwanzigerlei Weise aus. Dann kamen Einzelheiten des Haushalts, Klagen über die hohen Kartoffelpreise oder die Länge des Winters und den Preis der Lohkuchen, energische Vorhaltungen wegen der Summe, die man dem Bäcker schuldete; dann kam es gar bald zu Auseinandersetzungen, die immer heftiger wurden, und bei denen jeder in malerischen Worten seinen Charakter offenbarte. Wenn ich die Leute so reden hörte, dann machte ich ihr Leben vollständig zu dem meinen, dann fühlte ich ordentlich ihre Lumpen auf meinem Rücken, ging einher in ihren zerrissenen Sch_uhen; ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse gingen ganz in meine Seele über oder meine Seele in ihre. Ich träumte in wachem Zustande. Ich erhitzte mich mit ihnen über die Werkmeister, die sie tyrannisierten, schimpfte mit ihnen über die schlechte Behandlung. Meine Gewohnheiten aufgeben, vermöge einer äußersten Anspannung der geistigen Fähigkeiten ein anderer werden, und dieses Spiel willkürlich zu spielen, das war meine Zerstreuung. Wem verdanke ich diese Gabe? Ist sie ein zweites Gesicht? Ist sie eine dieser Fähigkeiten, deren Missbrauch zum Wahnsinn führt? Nie habe ich nach den Ursachen dieser Fähigkeit geforscht; ich besitze sie, ich bediene mich ihrer; das ist alles! Ich will nur noch hinzufügen, dass ich schon damals die Elemente dieser heterogenen Masse, die man das Volk nennt, zerlegt und derart analysiert hatte, dass ich seinen Wert oder Unwert richtig abschätzen konnte. Ich wusste schon, von welchem Nutzen dieses Faubourg sein könnte, diese Stätte der Revolutionen, die Helden, Erfinder, Schurken, Verbrecher, Tugenden und Laster in sich birgt, alles vom Elend unterdrückt, erstickt von der Not, ertränkt im Wein, durch den Alkohol verdorben. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie viel unbekannte Abenteuer, wie viel vergessene Dramen sich in dieser Stadt des Schmerzes abspielen! Wie viel Schreckliches und wie viel Schönes! Was hier alles vor sich geht, niemand kann sich das ausdenken, niemand wird dies alles je entdecken! Man muss zu tief hinabsteigen, um diese tragischen und komischen Szenen zu finden, diese Meisterwerke, die der Zufall entstehen ließ. Ich weiß nicht, warum ich so lange gezögert habe, die Geschichte zu erzählen, die ich jetzt erzählen will. Sie gehört zu den seltsamen Geschichten, die wie Lotterienummern in dem Sack geblieben sind, aus denen sie das Gedächtnis je nach Laune hervorholt. Noch viele andere Geschichten habe ich so in meinem Gedächtnis vergraben. Sie sind ebenso seltsam wie die folgende, und später will ich sie alle erzählen, glaubt es mir.
Eines Tages bat mich meine Aufwärterin, die Frau eines Arbeiters, ich möchte die Hochzeit einer ihrer Schwestern mit meiner Gegenwart beehren. Um eine Vorstellung davon zu geben, um welche Art Hochzeit es sich handelte, will ich nur sagen, dass ich diesem armen Geschöpfe monatlich 40 Sous gab. Dafür kam sie jeden Morgen, machte mein Bett, reinigte meine Schuhe, bürstete meine Kleider, fegte mein Zimmer und bereitete mir das Frühstück. War sie bei mir fertig, dann ging sie in eine _Fabrik und drehte dort für den Rest des Tages die Kurbel einer Maschine. Mit dieser harten Arbeit verdiente sie weitere 10 Sous täglich. Ihr Mann war Tischler und verdiente 4 Franc. Aber da drei Kinder da waren, hatten sie kaum alle Tage Brot. Nie habe ich eine solche Ehrlichkeit gefunden, wie bei diesem Mann und dieser Frau.
Als ich aus dem Stadtviertel verzogen war, kam Mutter Vaillant noch fünf Jahre lang und gratulierte zum Namenstag. Dann brachte sie mir Blumen und Orangen mit, und dabei hatte das arme Weib noch nie 10 Sous ersparen können. Das Elend hatte uns einander nahegebracht. Ich habe ihr nie etwas anderes geben können als hin und wieder 10 Franc, die ich mir oft noch borgen musste-. Nun wird man wohl verstehen, weshalb ich mein Kommen zusagte; ich hoffte, innigen Anteil an der Freude der armen Leute zu nehmen, ja sie selbst mitzuerleben.
Das Festmahl und der Tanz fanden ‚ bei einem Weinwirt in der Rue de Charenton, im ersten Stockwerk, statt. Das Zimmer war groß; an den Lampen waren Reflektoren aus Blech, sodass die Helligkeit im Zimmer ziemlich groß war. Die Wände waren bis zur Tischhöhe mit einer schmutzigen Tapete beklebt. An den Wänden standen Holzbänke. In diesem Raume tanzten achtzig Personen. Sie alle trugen Sonntagskleider, waren mit Bändern und Sträußen geschmückt. Sie alle erfüllte der eine Wunsch: Vergnügen haben, und sollte die Welt darüber untergehen. Ihre Gesichter glühten. Die Neuvermählten umarmte,n sich zur allgemeinen Zufriedenheit, und es gab spaßhafte Ahs! und Ehs!, die in Wirklichkeit weniger unschicklich waren als die schüchternen Blicke der wohlerzogenen jungen Mädchen. Alle brachten eine brutale Zufriedenheit zum Ausdruck, der man selbst nicht widerstehen konnte, von der man – sich unwillkürlich ergriffen fühlte.
Aber weder die Gesichter dieser Gesellschaft noch die Hochzeit, noch irgend etwas in diesem Kreise hat inneren Zusammenhang mit meiner Geschichte. Man möge nur die Seltsamkeit des Rahmens behalten. Man stelle sich diese gemeine, rot gestrichene Kneipe vor, man rieche den Weindunst, man höre dies Freudengeheul, man bleibe in diesem Faubourg, mitten unter diesen Arbeitern, diesen alten Männern und diesen armen Frauen, die wild das Vergnügen einer Nacht genießen.
Die Musikkapelle bestand aus drei Blinden; der erste spielte Geige, der zweite Klarinette und der dritte Flageolett. Alle drei zusammen bekamen für die Nacht sieben Franc. Für diesen Preis spielten sie denn auch weder Rossini noch Beethoven, sie spielten, was sie wollten, was sie konnten; niemand machte ihnen Vorwürfe. Das gefiel mir an den Teilnehmern des Festes. Ihre Musik aber griff so brutal das Trommelfell an, dass ich, nachdem ich einen Blick auf die Versammlung geworfen hatte, sofort dieses Blindentrio betrachtete. Gleich war ich zur Nachsicht gestimmt, als ich ihre Kleidung sah. Sie trugen die Tracht der Blindenanstalt. Diese Künstler saßen in einer Fensternische; man musste nahe an sie herantreten, um ihre Gesichter unterscheiden zu können. Ich ging nicht sofort zu ihnen, aber als ich dann zu ihnen trat, war es entschieden. Wie das kam, weiß ich selbst nicht. Hochzeit und Musik verschwanden, meine Neugier war aufs höchste erregt, denn meine Seele ging in den Leib des Klarinettenspielers. Der Geigenspieler und der Flageolettbläser hatten gewöhnliche Gesichter, die richtigen Blindengesichter: voll aufmerksamer und ernster Spannung. Aber das Gesicht des Klarinettenspielers war eins von jenen, die den Künstler und Philosophen sofort fesseln.
Man stelle sich die Gipsmaske Dantes vor, in rotem Lampenlicht, und darüber einen Wald von silberweißem Haar. Der bittere und schmerzliche Ausdruck dieses herrlichen Kopfes wurde durch die Blindheit vergrößert, denn die blinden Augen bekamen Leben durch den Gedanken; wie helles Licht leuchtete es aus ihnen, man sah, dass auf dieser Stirn ein einziger Wunsch eingegraben war, auf dieser Stirn, die von Runzeln durchzogen war wie altes Mauerwerk von Rissen. Der Alte blies drauflos, achtete weder auf Takt noch auf Melodie, die Finger hoben und senkten sich, bewegten die alten Klappen ganz mechanisch, es war ihm ganz gleich, ob er vorbeihaute oder nicht; die Tänzer merkten dies übrigens ebenso wenig wie die beiden Genossen meines Italieners. Denn ich wollte, dass er Italiener war, und er war es. Etwas Großes und Despotisches lag über diesem alten Homer, der eine der Vergessenheit geweihte Odyssee in sich trug. Es war so echte Größe, dass sie selbst über sein Elend triumphierte, sein Despotismus war so wild, dass er die Armut beherrschte. In diesem edelgeschnittenen Gesicht fehlte keine jener heftigen Leidenschaften, die den Menschen zum Guten oder zum Bösen treiben, die aus ihm einen Helden oder einen Verbrecher machen. Die Gesichtsfarbe war blass, graue Augenbrauen beschatteten die tiefen Augenhöhlen, in denen man voller Furcht das Licht des Gedankens wiederaufflammen zu sehen erwartete, wie man sich fürchtet, wenn am Eingang einer Höhle bewaffnete Räuber mit Fackeln in den Händen erscheinen. In diesem Käfig aus Fleisch lebte ein Löwe, dessen Wut vergeblich gegen das eiserne Gitter gerast hatte. Das Feuer der Verzweiflung lag erloschen unter der Asche, die Lava war erkaltet; aber die Furchen, die Trümmer, ein wenig Rauch kündeten die Heftigkeit des Ausbruches und die Verheerungen des Feuers. Diese Gedanken, die durch den Anblick des Mannes in meinem Innern erweckt wurden, waren so warm in meiner Seele wie sie auf seinem Gesichte kalt waren.
Nach jedem Tanz hängten der Geigenspieler und der Flageolettbläser, die sich tüchtig mit ihrem Glase und ihrer Flasche beschäftigten, ihr Instrument an einen Knopf ihres rötlichen Rockes, streckten die Hand nach einem Tischchen in der – Fensternische aus – hier standen die für sie bestimmten Sachen – und boten dem Italiener ein volles Glas. Er selbst konnte es sich nicht nehmen, denn der Tisch stand hinter seinem Stuhl. Und jedesmal dank_te der Klarinettenspieler mit einem freundlichen Kopfnicken. Sie führten ihre Bewegungen mit unendlicher Genauigkeit aus. Dies kann man immer wieder bei Blinden beobachten. Man hat fast den Eindruck, als ob sie sähen. Ich näherte mich den Blinden, um zu hören, was sie miteinander sprachen; als ich aber in ihrer Nähe war, schienen sie mich einen Augenblick zu wittern, sie mussten merken, dass ich nicht gewöhnlicher Arbeiter war, und waren still.
»Aus welchem Land stammt Ihr, Klarinettenspieler?«
»Aus Venedig«, antwortete der Blinde mit leicht italienischem Akzent.
»Seid Ihr blind zur Welt gekommen, oder habt Ihr das Augenlicht …«
»Durch ein Unglück verloren«, antwortete er schnell, »durch den verfluchten schwarzen Star.«
»Venedig ist eine schöne Stadt, schon seit langem möchte ich sie besuchen.«
Die Züge des Alten belebten sich, es kam Leben in die Runzeln seines Gesichtes; eine heftige Erregung ergriff ihn.
»Wenn ich mit Euch ginge, würdet Ihr Eure Zeit nicht verlieren«, sagte er zu mir.
»Redet ihm nicht von Venedig«, sagte da der Geigenspieler, »sonst fängt unser Doge an, und dann hört er sobald nicht wieder auf, besonders wo er schon zwei Flaschen im Bauche hat.«
»Vorwärts, Alter, gespielt«, sagte der Flageolettbläser.
Alle drei fingen wieder an zu spielen; aber während der ganzen Zeit, die ihr Spiel dauerte, witterte mich der Venezianer, er schien das außerordentliche Interesse, das ich an ihm hatte, zu fühlen. Sein Gesicht hatte nicht mehr den kalten Ausdruck der Traurigkeit; ich weiß nicht, welche Hoffnung seine Züge erhellte, die wie eine blaue Flamme durch seine Runzeln kroch; er lächelte, fuhr sich mit dem Taschentuch über die verwegene und schreckliche Stirn. Kurz, er wurde vergnügt wie jemand, der von dem redet, das ihm am meisten am Herzen liegt.
»Wie alt seid Ihr?« fragte ich ihn.
»Zweiundachtzig Jahre.«
»Seit wann seid Ihr blind?«
»Seit fast fünfzig Jahren«, antwortete er in einem Ton, dem man anmerkte, dass er nicht nur das verlorene Augenlicht betrauerte, sondern irgendeine große Macht, die er verloren.
»Warum nennen die anderen Euch den Dogen?« fragte ich ihn.
»Ach, Possen; ich bin Patrizier aus Venedig und hätte Doge werden können wie jeder andere.«
»Wie heißt Ihr denn?«
»Hier nennt man mich Père Canet. Nie hat mein Name anders in die Register eingetragen werden können; aber auf Italieni.sch lautet er Marco Facino Cane, Fürst von Varese.«
»Wie? Ihr seid ein Nachkomme des berühmten Condottiere Facino Cane, dessen Eroberungen auf den Herzog von Mailand übergegangen sind?«
»È vero«, sagte er; »zu jener Zeit floh der Sohn des Cane, um von den Viscontis nicht getötet zu werden, nach Venedig und ließ sich ins Goldene Buch einschreiben. Aber jetzt gibt es ebenso wenig einen Cane wie ein Goldenes Buch.« Dabei machte er eine Bewegung, in der sich sein erloschener Patriotismus und sein Ekel an den menschlichen Dingen zeigte.
»Aber wenn Ihr Senator von Venedig wart, dann müsst Ihr doch reich gewesen sein. Wie habt Ihr denn Euer ganzes Vermögen verloren?«
Bei dieser Frage hob er seinen Kopf zu mir, als wolle er mich betrachten. Diese Bewegung war wahrhaft tragisch. Dann sagte er: »Durch Unglück.«
Er dachte nicht mehr ans Trinken, wies mit einer Gebärde das Glas Wein zurück, das ihm in diesem Augenblick der alte Flageolettbläser reichte und senkte den Kopf. Alle diese Einzelheiten erregten meine Neugierde immer mehr. Während des Kontretanzes, den die drei dann spielten, betrachtete ich den alten venezianischen Granden mit Gefühlen, wie sie einem zwanzigjährigen Menschen in der Seele brennen. Ich sah Venedig und die blaue Adria, ich sah seinen Verfall in diesem verfallenen Gesicht. Ich ging in dieser Stadt, die denen, die drin wohnen, so lieb und teuer ist, spazieren, ich ging vom Rialto zum Canale Grande, ging hinunter zum Li.do und kam zur Kathedrale zurück, die in ihrer Originalität so erhaben ist. Ich betrachtete die Fenster der Casa d‘Oro, von denen jedes andere Ornamente aufweist; ich betrachtete die alten Marmorpaläste, kurz, all die Wunder, die dem Kenner um so mehr gefallen, als er sie sich vorstellen kann, wie er es will, da er seine Träume durch das Bild der Wirklichkeit nichts an Poesie verlieren lässt. Ich sah das Leben dieses Nachkommen des größten der Kondottieri vor mir, durchlebte es gleichsam, suchte nach den Spuren seines Unglücks und den Ursachen dieser tiefen physischen und moralischen Gesunkenheit, die die in diesem Augenblick wieder aufleuchtende Größe und den wieder erwachenden Adel nur noch schöner erscheinen ließ. Unsere Gedanken waren ohne Zweifel dieselben, denn ich bin der Überzeugung, dass Blindheit den Gedankenaustausch beschleunigt, da sie die Aufmerksamkeit hindert, sich durch äußere Gegenstände zerstreuen zu lassen. Der Beweis ließ nicht lange auf sich warten, Facino Cane hörte auf zu spielen, stand auf und kam auf mich zu. Er sagte nur: »Wir wollen hinausgehen.« Diese wenigen Worte trafen mich wie ein elektrischer Schlag. Ich reichte ihm den Arm, und wir gingen fort.
Als wir auf der Straße waren, sagte er zu mir: »Wollt Ihr mich nach Venedig führen? Wollt Ihr mir vertrauen? Ihr werdet reicher werden, als es die zehn reichsten Häuser von Amsterdam und London sind, reicher als Rothschild, reich wie in den Märchen von Tausendundeiner Nacht.«
Ich glaubte, der Mann wäre verrückt; aber in seiner Stimme war etwas, dem ich nicht widerstehen konnte. Ich ließ mich führen, und er führte mich zu den Gräben der Bastille, mit einer Sicherheit, als hätte er sehen können. An einer einsamen Stelle setzte er sich auf einen Stein. Hier wurde später die Brücke gebaut, die den Saint-Martin-Kanal mit der Seine verbindet. Ich setzte mich auf einen anderen Stein, dem Greise gegenüber. Silbern glänzte sein Haar im Mondlicht. Das Schweigen, das kaum durch den dumpfen Lärm der Boulevards, der bis zu uns drang, gestört wurde, die Reinheit der Nacht, alles trug dazu bei, diese Szene wahrhaft phantastisch zu gestalten.
»Ihr sprecht zu einem jungen Mann von Millionen, und Ihr glaubt doch wohl nicht, dass er auch nur einen Augenblick zögern würde, tausend Leiden zu erdulden, sie zu bekommen. Macht Ihr Euch auch nicht über mich lustig?«
»Ich will ohne Beichte sterben«, entgegnete er heftig, »Wenn das, was ich Euch sagen werde, nicht wahr ist. Ich war zwanzig Jahre alt, wie Ihr jetzt seid, war reich, schön, adelig; da beging ich die erste Torheit, ich liebte. Geliebt habe ich, wie man heute nicht mehr liebt; ich ließ mich in eine Kiste stecken und lief Gefahr, darin erdolcht zu werden, und doch hatte ich nichts weiter von der Geliebten erhalten als nur das Versprechen eines Kusses. Für sie zu sterben, schien mir ein ganzes Leben zu sein. Im Jahre 1760 verliebte ich mich in eine Vendramini; sie war achtzehn Jahre alt, mit einem Sagredo verheiratet. Der war einer der reichsten Senatoren, war dreißig Jahre alt und bis zum Wahnsinn in seine Frau verliebt. Meine Geliebte und ich waren unschuldig wie zwei Cherubine, als der Sposo uns überraschte, wie wir miteinander von Liebe sprachen. Ich war ohne Waffen, er verfehlte mich, ich sprang auf ihn, mit beiden Händen würgte ich ihn, drehte ihm den Hals ab wie einem Huhn. Ich wollte mit Bianca fliehen, sie wollte mir nicht folgen; so sind die Frauen! Ich floh allein; ich wurde verurteilt, meine Güter wurden eingezogen zugunsten meiner Erben; aber ich hatte meine Diamanten, fünf zusammengerollte Bilder Tizians und mein ganzes Gold bei mir; ich ging nach Mailand, hier hatte ich Ruhe; meine Angelegenheit interessierte den Staat nicht.«
Er hielt einen Augenblick inne.
»Eine kleine Bemerkung, bevor ich fortfahre«, sagte er dann. »Mögen die Vorstellungen einer Frau während der Schwangerschaft oder im Augenblick der Empfängnis von irgendeinem Einfluss auf das Kind sein oder nicht, soviel ist sicher, dass meine Mutter in der Zeit, in der sie mich unter dem Herzen trug, eine Leidenschaft für Gold hatte. Ich habe eine unersättliche Sucht nach Gold, und die Befriedigung dieser Sucht ist meinem Leben so notwendig, dass ich mein Lebtag noch nicht ohne Gold gewesen bin; ich muss das Gold fühlen, mit den Händen fühlen; als ich noch jung war, trug ich immer goldenen Schmuck, hatte immer zweihundert bis dreihundert Dukaten bei mir.«
Als er dies sagte, zog er Dukaten aus der Tasche und zeigte sie mir.
»Ich rieche das Gold. Ich kann nicht mehr sehen, und doch bleibe ich vor den Läden der Juwelenhändler stehen. Diese Leidenschaft hat mich zugrunde gerichtet, ich bin Spieler geworden, nur um mit dem Golde zu spielen. Ich war kein Gauner, aber ich wurde elend begaunert, ich richtete mich zugrunde. Als ich alles Geld verloren hatte, ergriff mich eine rasende Sehnsucht nach Bianca. Heimlich kam ich nach Venedig zurück, ich fand sie wieder, sechs Monate lang war ich glücklich. In ihrem Palast hielt sie mich versteckt, gab mir alles, was ich zum Leben brauchte. Ich dachte, so mein Leben beschließen zu können. Der Proveditore warb um ihre Liebe; er ahnte wohl, dass er einen Rivalen hatte; in Italien riecht man das; er beobachtete uns scharf, überraschte uns im Bett, der Halunke! Ihr könnt Euch denken, wie wir miteinander kämpften; ich tötete ihn nicht, verletzte ihn aber schwer. Dieses Abenteuer zerstörte mein Glück. Seit diesem Tage habe ich Bianca nicht wiedergesehen. Herrlich und in Freuden habe ich gelebt, am Hofe Ludwigs XV. war ich mit den berühmtesten Frauen zusammen, aber bei keiner von ihnen habe ich die Vorzüge, die Anmut und die Liebe meiner teuren Venezianerin gefunden. Der Proveditore hatte seine Leute, er rief sie, sie umstellten den Palast, drangen hinein; ich verteidigte mich, um unter den Augen Biancas zu sterben, die mir half, den Proveditore zu töten. Früher hatte diese Frau nicht mit mir fliehen wollen; aber jetzt, nachdem wir sechs Monate lang unendlich glücklich waren, wollte sie desselben Todes sterben wie ich. Sie wurde verwundet. Da warf man mir einen weiten Mantel über den Kopf, man ergriff mich, schleppte mich in eine Gondel und brachte mich in einen unterirdischen Kerker. Ich war zweiundzwanzig Jahre alt und hielt den Stumpf meines Schwertes zu fest, dass man mir die Faust hätte abschlagen müssen, um ihn zu bekommen. Durch einen seltenen Zufall, oder vielmehr durch einen Gedanken der Vorsicht dazu getrieben, verbarg ich dieses Stück Eisen in einer Ecke, als wenn es mir noch irgendwie dienlich sein könnte. Man pflegte mich, keine meiner Wunden war tödlich. Mit zweiundzwanzig Jahren übersteht man alles. Ich sollte geköpft werden. Ich stellte mich krank, um Zeit zu gewinnen. Ich vermutete, dass mein Kerker nahe am Kanal lag. Mein Plan war, zu entweichen, indem ich die Mauer durchbrach, den Kanal durchschwamm, selbst auf die Gefahr hin, zu ertrinken. Auf folgende Überlegungen stützte ich meine Hoffnung: Wenn der Kerkermeister mir zu essen brachte, las ich an den Wänden Inschriften wie: Palastseite, Kanalseite, Kellerseite, und ich erkannte schließlich einen Plan, dessen Bedeutung mich wenig kümmerte, der aber durch den gegenwärtigen Zustand des Dogenpalastes, der nicht vollendet wurde, erklärlich ist. Mit dem Scharfsinn, den der Wunsch nach Freiheit dem Menschen gibt, entzifferte ich auf einem Steine eine arabische Inschrift, indem ich diesen mit der Fingerspitze betastete. Der Verfasser dieser Inschrift hatte so seine Nachfolger benachrichtigen wollen, dass er zwei Steine der untersten Mauerschicht gelöst und elf Fuß tief darunter gegraben hätte. Um sein Werk fortzuführen, hatte er auf dem Boden des Gefängnisses die Steinstücke und den Mörtel verteilen müssen, die er aus dem gegrabenen Loch geholt hatte. Selbst wenn die Wächter oder die Inquisitoren nicht durch die Konstruktion des Gebäudes in Sicherheit gewiegt worden wären, erlaubte es die Lage der Kerker, in die man über einige Stufen herabstieg, allmählich den Boden höher zu machen, ohne dass die Wächter es bemerkten. Diese ungeheure Arbeit war überflüssig gewesen, wenigstens für den, der sie begonnen hatte; denn da sie unvollendet geblieben war, konnte man wohl annehmen: dass er nicht mehr unter den Lebenden weilte. Damit nun seine geduldige und mühsame Arbeit nicht für immer verloren war, musste ein Gefangener Arabisch können. Ich hatte im Kloster der Armenier die orientalische Sprache studiert. Ein Satz, der hinten auf den Stein geschrieben war, meldete das Schicksal des Unglücklichen. Er war als Opfer seines ungeheuren Reichtums gestorben, nach dem Venedig Gelüste trug und dessen es sich auch bemächtigt hatte. Ich brauchte einen Monat, um zu einem Ergebnis zu kommen. Während der Arbeit und in den Augenblicken, in denen ich vor Ermüdung nicht mehr weiter konnte, hörte ich den Klang von Gold, sah Gold vor mir, war vom Feuer der Diamanten geblendet. Eines Nachts stieß mein stumpfer Stahl auf Holz. Ich schärfte ihn und machte ein Loch in das Holz. Um arbeiten zu können, wälzte ich mich wie eine Schlange auf dem Bauch, ich zog meine Kleider aus, sodass ich ganz nackt war, fing an zu wühlen wie ein Maulwurf, indem ich meine Hände nach vorn streckte und mir aus dem Stein eine Stütze machte. Zwei Tage vor dem Tag, an dem ich vor meinen Richtern erscheinen sollte, wollte ich in der Nacht einen letzten Versuch machen; ich bohrte mein Eisen ins Holz und fand bald keinen Widerstand. Denkt Euch meine Überraschung, als ich durch das Loch sah! Ich war in der Wandbekleidung eines Kellers. Der war schwach erleuchtet, und ich sah einen Haufen Gold. Der Doge und einer von den Zehn waren in diesem Gewölbe, deutlich hörte ich ihre Stimmen; aus ihren Worten erfuhr ich bald, dass hier der Geheimschatz der Republik, die Schenkungen der Dogen und die Reserven der Beute waren, die man den »venezianischen Pfennig« nannte; vom Ertrag eines jeden Kriegzuges wurde etwas genommen und dem Schatz hinzugefügt. Ich war gerettet. Als der Kerkermeister kam, schlug ich ihm vor, mir bei der Flucht zu helfen, mit mir zu fliehen. Wir wollten mitnehmen, soviel wir nur konnten. Und der zögerte nicht, er nahm an. Ein Schiff fuhr gerade nach Levante ab; alle Vorsichtsmaßregeln wurden getroffen. Bianca half bei allem, was ich meinem Helfershelfer auftrug. Um keinen Verdacht zu erregen, wollte Bianca erst in Smyrna zu uns stoßen. In einer Nacht wurde das Loch vergrößert, und wir stiegen zu dem Geheimschatz Venedigs. Welche Nacht! Ich sah eine Tonne bis zum Rande mit Gold gefüllt. In einem anderen Gemach lag in zwei großen Haufen das Silber. In der Mitte hatte man einen Weg gelassen, damit man das Zimmer durchschreiten konnte, in dem die Silbermünzen an den Wänden aufgehäuft waren, dass sie eine fünf Fuß hohe Böschung bildeten. Ich glaubte, der Kerkermeister würrde verrückt: er sang, sprang, lachte, wühlte im Gold; ich drohte, ihn zu erdrosseln, wenn er die Zeit verlöre oder Lärm machte. In seiner Freude hatte er gar nicht einen Tisch bemerkt, auf dem die Diamanten lagen. Ich warf mich geschickt genug darauf und füllte mit ihnen meine Matrosenjacke und die Taschen meiner Hose. Lieber Gott, nicht ein Drittel habe ich genommen! Unter diesem Tisch lagen die Goldbarren. Ich überredete meinen Genossen, so viel Säcke, wie wir tragen könnten, mit Gold zu füllen. Ich machte ihm klar, dass dies der einzige Weg wäre, im Ausland nicht entdeckt zu werden. Die Perlen, Diamanten und andere Kleinodien würden bald zu unserer Entdeckung führen, sagte ich ihm. Wie habgierig wir auch waren, wir konnten nur zweitausend Pfund in Gold mitnehmen, und hierzu mussten wir sechsmal vom Gefängnis zu unserer Gondel gehen. Die Schildwache am Wassertor hatten wir für uns gewonnen, indem wir ihr einen Sack mit zehn Pfund in Gold gaben. Was die beiden Gondolieri anbetrifft, so glaubten sie, sie dienten der Republik. Als es Tag wurde, brachen wir auf. Als wir auf hoher See waren und ich mich an diese Nacht erinnerte, als ich mir alle Aufregungen, die ich durchkostet, wieder ins Gedächtnis zurückrief, als ich vor meinem geistigen Auge diesen ungeheuren Schatz wiedersah, in dem ich nach meiner Schätzung dreißig Millionen in Gold, zwanzig Millionen in Silber, mehrere Millionen in Diamanten, Perlen und Rubinen zurückließ, da packte mich eine Art Wahnsinn. Ich hatte das Goldfieber. In Smyrna gingen wir an Land und schifften uns sofort nach Frankreich ein. Als wir das französische Schiff bestiegen, Gefährten zu befreien. In diesem Augenblicke dachte ich nicht an die ganze Tragweite der verbrecherischen Tat, die uns der Zufall hatte begehen lassen. Wir waren so vollständig erschöpft, dass wir stumm nebeneinander hergingen und darauf warteten, in Sicherheit zu sein, um unseren Raub in aller Ruhe genießen zu können. Es ist kein Wunder, dass der Mann den Verstand verlor. Ihr werdet noch sehen, wie Gott mich strafte. Ich glaubte mich in Sicherheit, nachdem ich zwei Drittel meiner Diamanten in London und Amsterdam verkauft und meinen Goldstaub in Handelspapieren angelegt hatte. Fünf Jahre lebte ich dann verborgen in Madrid. Im Jahre 1770 kam ich nach Paris. Ich hatte mir einen spanischen Namen zugelegt. In Paris führte ich ein glänzendes Leben. Bianca war gestorben. Mitten in meinem glänzenden Dasein – ich genoss die Zinsen eines Vermögens von sechs Millionen – wurde ich mit Blindheit geschlagen. Ich zweifle nicht, dass dieses Gebrechen die Folge meines Aufenthaltes im Kerker war, meiner Arbeiten in dem Gemäuer, es sei denn, dass meine Fähigkeit, Gold zu sehen, einen Missbrauch der Sehkraft mit sich brachte und ich so dazu ausersehen war, das Augenlicht zu verlieren.
Damals liebte ich eine Frau, die ich zu meinem Weibe machen wollte; ich hatte ihr das Geheimnis meines Namens anvertraut. Sie stammte aus vornehmer Familie; ich erhoffte alles von der Gunst Ludwigs XV. Ich hatte unbegrenztes Vertrauen zu dieser Frau, die eine Freundin der Frau du Barry war. Sie riet mir, einen berühmten Augenarzt in London zu Rate zu ziehen; aber nach einem Aufenthalt von einigen Monaten in dieser Stadt wurde ich von der Frau im Hyde-Park verlassen; sie hatte mich meines ganzen Vermögens beraubt, sodass ich nun ohne Mittel war. Meinen Namen durfte ich niemandem nennen, denn dies hätte mich der Rache Venedigs ausgesetzt, niemanden konnte ich um Hilfe bitten, ich fürchtete Venedig. Mein Gebrechen wurde von den Spionen, die diese Frau hinter mir herhetzte, ausgebeutet. Ich will Euch nicht alles erzählen, was ich durchgemacht, es sind Abenteuer, die eines Gil Blas wohl wert sind.
Dann kam Eure Revolution. Man zwang mich, ins Blindenhaus zu gehen; hier ließ mich jene Frau unterbringen, nachdem sie mich zwei Jahre in Bicêtre als Wahnsinnigen festgehalten hatte. Ich habe sie nie töten können; ich konnte ja nicht mehr sehen, auch hatte ich kein Geld, um einen Mörder zu dingen. Hätte ich nur, ehe ich Benedetto Carpi, meinen Kerkermeister, verlor, ihn über die Lage meines Kerkers befragt, so hätte ich das Versteck des Schatzes angeben und nach Venedig zurückkehren können, als die Republik von Napoleon zerstört wurde. Aber trotz meiner Blindheit wollen wir nach Venedig gehen. Ich werde die Tür des Gefängnisses wiederfinden, werde durch die Mauer hindurch das Gold sehen, ich werde es unter dem Wasser, wo es vergraben liegt, riechen, denn die Ereignisse, die die Macht Venedigs gestürzt haben, sind derart, dass das Geheimnis dieses Schatzes mit Vendramino, dem Bruder Biancas, einem Dogen, der, wie ich hoffte, mich mit den Zehn ausgesöhnt haben würde, hat sterben müssen. Ich habe Eingaben an den ersten Konsul gemacht, ich habe dem Kaiser von Österreich einen Vertrag angeboten; alle haben mich abgewiesen, haben gesagt, ich sei verrückt. Kommt, wir wollen nach Venedig. Wenn wir jetzt als Bettler fortgehen, werden wir als Millionäre wiederkommen. Wir wollen meine Güter zurückkaufen, Ihr sollt mich beerben, sollt Fürst von Varese werden.«
Von allem, was ich gehört, war ich wie- betäubt. In meiner Phantasie nahm diese Erzählung die Größe einer Dichtung an. Und wie ich so den grauen Kopf vor mir und zu meinen Füßen das dunkle Wasser der Gräben der Bastille sah, da dachte ich an die schlafenden Wasser in den Kanälen Venedigs und konnte kein Wort antworten. Facino Cane glaubte, dass ich ihn beurteilte wie alle anderen, mit herablassendem Mitleid; er machte eine Gebärde, die die ganze Philosophie der Verzweiflung ausdrückte. Diese Erzählung hatte ihn vielleicht in seine glücklichen Tage, nach Venedig versetzt. Er ergriff seine Klarinette und spielte traurig ein venezianisches Lied, eine Barkarole, sein erstes Talent, das Talent des verliebten Patriziers, wiederfand. Es klang wie das »Super flumina Babylonis«. Tränen traten mir in die Augen. Wenn einige späte Passanten über den Boulevard Bourdon kamen, sind sie gewiss stehengeblieben, um diesem letzten Gebete des Verbannten, der letzten Klage um einen verlorenen Namen, mit der sich das Andenken an Bianca verband, zu lauschen. Aber das Gold hatte bald wieder die. Oberhand, und diese verhängnisvolle Leidenschaft löschte den Schimmer der Jugend.
»Immer und immer sehe ich diesen Schatz vor mir – wenn ich schlafe, wenn ich wache. Ich sehe die Diamanten funkeln, ich bin nicht so blind, wie Ihr glaubt. Gold und Diamanten leuchten in meiner Nacht, in der Nacht des letzten Facino Cane, denn mein Titel geht auf die Memmi über. Mein Gott! Die Strafe des Mörders hat früh begonnen! Ave Maria …«
Er sprach einige Gebete, die ich nicht verstand.
»Wir wollen nach Venedig gehen«, rief ich, als er sich erhob.
»Ich habe also endlich jemanden gefunden!« rief er, und Röte schoss in sein gelbes Gesicht.
Ich führte ihn zurück, indem ich ihm den Arm reichte; am Tor der Blindenanstalt drückte er mir die Hand. In diesem Augenblicke kamen einige Leute von der Hochzeit vorbei und sangen aus vollem Halse.
»Wollen wir morgen aufbrechen?« fragte der Greis.
»Sobald wir Geld haben.«
»Aber wir können zu Fuß gehen. Ich werde betteln – ich bin stark. Und sieht man Gold vor sich, kennt man kein Alter.«
Facino Cane starb noch im selben Winter. Zwei Monate war er krank gewesen. Der Arme hatte sich erkältet.
Vom Turm der kleinen Stadt Menda verhallten die zwölf Schläge der Mitternacht. In diesem Augenblicke trat ein junger französischer Offizier an die Brustwehr einer langen Terrasse, die die Gärten des Schlosses von Menda umgab. Er schien in tieferes Nachdenken versunken, als es bei der Sorglosigkeit des Kriegerlebens gewöhnlich zu sein pflegt; aber man muss auch gestehen, dass nie Stunde, Ort und Nacht zum Nachdenken geeigneter waren.
Spaniens schöner Himmel wölkte einen azurnen Dom über dem Haupt des jungen Soldaten. Das Funkeln der Sterne und das sanfte Licht des Mondes erhellten ein entzückendes Tal, das sich kokett zu seinen Füßen entrollte. An einen blühenden Orangenbaum gelehnt, konnte der Bataillonschef hundert Fuß unter sich die Stadt Menda sehen, die an den Fuß des Schlossberges geklebt schien, um so gegen die Nordwinde geschützt zu sein. Wandte er den Kopf, dann erblickte er das Meer, dessen funkelnde Wogen die Landschaft mit einem breiten silbernen Rahmen zu umgeben schienen. Das Schloss war hell erleuchtet. Der heitere Lärm eines Balles, die Töne des Orchesters, das Lachen einiger Offiziere und ihrer Tänzerinnen drang bis zu ihm, vermischt mit dem fernen Murmeln der Wogen. Die Frische der Nacht verlieh seinem durch des Tages Hitze ermatteten Körper eine gewisse Kraft. Die Gärten waren mit so duftenden Bäumen und so süßen Blumen bepflanzt, dass der junge Mann gleichsam in ein Bad von Düften getaucht war.
Das Schloss von Menda gehörte einem spanischen Granden, der es in diesem Augenblick mit seiner ganzen Familie bewohnte. Während dieses ganzen Abends hatte die ältere seiner Töchter den Offizier mit einem Interesse so voller Trauer angeblickt, dass dieses Gefühl von Mitleid, dem die Spanierin Ausdruck verliehen hatte, wohl die Nachdenklichkeit des Franzosen hatte verursachen können. Clara war schön; hatte sie auch drei Brüder und eine Schwester, so schien doch das Vermögen des Marquis von Léganès bedeutend genug zu sein, um bei Victor Marchand den Glauben zu erwecken, dass das junge Mädchen eine reiche Mitgift erhalten würde. Wie aber hätte er nur wagen können, zu glauben, dass der ahnenstolzeste Grande von Spanien dem Sohne eines Pariser Krämers seine Tochter zur Frau geben würde.
Die Franzosen waren verhasst. Schon hatte General G .. t .. r, der Gouverneur dieser Provinz war, den Verdacht, dass der Marquis einen Aufstand zugunsten Ferdinands VII. vorbereitete, und das von Victor Marchand befehligte Bataillon war in die kleine Stadt Menda gelegt worden, um die benachbarten Dörfer, die dem Marquis von Léganès gehörten, zu beobachten. Eine kürzlich eingetroffene Depesche des Marschall Ney ließ befürchten, dass die Engländer nächstens an der benachbarten Küste landeten, und sie bezeichnete den Marquis als einen Mann, der geheime Beziehungen zum Londoner Kabinett unterhielt. Victor Marchand und seine Soldaten waren daher stets auf ihrer Hut, obgleich sie von dem spanischen Marquis höchst freundlich auf- genommen worden waren.
Als sich der junge Offizier nach der erwähnten Terrasse begab, um von dort aus die Stadt und die Dörfer zu überschauen, die seiner Überwachung anvertraut waren, fragte er sich, wie er sich die Freundschaft erklären könne, die ihm der Marquis fortwährend bezeigte, und wie die Ruhe des Landes mit der Besorgnis seines Generals in Einklang zu bringen wäre. Aber einen Augenblick später waren all diese Gedanken aus dem Geiste des jungen Kommandanten durch ein Gefühl der Unsicherheit und eine gerechtfertigte Neugierde verdrängt worden.
Er bemerkte nämlich in der Stadt eine ziemlich große Menge von erleuchteten Fenstern. Es war zwar das Fest des heiligen Jacob, aber er hatte doch, der erhaltenen Vorschrift gemäß, erst an demselben Morgen den Befehl gegeben, dass alle Lichter zur gewöhnlichen Stunde gelöscht werden sollten. Das Schloss allein war von dieser Maßregel ausgenommen. Wohl sah er hier und da die Bajonette seiner Soldaten an den gewohnten Posten im Mondschein blitzen; die Stille der Nacht war feierlich, und nichts deutete darauf hin, dass die Spanier ein Fest feierten.
Nachdem er versucht hatte, sich die Übertretung, deren sich die Einwohner schuldig machten, zu erklären, wurde ihm dieses Vorgehen immer unverständlicher und geheimnisvoller, da er doch Offiziere beauftragt hatte, als Nachtpolizei die Runde zu machen. Mit dem Feuereifer der Jugend wollte er sich durch eine Mauerlücke zwängen, um schnell den Felsen hinabzuklettern und so früher zu einem kleinen Posten zu gelangen, den er am Eingang der Stadt zur Schlossseite hin aufgestellt hatte. Da hemmte ihn ein schwaches Geräusch in seinem Lauf. Er glaubte den Sand der Gartenwege unter dem leichten Schritt einer Frau knirschen zu hören. Er wandte den Kopf und sah nichts, aber seine Augen wurden von dem ungeheuren Glanz des Ozeans angezogen. Plötzlich bemerkte er ein so unheimliches Schauspiel, dass er vor Überraschung regungslos stehenblieb und fast glaubte, seine Sinne betrögen ihn. Die hellen Strahlen des Mondes erlaubten ihm, in ziemlicher Entfernung Segel zu entdecken. Er zitterte und suchte sich einzureden, dass diese Erscheinung eine optische Täuschung wäre, die von dem launenhaften Spiel der Wogen und dem trügerischen Licht des Mondes hervorgerufen wurde.
In diesem Augenblick rief eine heisere Stimme seinen Namen. Der Offizier schaute nach der Mauerlücke und erblickte dort den Kopf des Soldaten, von dem er sich auf das Schloss hatte begleiten lassen.
»Sind Sie es Herr Kommandant?«
»Ja. Nun?« fragte mit leiser Stimme der junge Mann, da ihm ein Vorgefühl sagte, dass er hier mit Vorsicht handeln müsse.
»Diese Lumpen kriechen durcheinander wie die Würmer, und ich beeile mich, Ihnen, wenn Sie es erlauben, meine kleinen Beobachtungen mitzuteilen.«
»Sprich!« antwortete Victor Marchand.
»Ich folgte einem Mann vom Schloss, der sich mit einer Laterne in der Hand hierher begab. Nun ist aber eine Laterne sehr verdächtig, denn ich glaube nicht, dass dieser Christenmensch um diese Stunde geweihte Kerzen anzünden will. Sie wollen uns fressen, dachte ich mir, und ich folgte ihm auf den Fersen. Da bemerkte ich denn, wenige Schritte von hier, einen Haufen Reisigholz auf der Spitze eines Felsens.«