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Gesund muss man bleiben. So lautet der Tenor nicht nur von Medizinern und Therapeuten, sondern auch der politischen Meinungsführer und Wirtschaftstreibenden. Mit Fettsteuern, verpflichtenden Untersuchungen sowie Rauch- und Alkoholverboten wird dieser Feldzug geführt, mit Vergünstigungen bei Krankenversicherungen und andauernden öffentlichen Appellen zu Fitness und regelmäßigem Sport, und vor allem mit der sogenannten Früherkennung, die gefährliche Krankheiten schon im Anfangsstadium aufspüren soll. Eine "präventive Wende" hat eingesetzt. So gut dieser Slogan auch klingt - er stimmt nicht. Weder kann man mit Gewalt gesund bleiben, noch ist Vorbeugung tatsächlich so erfolgreich, wie weithin behauptet.
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Seitenzahl: 336
Matthias Martin Becker Mythos Vorbeugung
© 2014 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., WienLektorat und Gestaltung: Stefan Kraft
ISBN: 978-3-85371-822-3 (ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-374-7)
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Matthias Martin Becker, Jahrgang 1971, Medizinjournalist und Publizist, lebt in Berlin und arbeitet unter anderem für den Deutschlandfunk, den Freitag und konkret. 2010 erschien von ihm das Buch: „Datenschatten – Auf dem Weg in die Überwachungsgesellschaft?“.
Als ich für dieses Buch recherchiert habe, bin ich in meinen Interviews mit Gesundheitswissenschaftlern immer wieder auf die Befürchtung gestoßen, Kritik an der individualistisch-individualisierenden Vorbeugungspolitik könne missverstanden werden und Leser zu selbstschädigendem Verhalten verleiten.
Deshalb an dieser Stelle der Hinweis: Lieber nicht rauchen! Oder wenigstens weniger. Steigt auf eure Fahrräder, es wird euch nicht schaden!
Wahrscheinlich.
Danke, Marion, Philipp, Ali und Patrick für eure schonungslose Kritik am Bestehenden (Text).Es gibt kein größeres Geheimnis als das Elend.Oscar Wilde, Der glückliche Prinz
Mama hat abgesagt. Hat selber keine Zeit, meint sie. »Ist schließlich dein Kind«, sagt sie, »ich hab auch was zu tun.« Sonja ist wütend, weil sie die Hilfe ihrer Mutter braucht. Weil sie ihr dankbar sein muss. »Okay!«, hat sie gesagt und einfach aufgelegt. Damit Mama merkt, dass es überhaupt nicht in Ordnung ist. Dass sie nicht mal mehr Zeit für ein Abschiedswort hat.
Wie soll sie das schaffen? Um 16 Uhr muss sie ihr Kind aus der Schule abholen, aber der Spätdienst fängt um 18 Uhr an. Mit dem Bus braucht sie mindestens 20 Minuten, aber einkaufen muss sie auch noch, weil im Kühlschrank nur noch zwei Eier, eine halbvolle Flasche Cola und Marmelade sind. Sonja steckt eine Zigarette zwischen die Lippen und zieht ihr Telefon aus der Hosentasche. Es gibt nur einen Ausweg; eine Kollegin muss für sie einspringen, ihre Schicht übernehmen.
Sonja, 35 Jahre alt. Geschieden. Eine Tochter, Rosa, acht Jahre alt.
Hat lange blonde Haare, auf die sie sehr stolz ist.
Sonja. 1 Meter 70 groß, wiegt 80 Kilo. Blutdruck meistens zwischen 145 bis 160/100 bis 95. Nicht besonders gut.
Nimmt gerade keine Medikamente. Trinkt manchmal ein, zwei Gläser Wein, wenn das Kind im Bett ist, meistens aber Bier. 15-20 Zigaretten am Tag.
Frühere Operationen: Einmal das Bein gebrochen, einmal Blinddarm. Letzten Winter ein übler Infekt, mit einem Antibiotikum behandelt. Vom Arzt für eine Woche morgens und abends verordnet, nach fünf Tagen von Sonja abgesetzt.
In letzter Zeit manchmal Unterleibsschmerzen, Verdauungsbeschwerden. Schläft schlecht.
Sonja arbeitet als Verkäuferin in einer großen Tankstelle, angestellt über eine Leiharbeitsfirma. Wenn sie nicht arbeitet, bekommt sie kein Geld. Der Chef hat gesagt, sie könne bald eine feste Stelle kriegen, aber dann nicht wieder davon gesprochen. Sonja macht sich Sorgen, wegen des Geldes. Wegen Rosa, weil das Mädchen nicht richtig mitkommt in der Schule. Immer gleich losheult, wenn irgendwas schief geht.
Irgendwie kriegt Sonja an diesem Tag doch alles hin. Sie erwischt den Bus zur Schule, holt ihre Tochter ab und organisiert auf dem Weg schnell einen Besuch bei Rosas bester Freundin. Die ist damit sehr zufrieden. »Ich hol sie nachher wieder ab!«, ruft Sonja noch schnell, rennt wieder zum Bus und kommt nur ein klein bisschen zu spät zum Spätdienst. Abends geht sie ein bisschen früher, hoffentlich merkt es keiner. Als sie ihre Tochter um 20 Uhr 30 wieder abholt, ist die Stimmung schlecht: Die beiden Schulfreundinnen haben sich nicht verstanden, die Mutter ist vom Besuch genervt. Es dauert furchtbar lange, bis sie zuhause sind und Rosa endlich bettfertig ist. Kurz noch waschen, den Schlafanzug. Rosa ist müde und trödelt, macht alles mögliche, nur nicht, was sie machen soll. »Es soll endlich Ruhe sein, bitte, bitte«, denkt Sonja. Das Kind soll schlafen.
Aber das Kind schläft nicht. Statt zu schlafen, singt das Kind, »Happy Birthday« und »Alle Vögel sind schon da«, dann beides gleichzeitig. Sonja vergisst sich und brüllt, Rosa heult und die Nachbarn hämmern gegen die dünne Wand. »Magst du eine Milch? Komm, ich mach dir eine warme Milch!«, sagt Sonja, als sie sich wieder im Griff hat, und ihre Tochter nickt, das Gesicht tränennass.
Irgendwann schläft Rosa ein. Sonja holt sich eine Flasche Bier aus der Küche, sieht fern und raucht. Erst nach 24 Uhr schläft sie auf dem Sofa ein. Nach fünf Stunden wacht sie auf, weil es im Wohnzimmer hell wird. Sie legt sich zu ihrer Tochter, um noch ein wenig schlafen. Bevor der nächste Tag beginnt.
»Das gesamte berufliche Dasein steht unter dem Stern des Zufälligen und Willkürlichen«, heißt es bei Pierre Bourdieu.1 Sonja schwimmt gegen den Strom. Sie kommt nicht voran. Mit größter Anstrengung bleibt sie auf der Stelle: Sie behält ihren Job und erledigt das Nötigste, kümmert sich um ihre Tochter. Doch keine Angst: Hilfe naht! Das Heer der herbeieilenden professionellen Helfer ist so groß, dass eine Staubwolke in der Ferne ihr Kommen ankündigt. Es eilen herbei: Jobcoaches, Fallmanager, Ernährungsberater. Therapeuten, Sozialarbeiter, Ärzte und andere Mediziner. Kommunalpolitiker, Sozialplaner, Stadtteilmütter. Allesamt Experten, allesamt hilfsbereit. Was sagen sie zu Sonja?
»Fünfmal am Tag Obst und Gemüse«, sagen sie. »Achten Sie auf die Ernährung Ihrer Kinder.« Alle möglichen Rezepte haben sie parat. Sonja bekommt Ratschläge, wie sie Stress vermeiden kann: »Gönnen Sie sich kleine, schöne Erlebnisse. Lassen Sie den Tag ruhig angehen.« Und Sport, Sport ist immer gut! »Bewegung bringt Sie wieder ins Gleichgewicht.«2 Die Gesundheitsexperten warnen und mahnen: Nicht rauchen. Alkohol höchstens in Maßen. Wenig Fett, wenig Salz, wenig Zucker! Sie erklären Sonja, warum es wichtig ist, dass sie sich Zeit für ihre Tochter nimmt – aber sie verraten ihr nicht, wie sie ihre Miete bezahlen soll.
Die Gesundheitsexperten reden Sonja zu wie einem kranken Gaul: Sie soll das Richtige tun und das Falsche bleiben lassen, »Risikofaktoren meiden«. Trotzdem raucht sie. Auf dem Nachhauseweg fischt sie noch schnell eine Fertigpizza aus der Tiefkühltruhe im Supermarkt und einen leckeren Schokopudding. Sie trinkt abends drei, vier Bier und schläft vor dem Fernseher ein. Und statt in den Sportverein zu gehen, sitzt ihre Tochter Rosa den ganzen Samstagvormittag vorm Fernseher. Angesichts dieses störrischen Verhaltens wird der Ton schärfer: »Als Gesundheitsminister kann ich nur die Rahmenbedingungen schaffen, die es Ihnen leichter machen, gesundheitliche Prävention zu leben. Den ersten Schritt aber müssen Sie selbst machen«, mahnte der ehemalige bundesdeutsche Gesundheitsminister Daniel Bahr 2013 in einer Broschüre zur Krankheitsvorbeugung. Weniger später debattierte der deutsche Bundestag über ein Gesetz, das die Prävention stärken sollte. »Jeder Einzelne trägt die Verantwortung für die Chancen und Risiken seines Lebens«, hieß es ganz grundsätzlich im Gesetzestext. »Diese Eigenverantwortung gilt es zu stärken.« Die gesundheitspolitische Stoßrichtung erklärte der Minister so: »Eine Solidargemeinschaft funktioniert nur, wenn der Einzelne tut, was er tun kann, um gesund zu bleiben.«
Und tut Sonja wirklich, was sie kann, um gesund zu bleiben? Fehlt es ihr am Willen? Vielleicht sollte sie viel grundsätzlichere Maßnahmen ergreifen und eine Psychotherapie machen, das Übel sozusagen an der Wurzel packen.3 »Übernehmen Sie Verantwortung!«, fordert die Europäische Föderation der Psychologenverbände (EFPA) zum Weltgesundheitstag. »In Zeiten gefährdeter Finanzierung der Gesundheitssysteme durch aufwendige medizinische Maßnahmen ist es wichtig, mehr auf kosteneffektive Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit zu schauen, wozu insbesondere unser eigenes Verhalten zählt.«
Seitdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 1986 die sogenannte Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung veröffentlichte, gilt es als gesundheitspolitischer Königsweg, Krankheiten zu vermeiden. »Vorbeugen ist besser als heilen!«, lautet die Parole. Erreicht werden soll das durch »ein Versorgungssystem, das auf die stärkere Förderung von Gesundheit ausgerichtet ist und weit über die medizinisch-kurativen Betreuungsleistungen hinausgeht«.
Die Idee klingt überzeugend: Die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung sinken, weil die Menschen erst gar nicht krank werden. Bereits entstandene Störungen werden früh erkannt und behandelt, zum Beispiel mit flächendeckenden »Vorsorgeuntersuchungen«. Prävention kommt von dem lateinischen Ausdruck für »zuvorkommen«: Die präventive Medizin will die pathologischen, krankhaften Entwicklungen aufhalten, durch eine gesunde Lebensweise und ein rechtzeitiges ärztliches Eingreifen. Im Zentrum ihrer Bemühungen stehen die alten und neuen »Volkskrankheiten« – Herzkreislaufstörungen, Diabetes, Krebs, mittlerweile auch psychische Krankheiten wie Depression. Sie gelten als »lebensstilbedingt« und daher »vermeidbar« – wenn, ja, wenn sich die Bevölkerung nur richtig verhielte!
Die »präventive Wende« der Gesundheitssysteme ist ein internationales Phänomen. Teilweise hat sie handfeste Folgen für die Versorgung, oft beschränkt sie sich noch auf politische Rhetorik. Immer aber geht ein Dauerfeuer wohlmeinender Ratschläge und mahnender Worte auf die Bevölkerung nieder: Ernährt euch besser! Finger weg von Zigaretten und Alkohol! Rein in die Fitnessstudios! Weil »Krankheitsvermeidung« als neues Ziel gilt, wachsen Renommee und Einfluss von Gesundheitsexperten, auch außerhalb der medizinischen Versorgung. Vermeintlich wissenschaftliche, biomedizinische Argumente erhalten auch bei sozialpolitischen Entscheidungen mehr Gewicht. Schließlich ist so ziemlich alles »gesundheitsrelevant«, was Menschen mit sich selbst und anderen tun.
Gesundheitswissenschaftler unterscheiden zwischen Vorbeugung durch Verhaltensänderungen und der Vorbeugung durch geänderte Verhältnisse. Um Verhaltensprävention handelt es sich beispielsweise, wenn eine öffentliche Kampagne die Bevölkerung auf die schädliche Wirkung einer salzreichen Ernährung hinweist, weil diese den Blutdruck steigern kann. Um Verhältnisprävention handelt es sich dagegen, wenn der Lebensmittelindustrie Salz-Höchstwerte für ihre Produkte vorgeschrieben werden. Beide Ansätze spielen für den Versuch, Krankheiten zu verhindern, eine immer größere Rolle.
Das Repertoire dieser neuen Gesundheitspolitik reicht von furchteinflößenden Kampagnen über dezente Manipulationen (beschönigend »Verhaltensarchitektur« genannt) bis zu harschen, wenn auch indirekten Strafen. Vergleichsweise harmlos nehmen sich noch die sogenannten Furchtappelle aus, wenn etwa Zigarettenschachteln mit Bildern von Raucherbeinen verziert und Warnhinweise auf Süßigkeitspackungen geklebt werden. Härtere Folgen hat das Drehen an der Preisschraube: Das Essverhalten der Bevölkerung soll mit monetären Anreizen gesteuert werden. In vielen Ländern, zum Beispiel in Ungarn, Mexiko oder Dänemark, werden süße oder fettige Lebensmittel zusätzlich besteuert und verteuert. Noch wichtiger und folgenreicher ist, dass Krankenkassen und Sozialbehörden mit »Anreizen« die Menschen immer stärker dazu drängen, sich auf angeblich gesunde Art zu verhalten, nämlich mit höheren Behandlungszuzahlungen oder gesenkten Beiträgen.
In Deutschland und Österreich etwa können Versicherte ihre Beiträge senken, indem sie an Bonusprogrammen ihrer Krankenkassen teilnehmen und regelmäßig Sport treiben oder nicht rauchen. In Großbritannien und den Vereinigten Staaten gibt es sogar Versuche, Raucher dafür zu bezahlen, dass sie auf Zigaretten verzichten. Bis zu 200 US-Dollar kann eine schwangere Frau im US-Bundesstaat Oregon bekommen, wenn sie keinen Tabak mehr konsumiert.
Aber die gesundheitliche Vorbeugung belohnt nicht nur, sondern bestraft auch. In manchen amerikanischen Bundesstaaten werden Jugendliche in ihrer Schule gewogen – übersteigt ihr Gewicht einen bestimmten Wert, erhalten ihre Eltern eine schriftliche Mitteilung. Die Weigerung, an einer präventiven Untersuchung teilzunehmen, führt zu höheren Beiträgen; sie kann sogar den Job kosten. Auch in Deutschland und Österreich führen versäumte Vorsorgeuntersuchungen zu höheren Zuzahlungen für spätere Behandlungen, obwohl völlig unklar ist, ob die frühen Diagnosen wirklich vorteilhaft sind.
Dieses Buch behandelt die gesundheitliche Prävention, ihre Entstehung und ihr Scheitern. Die präventive Wende ist politisch erfolgreich, weil sie verspricht, die Krankheitslast zu senken und damit die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung. Aber dieser Versuch wird scheitern. Für kaum eine vorbeugende Maßnahme gibt es gute medizinische (oder auch nur wirtschaftliche) Argumente. Viele sind im besten Fall sinnlos, manche sogar schädlich.4
Eine herausragende Rolle für Krankheit und Gesundheit spielt die gesellschaftliche Position. Sonja ist eine ausgedachte Figur, eine Mischung aus diversen Fallgeschichten. Dennoch ist ihre Geschichte repräsentativ. Eine von drei Alleinerziehenden in Deutschland ist armutsgefährdet. Die meisten von ihnen sind Frauen. Menschen wie Sonja sind am häufigsten krank und sterben am frühesten. »Wer arm ist, ist seltener gesund und häufiger krank, geht bei Beschwerden später zum Arzt, erhält eine schlechtere Behandlung, wartet länger auf ein Krankenhausbett, bleibt länger im Krankenhaus, hat eine schlechtere Prognose und stirbt früher«, fasst Elfriede Feichtinger vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung die Benachteiligung auf allen Ebenen zusammen. Österreichische Männer mit Pflichtschulabschluss erleben durchschnittlich sechs Jahre weniger als Männer mit Hochschulabschluss. Bei Frauen beträgt der Unterschied etwa zwei Jahre.5
Aber auch zwischen den nicht ganz so Armen und den Reichen besteht ein linearer Zusammenhang zwischen Einkommen und Status: Je reicher und gebildeter die Menschen, desto seltener werden sie krank und desto länger leben sie. Der Vorstandssprecher ist gesünder als ein einfacher Manager; der ist gesünder als ein Abteilungsleiter; der gesünder ist als ein einfacher Angestellter und der wiederum gesünder als eine Reinigungskraft. Es handelt sich um einen linearen Zusammenhang, weshalb der Unterschied wie eine gerade diagonale Linie aussieht, wenn er grafisch dargestellt wird. Gesundheitswissenschaftler sprechen vom sozialen Gradienten – dem Unterschied entsprechend der gesellschaftlichen Position, dem sozialen Gefälle von Krankheit und Tod.
Ob Bronchitis, Bluthochdruck oder Magenkrebs, fast alle Krankheiten sind in der untersten Einkommensgruppe zwei- bis dreimal häufiger als in der obersten.6 Arme haben häufiger Beschwerden mit ihrem Rücken, den Atemwegen und dem Herzkreislauf-System, sind häufiger psychisch krank und verletzen sich häufiger. Selbst der Tod von Säuglingen und der plötzliche Kindstod – in Deutschland, Österreich und der Schweiz im internationalen Vergleich selten – kommen in den ärmsten Familien etwa doppelt so häufig vor wie im Durchschnitt.
Das steile soziale Gefälle der Gesundheit zeigt sich auch räumlich. Dort, wo Sonja mit ihrer Tochter wohnt, ist es immer laut. Wegen der Autoabgase ist die Luft schlecht und staubig. Außer auf den Spielplätzen gibt es keinen Platz, wo Kinder sich aufhalten könnten. Sonja könnte sich in den Bus setzen und in einer halben Stunde zum Stadtrand fahren. Vielleicht macht sie das, wenn sie mal Zeit hat, nächstes Wochenende nach der Frühschicht, wenn Rosa bei ihrer Oma ist.
Sonja säße vorn im Bus und würde aus dem Fenster sehen, wie der Abstand zwischen den Gebäuden immer größer wird, die Straßen grüner und die Autos teurer. Mit jedem Kilometer auf ihrem Weg nähme die Häufigkeit von Krankheit ab und die Lebenserwartung zu. Auf Sonjas Fahrt von dem sogenannten sozialen Brennpunkt hin zu den Vierteln, wo das Leben ruhig und gediegen vor sich hin plätschert, würden sich auch die Körper der Bewohner verändern. Die Kinder würden dünner werden und weniger verhaltensauffällig. »Einer der wichtigsten Faktoren für die Berechnung Ihrer Lebenserwartung ist Ihre Postleitzahl«, erklären die amerikanischen Gesundheitswissenschaftler David Stuckler und Sanjay Basu.7
Der ehemalige Präsident der Berliner Ärztekammer Ellis Huber illustrierte die bestürzend eindeutige räumliche Verteilung der Gesundheit anhand einer Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. »Wenn Sie sich in die U1 setzen und Richtung Krumme Lanke fahren, dann verlieren sie mit jeder Station zwei Monate der Lebenserwartung.« Die U-Bahnlinie führte damals quer durch die Hauptstadt vom großbürgerlichen Zehlendorf am westlichen Stadtrand bis ins proletarische Kreuzberg im Südosten.8 Hubers anschauliches Bild ist allerdings veraltet: Weil der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den Statusgruppen wächst und heute bei etwa zehn Jahren liegt, wären es mittlerweile vier Monate, die pro Haltestelle verloren gehen.
Noch krasser ausgeprägt ist der soziale Gradient in Großbritannien, dem Land mit der höchsten Vermögensungleichheit in Europa. In der britischen Hauptstadt London beträgt der Unterschied zwischen den wohlhabendsten und ärmsten Bezirken 17 Jahre! In Tottenham Green, einem Viertel im Nordosten Londons, betrug die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern im Jahr 2010 71,3 Jahre. Das Viertel ist verwahrlost und vernachlässigt, geprägt von Arbeitslosigkeit. Etwa ein Drittel der Einwohner ist schwarz. Die Lebenserwartung in Tottenham Green liegt fast sieben Jahre unter dem britischen Durchschnitt. Aber es gibt andererseits auch Stadtviertel, in denen die Männer später sterben als der Durchschnittsbrite. Im noblen Kensington, südlich vom Hyde Park gelegen, werden Männer im Schnitt 88 Jahre alt.
Den Klassenunterschied in der körperlichen Verfassung festzustellen, das ist banal. Ihn zu erklären, ist dagegen eine verwickelte und schwierige Angelegenheit. »Es gibt viele Arten zu töten«, heißt es bei Bertolt Brecht. »Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben …«9 Der Zeichner und Satiriker Heinrich Zille, der selbst in einer engen und feuchten Kellerwohnung aufwuchs, sagte es noch anschaulicher: »Man kann einen Menschen mit einer Wohnung genauso töten wie mit einer Axt.«
Aber der Mord mit der Axt ist eine klare Sache, der mit der Tatwaffe Wohnung nicht. Anstatt die krankmachende Wirkung der Armut als Tatsache hinzunehmen, sollten wir anfangen, uns zu wundern: Woher kommt das eigentlich? Auf welche Art, auf welchen Wegen untergraben ihre Lebensverhältnisse die Gesundheit der unteren Klassen?
Sonja wird nicht alt werden. Sie stirbt mit 65 Jahren an, sagen wir, Darmkrebs. Das Karzinom wird erkannt, als die Tumorzellen bereits andere Organe und das Bauchfell besiedelt haben. Nach einem Tod durch Darmkrebs rollt man niemanden zur Autopsie. Aber stellen wir uns vor, man täte es doch: In einem großen Raum mit niedriger Decke liegt Sonjas Leiche auf der fahrbaren metallischen Bahre. Die Pathologin macht sich an die Arbeit. Bei ihrer Untersuchung stellt sie fest, dass die Darmschleimhäute faserreich verdickt und geschwollen sind, teilweise auch vernarbt. Das Innere von Sonjas Blutgefäßen, die vom Herzen weg führen, ist bindegewebig verdickt, verhärtet. Ihre Nebenniere ist auffällig groß, die Hirnregion des Hippocampus dagegen geschrumpft. Die Nervenzellen im vorderen Stirnlappen sind wenig verzweigt, gut erkennbar unter dem Mikroskop.
All diese Spuren, die eine Autopsie von Sonjas Körper zu Tage fördern würde, sind Belastungsfolgen, Folgen ihrer Lebensverhältnisse, die sich in ihren Körper eingeprägt haben. Aber auf die ein oder andere Weise werden schließlich alle Menschen belastet, ob arm oder reich. Auf jeden Körper wirken schädigende und gesundheitsfördernde Einflüsse, schwächende und kräftigende Faktoren – welche davon erklären den sozialen Gradienten? Das ist keine nebensächliche Frage.
Sonjas Arterien könnten verhärtet sein, weil sie täglich mehr als 15 Zigaretten geraucht hat.
Oder weil ihr Kreislauf durch ihren Job als Verkäuferin besonders gefordert wurde.
Oder weil sie unter ihrem niedrigen sozialen Status litt.
Oder auch, weil tragischerweise eine Erbanlage Entzündungen an der Innenseite ihrer Blutgefäße begünstigt.
Von der Antwort hängt ab, welche Maßnahmen taugen, um das Entstehen der Arteriosklerose zu verhindern. Was hätte Sonja genutzt – mehr Rauchverbote oder ein blutdrucksenkendes Mittel? Ohne eine zutreffende Diagnose lässt sich keine richtige Behandlung auswählen. Es geht um eine medizinisch fundierte Erklärung des sozialen Gradienten, ohne die gesundheitspolitische Entscheidungen nicht möglich sind.
So viel sei vorab verraten: Die vermeintliche Krankheitsprävention verordnet die falsche Behandlung, weil ihre Diagnose falsch ist. Krankheit lässt sich nicht verbieten. In Wirklichkeit verdanken wir unsere Gesundheit auch nicht einer immer besseren Medizin, sie speist sich aus ganz anderen Quellen. Welche dies sind – was uns gesund erhält oder krank macht –, ist Thema dieses Buchs. Es behandelt die Frage, wie Krankheit entsteht und bekämpft werden kann, um das Phänomen des sozialen Gradienten aufzuklären und damit Sonjas Krankengeschichte.
Welche Einflüsse wie auf die Körper wirken, ist Gegenstand der Epidemiologie, der Wissenschaft von der Entstehung und Verbreitung von Krankheiten. Epidemiologen befinden sich in der Rolle eines Detektivs, der einen komplizierten Tathergang aufklärt. Sie müssen Spuren sichern, wo sie sie finden. Die Metapher vom Mediziner als Detektiv ist so alt wie die Detektivgeschichte. Schon der Schriftsteller Arthur Conan Doyle, der Sherlock Holmes erfand, erkannte diese Ähnlichkeit. Doyle, selbst ein Arzt, schuf seine Figur sogar nach dem Vorbild eines von ihm verehrten Medizinprofessors namens Joseph Bells. Über den berühmtesten und begabtesten aller Detektive Sherlock Holmes sagte Doyle: »Der Held behandelt das Verbrechen genauso wie Dr. Bell eine Krankheit. Der Zufall wird der Wissenschaft Platz machen.«
In den folgenden Kapiteln werden wir herausfinden, was mit Sonjas Körper geschehen ist, wie ihre Lebensverhältnisse ihren Körper geformt und schließlich zerstört haben. Wie Sherlock Holmes müssen wir uns auf die Spurensuche machen. Bei unseren Ermittlungen werden wir falsche Fährten vermeiden und einige überraschende Wendungen erleben. Das Durcheinander der Einflussfaktoren werden wir bestimmt nicht entwirren, keine sauber aufgerollte Kausalketten präsentieren können. Immerhin haben Sozialforschung, Geschichtswissenschaft und Medizin viele Zusammenhänge erkannt, manche sogar gründlich erforscht.10 Um diese nachzuvollziehen, müssen im Folgenden auch einige Fachbegriffe und Methoden erläutert werden. Die Medizin argumentiert mit der Autorität gesicherter Erkenntnisse, mit dem Nimbus der Evidenz. Es gibt aber durchaus eine Evidenz, die gesundheitspolitisch beharrlich beiseite geschoben wird. Sie zeigt, dass wir viel weiter denken und viel mehr tun müssen, als es die gesundheitliche Präventionspolitik tut. Wir werden herausfinden, warum Immobilienbesitz gesund ist, übermäßiges Schlafen dagegen lange als äußerst gefährlich galt. Wir werden merken, dass Krebs nicht besiegt werden kann, aber dass für Gesundheit ein Kraut gewachsen ist, das Gleichheit heißt.
Was macht krank, was hält gesund? Bevor wir unsere Ermittlungen beginnen können, müssen wir uns erst einmal klar machen, welche Hinweise wir überhaupt haben. Einer der ersten Wissenschaftler, die systematisch zwischen gesundheitsschädlichen und -fördernden Einflüssen unterschieden, war der preußische Arzt Christoph Wilhelm von Hufeland (1762–1836). »Wir sind beständig von Freunden und Feinden des Lebens umgeben«, erklärte er einleitend in seinem monumentalen Werk »Die Kunst, das Leben zu verlängern«, das 1797 in Jena erschien. »Wer es mit den Freunden des Lebens hält, wird alt; wer hingegen die Feinde vorzieht, verkürzt sein Leben.« Dieser Vordenker der modernen Gesundheitswissenschaft betrachtete bereits Ende des 18. Jahrhunderts die schädlichen Einflüsse als bevölkerungspolitisches Problem und forderte mehr Prävention: »Vorbeugung ist besser als heilen.«
Einflüsse, die Krankheiten erzeugen und dadurch das Leben verkürzen, werden in der medizinischen Fachsprache »Noxen« genannt, abgeleitet von dem lateinischen Wort »noxa« für »Schaden«. Von diesen Noxen gibt es eine überwältigende und verwirrende Zahl. Welche von ihnen sind die »Freunde des Lebens«, welche die Feinde? Auf unseren Körper wirken die Ernährung der Mutter, die eigene Ernährung, durchlittene Krankheiten, körperliche und seelische Belastungen, aber auch das Wetter, Umweltgifte oder die beruflichen Tätigkeiten – unter anderem! Tatsächlich ist es schwer, irgendeinen Umstand zu finden, der nicht mehr oder weniger direkt das Wohlbefinden beeinflusst.
Das eigentliche Problem ist aber nicht die unüberschaubare Menge der Einflussfaktoren, sondern ihr Zusammenspiel. »Noxen« und »Anti-Noxen« sind nicht einfach positive und negative Zahlen, die sich zu einer Gesamtsumme zusammenzählen ließen. Sie verändern ihre Wirkung je nachdem, wie sie kombiniert werden.
Die epidemiologische Forschung versucht, die verschiedenen Einflussfaktoren trennscharf in unterschiedliche Kästchen zu sortieren, und zu diesem Vorgehen gibt es keine brauchbare wissenschaftliche Alternative. Aber das Bild, das so entsteht, entspricht der gesellschaftlichen Wirklichkeit nur sehr bedingt, denn in dieser vermischen sich die unterschiedlichen Einflüsse und agieren miteinander. Der Fachbegriff dafür lautet Effektmodifikation.
Ein einfaches Beispiel ist Karies. Süßigkeiten zu essen, stellt einen Risikofaktor dar, weil Zucker bestimmten Bakterien als Nahrung dient. Ein weiterer, von der Zuckermenge unabhängiger Risikofaktor ist es, Orangensaft zu trinken, weil dessen Säure Mineralien aus den Zähnen schwemmt, was den Bakterien und den von ihnen produzierten Säuren den Weg ins Innere erleichtert. Sowohl Süßes als auch Saures erhöhen das Kariesrisiko, aber zusammengenommen ist das entstehende Risiko nicht etwa die Summe der Teile, sondern ihr Produkt. Die Wirkung der beiden Verhaltensweisen ergibt sich, wenn wir sie mit einem bestimmten Faktor multiplizieren.
In diesem Beispiel lässt sich das Problem der richtigen Risikobestimmung leicht bewältigen. Im Fall des sozialen Gradienten ist die Sache ungleich schwieriger. Hier geht arbeitsbedingte Überlastung und Frustration einher mit Rauchen und wohnortbedingter Emissionsbelastung durch Staub und Abgase. Wie wirken sie zusammen?11 Unterschiedliche Menschen begegnen Belastungen außerdem auf unterschiedliche Art. Deshalb bedingt die gleiche Menge oder Stärke einer Noxe keineswegs die gleichen Schäden. Rauchen beispielsweise ist für einen Bergarbeiter schlechter als für einen Lagerarbeiter, dessen Atemwege weniger stark belastet werden.
Auch auf der gesamtgesellschaftlichen (also: nur statistisch beschreibbaren) Ebene sind die Zusammenhänge selten eindeutig. Rotweintrinker sind gesünder als Biertrinker, aber das heißt noch lange nicht, dass es gesünder wäre, Rotwein statt Bier zu sich zu nehmen! Reiche und gebildete Menschen trinken eher Wein als Bier. Der sozioökonomische Status erklärt den gesundheitlichen Unterschied, nicht das Getränk.12 Um es noch komplizierter zu machen – aber das ist nötig! –, kann der Bierkonsum stellvertretend für einen anderen wichtigen Umstand stehen. Zum Beispiel könnte ein Arbeiter ausschließlich in Gesellschaft, beispielsweise in seinem Stammlokal an der Ecke, das Bier konsumieren, im Gegensatz zu Sonja, die sich allein vor dem Fernseher einen leichten Rausch antrinkt. Für einsame Trinker ist der Alkohol schädlicher als für gesellige. Freundschaft und soziale Unterstützung haben einen starken Einfluss auf die Gesundheit, wodurch alkoholbedingte Gesundheitsschäden ausgeglichen, sogar mehr als ausgeglichen werden können. Es wird also nicht ganz einfach werden, aus den vorliegenden Indizien Schlüsse zu ziehen.
Das nächste Kapitel »An der Grenze« beschreibt die Entstehung der sozialen Medizin. Ihr geht es nicht allein um den individuellen Körper, sondern sie beschreibt und behandelt ihn innerhalb von sozialen Bezügen. Diese Disziplin etablierte sich im 19. Jahrhundert als Teil der staatlichen Bevölkerungspolitik. Grundzüge ihres Verhältnisses zu Staat und Bevölkerung prägen die gesundheitliche Prävention bis heute. Die historische Rückschau zeigt, welchen Beitrag die Medizin überhaupt zur Verlängerung des Lebens seit dem 19. Jahrhundert geleistet hat.
Kapitel 3 »Vorbeugen statt heilen« erklärt, warum es so schwierig ist, gegen die Volkskrankheiten medizinisch vorzugehen, und wie diese von Belastungen erzeugt und verschlimmert werden.
Kapitel 4 »Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?« beschreibt die Versuche, durch eine Vorverlagerung der medizinischen Untersuchungen Krankheiten frühzeitig zu erkennen (Sekundärprävention).
Kapitel 5 »Lasterhaft und schädlich? » beleuchtet, warum sich bestimmte Vorbeugungsmaßnahmen gesundheitspolitisch durchsetzen (Primärprävention).
Kapitel 6 »Der Stresstest« fasst wichtige Erkenntnisse der Stressforschung und Epidemiologie über den sozialen Gradienten zusammen und kritisiert ihre politische Stoßrichtung.
Kapitel 7 »Gesund um jeden Preis« beschreibt die Folgen der gegenwärtigen gesundheitlichen Prävention für unsere Vorstellungen von Gesundheit, außerdem Grundzüge der gegenwärtigen Gesundheitsförderung als Bevölkerungspolitik.
Kapitel 8 »Homo Oeconomicus Morbus« beschreibt den entscheidenden Einfluss der zwischenmenschlichen Beziehungen und des sozialen Gefüges für die individuelle Gesundheit.
In Kapitel 9 »Behandlungsansätze« wird schließlich die Frage gestellt, welchen Beitrag die soziale Medizin überhaupt für gesündere Verhältnisse leisten kann.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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