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*Ein verwobenes Netz aus Lügen, das ihr gesamtes Schicksal im Griff hält. Gemischt mit der Unklarheit, was ihre tatsächliche Bestimmung ist.* Nachdem Oriana in die Höhle der Gestaltwandler verschleppt wurde, ist sie zum ersten Mal auf sich allein gestellt. Hin- und hergerissen zwischen ihrem Erbe und dem Drang, schnellstmöglich zu ihrem Geliebten Zane zurückzukommen, muss sie ihre Fähigkeiten perfektionieren, um sich aus den Fängen ihrer Entführer zu befreien. Doch dass plötzlich hinter dem zuerst geglaubten Plan – den Bann der Gestaltwandler zu brechen – etwas vollkommen anderes steckt, verändert nicht nur ihr eigenes Leben.
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Emelie Chiara
Myths of Shapeshifters
between myths
(Band 2)
Myths of Shapeshifters – between myths
Copyright
© 2024 VAJONA Verlag
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags
wiedergegeben werden.
Lektorat: Vanessa Lipinski
Korrektorat: Désirée Kläschen und Susann Chemnitzer
Umschlaggestaltung: Julia Gröchel unter
Verwendung von Motiven von 123rf
Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz
VAJONA Verlag
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für alle, die fest daran glauben, dass die Liebe stärker ist als jeder Fluch.
Noch immer von den Geschehnissen überwältigt, mit dem Schmerz des Verlustes im Herzen, stand ich wie von Wurzeln gefangen da. Prüfend wanderte mein Blick an mir herab, doch keine einzige von Clarence’ Ranken schlängelte sich um mich. Nur die beklemmenden Gedanken hielten mich kerzengerade auf den Beinen.
Meine schweißnassen, noch immer gefesselten Hände umklammerten viel zu verzweifelt den Leinenstoff von Zanes Tunika, welche ich mir vor dem Überfall übergestreift hatte. In der ich mich gegenwärtig vollkommen nackt und verletzlich fühlte. Gerade mal bis zur Mitte meiner Oberschenkel reichte der dünne Stoff. Doch selbst wenn ich von Kopf bis Fuß bekleidet gewesen wäre, hätte ich mich vermutlich genauso gefühlt.
In eine Situation gezwungen, in der mir eine unglaubliche Geschichte nach der anderen aufgetischt wurde.
Zuerst spendete mir Zanes Tunika Geborgenheit, da ich etwas von ihm bei mir trug, obwohl er sich unzählige Kilometer von mir entfernt befand.
Bei dem ganztägigen Flug auf Lyras Rücken hatte sich sein Geruch fast vollständig aus dem Stoff verflüchtigt und das geborgene Gefühl mit sich gerissen, sodass sich in mir diese unglaubliche Leere anbahnte.
Ich war allein.
Vor kurzer Zeit war noch alles in Ordnung gewesen. Na ja, soweit es für unsere Umstände Normalität gab. Die Planung der Hochzeit verlief hervorragend, genauso wie das zwischen Zane und mir immer weiter zu etwas Mächtigem heranwuchs. Bevor Laurent und Clarence mich getäuscht hatten, gestand mir Zane seine Liebe. Er teilte mir seine tiefsten und ehrlichsten Gefühle mit, nur damit ich wenige Minuten später entführt wurde.
Ich wusste weder, wie es Zane ging, noch, ob er wusste, wohin Clarence mich gebracht hatte.
Das musste wohl die Strafe der Götter sein, die nicht tatenlos zusahen, wie wir eine der Sünden begingen, indem wir vor der Hochzeitsnacht miteinander verkehrten.
Vielleicht hatte das Ganze hier auch nichts mit den Göttern zu tun, sondern einfach mit dem hirnrissigen Plan eines liebeskranken Psychopathen. Diese Option lag näher.
Mein rasender Herzschlag vibrierte in meinem Hals, sodass es mir alles abverlangte, nicht an Ort und Stelle meinen Mageninhalt zu entleeren. Obwohl ich mehr als etwas Galle nicht hervorwürgen konnte.
Immer wieder schluckte ich den Speichel, der sich in meinem Mund vor Unwohlsein sammelte, denn mein Verstand drohte den Notausschalter zu betätigen, um mich aus der Realität zu retten.
Wieder einmal.
Alles um mich herum drohte schwarz zu werden. Einfach nur, um meine Seele zu schützen. Und ich spielte einen Atemzug lang mit dem Gedanken, dem Drang nachzugeben, um mich ins Nichts zu stürzen. Zum ersten Mal sehnte ich mich nach der unendlichen Dunkelheit.
Ich, eine Wandlerin? Es konnte sich nur um ein riesiges Missverständnis handeln. Oder … eine Lüge. Es waren falsche Informationen oder ein mieser Trick, um mich in Clarence’ Arme zu treiben. Damit ich das Gefühl bekäme, dass die Tatsache, dass wir beide Gestaltwandler waren, etwas an unserer Situation ändern würde. Als ob ich seinen wilden Behauptungen einfach Glauben schenken würde.
Clarence war ein verdammter Lügner, der mir etwas vorgespielt hatte. Was wissen die Götter, welche Mission dahintersteckte. Welche ihn von Beginn an dazu getrieben hatte, mir nahezukommen, an den Prüfungen teilzunehmen, mir bei der Flucht behilflich zu sein, um mich zuletzt dennoch zu entführen.
Nie im Leben würde ich ihm nur ein einziges Wort aus seinem verlogenen Mundwerk glauben. Selbst wenn es stimmte, dass ich eine Gestaltwandlerin war oder dass meine Mutter eine gewesen war, würde es nichts an der Situation zwischen uns ändern.
Und er war ein größerer Narr, als ich dachte, wenn er anderer Meinung war.
Er glaubte, er hätte Anspruch auf mich und meine Hand? Wieso? Weil wir beide angeblich Wandler waren und er dachte, die dritte Prüfung wäre zu seinen Gunsten ausgegangen, wenn Zane nicht …
Die Götter im Himmel mögen ihm beistehen, wenn ich ihm das Gegenteil beweisen würde.
Clarence’ Finger strich durch das schneeweiße Fell des Leoparden, der als Antwort wie ein zahmes Kätzchen schnurrte. Ein Geräusch, welches mir einen Schauer unter die Haut jagte.
»Wir brauchen deine Hilfe, um den Fluch zu brechen«, behauptete Clarence und kraulte weiterhin den Schneeleoparden hinterm Ohr.
Ein absurdes Bild.
Die strahlend blauen Augen des Tieres, des Wandlers, bohrten sich in meine und verstärkten mein Unwohlsein. Ob er von der Ermordung einer seiner Männer wusste? Dass ich ihm den Kopf abgeschlagen hatte, ohne auch nur einen Moment lang zu überlegen? Nur um ihn danach wie Abfall am Boden liegen zu lassen.
Nach dem Tod meiner Eltern war das einer der prägendsten Momente in meinem bisherigen Leben. Es hatte mich verändert, obwohl ich es aus meinem Kopf zu halten versuchte. Wenig überraschend, dass es mir nicht gelang.
Immer wieder spürte ich die warmen, feuchten Spritzer auf meiner Haut. Sah das verzerrte Gesicht direkt vor meinem, das sich in seine menschliche Form zurückverwandelte und auf dem grasbedeckten Boden aufschlug. Die leeren, schmerzgeweiteten Augen, die noch viel zu jung waren. Noch viel zu wenig vom Leben gesehen hatten.
Ich schüttelte die Gedanken beiseite, die würden mir gegenwärtig ohnehin nichts bringen. »Wie kommst du auf die Idee, dass ich euch helfen würde, nach allem, was du mir verschwiegen hast?« Ich schluckte schwer. »Nach allem, was du mir angetan hast.«
Er löste seine Hand aus dem weißen Fell und trat einen Schritt näher an mich heran. Automatisch wich ich einen Schritt zurück. »Es geht hier nicht nur um mich oder meinen Bruder oder um die Differenzen, die sich zwischen uns befinden. Es geht um alle unschuldigen Wandler, die seit zwei Jahrzehnten im Exil leben. Gezwungen in ihren Tiergestalten hier draußen zu hausen«, sagte Clarence und machte eine raumumfassende Geste. »Kannst du dir vorstellen, wie es für sie war? Die ganzen Jahre über?« Er versuchte seine energische Stimme etwas zu besänftigen, als er weitersprach. »Ich verstehe, dass du es nicht für mich tun willst, nachdem, was passiert ist.« Er schüttelte den Kopf. »Aber, Oriana, ich bitte dich. Tu es für sie. Sie leiden.« Mit dem Kinn deutete er hinter mich.
Sofort wirbelte ich herum und entdeckte genau das, wovor ich mich gefürchtet hatte. Unzählige Gestaltwandler in ihren Tiergestalten befanden sich hinter mir. Schulter an Schulter aufgereiht, als würden sie sich vorzeigen wollen. Wölfe, Rehe, Bären, Katzen, Füchse. Verfluchte, vermutlich unschuldige Seelen. Ihre Blicke brannten scharf auf meinem Körper. Und plötzlich fühlte sich meine Haut viel zu klein für mich an.
Gestern noch hätte ich mir vor purer Angst vermutlich in die Hose gemacht, doch heute war es nicht die Angst, die meine Knie zittern ließ. Es war die Ungewissheit, was gleich passieren würde. Das mulmige Gefühl, dass ich dieser Situation hilflos ausgeliefert war.
Noch immer gruben sich die Onyxfesseln tief in mein Fleisch und unterdrückten meine Magie. Machten mich ihnen gegenüber vollkommen wehrlos. Wenn sie sich auf mich stürzen und in der Luft zerfetzen würden als Rache für meine Taten, könnte ich rein gar nichts dagegen unternehmen.
Wobei sie aber nicht vergessen sollten, dass ich damit auch Clarence’ Leben rettete.
Unwillkürlich fragte ich mich, ob Clarence mich vor ihnen beschützen würde. Doch eigentlich konnte ich mir diese Frage schenken. Er war einer von ihnen. Er würde ihnen vielleicht sogar helfen, mich zu töten.
Ich schnaubte. »Was soll ich deiner Meinung nach tun? Was erwartest du von mir?«
»Dass wir zusammenarbeiten. Nur zusammen können wir etwas bewirken, um die Gestaltwandler zu befreien«, erwiderte er.
Egal, was er von mir verlangte, es war irrelevant, denn sobald die Fesseln von meinen Handgelenken wären, würde ich Clarence zermalmen für das, was er Zane und mir angetan hatte. Und ich würde keine Gnade walten lassen. Selbst wenn er mich mit guten Absichten entführt hatte, um anderen zu helfen, war Zane verletzt worden. Und ich hier gefangen. Weit, weit weg von meinem Zuhause und ohne Perspektive, dieses bald wiederzusehen.
Nachdem sich Lyra in die Lüfte erhoben hatte, hatte Laurent seine Zähne tief in Zanes Bein vergraben.
Was danach passierte, wollte und konnte ich mir nicht ausmalen.
Das würde ich den beiden niemals verzeihen.
Dafür würden sie mit ihrem Blut bezahlen.
»Wieso sollte ich euch helfen?«, zischte ich. »Völlig egal, ob ich eine Wandlerin bin oder nicht. Kein Fluch lastet auf mir, geschweige denn auf jemandem, den ich liebe.« Meine Stirn verzog sich und warf eine Falte. »Und wie du dich vielleicht erinnerst, einer von ihnen hat uns beinahe getötet.«
Ein Muskel in Clarence’ Kiefer zuckte, während er die Zähne fest aufeinanderbiss. »Wie bereits erwähnt, murrte er, »war der, der uns angegriffen hat, einer derjenigen, die selbst von hier verbannt wurden.« Mit der Hand deutete er auf die umstehenden Wandler. »Sie verdienen es nicht, dass du so von ihnen denkst. Sie sind Menschen wie du und ich. Menschen, die in der Blutlinie eines Gestaltwandlers geboren wurden. Denen die Gabe in die Wiege gelegt wurde.« Er schnaubte und unterstrich damit die Ernsthaftigkeit seiner Worte. »Sie haben es sich nicht ausgesucht. Und verdammt, es ist eine Gabe – ein Geschenk. Und kein Fluch sollte dies eindämmen. Oriana, niemand hat sie gefragt, ob sie dieses Leben führen möchten. Die Gabe wurde ihnen vererbt, genauso wie deine Mutter Königin Juliette sie dir vererbt hat.«
Als er den Namen meiner verstorbenen Mutter erwähnte, bebte mein gesamter Körper. »Wehe, du nimmst ihren Namen noch einmal in deinen dreckigen Mund«, zischte ich und riss erneut an den Fesseln. »Du bist es nicht wert, ihren Namen auszusprechen und sie in deine Geschichte mit hineinzuziehen.«
Wenn ich nur meine Magie benutzen könnte, würde ich sie auf ihn schleudern. Ohne zu überlegen, ob sie mich ebenfalls zerstören würde. Sie summte kühl durch meine Venen und setzte meinen Körper in eiskalte Flammen.
»Ist sie es dir nicht wert, dass du um ihren Stammbaum kämpfst? Um ihre Brüder und Schwestern.«
»Halt deinen verdammten Mund!« Ohne seine Worte abzuwarten, überwand ich die Distanz zwischen uns und trat ihm, so fest ich konnte, seitlich gegen sein Knie.
Sein Bein knickte zur Seite wie ein dürrer Grashalm im Wind. Ein grölender Schrei sammelte sich in seiner Kehle und brach in einer unmenschlichen Lautstärke über seine Lippen.
Daraufhin verwandelte sich mein Mund in ein breites Grinsen. Meine Magie war vielleicht durch die Fesseln gebannt, genauso wie meine Hände bewegungsunfähig, doch meine Beine waren intakt. Und ich musste das nutzen, was mir zur Verfügung stand.
Beinahe verlor ich das Gleichgewicht und wackelte auf einem Fuß, bis ich wieder sicher stand. Clarence, der mit einem eingeknickten Bein gekrümmt dastand, bot mir den perfekten Moment, erneut einen Treffer zu landen. Ich würde ihm zehnmal die Kniescheibe aus dem Gelenk katapultieren, wenn dies meine Fahrkarte hier raus wäre.
Diesmal zielte ich auf seine Mitte und trat noch fester als zuvor. Nur weil ich wusste, dass ich nicht fliehen konnte, würde ich es mir nicht nehmen lassen, ihn bei jeder Gelegenheit zu bekämpfen. Unwichtig, wie lächerlich es auf die unzähligen Augenpaare wirken mochte, die auf uns gerichtet waren. Die Wut kochte in meinen Adern.
Natürlich war mir bewusst, dass ich damit meine Situation vermutlich nicht bessern würde. Da Clarence sowieso in Kürze von seinen Verletzungen geheilt werden würde.
Bevor ich seinen empfindlichsten Punkt treffen konnte, schnappte er blitzschnell meinen Knöchel und riss ihn hoch, sodass ich rückwärts zu Boden ging. Mit einem dumpfen Knall prallte ich mit dem Rücken voran auf dem steinernen Höhlenboden auf. Jegliche Luft entwich aus meinen Lungen, als sich der brennende Schmerz über meinen Körper ausbreitete.
Ob ich schrie oder nicht, bemerkte ich nicht, da der Schmerz alles um mich herum ausblendete. Clarence beugte sich seelenruhig über mich und schüttelte den Kopf. Aus dieser Perspektive wirkten die Schatten rund um seine Augen noch tiefer. Seine sonst so golden schimmernden Locken noch matter.
»Tz. Siehst du? Wenn du dein Armband abnehmen würdest, würde deine Magie deinen Körper um einiges schneller heilen. Den Schmerz wirst du sonst noch tagelang spüren. Aber es liegt nicht an mir.«
Erneut versuchte ich, ihn zu treten, und wieder schnappte er meine Beine, währenddessen ich um mich schlug. »Fass mich nicht an!«
»Ich weiß, es ist im Moment alles zu viel für dich. Aber ich schwöre dir, wenn du dich nicht beruhigst, bleibt mir nichts anderes übrig, als dich in die Zelle zu stecken.«
Sofort hielt ich inne. »In eine Zelle? Das würdest du nicht wagen«, zischte ich, obwohl ich wusste: Er würde es wagen. Clarence schmunzelte emotionslos. »Mittlerweile hast du bemerkt, welche Überraschungen in mir stecken, also fordere mich lieber nicht heraus.« Eine Sekunde später ließ er meine Beine los und ging mit leichtem Humpeln wieder auf den Schneeleoparden zu. Mir den Rücken zugewandt, fügte er noch leise hinzu: »Um unser aller willen.«
Bei dem Knacken, als Clarence nach unten griff und sein Bein zurechtrückte, stellten sich alle feinen Härchen in meinem Nacken auf. Schmerzend verzog sich meine Miene, als das nächste Knirschen folgte. Am liebsten hätte ich meine Hände auf meine Ohren gepresst, wenn da nicht meine geliebten Onyxfesseln wären.
Obwohl mein Körper bei jedem Atemzug schmerzte, bei jeder Bewegung ächzte, kämpfte ich mich auf meine Ellenbogen.
»Sie wird sich mit ihrer Herkunft sicherlich bald abfinden. Du weißt doch genau, wie es bei Laurent und dir damals war«, hörte ich eine liebliche, weibliche Stimme.
Sofort riss ich die Augen auf und rappelte mich weiter hoch, nur um zu sehen, wie der Schneeleopard sprach.
Der verdammte Schneeleopard sprach.
Mehrmals blinzelte ich ungläubig.
War ich auf den Kopf gefallen?
»Das kann nicht sein«, murmelte ich mit weit aufgerissenen Augen.
Der Leopard legte den Kopf schräg und schaute direkt zu mir herab. »Sei nicht so überrascht, dass wir sprechen können. Wir sind zwar verflucht, als Tiere zu leben, doch das bedeutet nicht, dass wir nichts Menschliches mehr in uns tragen.«
Sie erhob sich und schüttelte ihren Körper, bevor sie wie eine gewöhnliche Katze den Rücken durchstreckte und mit den Krallen über den Boden schabte. Ein Geräusch, das mir eine warnende Gänsehaut über den Körper schickte. Solche, die einem verriet, dass jeden Moment etwas Schreckliches passieren könnte und man sich auf das schlimmste Szenario vorbereiten sollte.
Ich stand auf und wich wie ein verschrecktes Tier einen Schritt nach dem anderen zurück. Meine Hände wanderten an mein rasendes Herz, während mein Atem viel zu abgehackt ging. Von links nach rechts und zurück schnellte mein Kopf und musterte meine Umgebung. Die Tiergestalten befanden sich nur im hinteren Teil der Höhle, sodass mir niemand im Weg stand. Ausgenommen Clarence und der Schneeleopard. Doch ich musste es versuchen.
Allein die Götter wissen, was gleich passieren würde.
Die Luft zwischen uns war zum Zerreißen gespannt, weshalb ich einmal tief durchatmete, meinen sämtlichen Mut zusammenkratzte und meine Gedanken klärte.
Dann rannte ich los.
»Sie macht es uns auch extra schwer. Hol sie zurück«, befahl der Schneeleopard, dessen Stimme plötzlich nicht mehr ganz so lieblich klang wie zuvor.
Ganz im Gegenteil.
Tränen blitzten hervor, welche über meine Schläfen peitschten, während ich, so schnell mich meine Beine trugen, aus der Höhle flüchtete. Ich schlängelte mich geduckt durch den engen Ausgang, wobei mir die spitzen Steinwände die Tunika aufrissen und meine Arme gleich dazu. Doch das nahm ich nur am Rande wahr.
Alles an der Situation war falsch. Ich musste nach Hause nach Westerys zu Zane, den Hinterhalt aufklären, dem Mord an meinen Eltern nachgehen, und ich würde in weniger als einer Woche heiraten. Das hier war nichts, in das ich involviert sein wollte. Ein normales, langweiliges Leben, welches ich zuvor in Aseria geführt hatte, war alles, wonach ich mich sehnte. Dass ich so einen Gedanken jemals zu denken wagen würde, war genauso verrückt wie die Tatsache, dass ich eine Wandlerin sein sollte. Dass Clarence und Laurent Wandler waren und dass ich solchen Wesen helfen sollte, von denen ich vor Kurzem eines kaltblütig getötet hatte. Es musste ein Albtraum sein, aus dem ich einfach nicht aufwachte.
Nachdem ich den Höhlenausgang erreicht hatte, übersah ich in meiner Euphorie eine Einkerbung im Geröll und ging zu Boden. Ich rang kurz nach Luft, stemmte mich aber sofort wieder hoch.
Ich musste ein Versteck finden und das so schnell wie möglich.
Das Einzige, was ich sah, waren Bergspitzen, wohin das Auge auch fiel. Keine Spur oder Weg, der hier rausführte. Besser gesagt: Hier runterführte.
Doch bevor ich einen weiteren Schritt nach vorne machen konnte, schlossen sich Arme um meine Mitte und rissen mich heftig zurück. Mit dem Rücken – der ohnehin höllisch schmerzte – prallte ich gegen Clarence’ Brust. Mit den Beinen in der Luft zappelnd, trat ich um mich. »Lass mich verdammt noch mal los!«, kreischte ich. »Du Monster! Du verdammtes Monster. Lass mich los!«
Ohne nur ein einziges Wort von sich zu geben, trug er mich zurück in die Höhle. Zeigte dabei keine Regung, noch kämpfte er gegen meine Schläge und Tritte an. Vorbei an dem Schneeleoparden und den anderen Gestaltwandlern, die seelenruhig dastanden und uns beobachteten. Weiterhin schrie ich und kämpfte gegen Clarence’ festen Griff an.
Im hintersten Teil der Höhle befand sich ein Gang, in den er mich schleppte. Fackeln säumten die Höhlenwände, während Clarence mehrmals abbog und ich jegliche Orientierung verlor. In dem Gewirr aus dunklen Tunneln gefangen, verflüchtigte sich mein Zorn gegen ihn. Stattdessen verwandelte er sich in bittere Angst. Hier war die Chance bei null, dass es Zane irgendwie gelingen würde, mich zu finden, wenn er noch leben sollte. Ich musste fest daran glauben, dass er das tat, sonst würde ich ebenso sterben. Stück für Stück.
Ich war auf mich alleine gestellt, mit einem Verrückten und unzähligen Gestaltwandlern tief in einem Berg verborgen.
Tränen flossen ungehindert von meinen Wangen. »Bitte«, bettelte ich und vergaß jeglichen Stolz dabei. »Lass mich gehen. Bring mich zurück.« Meine Fingernägel umklammerten seine Hände, die weiterhin um meine Mitte geschlungen waren.
»Du lässt mir keine andere Wahl, Oriana.« Er stieß die Luft heiß aus, was ich direkt in meinem Nacken spürte. »Wir sind gleich da.«
»Was?«, keuchte ich und blickte hektisch um mich. »Clarence, bitte«, flehte ich mit viel zu dünner Stimme. »Bring mich nicht in die Zelle.« Zwar wusste ich nicht, wo sich diese Zelle befand, dennoch wollte ich sie lieber nicht von innen zu Gesicht bekommen.
Ich legte meinen Kopf in den Nacken, sodass er auf Clarence’ Schulter ruhte und ich zu ihm aufsehen konnte. Aber das, was ich sah, gefiel mir ganz und gar nicht. Sein Gesicht war zu einer eiskalten Miene verzogen, die Zähne so fest aufeinandergebissen, dass sein Kiefer hervortrat. Die Augen starr nach vorne gerichtet und vollkommen leer.
»Wenn ich dir was bedeute, dann lass mich gehen.« Meine Lippe bebte, während ich in sein Gesicht blickte. »Clarence. Bitte«, hauchte ich und fixierte sein Gesicht. »Sieh mich an. Bitte, Clarence, es muss nicht so enden. Du kannst mich zurückbringen, dir wird nichts geschehen, das verspreche ich mit allem, was ich habe.«
Für einen Augenblick schloss er die Augen, als würden ihm die Worte genauso nahegehen wie mir. Dann richtete er seinen Blick auf mich. Kurz entgleiste ihm seine emotionslose Miene. So kurz, dass ich es beinahe übersehen hätte, wenn ich seinen Blick nicht so krampfhaft festgehalten hätte. »Du willst das nicht. Ich kenne dich.« Lautlos formten meine Lippen ein »Bitte.«
Er biss sich auf die Unterlippe und seine Stirn warf eine Falte, bevor er den Kopf schüttelte und wieder nach vorne blickte. »Es tut mir leid.«
Es dauerte, bis ich den Blick von ihm löste und meinen Kopf wieder anhob. Er stellte mich ohne Vorwarnung auf dem Boden ab.
Direkt vor uns befand sich eine mächtige verwitterte Holztür. Das Nächste, was mir ins Auge fiel, waren die dicken Ketten, die links und rechts aus der Wand ragten und quer über die Tür gespannt waren. Ein rostiges Schloss prangte in der Mitte.
Clarence, der hinter mir stand, griff um mich und umfasste mit einer Hand meine Onyxfesseln. Mit seiner freien Hand fischte er einen Schlüssel aus seiner Hosentasche.
O Götter.
Er konnte mich doch nicht dort reinstecken.
»Es muss eine andere Möglichkeit geben, Clarence, bitte«, schluchzte ich, während er den Schlüssel ins Schloss schob. Das Knacken des Schlosses und das darauffolgende Knarren der alten Holztür krochen mir bis in die Knochen. Panisch riss ich erneut an den Fesseln und kämpfte gegen Clarence’ Griff an. »Bitte, Clarence. Nein. Bitte.« Vor lauter Tränen verschwamm meine Sicht. »Clarence, tu mir das nicht an.«
»Es ist nicht meine Entscheidung. Ich hoffe, du kannst mir irgendwann verzeihen«, murmelte er dicht an meinem Ohr, bevor er mich mit seinem Körper weiter in die dunkle Höhle drängte.
»Bitte!«, kreischte ich und rammte meine Fersen in den Boden. Mit Fingernägeln, Händen und Beinen kämpfte ich dagegen an. Schrie um mein Leben, denn ich wusste, sobald ich in der Höhle wäre, würde ich für eine sehr lange Zeit kein Tageslicht mehr zu Gesicht bekommen. »Clarence. Nein. Bitte. Nein. Nein. Nein.« Mein Kreischen überschlug sich in meinen Ohren.
Im nächsten Moment vergrub er eine Hand in meinem Haar, wirbelte mich herum und drückte seine verschwitzte Stirn an meine. Keuchend schnappte ich nach Luft, als er meinen Kopf zurückzog. Meine Kopfhaut schmerzte in seinem Griff, den er nach meinem Keuchen etwas lockerte. Jedoch war er weiterhin fest genug, um mich an Ort und Stelle zu fixieren. Meinen Kopf tief in den Nacken gelegt, blickte ich in sein verzerrtes Gesicht auf. Was musste ihm zugestoßen sein, dass es den Schimmer in seinen Augen vernichtet hatte. Das Glitzern seiner bernsteinfarbenen Iriden. Das solch eine Leere in seinem Gesicht zurückgelassen hatte. Nichts war mehr von dem Mann übrig, welchen ich kennengelernt hatte. Der immer eine blöde Bemerkung auf der Zunge und ein Grinsen auf den Lippen hatte. Überwältigt standen wir sekundenlang schweigend und schwer atmend da.
So viel hatte sich in den letzten Wochen zwischen uns verändert.
Er hatte sich verändert, genauso wie ich.
Gegenwärtig brannten seine Berührungen auf meiner Haut wie giftige Säure, die sich durch Fleisch und Knochen fraß, bis sie in meinem Innersten angelangt war. Das Gift, das sich in meinem Magen ausbreitete, rief eine übernatürliche Übelkeit hervor.
Seine Nase streifte über meine. »Glaub mir, unser Wiedersehen hatte ich mir unter anderen Umständen vorgestellt. Und es war bestimmt nicht alles richtig, was ich getan habe.« Ich erschauderte bei seiner Nähe. »Aber es geht hier nicht nur um dich oder mich.«
Meine gefesselten Hände versuchten nach seiner Hand zu greifen, mit der er mich am Oberarm festhielt, um ihn irgendwie zur Vernunft zu bringen. Wenn er sich nach meiner Nähe sehnte, könnte ich es vielleicht zu meinem Vorteil nutzen.
»Bring mich nach Hause. Wir finden gemeinsam eine Lösung.« Meine Finger klammerten sich um seine. »Clarence, bitte.«
»Oriana, verzeih mir«, murmelte er dicht an meinen Lippen, bevor er mich umdrehte und in die finstere Höhle stieß.
Schluchzend prallte ich mit den Knien auf dem Steinboden auf. Ein stechender Schmerz durchzuckte meine Knochen. Steine gruben sich in meine Handflächen und meine nackten Beine.
Das konnte nicht wirklich passieren. Clarence würde niemals … Doch, genau das würde er. Er wäre zu allem fähig, um selbst daraus Profit zu schlagen, selbst wenn es bedeutete, mich zu entführen, um mich danach in eine dunkle Zelle zu sperren.
Das Letzte, was ich vernahm, war der dumpfe Knall, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, bevor die unendliche Dunkelheit mich mit Haut und Haaren verschluckte.
Oriana heute Nacht in die Zelle zu sperren, war so nicht geplant. Zumindest hatte ich keinen blassen Schimmer, dass es tatsächlich so weit kommen würde. Sie hatte mich schwer beeindruckt, dass es ihr trotz der Fesseln beinahe gelungen war, mich ernsthaft zu verletzen. Das musste ich zugeben.
Der erste Tritt hatte meine Kniescheibe aus dem Gelenk katapultiert. Wenn ich ein gewöhnlicher Mann wäre, hätte sie mich vermutlich genügend verletzt, um mich außer Gefecht zu setzen. Dass ich den nächsten Tritt rechtzeitig abgefangen hatte, bevor sie größeren Schaden anrichten konnte, war ein Segen der Götter. Schon bevor ich nach Westerys gereist war, hatte meine Tante Amara gedroht, dass Oriana die Zelle von innen sehen würde, falls sich Oriana gegen uns aufbringen würde. Dabei war es mein Plan, sie in meiner Nähe schlafen zu lassen. Im Nebenzimmer oder vielleicht sogar in meinem.
Zwischen Oriana und mir hatte sich vor einigen Wochen auf unserer gemeinsamen Reise eine Verbindung entwickelt. Wir hatten uns näher kennengelernt und der Umgang zwischen uns war unkompliziert. Er fühlte sich beinahe so natürlich an, als wären wir von Beginn an dafür bestimmt gewesen, zueinanderzufinden – dass nur die Umstände unsere Wege in verschiedene Richtungen geführt hatten. Deshalb war ich der vollen Überzeugung, dass sie sich freuen würde, mit mir zu kommen, sodass ich die Option mit der Zelle nicht in Betracht zog.
Nachdem Zane sie entführt hatte, tat ich alles in meiner Macht Stehende, um einen perfekten Plan zu schmieden, Oriana zurückzubekommen. Mein Bruder Laurent und ich reisten nach Westerys.
Kurz bevor wir vor der magischen Grenze waren, lauerte uns der Schneeleopard vom Eiswald auf. Doch ehe nur einer von uns einen Angriff hätte starten können, begann das Tier zu sprechen. Mit einer Stimme, die ich aus meinen Kindertagen wiedererkannte. Einer Stimme, die mir so vertraut war. Weil diese Stimme es war, die mir in meiner Kindheit nachgerufen hatte, was ich zu tun und zu lassen hatte. So lange, bis sie plötzlich spurlos verschwand und nur meinen Cousin Kyler zurückließ. Damals waren wir gerade mal vier gewesen. Kyler noch jünger.
Der Gestaltwandler entpuppte sich als die Schwester meiner Mutter – meine Tante Amara. Jahrelang war sie wie vom Erdboden verschluckt gewesen und selbst ihr Sohn Kyler hatte nicht gewusst, wo sie steckte.
Nachdem Laurent und ich den Schock über ihr plötzliches Auftauchen verarbeitet hatten, weihte sie uns in ihr Vorhaben ein. Behauptete, sie versuche schon seit Jahren an uns heranzukommen. Dass sie damals im Eiswald Zane verjagen wollte und daher Laurent und ihm nachgesprintet war. Und als ihr dies nicht gelang und sie zurück in den Wald kam, war von mir keine Spur mehr.
Natürlich, denn nur eine Sekunde, nachdem sie mich ignoriert hatte und weitergelaufen war, floh ich. Nur ein Narr wäre einen Moment länger als nötig in diesem gruseligen Wald geblieben. Noch dazu unbewaffnet mit einem Gestaltwandler.
Es wäre eine Lüge, wenn ich behaupten würde, dass ihre plötzliche Präsenz mein Leben nicht um hundertachtzig Grad gedreht und meine persönliche Hauptaufgabe, Oriana zu meiner Frau zu machen, hintangestellt hätte. Denn das, was Amara mir erzählte, war eine Nummer größer als die Thronfolge von Floranys oder meine eigenen Gefühle.
Die vergangenen Wochen waren schrecklich gewesen. Ich hatte keine Ahnung, wie es Oriana ging. Was Zane mit ihr anstellte. Schlaflos waren die Nächte gewesen, und in den wenigen, in denen ich vor Erschöpfung doch in den Schlaf fand, plagten mich unaussprechliche Albträume.
Doch nichts war so verletzend wie vor Zanes Gemächern zu stehen, in der Gestalt einer seiner Wachen und die beiden zu hören. Orianas lustvolles Stöhnen war ein Geräusch, welches ich nie wieder vergessen würde. Es hatte sich tief in mein Gehirn gebrannt. Ein Geräusch, welches auf direktem Weg in weitaus intimere Bereiche von mir gewandert war. Bis ich realisierte, wieso sie diese Töne von sich gab. Wer diese aus ihr trieb. Von dort an verwandelten sich meine anfänglichen Sorgen um sie in giftige Eifersucht. In unaussprechlichen Schmerz.
Laurent hatte sofort bemerkt, wie meine Magie in mir summte, wie sie sich ihren Weg nach draußen bahnte. Weshalb mein Bruder Oriana begleitete, während ich Zane ablenkte.
In dem Moment, in dem ich ihr Gesicht nach Wochen zum ersten Mal wiedersah, hätte ich sie am liebsten in meine Arme geschlossen, mein Gesicht in ihre Haare vergraben, um ihren Duft einzuatmen, und sie nie wieder losgelassen. Ihr einen keuschen Kuss auf die geschwollenen Lippen gehaucht. Ohne zu bedenken, wo diese nur Minuten zuvor gewesen waren. Dort, wo sie lange Zeit nicht mehr sein würden, denn meine Tante würde Oriana – bevor sie ihren Anteil ihres Planes nicht in die Tat umsetzen würde – nicht so schnell wieder gehen lassen.
Dass ich mich an jenem Abend in Westerys unter dem Palast in Zane verwandelt hatte, tat ich nicht, um Oriana zu berühren. Wenn die Lichtverhältnisse nur etwas besser gewesen wären und sie genau hingesehen hätte, wäre ihr aufgefallen, dass es nicht wahrhaftig ihr Zane war. Doch die Schatten verhüllten meine bernsteinfarbenen Augen. Das Einzige, das ich nicht verwandeln konnte.
Es war egoistisch und falsch von mir, sie ein weiteres Mal zu küssen, nachdem sie dachte, ich wäre er. Aber ich konnte nicht anders. Ihre Lippen auf meinen war alles, wonach ich mich sehnte, und in diesen kurzen Augenblick war es zweitrangig, dass sie dachte, ich wäre wer anderes.
Obwohl es falsch war.
Natürlich bevorzugte ich es, dass Oriana bei mir war, doch die Umstände lagen mir jetzt schwer im Magen.
Deshalb entschied ich mich gegen die Anweisungen von Amara beziehungsweise gegen den Teil ihres Befehls, der besagte, sie müsse alleine die Nacht in der Zelle verbringen. Obwohl mich Oriana trotz ihrer Onyxfesseln in Stücke hätte reißen können, brachte ich es nicht übers Herz, sie allein in der düsteren Zelle zu lassen.
Sie hatte seit mindestens einem Tag nichts mehr zu sich genommen. Weder Nahrung noch Wasser. Hatte sich vollkommen verausgabt und war vermutlich durch ihre Entführung am Boden zerstört. Natürlich war mir bewusst, dass ich an dem ganzen Schlamassel Schuld trug. Bevor ich ihr meine aufgezwungene Gesellschaft leisten würde, musste ich zuerst noch einige Dinge erledigen und besorgen.
»Wo ist Laurent?«, vernahm ich eine weibliche Stimme flüsternd hinter mir, gerade als ich etwas Essbares in der bescheidenen Küche zusammensuchte.
Küche war vielleicht der falsche Ausdruck. Vorratskammer passte eher, denn mehr als einige Regale mit Vorräten, ein großes Becken für den Abwasch und eine hölzerne Anrichte gab es nicht.
Ich wirbelte herum und erkannte einen Spatz, der auf dem Rand des Regalbodens direkt neben der Eingangstür hockte.
Vivienne.
Laurent und sie hatten sich die Zeit über, die wir hier verbrachten, sehr gut miteinander angefreundet. Angefreundet. Eine Verliebtheit würde ihre Beziehung besser beschreiben.
Für mich war es unvorstellbar, wie es sein musste, als verfluchter Wandler geboren zu werden. Sich niemals in seiner wahren menschlichen Gestalt befunden zu haben. Ihre Mutter war zur Zeit der Verbannung mit ihr schwanger gewesen und so kam sie schon in einer Tiergestalt zur Welt. Sie wusste nicht, wie es sein könnte. Wie einfach sie ihr Leben führen könnte, wenn es uns gelingen würde, den Fluch zu brechen.
Genau für Wandler wie sie tat ich das. Genau für solche wie sie mussten wir den Fluch brechen.
Für die Unschuldigen.
Hineingeboren in eine Familie – in einen Fluch, den man nie selbst zu verschulden hatte. Den man sich nicht ausgesucht hatte und dessen Konsequenzen man trotzdem sein Leben lang trug.
Obwohl alle Gestaltwandler trotz des Fluchs zwischen den verschiedensten Tiergestalten wechseln konnten, hatten die meisten eine Handvoll Lieblingsgestalten, in denen sie den Großteil der Zeit verweilten.
Ich griff nach ein paar Brötchen und legte sie auf das Tablett.
»Er wurde gefangen genommen«, antwortete ich auf ihre Frage, die sie vor einer gefühlten Ewigkeit gestellt hatte.
Laurent zurückzulassen war eines der schwersten Dinge, die ich jemals hatte tun müssen. Zumal es nicht meine Entscheidung gewesen war.
Vivienne flatterte zu mir und hockte sich direkt vor mich. Die Flügel wieder dicht an ihren Körper gelegt, schaute sie mich mit schräg gelegtem Kopf an. »Du hast dein Mädchen zurückgebracht, welches überdeutlich nicht hier sein möchte.« Sie schüttelte ihren kleinen federnbesetzten Kopf. »Was für eine Szene sie veranstaltet hat. Als wären wir irgendwelche Monster, die ihr gleich die Haut vom Leibe schälen würden. Und für sie hast du Laurent zurückgelassen? Du hast ihn ausgeliefert, um ein Mädchen zu holen, das dich bekämpft?«, zischte sie und verengte die Augen. »Wie konntest du nur.«
Automatisch umfasste ich den Rand des Tabletts fester, sodass meine Knöchel weiß hervortraten. »Sie ist nicht nur meinetwegen hier, falls du das vergessen hast. Amara braucht sie, um den Fluch zu brechen. Das müsstest du ganz genau wissen«, versuchte ich ihr zu erklären und legte dieselbe finstere Miene auf. »Und glaub mir, dass Laurent in Westerys ist, ist schlimmer für mich, als du vielleicht denkst. Dieser Idiot.«
»Ach ja?«, zwitscherte sie süffisant. »Du scheinst dir nur Gedanken um deine Geliebte – wie hieß sie noch? ach ja, Oriana – zu machen.« Danach breitete sie ihre kleinen braunen Flügel aus und erhob sich.
»Sie werden ihm nichts antun, solange sie wissen, dass wir Oriana haben«, versicherte ich ihr, obwohl ich mir diese Lüge nicht mal selbst abkaufte. Dennoch versuchte ich, an ihr festzuhalten. »Und wenn du jemals Laurent in die Arme schließen möchtest, ohne Haare, Federn oder Schuppen auf deiner Haut, die euch trennen, dann würde ich dir raten, uns zu helfen, anstatt gegen Oriana oder mich zu arbeiten.«
Mehrmals blinzelte sie. »Du hättest zurückbleiben sollen, nicht er.« Die Stimme getränkt mit Schmerz.
Wemerzählst du das, hätte ich beinahe erwidert.
Vermutlich hatten meine forschen Worte sie tiefer getroffen als gewollt. Denn bevor sie aus dem Raum flog, pickte sie mir mit ihrem fiesen, spitzen Schnabel in den Arm.
»Musste das sein?«, murrte ich und musste dem Drang, über die Stelle zu reiben, widerstehen, da ich mit beiden Händen das Tablett umklammerte.
»Du bist ein Widerling, weißt du das, Clarence.« Direkt vor meinem Gesicht flatterte sie in der Luft. »Das nächste Mal ist es dein ekelhaftes Gesicht.« Demonstrativ pickte sie in meine Richtung und ich zuckte zurück. »Also schlaf besser mit offenen Augen.« Und damit flatterte sie aus dem Raum.
Ekelhaftes Gesicht war eine widersprüchliche Beleidigung. Zumal Laurent ein sehr ähnliches Gesicht hatte, das ihr etwas den Kopf verdreht hatte.
Vivienne war eine kleine Kämpfernatur, das hatte ich auf die harte Tour gelernt. Und seit dem ersten Tag, an dem wir in der Höhle des Emryn angekommen waren, war sie wie besessen von Laurent und machte auch kein Geheimnis daraus. Selbst wenn Laurent sich für sie interessierte, dachte sie ernsthaft, er würde sein restliches Leben mit einem Vogel zusammenleben? Oder einem Fuchs oder sonst irgendeinem Tier?
Laurent musste sich ebenso immer verwandeln und ich wusste, dass er es nur tat, wenn er es musste.
Mir war bewusst, dass Vivienne nicht wusste, wie es für sie sein könnte, in ihrer menschlichen Hülle zu stecken, und es daher nicht vermisste. Aber gegen mich zu arbeiten, wäre eine Verschwendung ihrer Fähigkeiten.
Sobald ich mich um Oriana gekümmert hätte, würde ich versuchen, die kleine, bissige Vivienne auf unsere Seite zu ziehen. Obwohl es mir vermutlich erst dann gelingen würde, wenn Laurent zurück wäre. Erst dann hätte ich den Funken einer Chance, sie wohlzustimmen.
Langsam öffnete ich meine schweren Augen. So weit es mir die verkrusteten Wimpern gestatteten. Jegliches Zeitgefühl war mir entglitten und ich hatte keine Ahnung, wie lange ich weggetreten war.
Ob Stunden oder Tage.
Ohne Fenster konnte ich nicht erkennen, welche Tageszeit wir hatten. Um mich herum war es düster und nur eine einzelne Öllampe spendete etwas gedämmtes Licht, was die Atmosphäre keineswegs in einen angenehmen Schimmer hüllte. Im Gegenteil. Es wirkte wie eine längst vergessene Gruft, in der sich Fledermäuse tummelten und Spinnennetze die Ecken säumten. Der Staub, vermutlich aus den verwitterten Gebeinen von ehemaligen Gefangenen, die seit Jahrhunderten hier verrotteten. Der die gesamte Zelle mit einem Film überzog.
Ob mir dasselbe Schicksal wie ihnen bevorstand?
Als sich meine Augen an die schlechten Lichtverhältnisse gewöhnten, bemerkte ich, dass ich mich nicht mehr auf dem steinernen Boden befand, sondern zugedeckt auf einer Art Pritsche lag. Nachdem ich die Decke – die jemand über mich geworfen haben musste – zurückgeschlagen hatte, entdeckte ich, dass mich nicht mehr Zanes Hemd umhüllte. Stattdessen trug ich schwarze Stoffhosen und ein viel zu großes weißes Shirt.
Wer zur Hölle war das?
Meine Knie und Handflächen, genauso wie mein Rücken, schmerzten noch immer vom Sturz. Die Onyxfesseln waren entfernt und nur noch ein roter Rand an meinen Handgelenken erinnerte an sie. Als ich mich aufsetzte, bemerkte ich Clarence, der mit dem Rücken an die Wand gelehnt am Boden kauerte. Seinen Kopf auf die Seite gekippt, schlief er. Mit einer Seelenruhe hob und senkte sich sein Brustkorb. War er es, der mich umgezogen hatte? Hatte er mich ausgezogen, während ich wehrlos am Boden lag …
Hatte er mich nackt gesehen?
Hatte er den Moment ausgenutzt, so wie unter dem Palast in Westerys, als er mich küsste, da ich dachte, er wäre Zane?
Einen Moment später befand ich mich schon auf meinen wackligen Beinen und überwand die wenigen Meter, die sich zwischen uns befanden. Augenblicklich begann meine Magie zu summen und strömte durch meinen Körper. Nachdem mein Eis so lange Zeit unterdrückt worden war, durchflutete mich die Befriedigung, meine Magie endlich wieder zu spüren. Rund um meine blau glühenden Handflächen wirbelten feine Schneeflocken, tanzten förmlich in der Luft. Bereit, Clarence einen deftigen Denkzettel zu verpassen.
Für alles.
»An deiner Stelle würde ich das nicht tun«, warnte er mit geschlossenen Lidern und emotionsloser Miene.
»Du Mistkerl! Was hast du mit mir gemacht?«, zischte ich und richtete meine Arme auf ihn. Als ob das aktuell mein größtes Problem wäre. Dennoch war es das, welches ich zuerst angehen würde.
Clarence öffnete gelassen die Augen und rappelte sich auf, bis er mir gegenüberstand. Meine Hände nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, wartete ich auf seine nächsten Worte, bevor ich ihm meine Magie entgegenschleudern würde.
Er schnalzte lässig mit der Zunge. »Andere würden sich dafür bedanken.«
»Ich soll mich bedanken? Wofür? Dafür, dass du mich angefasst hast, während ich nicht bei Bewusstsein war? Du perverser Mistkerl.«
Gerade als meine Magie herausbrach, schloss sich etwas um meine Arme und wickelte sich streng herum. Eine Ranke, die aus dem Boden geschossen kam, wie ich später erkannte. Clarence wich meinem Eisstrahl noch rechtzeitig aus. Verdammt.
Er schmunzelte emotionslos. »Ich bin leider der einzige anwesende Mensch.« Beiläufig zuckte er mit den Schultern. Ich öffnete meinen Mund, um ihm meinen gesamten Schimpfwort–Wortschatz vorzuführen, doch da unterbrach er mich mit einer Geste.
»Vivienne hat dich umgezogen.«
»Wer verdammt noch mal ist Vivienne?«, schnauzte ich. Trotzdem nahm der weibliche Name eine gewisse Last von meiner Brust.
Er seufzte. »Eine Spatzenfreundin. Na ja, sie hat sich in einen Menschenaffen verwandelt, damit sie dir helfen konnte.« Mit dem Rücken lehnte er sich gegen die Höhlenwand, legte den Kopf zurück, während sein Blick zur Decke wanderte.
»Zanes Tunika hätte ich trotz des zerfetzten Zustands bevorzugt. Also, wieso hat sie mich umgezogen?« Ich biss die Zähne fest aufeinander, um ihm nicht die nächste Gemeinheit an den Kopf zu werfen.
Er lachte. »Du warst nur in ein Hemd gekleidet und ich dachte, du benötigst bestimmt frische Sachen. Wie gesagt, ich habe nur angewiesen, dass du umgezogen wirst, mehr nicht. Niemals hätte ich dich angefasst. Du kennst mich.«
»Ich dachte, ich kenne dich, doch du hast dich in der letzten Zeit als vollkommen anderer Mann entpuppt«, räumte ich ein. »Oder sollte ich besser – als anderer Gestaltwandler – sagen?«, fügte ich gehässig hinzu. Zwar kannte ich diese Spatzen-Vivienne nicht, die anscheinend auch gerne eine Affengestalt annahm, jedoch war mir jede beliebige Frau lieber als Clarence. Vermutlich wäre mir jeder dahergelaufene Mann sogar lieber gewesen als Clarence.
Er schmunzelte. Das erste Mal, dass das Schmunzeln seine emotionslosen Augen erreichte. »Es war notwendig, dich umzuziehen.«
»Warum«, zischte ich, mittlerweile genervt davon, dass ich ihm jede einzelne Information aus der Nase ziehen musste.
Danach senkte er den Blick auf mein wutverzerrtes Gesicht. »Du hast dir in deine nicht vorhandene Hose gemacht, ok? Du warst längere Zeit bewusstlos und der Körper, der lässt locker …«
»Stopp!«, unterbrach ich ihn. Sofort vernahm ich die pochende Hitze in meinen Wangen. Das konnte doch nicht wahr sein, dass ich mich bewusstlos am Boden liegend erleichtert hatte. Und Clarence hatte mich beinahe … gesäubert und umgezogen … Bei den Göttern.
Mochten sie Vivienne für ihre Bereitschaft segnen.
»Lass uns das mit dem … du weißt schon, mal vergessen.«
»Du meinst, dass du dich angepinkelt hast?«, sagte er süffisant.
»Halt deinen Mund!«, keifte ich und wehrte mich gegen die Ranken, die sich bei meiner Gegenwehr fester um meine Handgelenke zogen.
»Ich würde es sehr willkommen heißen, wenn du es unterlassen könntest, zu probieren, mich andauernd zu verletzen«, argumentierte er gelassen. »Ich habe kein Problem damit, die Onyxfesseln wieder anzubringen, um auf Nummer sicherzugehen, wenn ich dir nicht vertrauen kann.«
»Du bist ein widerwärtiger Mistkerl«, zischte ich ihm entgegen und riss an meinen Armen. »Lass mich los.«
»Erzähl mir doch etwas, was ich noch nicht weiß.« Danach zog er überraschenderweise seine Ranken vollständig zurück und gab meine Arme frei.
Ich rieb mir über meine schmerzenden Handgelenke und atmete einmal tief durch. Sammelte dabei meine Gedanken – meine Emotionen. Ich musste hier weg. Nur Informationen und Verbündete würden mir bei meiner Flucht von Nutzen sein. Wenn es tatsächlich stimmte und meine Mutter, genauso wie ich, eine Wandlerin war, könnte ich meine Fähigkeiten nutzen, um zu fliehen. Denn nur als Tier, welches fliegen konnte, würde ich es von diesem Berg schaffen. Vorausgesetzt, es würde mir gelingen, aus der Zelle zu entkommen.
»Ich bin noch immer derselbe, den du kennengelernt hast«, sagte Clarence, als ich nichts erwiderte.
»Ach wirklich«, spuckte ich ihm entgegen. »Der Clarence, den ich kennengelernt habe, würde mich nicht entführen, um mich bei einem Haufen Wandler gefangen zu halten. Er würde mich nicht in einer dreckigen Zelle verrotten lassen.«
Mit einer Hand wischte er fest über sein Gesicht. »Es ist nicht, wie du denkst. Wie du weißt, bist du nicht nur meinetwegen hier.« Er raufte seine Haare und wirkte dabei so, als würde er die nächsten Worte nur schwer hervorbekommen. »Selbst wenn ich nicht gewesen wäre, hätte ein anderer Handlanger von Amara dich geholt. Die Gestaltwandler brauchen deine Hilfe. Die Hilfe aller fünf Königreiche.«
Fragend verzog ich meine Augenbrauen.
»Amara?«
»Meine Tante.«
»Was? Wie … Und aller fünf Königreiche? Warte, Warte.« Überrascht wedelte ich mit einer Hand umher. »Alle fünf Königreiche. Das heißt, du benötigst auch … Zanes Hilfe. Oder Stellas? Dusan? Rohana?«, zählte ich auf und ich riss spürbar meine Augen auf. »Du … Wenn du meinen Geschwistern etwas antust oder es vorhast, dann –«
»Bleib ruhig. Ich werde niemandem etwas antun. Auch dir nicht. Höchstens Zane, wenn es Laurent nicht schon erledigt hat.«
Ich schluckte schwer und merkte, wie meine Augen unter aufsteigenden Tränen brannten. Ich erwiderte nichts, sondern drehte mich nur weg.
»Laurent würde ihn nicht töten, so ist er nicht. Ich kenne meinen Bruder«, versuchte er mich zu beruhigen. »Bei deinem geliebten Zane bin ich mir nicht so sicher.«
»Was soll das heißen?«, zischte ich und drehte mich zu Clarence zurück.
»Wir wissen doch alle, zu was die westerische Königsfamilie fähig ist. Sie foltern gern. Und ich schwöre, wenn sie Laurent etwas antun, nur weil er helfen wollte, den Fluch zu brechen, werde ich derjenige sein, der Zane tötet.« Er zog die Luft ein. »Aber ja, ich brauche Zane oder Stella oder seine Eltern. Irgendwen. Deswegen reichst auch du aus. Ich brauche Rohana nicht oder Dusan.«
Ein kühles Lachen brach aus mir hervor. »Und wovon träumst du nachts? Du denkst doch nicht wirklich, dass Zane oder ich euch freiwillig helfen, nachdem, was du getan hast. Außerdem, was war mit der ›Ich erhebe Anspruch auf dich‹-Sache?« Ich lachte emotionslos. »Du wirst übrigens brennen dafür, dass du mich hast glauben lassen, du wärst Zane.«
Clarence’ Blick senkte sich zum Boden. »Dafür möchte ich mich entschuldigen. Meine Emotionen sind mit mir durchgegangen … Es war schlimmer, als ich dachte, dich wiederzusehen. Mit ihm. Deine Worte zu hören.« Danach hob er wieder seinen Blick zu mir. »Oriana, bitte verzeih mir. Ich habe mich wie ein Idiot verhalten.«
»Da sind wir schon zwei mit derselben Meinung.« Trotzig drehte ich den Kopf zur Seite, um Clarence nicht weiterhin ansehen zu müssen. Egal, wie intensiv es mich in den Fingerspitzen kitzelte, ihn zu verletzen, ich wollte nicht erneut an die Onyxfesseln gehängt werden. Ich gestand es mir nur ungern ein, aber Clarence war meine Fahrkarte hier raus. Er war der Einzige, aus dem ich mir einen Verbündeten zusammenbasteln konnte. Obwohl er derjenige war, der mir den ganzen Schlamassel erst eingebrockt hatte.
Oriana, ein rationaler Gedanke.
Zögernd schaute ich wieder in Clarence’ Richtung und bemühte mich um eine neutrale Miene. »Du hast zuvor erwähnt, du hättest die vergangenen Tage dein vollkommenes Scheißverhalten reflektiert. Wie lange war ich weggetreten?«
»Das war nie mein Wortlaut«, antwortete er. »Aber es waren eineinhalb Tage. Ich musste dir Wasser einflößen.«
Eineinhalb Tage, seitdem ich hier drin steckte … »War … war jemand hier drin, währenddessen?«
»Nur ich. Ausgenommen Vivienne. Aber nur das eine Mal.« Ein Moment der Stille verweilte zwischen uns. Mir lagen unzählige Fragen auf der Zunge. Die eine wichtiger als die andere, und nur Clarence war fähig, diese zu beantworten.
Leise räusperte ich mich. »Stimmt das, was du gesagt hast?«
Er verzog seine Stirn. »Was genau meinst du?«
»Das mit meiner Mutter und mir. Dass wir Wandler sind. Wandler waren«, verbesserte ich mich.
Es war einfach absurd, dass es stimmen könnte. Meine Mutter hätte mir so etwas nie verschwiegen. Es würde bedeuten, dass mein Leben eine einzige Lüge war.
»Dein Kristallarmband hat deine Gabe von Beginn an unterdrückt, weshalb du sie nie bemerkt hast. Selbst als du alt genug wurdest«, erklärte er. »Es bewirkt dasselbe wie mein Amulett.«
Ich erinnerte mich an Clarence’ Amulett. Es war der einzige Schmuck, den Laurent und er getragen hatten. »Ich kann die Gabe nicht kontrollieren, also wie sollte ich euch eine Hilfe dabei sein, den Fluch der Wandler zu brechen?«
»Es geht um die Magie der königlichen Blutlinie. Wenn man sie in einem Ritual bündelt, könnte es uns gelingen, die Wandler wieder zu befreien«, meinte Clarence. »Genau mit dieser Magie wurden sie vor zwei Jahrzehnten verbannt.«
»Nicht mehr und nicht weniger, Clarence?«
»Nicht mehr, nicht weniger.«
»Du wirst mich danach nicht töten? Du wirst mich gehen lassen?«
»Oriana.« Clarence kam einen Schritt auf mich zu. »Ich würde dich nie … niemals töten und ich werde dich niemals wie eine Gefangene behandeln.«
»Was für ein schlechter Lügner du doch bist.« Ich sah mich demonstrativ um.
»Ich –«
Ich unterbrach Clarence, denn ich wollte nicht noch eine seiner billigen Entschuldigungen hören. »Wie willst du es schaffen, die anderen drei Königreiche zu überreden? Wie du selbst weißt, hassen alle die Wandler. Selbst wenn es dir gelingen würde, alle fünf Königreiche dazu zu bringen, dem Ritual zuzustimmen, wie willst du die Gestaltwandler in die Gesellschaft integrieren?« Ich schüttelte den Kopf. Der Plan war beinahe unmöglich zu realisieren. Allein wenn Zane Clarence in die Finger bekommen würde, wäre er innerhalb von Sekunden mit Haut und Haaren verbrannt. Bis nur noch ein elendiges Häufchen glühende Asche übrig bleiben würde. Vorausgesetzt, ich würde ihm nicht zuvorkommen.
»Da kommst du ins Spiel«, meinte Clarence. »Du könntest Zane davon überzeugen, dann wären es schon mal drei der fünf Königreiche. Wenn drei bereit wären, zu handeln, würde es uns bestimmt gelingen, Seylen und Nuras ebenfalls zu überzeugen. Zumal mein Cousin Kyler sich vor Kurzem in die nurische Königsfamilie eingeheiratet hat.«
Ich warf meinen Kopf in den Nacken und ließ Clarence’ Worte auf mich wirken. Der Plan war zum Scheitern verurteilt.
Und die einzige Möglichkeit, hier rauszukommen.
»Wenn wir davon ausgehen, es würde uns gelingen, dass alle fünf Königreiche zustimmen ... Wie sicher bist du dir, dass es funktionieren wird? Die Magie zu bündeln und den Fluch zu brechen? Und denkst du, es ist eine gute Idee, alle Wandler auf die Menschheit loszulassen? Sie wurden aus gutem Grund verbannt.«
Nun war es Clarence, der den Kopf schüttelte und schmunzelte. »Und das wäre welcher? Oriana, sag es mir. Wieso wurde uns seit Kindertagen eingetrichtert, wie böse die Wandler seien. Wieso?«, schnauzte er deutlich gereizt. »Nicht zu vergessen, dass ich einer bin, Laurent, deine Mutter und du.«
Als ich in Westerys nach dem verwirrenden Gespräch mit Königin Sierra die Bibliothek aufgesucht hatte, um nach unter Verschluss gehaltenen Aufzeichnungen aus der Zeit zu suchen, in der die Verbannung der Gestaltwandler stattgefunden hatte, wurde ich abgewiesen. Es hieß, es wäre nichts Nennenswertes über diese Zeit in den Archiven vermerkt. Zanes Mutter meinte, es gebe Geschichten, die besser verschwiegen bleiben sollten, um seine Liebsten zu schützen. Was hatte sich vor zwei Jahrzehnten wirklich zugetragen?
Ich hatte keine Antwort auf Clarence’ Frage, deshalb erachtete ich es als besser, meinen Mund zu halten.
»Dachte ich es mir doch«, schnaubte er. »Wenn du dich dazu entscheidest, uns zu helfen, musst du zuvor lernen, deine Magie zu kontrollieren.«
»Ich kann meine Magie kontrollieren«, log ich, obwohl mir klar war, dass Clarence sofort wusste, dass es eine Lüge war. Erst vor wenigen Tagen hatte er eine Demonstration meiner stümperhaften Künste aus erster Reihe miterlebt.
»Wir wissen beide, wie schlecht du deine Fähigkeiten beherrschst. Wie schnell dein Magiespeicher gänzlich gelehrt ist und wie deine Fähigkeiten deinen Körper verzehren.« Er stieß sich lässig von der Höhlenwand ab. »Morgen bei Sonnenaufgang starten wir mit dem Training.«
»Da hast du etwas in den falschen Hals bekommen. Ich habe dem Ganzen nie zugestimmt.«
»Wenn du zurück nach Hause willst, wird dir wohl oder übel nichts anderes übrig bleiben. Amara wird dich davor nicht gehen lassen. Vollkommen egal, was du mir … bedeutest.« Mit zusammengepressten Lippen nickte er mir zu und machte einen Schritt nach dem anderen in Richtung Ausgang.
»Wohin willst du?«, fragte ich überrumpelt. Nicht dass ich wollte, dass er blieb. Dennoch beängstigte mich die Vorstellung, allein in dieser versifften Zelle zu hocken. Vollkommen abgeschottet von der Außenwelt.
Mit der Hand deutete er unschuldig auf die Tür. »Ich besorge dir was zu essen.« Seinen Blick, der über meinen Körper wanderte, spürte ich überdeutlich. »Du hast seit Tagen nichts gegessen. Ich bin gleich wieder da.« Bevor er die Tür erreichte, fügte er noch hinzu: »Versuch inzwischen bitte niemanden umzubringen. Damit meine ich auch dich selbst.« Er spähte über seine Schulter. »Du weißt genau, was passiert, wenn du jemanden angreifst.«
Die Zähne fest aufeinandergebissen, verdrehte ich die Augen und presste ein zynisches »Ja« hervor.
Es würde kein Weg daran vorbeiführen, die Gefügige zu spielen. Mit den Onyxfesseln würde es mir nie gelingen, zu fliehen. Das war glasklar. Wenn ich mich ruhig verhalten würde, würden sie bestimmt mit der Zeit nachlässiger werden, und mich nicht mehr so stark bewachen. Wenn sie dachten, ich wäre auf ihrer Seite und würde nach ihrer Pfeife tanzen. Es gab nur eine Seite, auf der ich stand. Eine einzige Seite, für die ich mich immer entscheiden würde. Und das war meine eigene.
Nachdem Clarence die Zelle verließ, hörte ich, wie der Schlüssel ins Schloss gesteckt und die Zelle verschlossen wurde. Sofort wirbelte ich herum und durchforstete mit meinen Augen den Raum. Doch viel zu sehen gab es nicht. Viel mehr als die Pritsche, die Öllampe und ein einfacher Eimer befand sich nicht in der Zelle. Kein Fenster, kein Boden, nur kühles dunkles Gestein. Und jede Menge Staub – oder zerbröselte Knochen. So genau wollte ich es gar nicht wissen.
Das beklemmende Gefühl, eingesperrt zu sein, breitete sich schlagartig in meinem Körper aus und raubte mir beinahe den Atem. Ich fragte mich, wie oft man in so kurzer Zeit eigentlich entführt werden konnte. Obwohl … das mit Zane war – wenn man es genau nahm – keine Entführung. Zumindest nicht, nachdem ich die Wahrheit erfahren hatte.
Wie drastisch konnte sich ein Leben in wenigen Wochen und Monaten ändern? Bisher hatte ich stets jemanden an meiner Seite, der mir beistand. Mir gut zuredete oder mir aus der Klemme half. Diesmal war ich auf mich allein gestellt. Niemand würde kommen, um mich zu befreien.
Wie auch?
Gefangen auf einem Berg, tief in einer geheimen Höhle, von der ich nie zuvor gehört hatte. In Höhen, in die ein normaler Sterblicher nicht gelangte, außer mit einem geflügelten Pferd, wie Lyra eines war. Aufgeben war dennoch keine Option. Viel mehr spornte diese Aussichtslosigkeit meinen Überlebenswillen nur weiter an. Ich musste zurück nach Westerys. Zurück zu Zane. Zu meiner Schwester. Als meine Gedanken zu ihm abdrifteten, verspürte ich einen stechenden Schmerz in meiner Brust, der mich in die Knie zwang.
Ich schleppte mich zurück auf die Pritsche und stützte mein Gesicht in meine Hände, nachdem ich rückwärts auf die harte Matratze gefallen war.
Wie Zanes Feuer brannten meine Tränen auf meinen Wangen, die ich nicht länger zurückhalten konnte. In dem Moment, in dem Zane und König Dawn aufgetaucht waren, dachte ich, die Situation würde gut ausgehen. Gut ausgehen für Zane und mich, nicht für Clarence. Doch ich hatte falsch gehofft, denn genau das Gegenteil trat ein. Ich fragte mich, wie es Zane wohl ging und wie schlimm die Verletzungen waren, die Laurent ihm zugefügt hatte. Ob er mich genauso schrecklich vermisste wie ich ihn?
Vollkommen verlassen, starrte ich auf die Holztür und stellte mir vor, wie es wäre, wenn Zane jede Sekunde hereingestürmt kommen und mich in seine starken Arme nehmen würde. Wie er seine Lippen sehnsüchtig an meine legen würde. Atemlos von der Erleichterung, mich endlich gefunden zu haben. Wie er Clarence mit seinem Feuer niedermetzeln würde, ihn bis zur Unkenntlichkeit verbrannte. Genauso wie jeden, der es wagen würde, sich zwischen uns zu stellen.
Was er wohl aktuell mit Laurent machte? So sehnsüchtig der vorherige Gedanke war, umso schlimmer war der gegenwärtige. Innig hoffte ich, dass die Verletzung, die Laurent Zane zugefügt hatte, milder ausgefallen war, als ich aus der Entfernung erkennen konnte. Laurent wollte mich zurückbringen. Er hatte nur seinen idiotischen Bruder beschützt, ohne zu wissen, wie schlimm es für ihn enden würde. Nichts anderes hätte ich für meine Geschwister getan. Vollkommen irrelevant, wie hirnrissig oder unüberlegt die Mission gewesen wäre, hätte ich Dusan oder Rohana geholfen. Ich hätte an der vordersten Front für das gekämpft, was ihnen wichtig wäre. Wofür sie einstehen würden.
Natürlich entschuldigte es nicht Laurents Verhalten, jedoch konnte ich ihn einerseits verstehen und hatte beinahe Mitleid mit ihm. Zane würde unaussprechliche Dinge mit ihm anstellen. Und bei dem Gedanken versickerten die Tränen langsam und ein unwohles, übles Gefühl ersetzte die Traurigkeit.
Die nächste Vermutung durchzuckte meinen Körper wie ein Blitz. Was, wenn Laurent ihnen verraten würde, wo Clarence mich hingebracht hatte? Was, wenn er Zane helfen würde, mich zu finden, als eine Art Entschuldigung? Oder damit er nicht in einen dampfenden Haufen Kohle verwandelt werden würde? Vorausgesetzt, Laurent wusste von der Höhle des Emryn und dass Clarence mich hierherbrachte. Er musste es wissen.
Dennoch klammerte ich mich nicht an dieses Szenario, so schön es auch wäre. Denn wenn dieser Fall nicht eintreten und niemand kommen würde, um mich zu retten …
Ich war es, die mich retten musste.
Ich, ganz alleine.
Egal, wie dreckig und unmoralisch es auch werden könnte.
Es vergingen ein paar Tage, bis wir mit dem Training tatsächlich beginnen konnten. Zuerst lag es an mir, Oriana zu stärken, ehe wir begannen. Nach dem zweiten oder dritten Tag starteten wir mit leichten Übungen. Das Bündeln. Das Formen. Das Eindämmen.
Und nun standen wir erneut am Felsvorsprung. »Du musst deine Magie richtig bündeln, bevor du sie materialisierst. Ansonsten wird sie jedes Mal unkontrolliert aus dir herausbrechen«, versuchte ich Oriana zu erklären, die mit geschlossenen Augen ihre Gabe durch sich strömen ließ. »Horche tief in dich, in das Gefühl, das Rauschen, das Prickeln, wenn sich deine Magie zu erkennen gibt. Nimm dieses Rauschen und verwandle es in etwas, das du kontrollieren kannst. In etwas Greifbares.«
Mit halb geöffneten Lidern schaute sie zu mir. »Ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll.«
»Stell dir vor, wie sich ein Schneesturm um deine Hände bildet.« Demonstrierend wedelte ich mit den Armen umher.
Sie nickte knapp. Kurz danach begannen ihre Finger blau zu glühen und sie biss die Zähne fester zusammen.
»Gut so.« Ich ging einen Schritt näher an sie heran, als die Schneeflocken rund um sie in der Luft herumwirbelten. Es war ein eigenartiges Gefühl, Schnee bei so warmen Temperaturen zu sehen, ohne dass sie davonschmolzen. Da die Flocken aus Magie entstanden waren, würden sie jeder Wetterbedingung standhalten.
»Lass den Sturm stärker wüten. Beschwöre ihn zu einem Orkan. Einer zerstörerischen Katastrophe. Einer solchen, mit der du uns fast getötet hättest.«
Langsam öffnete sie die Augen und rief mir über das Wirbeln ihres Schneesturms zu: »Und was jetzt? Wie rufe ich es zurück?« Ihre Haare wehten rund um ihren Kopf und sie stemmte die Beine fest auf den Boden.
»Fühle jede Faser der Schneeflocken, des Sturmes. Stell dir vor, wie sie kleiner werden, ruhiger und weniger … lebensbedrohlich.« Mein Blick wanderte über den nicht kleiner werdenden Wirbelsturm, in dem Oriana das Zentrum bildete. »Ziehe das Rauschen in dich zurück. Nimm es aus dem Sturm.«
Ich wusste, Oriana wurde das Wichtigste über ihre Magie beigebracht. Auch wie man sie bändigt. Doch in größeren Mengen, noch dazu gepaart mit starken Emotionen, war es beinahe unmöglich, ohne die richtige Technik solch eine enorme Menge an Magie zurückzurufen, ohne dabei jemanden zu verletzen. Besonders sich selbst.
Für das Ritual musste sie jedoch ihre Fähigkeiten perfekt kontrollieren, weshalb wir schon den dritten Tag infolge miteinander trainierten.
Von Stunde zu Stunde schlug sie sich besser und traute sich mehr, aus sich herauszukommen.
Doch zuvor hatten wir mit kleineren Mengen Magie experimentiert. Dies hier war beinahe so groß wie damals, als Laurent und ich sie geholt hatten. Es verwunderte mich, dass sie bisher noch nicht versucht hatte, mich mit ihrer Magie zu verletzen. Vielleicht lag es daran, dass sie keine Lust auf die Onyxfesseln hatte. Oder schlau genug war, um zu verstehen, dass sie hier ohnehin nicht wegkommen konnte.
Zumindest nicht ohne fremde Hilfe.
Langsam, aber kontinuierlich wurde der Wirbelsturm geringer. Gleichzeitig wurde Orianas Miene angespannter, als sie den Kiefer fester zusammenpresste. Sogar durch die unklare Sicht, die ich auf sie hatte, bemerkte ich, wie viel Kraft es ihr abverlangte, den Sturm zurückzurufen. Doch genau dafür hatten wir die vergangenen Tage trainiert. Amara meinte, ich solle sie so lange unterrichten, bis sie bereit war, uns zu helfen.
Nicht mehr – nicht weniger.
Daher war sie nicht besonders begeistert gewesen, als ich Oriana versuchte wie einen Gast, und nicht wie eine Gefangene zu behandeln. Vermutlich hatte Amara Angst, dass Oriana sich ansonsten ihre Freiheit nicht verdienen wollen würde, indem sie ihre Kräfte beherrschen lernte. Oder dass sie sich gegen sie wenden könnte.
Amara war eine vorsichtige Frau, wenn es darum ging, jemandem ihr Vertrauen zu schenken. Aber wer könnte es ihr verübeln, nach allem, was ihr widerfahren war.
Was allen Gestaltwandlern widerfahren war.
Seitdem ich Oriana in ihre Zelle verfrachtet hatte, waren sich die beiden Damen kein weiteres Mal begegnet. Den Göttern sei Dank. Erst wenn Oriana fähig wäre, ihre Magie zu kontrollieren, wollte Amara sie wieder zu Gesicht bekommen.
Oriana lernte schnell, denn der Sturm wurde kleiner und kleiner. So weit, bis er sich vollständig verflüchtigt hatte und sie mit den Knien voran am Boden zusammensackte. Durchflutet von Magie, Erschöpfung und Euphorie zugleich, stemmte sie sich auf die Hände, legte ihren Kopf in den Nacken, um mit einem breiten Lächeln in den Himmel zu blicken. Schwer atmend brach ein ungläubiges Lachen aus ihr hervor.
»Verdammte Götter. Ich habe es geschafft.«
Während ihr Blick auf mich fiel, kräuselten sich meine Lippen ebenfalls zu einem Lächeln. »Verdammt, ja.« Einen Moment später ging ich zu ihr und bot ihr meine Hand an. »Du bist so weit«, gab ich mit einem Grinsen zu.
Ohne meine Hand zu ergreifen, rappelte sie sich auf die Beine.