Nacht ohne Ende - Sandra Brown - E-Book

Nacht ohne Ende E-Book

Sandra Brown

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Beschreibung

Auf der Suche nach der entführten Tochter des Millionärs Dendy gerät die ehrgeizige Fernsehreporterin Tiel McCoy zufällig in einen Überfall an einer abgelegenen Raststätte in New Mexico. Sie traut ihren Augen kaum, als sich die beiden jugendlichen Gangster als die angeblich entführte, hochschwangere 18-jährige Sabra Dendy und ihr Freund Ronny Davidson entpuppen. Aus dem Überfall wird jedoch rasch eine von Panik getriebene Geiselnahme, als bei Sabra verfrüht die Wehen einsetzen. Ronny bedroht mit seiner Pistole alle Anwesenden: Tiel, ein älteres Ehepaar, zwei Mexikaner, einen Ranger sowie die Kassiererin. Der Ranger, ein besonnener Mann, scheint zum Glück medizinische Erfahrung zu haben, denn er stellt fest, dass der jungen Frau eine höchst komplizierte Geburt bevorsteht. Aber Sabra will auf keinen Fall ins Krankenhaus, denn sie befürchtet, dass ihr tyrannischer Vater ihr das Kind entreißt und Ronny ins Gefängnis stecken lässt. Bald schon wird auch das FBI in den Fall eingeschaltet, und trotz der Ausweglosigkeit der Situation gilt die Sympathie der Opfer ihren jungen Geiselnehmern. Tiel selbst ist hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, diese einzigartige Situation beruflich für sich zu nutzen, und ihrem Mitgefühl für die beiden Jugendlichen, die nichts dringender brauchen als eine Verbündete mit großem Herzen und kühlem Verstand. Als die Lage zusehends eskaliert, droht eine Kurzschlussreaktion des jungen Ronny, denn die beiden Mexikaner werden gefährlich nervös, der Zustand der jungen Mutter ist lebensbedrohlich, und der Ranger ist offensichtlich nicht das, was er zu sein vorgibt. Der Countdown läuft...

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Buch

Zufällig gerät die renommierte Reporterin Tiel McCoy in einer abgelegenen Raststätte in New Mexiko in einen Überfall, als sie eine heiße Spur in einem Entführungsfall verfolgt. Die 18-jährige Tochter des Millionärs Dendy ist gekidnappt worden, und Tiel recherchiert diese spektakuläre Story. Sie traut jedoch kaum ihren Augen, als sich die beiden jugendlichen Gangster in der Raststätte als die angeblich entführte, hochschwangere Sabra Dendy und ihr Freund Ronny entpuppen. Aus dem Überfall wird jedoch rasch eine von Panik getriebene Geiselnahme, als bei Sabra vorzeitig die Wehen einsetzen. Ronny bedroht mit seiner Pistole alle Anwesenden – Tiel, ein älteres Ehepaar, zwei Mexikaner, einen Ranger und die Kassiererin. Der Ranger, ein besonnener Mann, scheint zum Glück medizinische Erfahrung zu haben, denn er stellt fest, dass der jungen Frau eine komplizierte Geburt bevorsteht. Aber Sabra will auf keinen Fall in eine Klinik gebracht werden, denn sie befürchtet, dass ihr tyrannischer Vater ihr das Kind nimmt und Ronny verhaften lässt. Bald schon schaltet sich auch das FBI in den Fall ein, und trotz der Ausweglosigkeit der Situation gilt erstaunlicherweise die Sympathie aller Opfer ihren jungen Geiselnehmern. Tiel selbst ist hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, dieses brisante Geschehen beruflich zu nutzen, und ihrem Mitgefühl für die beiden Jugendlichen, die nichts dringender benötigen als eine Verbündete mit großem Herzen und kühlem Verstand. Als die Lage zusehends eskaliert, droht eine Kurzschlussreaktion des jungen Ronny, denn die beiden Mexikaner werden gefährlich nervös, der Zustand von Sabra ist lebensbedrohlich, und der Ranger ist offensichtlich nicht der, der er zu sein vorgibt. Der Countdown läuft unaufhaltsam. . .

Autorin

Sandra Brown gehört schon seit Jahren zu den internationalen Spitzenautorinnen. Alle ihre fesselnden Spannungsromane erreichten ausnahmslos die ersten Plätze der Bestsellerlisten. Mehrfach wurde Sandra Brown bereits mit dem »New York Times Award« ausgezeichnet, und die Gesamtauflage ihrer Bücher beträgt weit über 40 Millionen Exemplare. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie bei Arlington, Texas.

bisher von Sandra Brown erschienenCelinas Tochter ⋅ Die Zeugin ⋅ Blindes VertrauenScharade ⋅ Verliebt in einen FremdenSündige Seite ⋅ Envy - Neid ⋅ Crush - GierNachtglut ⋅ Kein Alibi ⋅ Betrogen ⋅ Schöne LügenNacht ohne Ende ⋅ Schöne Lügen ⋅ Ein Hauch von SkandalTrügerischer Spiegel ⋅ Im Haus meines FeindesEin Kuss für die Ewigkeit ⋅ Wie ein Ruf in der Stille

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1Kapitel 2Copyright

1

»Ich habe gerade die Kurznachrichten in meinem Autoradio gehört.«

Tiel McCoy begann dieses Telefongespräch nicht mit überflüssigem Gerede, sondern sie kam gleich zur Sache, nachdem Gully sich am anderen Ende der Leitung gemeldet hatte. Es waren auch gar keine langen Vorreden nötig. Er hatte ihren Anruf wahrscheinlich ohnehin schon erwartet.

Trotzdem stellte Gully sich erst einmal dumm. »Bist du das, Tiel? Na, genießt du deinen Urlaub bisher?«

Ihr Urlaub hatte offiziell an diesem Morgen begonnen, als sie Dallas verlassen und auf der Interstate 20 Richtung Westen gefahren war. Sie war bis nach Abilene gekommen, wo sie einen Zwischenstopp eingelegt hatte, um ihren Onkel zu besuchen, der seit fünf Jahren in einem Pflegeheim lebte. Sie hatte ihren Onkel Pete als einen großen, robusten Mann mit einem respektlosen Sinn für Humor in Erinnerung, der fantastische Nackensteaks grillen und einen Softball weit über das Spielfeld hinweg schlagen konnte.

Heute hatten sie zusammen Mittag gegessen – matschige Fischstäbchen und Dosenerbsen – und sich danach eine Folge von Guiding Light angesehen. Sie hatte ihn gefragt, ob sie irgendetwas für ihn tun könnte, solange sie da war, wie zum Beispiel einen Brief für ihn schreiben oder ihm ein paar Zeitschriften besorgen. Er hatte sie nur traurig angelächelt, ihr für ihr Kommen gedankt und sich dann einem Pfleger überlassen, der ihn wie ein Kind für sein Mittagsschläfchen ins Bett gepackt hatte.

Draußen vor dem Pflegeheim hatte Tiel dankbar die sengend heiße, staubige Luft von West Texas in ihre Lungen gesogen, in der Hoffnung, den deprimierenden Geruch nach Alter und Resignation loszuwerden, der das Gebäude durchdrungen hatte. Sie war erleichtert gewesen, dass die familiäre Verpflichtung nun hinter ihr lag, hatte aber wegen dieser Erleichterung auch prompt ein schlechtes Gewissen gehabt. Mit äußerster Willensanstrengung schüttelte sie ihre Verzweiflung ab und erinnerte sich daran, dass sie schließlich Urlaub hatte.

Dem Kalender nach war es noch gar nicht Sommer, aber der Mai war ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. In der Nähe des Pflegeheims hatte es nirgendwo einen im Schatten liegenden Parkplatz gegeben, folglich war es im Inneren ihres Wagens derart heiß gewesen, dass sie Kekse auf dem Armaturenbrett hätte backen können. Sie drehte das Gebläse der Klimaanlage auf volle Stärke und fand einen Radiosender, der etwas anderes als Garth, George und Willie spielte.

»Es wird eine herrliche Zeit werden. Es wird mir gut tun, mal von all dem Stress und der Hektik wegzukommen und eine Weile auszuspannen. Ich fühle mich jetzt schon sehr viel besser, weil ich es getan habe.« Sie wiederholte diesen inneren Monolog wie einen Katechismus, während sie sich von seinem Wahrheitsgehalt zu überzeugen versuchte. Sie war diesen Urlaub angegangen, als ob er gleichbedeutend mit der Einnahme eines scheußlich schmeckenden Abführmittels wäre.

Hitzewellen flimmerten auf dem Highway, erweckten den Eindruck, als kräuselte sich die Fahrbahn in hypnotisierenden Wellenbewegungen. Das Fahren wurde zu einer rein mechanischen, geistlosen Tätigkeit. Ihre Gedanken schweiften ab. Das Radio lieferte nur ein Hintergrundgeräusch, das Tiel kaum noch wahrnahm.

Aber als sie die Kurznachrichten hörte, war es, als hätte plötzlich jemand neben ihr laut »Buh!« gerufen, um sie zu erschrecken. Mit einem Ruck beschleunigte sich alles – der Wagen, Tiels Pulsschlag, ihre Gedanken.

Augenblicklich kramte sie ihr Handy aus ihrer großen Ledertasche und rief Gully über seinen persönlichen Anschluss an. Wieder verzichtete sie auf jede unnötige Konversation, als sie jetzt zu ihm sagte: »Erzähl mir mal, was da abläuft.«

»Was haben sie denn in den Radionachrichten gesagt?«

»Dass heute Vormittag ein High-School-Schüler in Fort Worth Russell Dendys Tochter gekidnappt hat.«

»Das ist auch so ziemlich das Wesentliche«, bestätigte Gully.

»Das Wesentliche, aber ich möchte Einzelheiten wissen.«

»Du bist im Urlaub, Tiel.«

»Ich komme zurück. Bei der nächsten Ausfahrt werde ich wenden und zum Sender zurückfahren.« Sie warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. »Ich schätze mal, ich werde so gegen –«

»Moment, Moment! Wo genau bist du jetzt?«

»Ungefähr fünfzig Meilen westlich von Abilene.«

»Hmmm.«

»Was, Gully?« Ihre Handflächen waren feucht geworden. Sie spürte wieder das vertraute Prickeln im Bauch, das sich nur dann bemerkbar machte, wenn sie im Begriff war, eine heiße Spur zu einer super Story zu verfolgen. Dieser beispiellose Adrenalinstoß war einfach unmissverständlich.

»Du bist auf dem Weg nach Angel Fire, richtig?«

»Richtig.«

»Im nordöstlichen Teil von New Mexico … ah ja, da ist es.« Er musste beim Sprechen auf eine Straßenkarte gesehen haben. »Egal, vergiss es. Du willst diesen Auftrag bestimmt nicht. Du würdest dann auch einen Umweg machen müssen.«

Er wollte sie ködern, und sie wusste es, aber es machte ihr in diesem Augenblick nichts aus, sich ködern zu lassen. Sie wollte ein Stück von dieser Story. Die Entführung von Russell Dendys Tochter war eine sensationelle Nachricht, ein gefundenes Fressen für die Medien, und sie versprach, noch für eine ganze Menge mehr Schlagzeilen zu sorgen, ehe sie vorüber war. »Es macht mir nichts aus, einen Umweg zu machen. Sag mir, wo ich hinfahren soll.«

»Na ja«, meinte er zögernd, »aber nur, wenn du dir sicher bist.«

»Ich bin mir sicher.«

»Okay. Also, nicht allzu weit vor dir gibt es eine Ausfahrt auf den State Highway Zwei-Null-Acht. Fahr von dort aus in südlicher Richtung nach San Angelo. Auf der Südseite von San Angelo kommst du an eine Kreuzung –«

»Gully, ungefähr wie weit wird mich dieser Umweg von meiner geplanten Route abbringen?«

»Ich dachte, es macht dir nichts aus.«

»Das tut es ja auch nicht. Ich möchte es nur wissen. Eine grobe Schätzung.«

»Tja, mal überlegen. Grob über den Daumen gepeilt … ungefähr dreihundert Meilen.«

»Von Angel Fire?«, fragte sie schwach.

»Von der Stelle aus, wo du jetzt bist. Den Rest des Weges nach Angel Fire nicht mit eingerechnet.«

»Dreihundert hin und zurück?«

»Dreihundert hin und dreihundert zurück.«

Sie stieß einen langen Seufzer aus, achtete jedoch sorgfältig darauf, dass Gully ihn nicht hörte. »Du hast gesagt, Highway Zwei-Null-Acht in südlicher Richtung nach San Angelo, und wie weiter?«

Tiel lenkte mit den Knien, hielt das Handy mit der linken Hand und machte sich mit der rechten Notizen. Der Wagen war auf Tempostat eingestellt, aber ihr Gehirn lief auf Hochtouren. Erregung pulsierte durch ihre Adern, und ihr Journalistenblut pumpte schneller als die Kolben im Motor ihres Autos. Gedanken an lange, angenehme Abende in einem Schaukelstuhl auf einer Veranda wurden von solchen an Tonbandaufnahmen und Interviews verdrängt.

Aber sie griff den Dingen ein bisschen zu weit vor. Ihr fehlten noch immer handfeste Fakten. Als sie danach fragte, stellte sich Gully – zur Hölle mit ihm – plötzlich stur. »Nicht jetzt, Tiel. Ich bin so beschäftigt wie ein einarmiger Tapezierer, und du hast noch einen ziemlich weiten Weg vor dir. Bis du dort angekommen bist, wo du hinwillst, werde ich mehr als genug Informationen für dich haben.«

Frustriert und mehr als ärgerlich auf ihn, weil er derart mit Einzelheiten knauserte, fragte sie: »Wie heißt die Stadt noch mal?«

»Hera.«

Die Highways verliefen schnurgerade, auf beiden Seiten von endloser Grassteppe flankiert, deren Eintönigkeit nur hin und wieder von Viehherden aufgelockert wurde, die auf künstlich bewässerten Weiden grasten. Ölquellen zeichneten sich als Silhouetten gegen einen wolkenlosen Himmel ab. Oft rollte ein Steppenläufer vor Tiel über die Straße. Nachdem sie San Angelo hinter sich gelassen hatte, sah sie nur noch selten ein anderes Fahrzeug.

Komisch, dachte sie, wie sich die Dinge so entwickeln.

Normalerweise hätte sie es vorgezogen, nach New Mexico zu fliegen. Aber sie hatte schon vor Tagen entschieden, mit dem Wagen nach Angel Fire zu fahren, nicht nur, damit sie Onkel Pete auf dem Weg dorthin besuchen konnte, sondern auch, um in Urlaubsstimmung zu kommen. Die lange Fahrt würde ihr Zeit verschaffen, sich von all dem Druck zu befreien, den Alltag hinter sich zu lassen, die Phase der Ruhe und Entspannung zu beginnen, noch bevor sie ihren Urlaubsort in den Bergen erreicht hatte, so dass sie – wenn sie dann schließlich dort ankam – bereits voll und ganz auf Ferien eingestimmt sein würde.

Zu Hause in Dallas bewegte sie sich stets mit Lichtgeschwindigkeit, immer in Hetze, immer unter Termindruck arbeitend. Als sie an diesem Morgen die Randbezirke von Fort Worth erreicht und das sich weit ausbreitende Stadtgebiet hinter sich gelassen hatte, als der Urlaub allmählich zur Realität geworden war, hatte sie zum ersten Mal so etwas wie Vorfreude auf die idyllischen Tage gefühlt, die sie erwarteten. Sie hatte mit offenen Augen von klaren, sprudelnden Bächen geträumt, von langen Wanderungen auf von Espen gesäumten Wegen, von kühler, frischer Luft und faulen Vormittagen bei einer Tasse Kaffee und einem spannenden Bestseller.

Es würde keinen Arbeitsplan geben, der unbedingt eingehalten werden musste, keine Hetze, keinen Zeitdruck. Auf sie warteten einzig und allein Stunden der Entspannung, in denen sie ungehemmt ihren Gedanken nachhängen konnte, was an sich betrachtet ja sogar eine Tugend war. Tiel McCoy hatte inzwischen mehr als genug Anspruch darauf, sich unverfroren der Langeweile hinzugeben. Und sie hatte diesen Urlaub außerdem bereits dreimal verschoben.

»Entweder du nimmst sie, oder dein Anspruch verfällt«, hatte Gully ihr in Anbetracht der Urlaubstage gesagt, die sich bei ihr angesammelt hatten.

Er hatte ihr einen Vortrag darüber gehalten, welch ungeheuer positive Wirkung es sowohl auf ihre Leistung als auch auf ihre Stimmung haben würde, wenn sie sich mal eine Verschnaufpause gönnte. Und das von einem Mann, der in den vergangenen vierzig oder sogar noch mehr Jahren nicht mehr als einige wenige Urlaubstage genommen hatte – einschließlich der Woche, die er im Krankenhaus verbracht hatte, wo seine Gallenblase entfernt worden war.

Als sie ihn daran erinnerte, hatte er sie finster angesehen. »Genau das meine ich. Willst du ebenfalls als ein solch jämmerliches Relikt enden wie ich?« Damit hatte er wirklich den Nagel auf den Kopf getroffen. »Es wird deine Chancen nicht gefährden, wenn du mal Urlaub nimmst. Diese Stelle wird immer noch frei sein, wenn du zurückkommst.«

Es war ihr nicht schwer gefallen, die wahre Bedeutung hinter dieser listigen Bemerkung zu erkennen. Sauer auf ihn, weil er sich sofort den wirklichen Grund für ihr Widerstreben, ihre Arbeit auch nur für eine kurze Zeitspanne im Stich zu lassen, herausgegriffen hatte, hatte sie sich schließlich widerwillig bereit erklärt, für eine Woche wegzufahren. Sie hatte die nötigen Reservierungen vorgenommen und die Reise geplant. Aber in jeden Plan sollte ein kleines bisschen Flexibilität eingebaut sein.

Und wenn jemals Flexibilität gefordert war, dann zu einem Zeitpunkt, wenn Russell Dendys Tochter angeblich gekidnappt worden war.

Tiel hielt den klebrigen Hörer des Münzfernsprechers vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger, um nur ja nicht mehr von der schmutzigen Oberfläche berühren zu müssen, als unbedingt notwendig war. »Okay, Gully, ich bin da. Oder zumindest irgendwo in der Nähe. Tatsache ist, ich habe mich verfranst.«

Er lachte meckernd. »Zu aufgeregt, um dich darauf zu konzentrieren, wo du hinfährst?«

»Na ja, es ist schließlich nicht so, als hätte ich eine blühende Metropole verfehlt. Du hast selbst gesagt, dass der Ort auf den meisten Karten überhaupt nicht verzeichnet ist.«

Ihr Sinn für Humor hatte sich ungefähr zu dem Zeitpunkt verflüchtigt, als sie auch jedes Gefühl im Hinterteil verloren hatte. Schon vor Stunden war ihre verlängerte Kehrseite von dem langen Sitzen taub geworden. Seit sie das letzte Mal mit Gully telefoniert hatte, hatte sie nur ein einziges Mal angehalten, und das auch nur aus zwingender Notwendigkeit. Ihr taten alle Knochen weh, sie war hungrig, durstig, müde, schlecht gelaunt und nicht mehr allzu frisch, weil sie einen langen Teil der Fahrt die untergehende Sonne im Gesicht gehabt hatte. Die Klimaanlage des Wagens hatte vor Überbeanspruchung ihren Geist aufgegeben. Eine Dusche würde eine Wohltat sein.

Gully trug nicht gerade dazu bei, ihre Laune zu verbessern, indem er fragte: »Wie hast du es geschafft, dich zu verirren?«

»Ich habe jeden Ortssinn verloren, nachdem die Sonne untergegangen war. Die Landschaft hier draußen sieht von jedem Blickwinkel gleich aus. Nach Einbruch der Dunkelheit ist es sogar noch schlimmer. Ich rufe von einem Gemischtwarenladen in einem Ort mit exakt achthundertdreiundzwanzig Einwohnern an, jedenfalls laut dem Schild an der Stadtgrenze, und ich glaube, die Handelskammer hat diese Zahl noch zu ihren Gunsten frisiert. Dies ist das einzige beleuchtete Gebäude im Umkreis von vielen Meilen. Die Stadt heißt Rojo Soundso.«

»Flats. Rojo Flats.«

Natürlich kannte Gully den vollen Namen dieses obskuren kleinen Kaffs. Er kannte wahrscheinlich sogar den Namen des Bürgermeisters. Es gab nichts, was Gully nicht wusste. Er war eine wandelnde Enzyklopädie. Er sammelte Informationen, so wie Verbindungsratten die Telefonnummern von Kommilitoninnen sammelten.

Der Fernsehsender, bei dem Tiel arbeitete, hatte einen Nachrichtendirektor, aber der Mann mit diesem Titel führte die Geschäfte von einem mit Teppichen ausgelegten Büro aus und war eher ein Erbsenzähler und Administrator als ein Boss, der die Zügel gern fest in der Hand hielt.

Der Mann im Schützengraben, derjenige, der sich direkt mit den Reportern, Schreibern, Pressefotografen und Redakteuren befasste, derjenige, der Termine und Arbeitspläne koordinierte und sich rührselige Geschichten anhörte und Dreck fraß, wenn Dreckfressen angesagt war, derjenige, der den Nachrichtenbetrieb wirklich leitete, war der Chefredakteur, Gully.

Er war bereits beim Sender gewesen, als dieser zu Beginn der fünfziger Jahre sein Programm begonnen hatte, und er hatte verkündet, dass sie ihn schon mit den Füßen voran aus der Redaktion würden wegtragen müssen. Eher wollte er sterben, als in Rente zu gehen. Er arbeitete sechzehn Stunden am Tag und ärgerte sich über die Zeit, die er nicht arbeitete. Er verfügte über einen farbigen, äußerst anschaulichen Wortschatz und zahllose Gleichnisse, ein umfangreiches Repertoire an abenteuerlichen Geschichten über längst vergangene Zeiten in der Rundfunk- und Fernsehbranche und hatte anscheinend kein Leben außerhalb des Nachrichtenstudios. Sein Vorname war Yarborough, aber das wussten nur einige wenige Sterbliche. Alle anderen kannten ihn nur als Gully.

»Wirst du mir nun diesen mysteriösen Auftrag geben oder nicht?«

Er ließ sich nicht drängen. »Was ist mit deinen Urlaubsplänen passiert?«

»Nichts. Ich bin immer noch im Urlaub.«

»Wer’s glaubt, wird selig.«

»Aber wenn ich’s dir doch sage! Ich habe nicht vor, meine freie Woche zu streichen. Ich verschiebe nur den Beginn, das ist alles.«

»Was wird dein neuer Freund dazu sagen?«

»Ich habe es dir doch schon tausendmal erklärt, es gibt keinen neuen Freund.« Er lachte sein stoisches Kettenraucherlachen, um anzudeuten, dass sie beide wussten, dass sie log, und dass sie ihm nichts vorzumachen brauchte.

»Hast du deinen Notizblock parat?«, fragte Gully plötzlich.

»Äh, ja.«

Welche Bazillen sich auch immer auf dem schmierigen Telefonhörer angesiedelt hatten, sie waren inzwischen wahrscheinlich alle zu ihr rübergehopst. Tiel fand sich damit ab und klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Wange, während sie Notizblock und Stift aus ihrer Tasche holte und sie auf das schmale Metallsims unter dem Wandtelefon legte.

»Schieß los.«

»Der Name des Jungen ist Ronald Davison«, begann Gully.

»Das habe ich schon im Radio gehört.«

»Wird allgemein Ronnie genannt. Besucht die letzte Klasse der High School, genau wie die Dendy. Wird seinen Schulabschluss zwar nicht mit Auszeichnung machen, aber er ist ein Schüler mit einem guten Zensurendurchschnitt. Hat bis heute nie Ärger gemacht. Nach der ersten Unterrichtsstunde heute Morgen ist er mit Sabra Dendy in seinem Toyota Pickup vom Schülerparkplatz gebraust, als ob ihn jemand mit vorgehaltener Schrotflinte zum Heiraten hätte zwingen wollen.«

»Russ Dendys Kind.«

»Sein Einziges.«

»Ist das FBI eingeschaltet worden?«

»FBI. Texas Rangers. Und praktisch sämtliche anderen Behörden. Wer immer eine Dienstmarke trägt, arbeitet an dieser Sache. Ein Mordsaufstand, das Ganze. Alle behaupten, für den Fall zuständig zu sein, und alle wollen bei der Aktion dabei sein.«

Tiel brauchte einen Moment, um das volle Ausmaß dieser Story in sich aufzunehmen. Der kurze Korridor, in dem sich der Münzfernsprecher befand, führte zu den öffentlichen Toiletten. Auf der einen Tür war ein Cowgirl in einem Fransenrock mit blauer Farbe mittels Schablone aufgemalt. Die andere war, wie nicht anders zu erwarten, mit dem männlichen Gegenstück dekoriert, einem Cowboy in weit ausgestellten Reithosen und breitkrempigem Hut, der ein Lasso über dem Kopf wirbelte.

Als Tiel den Gang zu dem Verkaufsraum hinunterblickte, sah sie die leibhaftige Verkörperung des Türschablonencowboys den Laden betreten. Groß, schlank, den Stetson tief in die Stirn gezogen. Er nickte der Kassiererin zu, deren krauses, stark dauergewelltes Haar in einer wenig schmeichelhaften Schattierung von Ockergelb gefärbt war.

In Tiels Nähe stand ein älteres Ehepaar, das sich nach Souvenirs umsah und es anscheinend nicht eilig hatte, zu seinem Winnebago zurückzukehren. Zumindest nahm Tiel an, dass das Wohnmobil draußen vor den Benzinzapfsäulen den beiden gehörte. Die alte Dame war gerade damit beschäftigt, durch Gleitsichtbrillengläser die Inhaltsstoffe auf einem Glas auf dem Regal zu entziffern. »Jalapeño-Pfeffer-Marmelade? Du lieber Himmel!«

Dann kamen die beiden zu Tiel in den Korridor und bewegten sich auf die jeweiligen Toilettentüren zu. »Trödel nicht wieder so lange herum, Gladys«, sagte der Mann. Seine weißen Beine waren praktisch haarlos und sahen lächerlich dünn in seinen ausgebeulten Khakishorts und den dick besohlten Turnschuhen aus.

»Kümmere du dich um deine Angelegenheiten, und ich werde mich um meine kümmern«, gab seine Ehefrau smart zurück. Als sie an Tiel vorbeiging, zwinkerte sie ihr zu, als wollte sie sagen: »Männer! Sie halten sich immer für Gott weiß wie überlegen, aber wir wissen es besser.« Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Tiel das alte Ehepaar drollig und liebenswert gefunden, aber sie las gerade nachdenklich die Notizen durch, die sie fast wortwörtlich von Gully übernommen hatte.

»Du hast gesagt, der Junge wäre davongebraust, als ob ihn jemand mit vorgehaltener Schrotflinte zum Heiraten hätte zwingen wollen. Eine merkwürdige Wortwahl, Gully.«

»Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?« Er senkte viel sagend die Stimme. »Weil sie mich auf der Stelle in Rente schicken werden, wenn das hier vor unserer nächsten Nachrichtensendung bekannt wird. Wir sind nämlich sämtlichen Konkurrenzsendern und Zeitungen im Staat zuvorgekommen.«

Tiels Kopfhaut begann zu prickeln, wie jedes Mal, wenn sie wusste, dass sie im Begriff war, etwas zu erfahren, was noch kein anderer Reporter erfahren hatte; wenn sie den wesentlichen Faktor enthüllt hatte, der ihre Story von allen anderen abheben würde; wenn ihr Exklusivbericht das Potential hatte, ihr einen Journalismuspreis einzubringen oder Lob von ihren Kollegen. Oder ihr die heiß begehrte Sendezeit in Nine Live zu garantieren.

»Wem sollte ich hier denn schon davon erzählen, Gully? Außer mir sind in diesem Laden nur noch ein frisch von der Weide gekommener Cowboy, der gerade ein Sixpack Budweiser kauft, eine forsche Oma und ihr Ehemann von außerhalb  – das erkenne ich an ihrem Akzent. Und zwei nicht Englisch sprechende Mexikaner.« Die Männer waren vor kurzem in den Laden gekommen. Tiel hatte zufällig gehört, wie die beiden Spanisch sprachen, während sie abgepackte Burritos in einer Mikrowelle erhitzten.

Gully sagte: »Linda –«

»Linda? Sie hat die Story bekommen?«

»Du bist im Urlaub, erinnerst du dich?«

»Ein Urlaub, den zu nehmen du mich förmlich gezwungen hast!«, rief Tiel empört.

Linda Harper war ebenfalls Reporterin, eine verdammt gute Reporterin, und Tiels heimliche Rivalin. Es wurmte Tiel ganz gewaltig, dass Gully Linda damit beauftragt hatte, über eine solche Bombenstory zu berichten, die von Rechts wegen eigentlich ihr gehört haben sollte. So sah sie die Sache zumindest.

»Was ist nun, willst du das hier hören oder nicht?«, fragte er mürrisch.

»Schieß los.«

In dem Moment kam der ältere Mann wieder aus der Herrentoilette heraus. Er ging zum Ende des Korridors, wo er stehen blieb, um auf seine Frau zu warten. Wohl aus Langeweile nahm er einen Camcorder aus einer Nylontasche und begann damit herumzuhantieren.

Gully sagte: »Linda hat heute Nachmittag Sabra Dendys beste Freundin interviewt. Und jetzt halt dich fest! Die Dendy ist schwanger mit Ronnie Davisons Kind. Im achten Monat. Die beiden hatten die Sache bisher vertuscht.«

»Das ist ja stark! Und die Dendys wussten nichts davon?«

»Laut Aussage der Freundin wusste niemand etwas davon. Das heißt, bis gestern Abend. Da haben die Kids ihren Eltern die Neuigkeit beigebracht, und Russ Dendy ist die Wände hochgegangen.«

Tiels Gedanken rasten bereits voraus und füllten die Lücken aus. »Dann ist es also gar keine Entführung. Sondern eine zeitgenössische Version von Romeo und Julia.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Aber …«

»Aber das würde ich zunächst einmal vermuten«, erwiderte Gully. »Eine Ansicht, die auch Sabra Dendys beste Freundin und Vertraute teilt. Sie behauptet, Ronnie Davison wäre verrückt nach Sabra und würde ihr kein Härchen krümmen. Hat erzählt, Russell Dendy hätte schon über ein Jahr lang gegen diese Romanze angekämpft. Niemand ist gut genug für seine Tochter; sie sind noch viel zu jung, um zu wissen, was sie wollen; das College ist ein Muss, und so weiter. Du verstehst.«

»Ja.«

Aber was ihr nicht in den Kopf wollte, war, dass Linda Harper bei dieser Story mitmischte und Tiel McCoy nicht. Verdammt! Dass sie aber auch ausgerechnet jetzt in Urlaub gefahren war.

»Ich komme heute Nacht zurück, Gully.«

»Nein.«

»Ich glaube, du hast mich für nichts und wieder nichts losgeschickt, damit es mir unmöglich sein würde, rechtzeitig zurückzukehren.«

»Das stimmt nicht.«

»Wie weit bin ich von El Paso entfernt?«

»El Paso? Wer hat denn irgendwas von El Paso gesagt?«

»Oder San Antonio. Welches von beiden auch immer näher ist. Ich könnte heute Abend dort hinfahren und morgen früh mit einer Southwest-Maschine zurückfliegen. Hast du zufällig einen Flugplan der Southwest Airlines zur Hand? Um welche Zeit geht die erste Maschine nach Dallas?«

»Jetzt hör mir mal zu, Tiel. Wir haben hier bereits genügend Leute auf die Sache angesetzt. Bob bearbeitet die fahndungsbehördliche Seite. Linda fühlt den Freunden, Lehrern und Familien der Kids auf den jeweiligen Zahn. Steve hat sich praktisch in der Villa der Dendys häuslich niedergelassen, sodass er an Ort und Stelle ist, falls eine Lösegeldforderung eintrifft, womit ich persönlich nicht rechne. Und – und das ist das Entscheidende – diese Kids werden wahrscheinlich sowieso wieder auftauchen, bevor du nach Dallas zurückkehren könntest.«

»Was tue ich dann hier mitten in dieser verdammten Wallachei?«

Der alte Mann warf ihr einen neugierigen Blick über die Schulter zu.

»Hör zu«, zischte Gully. »Die Freundin verklickerte uns, Sabra habe ihr gegenüber vor ein paar Wochen erwähnt, dass sie und Ronnie vielleicht einfach nach Mexiko verduften würden.«

Etwas besänftigt, weil sie näher an der mexikanischen Grenze war als an Dallas, fragte Tiel: »Wo in Mexiko?«

»Das wusste sie nicht. Oder wollte es nicht sagen. Linda musste sie regelrecht in die Mangel nehmen, um wenigstens so viel aus ihr herauszubekommen. Die Freundin wollte Sabras Vertrauen nicht enttäuschen. Aber das eine, was das Mädchen tatsächlich gesagt hat, ist, dass Ronnies Vater – sein leiblicher Vater; seine Mutter ist zum zweiten Mal verheiratet  – Mitgefühl für die Zwangslage der beiden hat. Vor einer Weile hat er sich angeboten, ihnen zu helfen, wenn sie seine Hilfe jemals brauchen sollten. So, und jetzt wirst du dich wirklich mies fühlen, dass du mich angeschrien hast, wenn ich dir sage, wo er sich niedergelassen hat.«

»In Hera. Zufrieden?«

Sie hätte sich entschuldigen müssen, aber sie tat es nicht. Gully verstand auch so.

»Wer weiß sonst noch davon?«

»Keiner, bis jetzt jedenfalls. Aber die Konkurrenz wird es herausfinden. Es ist zu unserem Vorteil, dass Hera ein verschlafenes Nest ist und ziemlich abgelegen.«

»Erzähl mir davon«, raunte Tiel.

»Wenn sich die Sache herumspricht, werden die anderen eine Weile brauchen, um dort hinzukommen, selbst per Hubschrauber. Du hast also einen klaren Vorsprung gegenüber der Konkurrenz.«

»Gully, ich liebe dich!«, rief Tiel jetzt aufgeregt. »Erklär mir den Weg, wie ich fahren muss.«

Die alte Dame kam aus der Damentoilette und gesellte sich wieder zu ihrem Ehemann. Sie schimpfte mit ihm, weil er mit dem Camcorder herumspielte, und befahl ihm, ihn wieder in die Tasche zu tun, bevor er etwas daran kaputt machte.

»Als ob du eine Expertin für Videokameras wärst«, gab der alte Mann ärgerlich zurück.

»Ich habe mir immerhin die Zeit genommen, die Gebrauchsanweisung durchzulesen. Du nicht.«

Tiel steckte sich den Finger ins Ohr, damit sie Gully besser hören konnte. »Wie heißt der Vater des Jungen? Davison, wie ich annehme.«

»Ich habe eine Adresse und eine Telefonnummer.«

Tiel notierte sich die Informationen so schnell, wie Gully sie herunterrasselte. »Habe ich einen Termin bei ihm?«, wollte sie wissen.

»Ich arbeite noch daran. Er ist möglicherweise nicht bereit, vor der Kamera zu stehen.«

»Ich werde ihn schon dazu bringen, dass er sich bereit erklärt«, erwiderte sie zuversichtlich.

»Ich schicke einen Helikopter mit einem Kameramann los.«

»Kip, wenn er abkömmlich ist.«

»Ihr könnt euch dann alle in Hera treffen. Du wirst das Interview morgen machen, sobald die Sache mit Davison geregelt ist. Anschließend kannst du dann deine Vergnügungstour fortsetzen.«

»Es sei denn, es gibt dort noch mehr heiße Storys.«

»Nichts da! Das ist die Bedingung, Tiel.« Sie konnte ihn förmlich vor sich sehen, wie er störrisch den Kopf schüttelte. »Du machst dieses Interview, und dann verschwindest du nach Angel Fire. Basta. Ende der Diskussion.«

»In Ordnung, wie du meinst.« Sie konnte jetzt erst einmal problemlos zustimmen und dann später darüber diskutieren, wenn die Ereignisse es rechtfertigten.

»Okay, lass mich mal sehen. Aus Rojo Flats raus …« Die Straßenkarte musste direkt vor ihm auf dem Schreibtisch liegen, denn Gully brauchte nur ein paar Sekunden, um ihr weitere Informationen zu geben. »Du müsstest eigentlich relativ schnell nach Hera kommen. Du bist doch nicht müde, oder?«

Sie war nie wacher als dann, wenn sie einer heißen Story nachjagte. Ihr Problem bestand vielmehr darin, abzuschalten und einzuschlafen. »Ich werde mir irgendwas Koffeinhaltiges für unterwegs kaufen.«

»Melde dich bei mir, sobald du dort ankommst. Ich habe dir ein Zimmer in dem einzigen Motel des Ortes reservieren lassen. Du kannst es unmöglich verfehlen. Man hat mir gesagt, es liegt an der blinkenden Ampel – der Einzigen weit und breit. Einer der Motelangestellten wird aufbleiben und auf dich warten, um dir den Zimmerschlüssel zu geben.« Er wechselte abrupt das Thema und fragte: »Wird dein neuer Freund sauer sein?«

»Zum letzten Mal, Gully, es gibt keinen neuen Freund!«

Sie legte auf und wählte eine andere Nummer – die ihres neuen Freundes.

Joseph Marcus war ein ebensolcher Workaholic wie sie. Laut Plan sollte er früh am nächsten Morgen ins Flugzeug steigen, deshalb nahm Tiel an, dass er an diesem Abend noch im Büro sein und länger arbeiten würde, um verschiedenes in Ordnung zu bringen, bevor er für einige Tage verreisen würde. Wie sich herausstellte, hatte sie richtig vermutet. Er meldete sich gleich beim zweiten Klingeln.

»Bekommst du die Überstunden bezahlt?«, fragte sie neckend.

»Tiel? Hi! Ich bin froh, dass du anrufst.«

»Es ist schon ziemlich spät. Ich hatte befürchtet, du würdest nicht mehr ans Telefon gehen.«

»Reiner Reflex. Wo bist du gerade?«

»Irgendwo in der Wallachei.«

»Alles in Ordnung? Du hast doch keinen Ärger mit dem Wagen, oder so was?«, fragte er.

»Nein, alles läuft bestens. Ich rufe aus verschiedenen Gründen an. Erstens einmal, weil ich dich vermisse.«

Dies war die Richtung, die sie einschlagen musste. Ihm erklären, dass die Reise nach wie vor stattfand. Ihm schonend beibringen, dass sie sich ein klein wenig verzögerte, dass ihr gemeinsamer Urlaub deshalb aber nicht völlig ins Wasser fallen würde. Ihm versichern, dass alles in bester Ordnung war, und ihn dann über die kleine Knitterfalte in ihren Plänen für eine romantische Flucht informieren.

»Du hast mich doch erst gestern Abend gesehen«, sagte er.

»Aber nur kurz, und es ist ein langer Tag gewesen. Der zweite Grund, weshalb ich anrufe, ist, um dich daran zu erinnern, eine Badehose in deinen Koffer zu packen. Der Whirlpool in dem Apartmentkomplex ist öffentlich.«

Nach einer kurzen Pause erwiderte er: »Tatsächlich ist es gut, dass du angerufen hast, Tiel. Es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden muss.«

Etwas in seiner Stimme hinderte sie daran, weiterzuplappern. Sie verstummte und wartete darauf, dass er das Schweigen brach, das sich zwischen ihnen ausdehnte.

»Ich hätte dich heute auf deinem Handy anrufen können«, erklärte er schließlich, »aber dies ist nicht die Art von Angelegenheit, die … Tatsache ist, dass … Und es tut mir wahnsinnig Leid. Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie Leid es mir tut.«

Tiel starrte auf die unzähligen Löcher in dem Metallschirm, der das Wandtelefon umgab. Sie starrte so lange darauf, dass die winzigen Löcher ineinander zu fließen schienen. Geistesabwesend fragte sie sich, welchem Zweck sie wohl dienten.

»Ich fürchte, ich kann morgen nicht von hier weg«, erklärte er.

Sie hatte die ganze Zeit über den Atem angehalten. Jetzt stieß sie ihn wieder aus, zutiefst erleichtert. Der Umstand, dass Joseph ihre gemeinsamen Pläne änderte, linderte ihr schlechtes Gewissen darüber, sie selbst ändern zu müssen.

Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, fuhr er fort: »Ich weiß, wie sehr du dich auf diese Reise gefreut hast. Ich habe mich auch unheimlich darauf gefreut«, fügte er hastig hinzu.

»Lass es mich etwas leichter für dich machen, Joseph.« Schuldbewusst gestand sie: »In Wahrheit habe ich dich angerufen, um dir zu sagen, dass ich noch ein paar Tage brauche, bevor ich nach Angel Fire kommen kann. Deshalb ist mir eine kurze Verschiebung durchaus recht. Würde es dein Zeitplan erlauben, dass wir uns, sagen wir, Dienstag statt morgen treffen?«

»Du verstehst offenbar nicht, was ich sage, Tiel. Ich kann dich überhaupt nicht treffen.«

Die winzigen Löcher flossen wieder ineinander. »Oh. Ach so. Das ist allerdings eine Enttäuschung. Na ja –«

»Die Lage hier ist ziemlich angespannt, verstehst du. Meine Frau hat mein Flugticket gefunden und –«

»Wie war das bitte?«

»Ich sagte, meine Frau hat mein Flug –«

»Du bist verheiratet?«, fragte sie tonlos.

»Ich … ja. Ich dachte, das wüsstest du.«

»Nein.« Ihre Gesichtsmuskeln fühlten sich plötzlich starr und unbiegsam an. »Du hast mir gegenüber nie erwähnt, dass es auch eine Mrs. Marcus gibt.«

»Weil meine Ehe nichts mit dir zu tun hat, mit uns. Es ist schon seit langem keine richtige Ehe mehr. Wenn ich dir meine häusliche Situation erst einmal erklärt habe, wirst du mich verstehen.«

»Du bist verheiratet.« Diesmal war es eine Feststellung, keine Frage.

»Tiel, hör zu –«

»Nein, nein, ich werde dir nicht zuhören, Joseph. Ich werde ganz einfach auflegen, du Scheißkerl!«

Noch lange nachdem sie aufgelegt hatte klammerte sie sich an den Telefonhörer, den sie knapp zehn Minuten zuvor nur mit Widerwillen angefasst hatte. Sie lehnte sich gegen den Münzfernsprecher, die Stirn fest gegen das perforierte Metall gepresst, während ihre Hände noch immer den schmierigen Hörer umfasst hielten.

Verheiratet. Als sie ihn kennen gelernt hatte, hatte sie gedacht, es sei zu schön, um wahr zu sein. Tja, und genauso war es ja auch. Der Traummann Joseph Marcus – gut aussehend, charmant, nett, witzig, sportlich, erfolgreich und finanziell abgesichert – war verheiratet. Wenn das Flugticket nicht gewesen wäre, hätte sie eine Affäre mit einem verheirateten Mann gehabt.

Tiel schluckte eine Aufwallung von Übelkeit hinunter und brauchte einen weiteren Moment, um sich wieder in die Gewalt zu bekommen. Später würde sie ihre Wunden lecken, sich dafür ausschelten, dass sie so dumm und naiv gewesen war, auf ihn hereinzufallen, und ihn zur Hölle und zurück wünschen. Aber zuerst einmal musste sie ihre Arbeit tun.

Josephs Enthüllung war ein solcher Schock gewesen, dass sich ihr alles drehte. Sie war über alle Maßen wütend auf ihn. Sie war zutiefst verletzt, aber mehr als alles andere schämte sie sich ihrer eigenen Leichtgläubigkeit. Umso mehr Grund, nicht zuzulassen, dass der Bastard sie in ihrer Arbeitsleistung beeinträchtigte.

Arbeit war ihr Allheilmittel, ihr Lebenserhaltungssystem. Sie arbeitete, wenn sie glücklich war. Sie arbeitete, wenn sie traurig war. Sie arbeitete, wenn sie krank war. Arbeit war das Heilmittel gegen alle ihre Leiden. Arbeit war das Patentrezept gegen alles … selbst gegen einen so großen Kummer, dass man dachte, man würde daran sterben.

Sie wusste das aus erster Hand.

Sie raffte ihren Stolz zusammen, sammelte die Zettel mit ihren Notizen zu der Dendy-Story und Gullys Wegbeschreibung nach Hera, Texas, ein und befahl sich energisch, sich in Bewegung zu setzen.

Verglichen mit dem trüben Halbdunkel im Korridor schien die Neonbeleuchtung im Verkaufsraum übermäßig hell. Der Cowboy war inzwischen wieder gegangen. Das ältere Ehepaar stöberte in der Zeitschriftenauslage. Die beiden Spanisch sprechenden Männer aßen ihre Burritos und unterhielten sich leise miteinander.

Tiel fühlte ihre anzüglichen Blicke auf sich, als sie an ihnen vorbei zu den Kühlschränken ging. Der eine sagte etwas zu dem anderen, was diesen prustend lachen ließ. Es fiel Tiel nicht sonderlich schwer, die Art des Kommentars zu erraten. Zum Glück war ihr Spanisch etwas eingerostet.

Sie schob die Glastür der Kühlvitrine auf und wählte einen Sechserpack Cola für unterwegs aus. Von einem Regal mit Snacks nahm sie ein Päckchen Sonnenblumenkerne. Während ihrer Collegezeit hatte sie entdeckt, dass das Aufknacken der gesalzenen Schalen, um an die Kerne im Inneren heranzukommen, eine gute manuelle Übung war, um sich wach zu halten, wenn man spät abends noch lernen musste. Hoffentlich würde sich das Prinzip auch auf nächtliche Autofahrten übertragen lassen.

Sie überlegte hin und her, ob sie sich einen Beutel Schokoladentoffees kaufen sollte oder nicht. Nur weil ein Mann, mit dem sie sich wochenlang getroffen hatte, sich plötzlich als verheiratetes Arschloch entpuppt hatte, bedeutete das nicht, dass sie das als Entschuldigung benutzen sollte, um ein Fressgelage zu veranstalten. Andererseits, wenn sie jemals etwas Leckeres verdient hatte …

Die Videoüberwachungskamera an der Ecke der Ladendecke explodierte praktisch und ließ einen Regen von Glassplittern und Metallstückchen herabregnen.

Instinktiv schreckte Tiel vor dem ohrenbetäubenden Lärm zurück. Aber die Kamera war nicht von selbst explodiert. Ein junger Mann war in den Laden gestürmt und hatte mit einer Pistole auf die Videokamera gefeuert. Dann zielte er mit seiner Waffe auf die Kassiererin, die ein schrilles Kreischen ausstieß, bevor der Schrei in ihrer Kehle zu erstarren schien.

»Dies ist ein Überfall!«, brüllte er melodramatisch und ziemlich überflüssig, da unschwer zu erraten war, was es war.

Zu der jungen Frau, die ihn in den Laden begleitet hatte, sagte er: »Sabra, behalte die anderen im Auge. Warne mich, wenn sich irgendjemand bewegt.«

»Okay, Ronnie.«

Tja, ich könnte hierbei draufgehen, dachte Tiel. Aber wenigstens werde ich meine Story bekommen.

Und sie würde nicht erst nach Hera fahren müssen, um sie zu bekommen. Die Story war zu ihr gekommen.

2

»Sie da!« Ronnie Davison wedelte mit seiner Pistole auf Tiel. »Kommen Sie hier rüber. Legen Sie sich auf den Boden!« Unfähig, sich zu rühren, glotzte sie ihn nur mit offenem Mund an. »Sofort!«

Sie ließ ihr Päckchen mit den Sonnenblumenkernen und den Sechserpack Cola fallen, hastete zu der Stelle, auf die er wies, und legte sich wie befohlen mit dem Gesicht nach unten auf den Fußboden. Nun, da sie sich von dem ersten lähmenden Schreck erholt hatte, musste Tiel sich auf die Zunge beißen, um ihn nicht zu fragen, warum er eine Entführung noch durch einen bewaffneten Überfall verschlimmerte.

Aber sie bezweifelte, dass der junge Mann in diesem Moment für Fragen empfänglich sein würde. Außerdem sollte sie vielleicht besser nicht enthüllen, dass sie Reporterin war und sowohl seine Identität als auch die seiner Komplizin kannte, bis sie wusste, was er mit ihr und den anderen Augenzeugen vorhatte.

»Kommen Sie hierher und legen Sie sich hin!«, befahl er dem älteren Ehepaar. »Das gilt auch für Sie beide!« Er zeigte mit der Schusswaffe auf die Mexikaner. »Na los! Bewegen Sie sich!«

Die alten Leute gehorchten ohne Widerworte. Die beiden Mexikaner blieben, wo sie waren. »Wenn ihr nicht sofort hier rüber kommt, knall ich euch ab!«, brüllte Ronnie.

Tiel hielt den Kopf gesenkt und richtete ihre Worte an

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Standoff« bei Warner Books, Inc., New York

Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann.

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2001© der Originalausgabe 2000by Sandra Brown Management, Ltd.© der deutschsprachigen Ausgabe 2001by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbHUmschlaggestaltung: Design Team MünchenUmschlagfoto: Photonica/DavisSatz: Uhl + Massopust, Aalen

eISBN 978-3-641-10036-0

Lektorat: SK Redaktion: Petra Zimmermann Herstellung: Heidrun Nawrot

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