Nachts in Soho - Dirk Schiller - E-Book

Nachts in Soho E-Book

Dirk Schiller

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Beschreibung

Kriminologiestudent Niklas beginnt ein Auslandssemester in London und ist froh, dass er in seinem Zimmernachbarn Greg schnell einen neuen Freund findet. Während Greg ihm die Stadt und vor allem das schwule Nachtleben von Soho zeigt, kommen sich die beiden Jungs schon bald näher ... Doch Greg ist bereits mit einem reichen Geschäftsmann liiert und als dieser tot aufgefunden wird, fällt der Verdacht sofort auf ihn. Nur Niklas ist von Gregs Unschuld überzeugt und bereit, den wahren Täter mit Scharfsinn und vollem Körpereinsatz zu stellen.

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NACHTS INSOHO

Dirk Schiller ist Jahrgang 1981 und hat das Ruhrgebiet so früh wie möglich in Richtung Berlin verlassen, wo er inzwischen unter seinem echten Namen für die Bundesregierung arbeitet. Abends widmet er sich dem Schreiben von erotischen Romanen und Krimis, für die er sich in den Bars und Clubs der Hauptstadt Inspiration sucht. Dirk Schiller lebt alleine und ist damit sehr zufrieden.

DIRKSCHILLER

NACHTSIN SOHO

EROTISCHER KRIMI

1. Auflage© 2016 Bruno Gmünder GmbHKleiststraße 23-26, D-10787 [email protected]

© 2016 Dirk SchillerUmschlaggestaltung: Matthias Panitz unterVerwendung einer Fotografie von © Exterface.comSatz: Robert SchulzePrinted in Germany

ISBN 978-3-95985-236-4eISBN 978-3-95985-260-9

Mehr über unsere Bücher und Autoren:www.brunogmuender.com

Inhalt

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL

1

Meine Oma hat immer gesagt, Paranoia sei ansteckender als Husten. Und ich bin mir sicher, dass sie wusste, wovon sie sprach, weil sie nämlich den größten Teil ihres Lebens in der DDR verbracht hat.

Ich glaube, der Sinn dieses Spruchs ist eigentlich, die Leute zu beruhigen, weil man sich damit schließlich sagt: Hey, du bildest dir bestimmt nur ein, dass zehn Meter hinter dir einer im Busch sitzt und dich beobachtet. Das war auch genau der Grund, warum ich an Oma denken musste an diesem Sommerabend, als ich mit Greg auf dem Parliament Hill stand und wir schweigend auf die vor uns liegende Stadt blickten. Greg war am Abend zuvor aus der Untersuchungshaft entlassen worden, und weil er so ein waschechter Naturbursche ist wie aus einem dieser Kalender mit den sexy Bauern, wollte er nach acht Tagen in einer winzigen Zelle unbedingt irgendwohin, wo er ein bisschen Platz und vor allem Grün um sich herum spüren konnte. Also habe ich mich von ihm nach Hampsted Heath schleppen lassen, diesen riesigen Park im Norden Londons, der weniger wie eine gepflegte englische Rasenlandschaft, sondern vielmehr wie eine verwilderte Weide wirkt. Wie in Wales eben, wo Greg ja herkommt.

Ich bin gerne mitgegangen, weil ich ebenfalls ein Landkind bin und nach zwei Wochen in dieser riesigen Stadt schon langsam das Gefühl hatte, ein bisschen den Bezug zur Natur zu verlieren. Und am Anfang war es auch ein schöner Ausflug. Wir spazierten im Sonnenuntergang über die riesige Weide, tauschten Blicke aus und hielten zum ersten Mal verstohlen Händchen, und weil es bald anfing, kurz zu regnen, waren wir schnell weit und breit die einzigen Spaziergänger, die noch übrig waren. Wir nutzten das, indem wir es in dem nassen, aber warmen Gras trieben wie die Wilden und dann einfach so lange eng umschlungen liegen blieben, bis es um uns herum ganz dunkel und still geworden war und wir fast das Gefühl hatten, die einzigen beiden Menschen auf einer einsamen Insel zu sein.

Aber genau das war dann das Problem. Als wir nämlich ein paar Minuten später auf dem Parliament Hill standen, überkam mich plötzlich das dumpfe Gefühl, dass wir so alleine gar nicht mehr waren. Greg hatte seinen Arm um mich gelegt und mir kurz zuvor zum ungefähr fünfzigsten Mal feierlich und unter Tränen geschworen, dass er in seinem ganzen Leben noch niemanden umgebracht hatte, wovon ich natürlich längst überzeugt war – spätestens seit meinen Entdeckungen in der Nacht zuvor. Aber selbst wenn ich immer noch geglaubt hätte, dass Greg ein Mörder sein könnte, wäre ich in diesem Moment trotzdem verdammt froh gewesen, ihn bei mir zu haben. Denn dieses verräterische Knacken im Gebüsch hinter uns und vor allem das ungute Gefühl, dass mich irgendjemand ziemlich Mächtiges auf seiner Abschussliste stehen hatte, machten mir definitiv mehr Angst als alles, was Greg mir hätte antun können.

Ich merke schon, ich sollte die Geschichte von vorne erzählen, weil das jetzt wahrscheinlich erst einmal ziemlich unverständlich klang. Dass ich mich beim Berichten mehr auf das Wesentliche und vor allem auf die richtige Reihenfolge konzentrieren soll, habe ich schon oft gesagt bekommen. Es fällt mir nur leider manchmal etwas schwer, mich daran zu halten, weil meine Gedanken sich oft mehr so in Schleifen bewegen und nicht immer streng geradeaus – was besonders auf der Arbeit peinlich werden kann, vor allem wenn man bedenkt, dass ich es trotzdem irgendwie geschafft habe, mein Kriminologiestudium als Jahrgangsbester zu beenden, und demnächst beim BKA in Wiesbaden anfangen soll. Das ist auch der Grund, weshalb ich den Sommer überhaupt in London verbracht habe. Also, in gewisser Weise. Aber eins nach dem anderen.

Und nur, um wenigstens diesen Gedanken noch schnell zu Ende zu bringen: Greg und ich standen also auf dem Hügel, hielten uns im Arm und blickten gedankenverloren ins Weite. Es war Neumond, und am Himmel zog keine einzige Wolke mehr vorbei, die die Lichter der Stadt hätte reflektieren können, also war es echt finster um uns herum. Und dann dieses Knacken im Gebüsch, viel zu laut für einen Vogel oder ein Eichhörnchen, auch wenn die britischen Squirrels echt Riesenbiester sind. Ich drehte mich erschrocken in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und wenn ich es mir nicht komplett einbildete, leuchtete da ganz kurz ein rotes Lämpchen auf, wie von einer Kamera. Oder einem Scharfschützengewehr?

Jetzt spinnst du aber wirklich, Niklas, sagte ich in Gedanken zu mir selbst. Ein Scharfschützengewehr, also bitte. Doch in Anbetracht der Dinge, die ich in den Tagen zuvor erlebt hatte, war das gar nicht mal so abwegig, wie es jetzt vielleicht klingt.

»Was ist los?«, fragte Greg, der natürlich gemerkt hatte, dass mich irgendwas beunruhigte. Er nahm seinen Arm von meiner Schulter und trat einen Schritt von mir weg. Wahrscheinlich dachte er, dass ich Angst vor ihm hatte, dabei war in dem Moment das genaue Gegenteil der Fall.

»Alles okay«, antwortete ich schnell und drückte mich wieder an ihn. »Mir wird nur langsam ein bisschen kalt. Lass uns nach Hause gehen.«

Paranoia ist ansteckender als Husten. Ich versuchte, den Spruch meiner Oma in Gedanken vor mich herzusagen und mich damit zu beruhigen, was mir für einen Moment sogar ganz gut gelang. Dummerweise fiel mir dann aber ein, was Opa ihr immer geantwortet hatte: Paranoid zu sein, heißt noch lange nicht, dass man nicht trotzdem verfolgt wird.

KAPITEL

2

Wenn man in Chemnitz geboren und in Flensburg aufgewachsen ist und in seinem ganzen Leben höchstens mal in Dänemark im Urlaub war, dann hat man nicht die geringste Vorstellung davon, wie unglaublich groß London ist. Ich meine, natürlich weiß jedes Kind, dass London groß ist, aber wie verdammt unfassbar riesig es tatsächlich ist, kapiert man erst, wenn man aus dem Flugzeugfenster einmal draufgeschaut hat – und dann plötzlich mittendrin steht. Im Herbst zuvor hatte ich für ein Praktikum immerhin ein paar Wochen in Berlin verbracht, doch selbst die deutsche Hauptstadt kommt einem im Nachhinein wie ein Dorf vor, wenn man pünktlich zur Rush Hour am frühen Freitagabend an der Liverpool Street Station aus dem Flughafenbus steigt.

Das ist also London, dachte ich, während ich mit meinem Koffer eine Weile einfach nur mitten auf dem Bürgersteig stand (was mir die meisten Pendler ziemlich übel nahmen), den Geruch der Stadt einatmete und versuchte, all die neuen Eindrücke in mich aufzunehmen. Ich blickte mich um und musste laut auflachen, als ich auf der anderen Straßenseite einen winzigen, typisch britischen Pub entdeckte, wie ich ihn aus meinem alten Englischbuch aus der Schule kannte. Nur dass dieser hier zwischen den ganzen hypermodernen Glasgebäuden der Banken und Anwaltskanzleien total deplatziert wirkte, ein bisschen wie ein Raumschiff aus dem elisabethanischen Zeitalter. Die ganzen Bürotürme waren das Zweite, das mir ins Auge fiel. Und das Dritte waren die Männer, die in ihren schicken Anzügen und mit ihren handgenähten Ledertaschen aus den Gebäuden heraus- und direkt auf mich zuströmten, weil ich ja vor dem Eingang zum Bahnhof stand und ihnen den Weg blockierte. Aber darauf konnte ich wirklich nicht auch noch achten.

Ich hatte schon so viele Schauergeschichten über das Aussehen der britischen Männer gehört. Und wenn man sich mal die englische Nationalmannschaft oder den größten Teil der Königsfamilie anschaut (außer Harry natürlich), ist man tatsächlich geneigt zu glauben, dass auf dieser Insel nur hässliche Kerle leben. Vielleicht war ich auch einfach nur ausgehungert, weil ich schon seit zwei Wochen keinen Sex mehr gehabt hatte, aber ich muss sagen, dass unter den ganzen Typen mit ihren strengen Seitenscheiteln und den gepflegten Dreitagebärten definitiv so viele Hübsche dabei waren, dass ich innerhalb von zwei Minuten genügend Jungs für eine kleine Orgie zusammenbekommen hätte. Die meisten wirkten auf ihrem Nachhauseweg nur leider so gehetzt, dass sie wahrscheinlich nicht einmal für einen Blowjob kurz angehalten hätten.

Nachdem ich eine Weile lang umhergestarrt hatte, zwang ich mich, meinen Koffer zu schnappen und mich auf den Weg zu meinem Wohnheim zu machen. Schließlich würde ich in den nächsten sechs Wochen noch genug Gelegenheit zum Sightseeing haben, und ich wollte unbedingt vor Einbruch der Dunkelheit angekommen sein – denn trotz aller Begeisterung muss ich zugeben, dass mir die Stadt auch ein kleines bisschen Angst machte. Weil mein Handy noch nicht für die Internetnutzung im Ausland freigeschaltet war und ich damit auch nicht auf meine Karten-App zurückgreifen konnte, hielt ich mich genauestens an die ausgedruckte Wegbeschreibung, die mir die Uni zugeschickt hatte. Also fuhr ich mit der Central Line bis zur Tottenham Court Road und ging von dort (ohne mich zu verlaufen!) die fünf Minuten bis zur angegebenen Adresse – obwohl ich beim ersten Mal natürlich länger brauchte, weil ich damit beschäftigt war, mich staunend umzusehen.

Das Wohnheim lag schräg gegenüber von einem dieser bekannten Londoner Musicaltheater und war ein fünfzehnstöckiger Klotz aus rotem Backstein. So weit, so gut, dachte ich und ließ mir an der Rezeption meinen Schlüsselkarte aushändigen. Als ich dann allerdings in meinem Zimmer im achten Stock stand, das mehr an einen Hasenstall als an eine gemütliche Unterkunft erinnerte, musste ich doch erst einmal schlucken: Ein fest im Boden verschraubter Schreibtisch, der aussah wie vor dreißig Jahren vom Sperrmüll geholt, ein winziger Schrank (abschließbar, immerhin), ein knarzendes Bett mit einem einzelnen Regalbrett darüber, dazu ein klitzekleines Waschbecken neben der Tür. Und zwischen all dem so wenig Boden, dass ich nicht einmal meinen Koffer richtig aufklappen konnte.

Da ist mein Wohnheimzimmer in Flensburg ja fast dreimal so groß gewesen, dachte ich. Und es hatte im ganzen Monat so viel gekostet wie man hier wöchentlich abdrücken durfte. Na ja, immerhin musste ich es nicht selbst bezahlen, also wollte ich mich auch nicht beschweren. Und für die nächsten paar Wochen würde es schon gehen. Als Allererstes zog ich mein Poster vom Ostseestrand aus seiner Plastikröhre und pinnte es mit Reißzwecken über das Bett. Das habe ich immer dabei, wenn ich unterwegs bin, weil ich mich damit noch in der armseligsten Bude schnell wie zu Hause fühle. Ich überprüfte mit der Wasserwagen-App auf meinem iPhone, ob es auch gerade hing, dann verließ ich das Zimmer wieder, weil ich dringend pinkeln musste.

Der Gang sah ein bisschen aus wie die Flure des Hotels in Shining, nur noch enger. Ich öffnete die erstbeste Tür, die sich optisch von den vielen Eingangstüren zu den Studentenzimmern unterschied, und fand mich in einer großen Küche wieder, in der ich immerhin drei große Kühlschränke und zwei Herde mit je vier Platten entdeckte. Allerdings wurde gerade jede einzelne der Kochstellen von fünf geschäftig vor sich hinwerkelnden Asiaten blockiert, die nicht aufsahen, als ich den Raum betrat, und nicht einmal auf mein »Hi, I’m Niklas« reagierten.

Auch gut, dachte ich. Meine volle Blase ließ mir sowieso keine Zeit für Smalltalk. Ich verließ die Küche, trottete weiter den Gang entlang und stand nach fünfzehn Metern endlich vor einer Tür, auf der einladend MEN’S RESTROOM / SHOWERS stand. Irgendjemand schien schon ziemlich lange ziemlich heiß zu duschen, denn der ganze Raum war mit dichtem Dampf gefüllt. Weil auch noch zwei von drei Lampen kaputt waren, brauchte ich eine Weile, um mich zurechtzufinden und um zu verstehen, dass es nicht acht Toilettenkabinen gab, obwohl es auf den ersten Blick so ausgesehen hatte, sondern dass sich hinter vier der Türen in Wirklichkeit Duschen befanden – das waren die, die man zwar zuziehen, aber nicht abschließen konnte. Der nächste Kulturschock ereilte mich nach dem Pinkeln: Sämtliche Waschbecken waren mit gleich zwei Wasserhähnen ausgestattet, allerdings hatte keiner davon einen Temperaturregler, weshalb aus einem nur eiskaltes und aus dem anderen nur kochend heißes Wasser lief.

»Das kann doch nicht euer Ernst sein!«, murmelte ich leise, während ich versuchte, meine Hände blitzschnell unter beiden Hähnen hin- und herzubewegen, um so wenigstens die Illusion von lauwarmem Wasser zu erleben – was mir allerdings mehr schlecht als recht gelang.

»Du bist neu, oder?«, hörte ich plötzlich eine tiefe Stimme auf Englisch hinter mir lachen. Ich blickte erstaunt auf und sah im vom Dampf beschlagenen Spiegel eine stattliche und ganz und gar unbekleidete Gestalt hinter mir stehen. Erst jetzt viel mir auf, dass die Dusche nicht mehr lief.

»Ich bin vor einer halben Stunde angekommen und muss mich scheinbar noch an ein paar Dinge gewöhnen. Ich komme aus Flensburg«, sagte ich zu der muskulösen Silhouette hinter mir und dachte schon eine Zehntelsekunde später: Na toll, als ob er wüsste, wo das liegt, du Idiot. »Das ist bei Hamburg«, schob ich deshalb schnell hinterher, bevor ich mich betont langsam umdrehte und dabei mein Bestes gab, nicht so begeistert auszusehen, wie ich es tief im Inneren war.

Vor mir stand ein durchtrainierter Schrank von einem nackten Mann, Mitte zwanzig, bestimmt über einen Meter neunzig groß und wahrscheinlich hundert Kilo schwer, der sich abtrocknete und für den es das Normalste auf der Welt zu sein schien, ohne Klamotten vor einem fremden Kerl herumzulaufen. Mannschaftssportler also, kombinierte ich. Und bei dem Körper tippte ich stark auf Rugby.

»Keine Angst«, sagte er jetzt, und ich konnte durch den dichten Dunst ein verschmitztes Grinsen in seinem Gesicht erkennen, »das mit den Wasserhähnen musst du nicht verstehen. Ist eines dieser Dinge, die nicht einmal die Engländer selbst kapieren. Aber wenn sie jetzt anfangen, sich ordentliche Waschbecken zu kaufen, würden sie ja zugeben, dass der Rest der Welt schlauer war als sie. Und das würde ihnen noch mehr wehtun als ein halber Liter kochendes Wasser auf den Fingern.«

Er wickelte sich mit einer geübten Bewegung sein Handtuch mit dem Logo der Guinness-Brauerei um die Hüften und machte zwei Schritte auf mich zu.

»Hi«, sagte er und streckte mir seine große Hand hin, »ich bin Greg.«

»Ich bin Niklas«, erwiderte ich stockend und musste mich beherrschen, dabei nicht zu kichern wie ein Schulmädchen. Aus der Nähe konnte ich endlich sein Gesicht richtig erkennen, und dieser Typ sah einfach zu gut aus, um wahr zu sein! Mittelbraune, kurze Haare, breite Augenbrauen, gutmütige, wache Augen, eine markante, aber nicht zu große Nase und fein geschwungene Lippen, die mich freundlich anlächelten. Gott sei Dank hatte er wenigstens leichte Segelohren, sonst wäre ich wahrscheinlich vor Begeisterung in Ohnmacht gefallen! Und ich musste wirklich all meine Selbstbeherrschung aufbringen, um ihm nicht zwischen die Beine zu starren, wo er sich gerade noch mit dem Handtuch zu schaffen machte. Stattdessen tat ich ebenfalls so, als wäre es zwischen zwei fremden Hetero-Jungs wie uns nicht der Rede wert, dass einer von beiden nackt ist und sich gerade den Schwanz frottiert. (Normalerweise gehe ich ziemlich offen damit um, dass ich schwul bin, und meistens oute ich mich so schnell wie möglich bei neuen Leuten, damit ich es nicht ewig vor mir herschieben muss. Aber ich wollte es ehrlich gesagt nicht unbedingt darauf anlegen, herauszufinden, ob dieser breitschultrige Riese auch noch so freundlich zu mir wäre, wenn er erst einmal geschnallt hätte, dass ihm da gerade ein vor Geilheit sabbernder Schwuler beim Anziehen zuguckt. Also Augen schön geradeaus, Niklas!)

»Fängst du ein Studium an?«, fragte Greg, der inzwischen damit beschäftigt war, sein Duschgel in einer Plastiktüte zu verpacken, aus der er zuvor noch ein T-Shirt gezogen hatte, das er sich wahrscheinlich gleich überstreifen würde. Zum Glück. Oder leider, je nachdem.

»Nein«, antwortete ich, »nicht direkt zumindest. Ich bin für einen Sommerkurs in Kriminologie hier. An der City University.«

»Kriminologie«, schnalzte er mit der Zunge, »also bist du ein Bobby? Siehst gar nicht aus wie einer.«

»Bin ich auch nicht«, sagte ich schnell, obwohl ich zumindest in gewisser Hinsicht schon bald einer sein würde. Aber den Unterschied zwischen einem Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes und einem normalen Polizisten hatten meine Eltern auch nach ein paar Monaten und ungefähr zwanzig Erklärungsversuchen noch nicht kapiert. Deshalb wollte ich diese Diskussion nicht unbedingt noch einmal von vorne beginnen. Außerdem war ich damit beschäftigt, mir zu überlegen, was der halb nackte Hüne überhaupt damit sagen wollte. Dass ich nicht aussah wie ein Polizist, bekam ich zwar ständig zu hören, aber es war immer wieder schwer zu interpretieren, ob das als Kompliment oder eher als Beleidigung gemeint war.

»Welche Zimmernummer hast du?«, fragte Greg, der inzwischen sein Shirt und ein paar Badelatschen angezogen hatte und mit seiner Plastiktüte Richtung Ausgang lief.

»8987.«

»Also bist du mein Nachbar«, sagte er lächelnd. »Ich hab die 8988.«

Wir liefen schweigend den Gang entlang zu unseren Zimmern, bis er auf die mir bereits bekannte Tür zeigte und sagte: »Das hier ist die Küche. In den Kühlschränken gibt es nach Zimmern nummerierte Fächer, in die du deine Sachen packen kannst. Du kannst den Herd und das ganze Geschirr benutzen, aber du musst sofort nach dem Essen alles sauber machen, sonst gibt es Ärger mit den anderen.«

»Da war ich schon drin«, sagte ich. »Ist allerdings gerade alles besetzt.«

»Die Koreaner?«, fragte er und verdrehte die Augen, als ich nickte. »Die kochen jeden Abend stundenlang und blockieren beide Herde. Du wirst also noch warten müssen, bis du da ran kannst.«

»Na toll«, antwortete ich, denn inzwischen hatte ich echt Hunger bekommen. Ich hatte mir extra für den ersten Abend eine Dose Hühnereintopf aus Deutschland mitgebracht, aber den wollte ich nicht unbedingt kalt genießen.

»Hey, ich treffe mich gleich mit ein paar Kumpels vom Sport«, sagte Greg plötzlich, als wir vor unseren Zimmertüren angekommen waren. »Wir gehen ein Bier trinken, aber da gibt’s sicher auch irgendwo was zu essen. Also wenn du Lust hast, komm doch mit.«

Ich freute mich, dass er mich offenbar sympathisch genug fand, um mich zu seinen Jungs mitzunehmen, und einerseits stellte ich mir einen Abend unter lauter bulligen Sportlern auch ein bisschen geil vor. Doch andererseits war ich vom ganzen Trubel des Tages schon ziemlich müde und hatte nicht so wahnsinnige Lust, für die nächsten Stunden den sportbegeisterten Hetero markieren zu müssen, um nicht gleich negativ aufzufallen.

»Danke, das ist nett«, sagte ich also schnell. »Aber ich muss leider noch ein paar Texte lesen. Mein Kurs geht schon Montag los, und ich hab die Einladung echt kurzfristig bekommen. Aber nächstes Mal komm ich gern mit.«

Greg musterte mich kurz, als ob er herausfinden wollte, ob das nur eine Ausrede war. »Na gut, wie du willst. Dann noch frohes Schaffen!«, sagte er zum Abschied lächelnd und verschwand in seinem Zimmer.

Meinen Eintopf habe ich dann doch noch kalt gegessen. Zwei Stunden später hatte ich meinen Koffer ausgepackt, mit meinen Eltern telefoniert und geduscht (die Duschen hatten zum Glück nicht dieses seltsame System mit den zwei Hähnen), lag mit nassen Haaren auf meinem Bett und konnte mich einfach nicht dazu aufraffen, eines meiner Fachbücher aufzuschlagen, weshalb ich neugierig in meinem London-Reiseführer blätterte, den ich mir noch schnell am Hamburger Flughafen gekauft hatte. Mit seiner Hilfe und vor allem mit der von Google Maps wollte ich erst einmal herausfinden, wo genau in der Stadt ich eigentlich gelandet war.

Ich sollte vielleicht noch einmal betonen, dass diese ganze London-Sache wirklich sehr kurzfristig auf mich zugekommen war, damit niemand denkt, ich wäre ein bisschen doof oder so. Ich hatte erst eine Woche zuvor mein Master-Zeugnis erhalten und mich eigentlich auf einen ruhigen Sommer gefreut, bevor ich dann im Oktober meine erste richtige Stelle antreten würde. Doch dann rief mich unerwartet Professor Heinrich an, bei dem ich meine Abschlussarbeit geschrieben hatte, und erzählte mir, dass es noch einen Platz für die Summer School of Criminology in London gab und dass ich als Jahrgangsbester sogar ein Stipendium über die Studiengebühren und den gesamten Aufenthalt bekommen würde. Der einzige Haken war, dass ich schon zwei Tage später fliegen musste. Da ich aber generell eher der Typ bin, der zu allem erst einmal Ja sagt und sich dann später überlegt, ob das jetzt eine gute Idee war, saß ich also gerade mal achtundvierzig Stunden nach dem Anruf in diesem Schuhkarton von einem Zimmer und hatte bis dahin alles in allem noch nicht das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben.

Ich meine, London!

So schnell würde sich mir die Chance nicht mehr bieten, für einige Wochen in dieser Stadt wohnen zu können, schon gar nicht umsonst. Und dann auch noch die Summer School, die echt einen verdammt guten Ruf hatte und sich super in meinem Lebenslauf machen würde. Ich hoffte nur, der Kurs würde nicht zu zeitaufwendig sein, damit ich auch noch ein bisschen das Leben genießen konnte.

Apropos das Leben genießen: Ich blätterte also in meinem Reiseführer und stellte fest, dass die Londoner Gay Area keine zehn Fußminuten von meinem Wohnheim entfernt lag. Also blickte ich grinsend zur Zimmerdecke und murmelte leise: »Danke!«

»›Im winzigen, aber bis unter die Decke mit allerlei Sündhaftem vollgepackten Stadtteil Soho treffen an jedem Wochenende Homosexuelle, Junggesellenabschiede und andere Feierwütige aufeinander, um zwischen chinesischen Restaurants, Sexshops, Discos und halb versteckten Bordellen das Leben zu feiern‹«, las ich, wobei ich vor Aufregung die Lippen bewegte. Und ehrlich gesagt bekam ich allein von den paar Sätzen schon einen halben Ständer.

Bisher hatte ich eigentlich immer gedacht, dass Soho in New York lag, aber für solche geografischen Feinheiten hatte ich in dem Moment keinen Kopf. Ich blickte auf meinen Reisewecker: Es war kurz nach zehn, und zum geöffneten Fenster wehte eine verführerisch-warme Brise ins Zimmer. Meine Müdigkeit war auf einen Schlag wie weggeblasen, dafür war meine schon fast vergessene Geilheit umso drängender zurückgekehrt.

Du bist und bleibst ein kleiner Tunichtgut, Niklas Dankwart, dachte ich seufzend. Ich warf meinem Fachbuch einen entschuldigenden Blick zu und flüsterte: »Morgen. Ich versprech’s dir.«

Dann stand ich vom Bett auf und tauschte meine ollen Schlafboxershorts gegen meinen Lieblings-Jockstrap und mein Lümmel-T-Shirt gegen ein deutlich engeres Modell. Zum Schluss schob ich mich in eine Röhrenjeans und schlüpfte schnell in meine Adidas-Sneaker. Aufgeregt schaute ich ein letztes Mal in meinen Reiseführer, damit ich mich auch nicht verlaufen würde. »Einfach nur die High Holborn Street runter und dann links in die New Compton Street«, sagte ich mir dreimal laut vor, damit es mir auf keinen Fall unterwegs entfallen würde. Ich bin nämlich leider manchmal etwas vergesslich, obwohl ich mir andererseits gerade die absonderlichsten Dinge ewig merken kann. Die New Compton Street ging jedenfalls nach ein paar Metern in die Old Compton Street über, und das war genau der Ort, wo ich hinwollte.

Ich wuschelte mir vor dem kleinen Spiegel durch meine inzwischen getrockneten Haare und steckte meinen Geldbeutel und ein paar Tic Tacs ein. Dann stürzte ich kichernd los.

KAPITEL

3

Meine Eltern hatten nie viel Geld gehabt, und weil mir mein bisschen BAföG hinten und vorne nicht ausgereicht hatte, hatte ich die Semesterferien immer komplett durchgearbeitet. Das war auch der Grund, weshalb ich bis auf meine Kindheitsurlaube in Dänemark nur ein einziges Mal im Ausland gewesen war, auch wenn ich das nicht so gerne erzähle, weil es mich wie ein echtes Landei aussehen lässt. Dieses eine Mal bin ich in Amsterdam gewesen, wo ich mich nach meinem erfolgreich abgeschlossenen Bachelor-Studium mit einer kleinen Schwanzsafari belohnt habe, auf der ich mich eine Woche lang durch die Sexkinos und Cruising-Bars der Stadt treiben ließ. Ich habe mich in kürzester Zeit in Amsterdam verliebt, was nicht nur an den vielen zwielichtigen Clubs lag, sondern vor allem an den engen Straßen voller fröhlicher Menschen und an dieser besonderen, auf seltsame Art fast schon morbiden Atmosphäre entlang der Grachten.

Das war der Grund, weshalb ich sofort das Gefühl hatte, zu Hause zu sein, als ich meine ersten Schritte auf der Old Compton Street machte, denn es fühlte sich fast genauso an wie zwei Jahre zuvor in Amsterdam. Das Einzige, was fehlte, waren die Grachten, aber sonst: Die alten Backsteinhäuser, die bunt leuchtenden Neon-Schilder der Bars, die Drogendealer und die aufgekratzte Menschenmenge, die sich durch die schmalen Gassen schob, und zu guter Letzt diese sofort spürbare sexuelle Grundstimmung, die in der Luft lag – alles da.

Ich dankte leise Professor Heinrich, der mir diese Reise ermöglicht hatte, wenn auch sicher nicht, damit ich mich Freitagabend in Soho herumtrieb. Aber schließlich hatte er uns immer wieder eingeschärft, dass man bei Ermittlungen die aufregendsten Entdeckungen oft durch Zufall macht. Und ich sah keinen Grund, warum das nicht auch für das echte Leben gelten sollte.

Ich schlenderte also die Straße entlang und genoss die unverhohlen lüsternen Blicke der Typen, die mir entgegenkamen. Einige von ihnen sahen leider wirklich so aus, wie man sich den hässlichen Klischee-Engländer vorstellt, aber es waren immer noch mehr hübsche Kerle darunter, als ich in einer Nacht befriedigen konnte. Und ich hatte sowieso vor, an diesem Abend nur auf die Befriedigung von einer einzigen Person zu achten – nämlich mir.

Die meisten gutaussehenden Jungs liefen zielstrebig zu einer Bar mit dem eindeutigen Namen G.A.Y., weshalb ich ihnen ohne zu zögern hinterherlief. Ich bezahlte meinen Eintritt und fand mich in einer zweistöckigen Location wieder, die sich eher als Disco herausstellte und in der mehr Gedränge herrschte als in einem holsteinischen Hühnerstall. Eigentlich wollte ich mir als Allererstes einen Drink holen, doch die Schlange an der einzigen Theke war so lang, dass ich mich umentschied und beschloss, erst einmal eine Runde zu drehen, um die Lage (und damit meine ich die Typen) abzuchecken. Im G.A.Y. war diese sexuelle Stimmung noch viel stärker zu spüren als auf der Straße, und ich hatte inzwischen das Gefühl, vor Geilheit kaum mehr laufen zu können. Also überprüfte ich als Erstes die Toiletten, weil es immer ein gutes Zeichen ist, wenn dort gevögelt wird. Und ich wurde nicht enttäuscht, denn schon beim Reinkommen konnte ich aus einer der Kabinen sehr eindeutige Geräusche zu hören, und an den Waschbecken stand ein junger Afrikaner herum, der offenbar nur darauf wartete, dass er einen Typen fand, mit dem er sich ebenfalls kurz zurückziehen konnte.