Nachtschwimmen im Rhein - Luo Lingyuan - E-Book

Nachtschwimmen im Rhein E-Book

Luo Lingyuan

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Beschreibung

Alle glücklichen Beziehungen sind gleich, alle unglücklichen haben jeweils ihr eigenes Unglück: Nach dieser Devise erzählt Luo Lingyuan fünf Geschichten von meist jungen Chinesinnen in Deutschland: einer Modedesignerin, zwei Studentinnen, der Mitarbeiterin einer Reederei und einer Schauspielerin. Sie haben zwar einen (deutschen) Partner gefunden, aber damit längst keine erfüllte und dauerhafte Liebe. Zu den Hindernissen auf ihrem Weg, im fremden Land und der fremden Gesellschaft anzukommen, gehören nicht nur die mehr oder weniger versteckten Unterschiede zwischen beiden Kulturen, sondern auch Eifersucht, Untreue oder der rücksichtslose Egoismus der Männer. Dennoch bleiben die Dinge nicht immer wie sie sind, denn manche der oft schwach und duldsam wirkenden Frauen entwickeln in ihrem Streben nach Glück und Selbstverwirklichung ungeahnte Kräfte.

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Luo Lingyuan

 

Nachtschwimmen im Rhein

Erzählungen

 

Aus dem Chinesischen übersetzt

von Axel Kassing

Inhaltsverzeichnis

Die Zunge, auf der schwarzes Haar wuchert
Drei Naechte einer Frau
Ein deutsches Kopfkissen
Der Liebesbaum
Nachtschwimmen im Rhein
Anmerkungen
Zu Autorin und Quelle
Luo Lingyuan im WandTiger Verlag

 

 

Coverbild: https://pixabay.com; Foto: StockSnap. CC0 Creative Commons.

 

 

E-Book 2017.

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil des eBooks darf in irgendeiner Form ohne

schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Text, Satz und Layout: © WandTiger Verlag, Pählstraße 51, 81377 München

 

www.wandtigerverlag.de

Die Zunge, auf der schwarzes Haar wuchert

 

He Xue nimmt Schale und Stäbchen und beginnt mit dem Abendessen. Professor Stille kommt aus seinem Privatlabor, geht gemessenen Schrittes zum Kühlschrank und gießt sich ein Bier ein. Dann setzt er sich He Xue schräg gegenüber, wie jemand, der gerade von der Arbeit kommt. Er sagt kein Wort, nimmt einen Schluck Bier und zündet sich eine Zigarette an.

He Xue begegnet ihrem Vermieter nur selten. Allenfalls in der gemeinschaftlich genutzten Küche trifft sie ihn manchmal überraschend. Wenn sie sich sehen, nicken sie sich kurz zu und gehen ihrer Wege. He Xue hält den Professor für eine Spur arrogant und vermeidet es, ihm zu nahe zu kommen. Als sie gerade eingezogen war, hat sie einmal den Versuch unternommen, mit ihm ein Gespräch anzufangen, ist aber kläglich an seiner eisigen Miene gescheitert. Seitdem hält He Xue sich völlig zurück. Wenn sie ihm über den Weg läuft, ignoriert er sie völlig, und einmal, als sie im Garten saß und eins ihrer Lehrbücher las, fing er sogar an den Rasen zu mähen, als wolle er sie mit dem Getöse vertreiben.

Deshalb hat sie auch jetzt nur ein wenig den Kopf zur Seite gedreht, als der Professor hereinkam. Die Labortür ist stets fest verschlossen, und He Xue weiß oft gar nicht, ob der Professor im Haus ist. Wie auch immer, sie findet, dass es ihr ganz gleich sein kann, ob sich der Professor in seinem geheimnisvollen Labor oder in Honolulu aufhält. Solange sie pünktlich ihre Miete zahlen kann, macht sie einfach die Tür hinter sich zu und lebt ihr eigenes Leben.

Als der Professor heute plötzlich am Küchentisch Platz nimmt, kommt ihr das nicht ganz geheuer vor. Vorsichtig hebt sie den Blick über den Rand ihrer Schale und wirft einen raschen, verstohlenen Blick auf ihr Gegenüber. Sie kann in seinem Gesicht nichts anderes als Müdigkeit und struppigen Bartwuchs erkennen. Zeichen irgendeiner Veränderung gibt es nicht, und so senkt sie ihren Blick wieder, kaut selbstvergessen ihr Essen wie eine hungrige Maus.

Der Professor stößt mit geschlossenen Augen einige Qualmwolken aus. Um dem Rauch auszuweichen, dreht He Xue sich unauffällig zur Seite.

„Wissen Sie, diese Walpurgisnacht … Wissen Sie, was damit los ist?“ Um die zunehmend bleierne Stille zu durchbrechen, stellt He Xue eine Frage. Sie ist jetzt schon zwei Jahre in Berlin, aber sie stockt beim Sprechen doch häufig, weil ihr manche deutsche Wörter einfach nicht einfallen wollen.

„Die Walpurgisnacht?“ Stille zieht die Augenbrauen hoch. Dann senkt er eins seiner Lider, so dass nur eins seiner schwarzen Augen geöffnet ist, als er ihre Frage beantwortet: „Das ist morgen Abend. Die Nacht auf den 1. Mai ist die Walpurgisnacht, Goethe hat sie in seinem ‘Faust’ beschrieben. Da ziehen die Hexen alle auf einen Berg und tanzen dort wie entfesselt. Weshalb interessieren Sie sich denn dafür?“

„Regina sagt, morgen Abend es gibt eine Party, alle sind Frauen, es gibt keinen einzigen Mann. Sie bittet mich, auch zu gehen“, sagt He Xue. Sie stottert in keiner Weise und wiederholt sich auch nicht. Aber ihre Art zu sprechen macht es anderen nicht leicht, ihr länger zuzuhören.

Regina ist eine weitere Untermieterin des Professors. Seit sein Sohn an eine westdeutsche Uni gegangen ist und seine Frau ihn verlassen hat, bewohnt der Professor nur noch den unteren Teil seiner Villa. Die Dienstbotenzimmer im Dachgeschoss hat er an Studenten und andere junge Leute vermietet.

Der Professor zündet sich eine neue Zigarette an. Seine Haare sind grau gesprenkelt, aber seine Schläfenhaare, die bis in den etwas struppigen Bart hinein reichen, sind schon fast weiß. „Die Walpurgisnacht ist etwas für Hexen und Frauen, die gern Hexen wären. So eine Party wird Ihnen bestimmt nicht gefallen“, sagt er gleichmütig.

He Xue hebt den Kopf, ihr Gesicht ist ein einziges Fragezeichen.

„Heute gibt es natürlich keine Hexen mehr. Die Leute jedoch, die diese Partys besuchen, haben den Kopf voll von Hexenwahn und spielen an diesem Abend alle Hexen. Aber Sie haben ja nicht die geringste Vorstellung davon, worum es bei diesem Hexenkram geht. Sie sind ein unschuldiges weißes Häschen. Sie können ja manchmal nicht einmal Ihre eigene Rolle spielen, geschweige denn die einer Hexe. Wie wollen Sie sich da auf solch einer Party wohl fühlen?“, sagt der Professor und stößt eine weitere Rauchwolke aus.

He Xue schiebt sich den letzten Reis in den Mund und kaut nachdenklich auf den Körnern herum. In diesem Augenblick dreht sich ein Schlüssel im Schloss, die Haustür geht auf und Regina kommt durch den Flur. Als sie He Xue und den Professor in der Küche sieht, wirft sie He Xue verblüfft einen Blick zu, grüßt die beiden und stürmt dann die Treppe hinauf.

Draußen ist es noch ziemlich kalt und He Xue muss immer einen dicken Pullover anziehen, wenn sie aus dem Haus geht. Regina dagegen ist sommerlich angezogen, trägt oben nur eine durchsichtige dünne Bluse und unten einen schmalen Chiffonrock. Sie gleicht einem glänzenden Glühwürmchen und veranlasst die beiden Personen am Küchentisch, ihr mit den Augen nach oben zu folgen.

Regina scheint zu spüren, dass sie von hinten beobachtet wird. So werden ihre Schritte beim Treppensteigen zunehmend energischer und ihr Hinterteil schwingt bei jeder Drehung noch ausgreifender. Als ihre Schritte verklungen sind, klebt der Blick des Professors immer noch an der Treppenbiegung, wo der wackelnde Hintern verschwunden ist.

„Wenn ich das wäre, mir würde alles gefrieren. Wirklich, wie kommt es, dass hier, die Frauen alle, wieso haben sie keine Angst vor der Kälte?“ He Xue streicht mit der Hand über ihren dicken Pullover, während sie an die Decke starrt, als sei ihr nach Reginas Auftritt noch kälter geworden.

Professor Stille hat seinen Kopf gewendet und blickt hinaus in den Garten, den die Sonne in rotes Licht taucht. Der frisch gemähte Rasen sieht aus, als hätte ein ungeschickter Lehrling versucht, seinem Freund die Haare zu schneiden. Die ungleichmäßig hoch geschnittenen Stellen bilden von Norden nach Süden laufende Streifen. Am Rand des Rasens und unter der Birke blühen ein paar gelbe Narzissen. Doch der Professor sieht davon nichts. Sein Blick konzentriert sich ganz auf die untergehende Sonne.

„Ah, was haben Sie gerade gesagt?“, fragt er.

„Ich habe nichts gesagt.“ He Xue reibt nervös ihren Handrücken. Sie zieht die kleine Brust ein und senkt den Kopf, die Hände wandern zur Hosennaht. Bei ihren wenigen deutschen Bekannten löst es immer ein Gefühl der Beklemmung aus, wenn sie so dasitzt. Obwohl sie erst Anfang zwanzig ist, lassen ihr kurzes, ein wenig männlich wirkendes Haar und ihr ständiges Ausweichen vor den Blicken anderer sie sehr viel älter erscheinen.

„Ich habe gerade wieder an meine Experimente gedacht.“ Der Professor sieht plötzlich ganz anders aus. Er scheint fast zu lächeln. „Es gibt da eine Transformation, die mir nie gelingen will. Jeden Tag träume ich von ihr und gerade hatte ich eine neue Idee.“

He Xie steht auf und räumt das von ihr benutzte Geschirr ab. Da sie alleine gegessen hat – eine Schale für den Reis, eine für das Gemüse – ist alles im Nu gespült. Während sie behutsam Schalen und Essstäbchen abtrocknet, sagt sie: „Ich störe Sie jetzt nicht länger.“ Dann wischt sie schweigend den Tisch ab.

Sie scheint ziemlich lange dafür zu brauchen, obwohl die Platte blitzblank ist und glänzt wie ein Spiegel. Nicht der kleinste Fleck ist darauf zu sehen.

„Kommen Sie, ich werde Ihnen ein Experiment zeigen.“ In einem Zug trinkt der Professor das restliche Bier aus, drückt die Zigarette im Aschenbecher aus, steht auf und geht in Richtung Labor. He Xue zieht den Kopf ein und folgt ihm zögernd nach unten.

Sie wohnt schon über ein halbes Jahr in diesem Haus, aber der Professor hat sie noch nie eingeladen, sein Labor zu betreten. Als sie die Tür durchschreitet, wird sie durch den Anblick eines großen, zwei Handspannen dicken Glaszylinders erschreckt, der mit sandkornähnlichen braunen Teilchen gefüllt ist, die unablässig auf- und niedersteigen. Die Bewegung ist vollkommen unregelmäßig, scheint aber trotzdem einer geheimnisvollen Ordnung zu folgen.

„Geben Sie mir bitte eins Ihrer Haare“, sagt der Professor und klopft der jungen Frau auf die Schulter, um sie aus ihrer Erstarrung zu wecken.

He Xue läuft ein Schauder über den Rücken. Dann fasst sie hinters Ohr und reißt sich gehorsam ein Haar aus. Es ist ungefähr fingerlang.

Der Professor nimmt es ihr aus der Hand und steckt es in ein Reagenzglas. Dann geht er weiter in den Raum hinein, tritt vor ein Gefäß mit einer blauen, durchsichtigen Flüssigkeit und füllt einen Teil davon in das Reagenzglas. Das eben noch tiefschwarze Haar verliert seine Farbe. Erst wird es grau, dann weiß, und dann löst es sich vollkommen auf.

„Dieses Experiment überrascht Sie überhaupt nicht“, sagt der Professor. „Das sehe ich Ihnen an. Bitte geben Sie mir jetzt ein weiteres Haar.“

He Xue reißt sich folgsam ein weiteres Haar aus und reicht es ihm mit zwei spitzen Fingern.

Der Professor nimmt das Reagenzglas und geht in eine andere Ecke. Die blau schimmernde Flüssigkeit mit dem aufgelösten Haar gießt er in einen offenen Behälter mit einer farblosen Lösung, dann taucht er das zweite Haar von He Xue vorsichtig mit der Spitze hinein. Es knistert leise wie einer elektrischen Reaktion. Nach kurzer Zeit beginnt das Haar in der Flüssigkeit zu wachsen und ist nach einer Weile zweimal so lang wie vorher.

He Xue sperrt Mund und Nase auf: „Dieses Haar gerade, ist so gewachsen, dass es jetzt so lang ist?“

Der Professor sieht sie so anerkennend an, als sei sie seine Lieblingsstudentin. „Richtig, das aufgelöste Haar hat sich wieder zusammen gefunden und sich an das zweite Haar angeschlossen.“

Mit weit aufgerissenen Augen blickt He Xue auf den Mund des Professors. Sie hat plötzlich den Eindruck, hinter seinen blitzenden Zähnen könnten furchtbare Dinge versteckt sein. Eine ungebetene Erinnerung steigt in ihr auf. Ohne zu wissen warum, muss sie daran denken, wie die Menschen in ihrer Heimat den geschlachteten Schweinen die Borsten abschaben.

Sie ist nicht oft dabei gewesen, aber die wenigen Male waren schon schrecklich genug. Sie erinnert sich noch gut, wie die schwarz und weiß durcheinander gewürfelten Borsten in einem Haufen unter dem von der Decke hängenden Schwein lagen. Und sie erinnert sich an den üblen Gestank, der davon ausging.

Augenblicklich hat He Xue das Gefühl, aus einer verborgenen Ecke des Laboratoriums käme ein Haufen Schweineborsten geflogen. Wie kleine Dornen bohren die Borsten sich lautlos in ihre Kopfhaut und verwandeln ihren Hinterkopf im Handumdrehen in einen schmutzigen, stinkenden Schweinehintern. Von panischer Angst erfüllt schützt sie ihren Kopf mit Händen und Ellenbogen. „So … bringen Sie … Schweineborsten und Pferdehaar mit Menschenhaaren zusammen?“

Der Professor lacht zufrieden: „Ich habe gleich gewusst, dass Sie mein Experiment verstehen würden. Sie müssen wissen, ich kann auch auf der blanken Erde Haare wachsen lassen. Auch dort, wo nicht einmal Gras wächst. Mit Haaren bedeckte Erde - so etwas haben Sie noch nicht mal im Traum gesehen, nicht wahr? Aber ich kann das.“ Er lacht erneut schallend, als stünde er auf dem Gipfel des Olymp und wäre der blitzeschleudernde, donnerliebende Zeus.

He Xue ist sich nicht sicher, was mit ihrem Hinterkopf ist. Sind ihre Haare nicht tatsächlich schon struppig und borstig geworden? Sie braucht jetzt dringend einen Ort, an dem sie sich verstecken kann. Sie feuchtet mit der Zunge ihre Lippen an und bewegt sich unauffällig zur Tür: „Ah, in meiner Kehle, ich glaube, da klebt etwas Staub.“

Sie führt ihre Hände schützend zum Hals, „Ich muss einen Schluck Wasser trinken.“

Während zwei unnatürliche Laute aus ihrer Brust dringen, flieht sie die Treppe hinauf, rennt in die Küche, füllt ein Glas mit Leitungswasser und stürzt es gurgelnd hinunter.

„Was da in Ihrer Kehle klebt, ist sicher das Haar, das wir gerade gezüchtet haben“, sagt der Professor, der ihr in aller Ruhe gefolgt ist. „Lassen Sie mich lieber mal nachsehen.“

„Nein, nein, es geht schon“, sagt He Xue hastig und presst entschieden die Lippen zusammen.

Der Professor wechselt in einen fürsorglichen Ton: „Ihr Gesicht ist ja ganz bleich, ich habe Sie doch wohl nicht erschreckt?“

„Ach, nein. Ich habe nur heute den ganzen Tag lang Pralinen verpackt, bin ein bisschen müde, gerade, plötzlich war ich ein wenig aufgeregt. Morgen, ich muss noch arbeiten gehen, ich gehe, ausruhen.“ He Xue geht rückwärts aus der Küche hinaus und rennt fast die Treppe hinauf.

„Fräulein He“, ruft der Professor hinter ihr her, „wenn Sie morgen wirklich an den Feiern der Walpurgisnacht teilnehmen, rufen Sie mich einfach an, wenn Sie nach Haus möchten. Ich hole Sie ab. Wenn Sie bis tief in die Nacht hinein tanzen, werden Sie bestimmt müde.“

„Danke“, sagt He Xue überrascht und bleibt einen Augenblick stehen. Sie hat bisher erst zweimal in seinem Auto gesessen. Beide Male haben sie zufällig zur gleichen Zeit das Haus verlassen und der Professor hat sie ein Stück mitgenommen.

„Also abgemacht, morgen Nacht, egal wie spät es ist, warte ich auf Ihren Anruf.“

„Vielen Dank“, sagt He Xue. Sie kann sich nicht erinnern, dass jemand in China einmal so nett zu ihr gewesen wäre.

Sie geht leise nach oben und klopft bei Regina. Sie hört ein unbestimmtes Geräusch und öffnet die Tür. Sie will gerade den ersten Schritt ins Zimmer ihrer Nachbarin machen, da zieht sie ihren Fuß auch schon wieder zurück. Regina steht vorgebeugt vor dem Spiegel und rasiert sich mit einem kleinen Rasierapparat die Beine. Ihre einzige Bekleidung ist einer dieser erotischen Tangas. Da ihr Hintern recht üppig ist, sitzt der Tanga eingezwängt wie eine dicke Nudel zwischen den fleischigen Pobacken. Auf der linken der beiden wohlgeformten Halbkugeln erblickt He Xue eine prächtige, rote Pfingstrosenblüte, so schön, dass einem das Herz herausspringen könnte. Noch nie hat He Xue eine Frau gesehen, die so speziell tätowiert war.

„Hör mal, Xue, dummerweise ist meine Freundin heute nicht in den Laden gekommen, aber ich habe mit ihr abgemacht, dass sie die Kostüme morgen direkt mit zur Party bringt. Wir müssen uns dann eben gleich an Ort und Stelle verkleiden, okay?“ Regina jobbt derzeit in einer teuren Boutique am Kurfürstendamm. Ihre freche Frisur und das in alle Richtungen blitzende Augenbrauen-Piercing verleihen ihr ein äußerst modisch-dämonisches Aussehen.

„Oh!“, antwortet He Xue und steht immer noch wie angewurzelt an der Tür.

„Was schaust du denn so?“, fragt Regina. „Ach so, mein Tattoo! Gut, ne? Komm rein und sieh es dir an! Bei Männern sag ich immer: Nur gucken, nicht anfassen. Aber du darfst es gern anfassen, ist doch nichts dabei.“ Als sie Xues Gesicht sieht, muss sie laut lachen. „Na, komm! Trau dich!“

He Xue wird über beide Ohren rot: „Keine Zeit, keine Zeit, ich muss noch etwas vorbereiten…“ Sie schließt die Tür und rennt hastig davon.

Aber das Bild der roten Pfingstrosenblüte hat sich tief eingeprägt. Den ganzen Abend schwebt es He Xue vor Augen. Auch als sie längst in ihrem eigenen Zimmer sitzt. Überraschend wird ihr klar, dass die Pfingstrose, die auf Reginas Hintern wächst, die schönste Blume ist, die sie je gesehen hat. Angestrengt überlegt sie, unter welchem Vorwand sie noch einmal zu Regina gehen und sich die Blume genauer ansehen könnte.

Endlich fällt ihr etwas ein. Sie wird sich Zahnpasta leihen! Aber als sie sich gegen acht endlich auf den Korridor raustraut, hört sie Regina nur noch „klack, klack“ die Treppe hinunter rennen. Wenn sie so spät abends noch ausgeht, kann das nur eins bedeuten: Regina übernachtet wieder mal außer Haus. In letzter Zeit kommt das öfter vor.

Am nächsten Tag geht He Xue um sieben Uhr morgens ins Café Nordic zur Arbeit. Ihre Aufgabe ist es, die Frühstücksgedecke aufzulegen. Auf jeden Teller kommen zwei Salatblätter, darauf ein Stück Butter, ein kleines Glas Marmelade, zwei Scheiben Käse, zwei Scheiben Schinken, zwei Scheiben Obst, manchmal noch ein gekochtes Ei. Ihre beiden ersten Arbeitstage waren Dienstag und Mittwoch. Da war das Café ziemlich leer. Heute ist jedoch Samstag und die Frühstücksgäste sind zahlreich. He Xue muss gleichzeitig die Teller vorbereiten und Croissants backen. Sie kommt mit der Arbeit überhaupt nicht mehr hinterher, die Bestellungen kommen obendrein nur so angeflogen. Die Gäste strecken bereits ihre Köpfe zum Küchenfenster herein und fragen, wo denn ihr Frühstück bleibe. „Kommt gleich, kommt gleich“, sagt He Xue, ihre Hände wirbeln geradezu durch die Luft. Ein Kellner kommt herein und teilt ihr mit, dass auf die Teller an Tisch sechzehn zu wenig Aufschnitt gelegt worden sei. Sie solle noch ein Stück Käse und eine Scheibe Schinken dazu zulegen. Die andere Bedienung verlangt eine Extraportion Honig und Butter. He Xue wirbelt so schnell in der Küche herum, dass ihre Füße kaum mehr den Boden berühren.

Zwischen zehn und elf ist das Café bis auf den letzten Platz besetzt. Wie ein Schwarm Krähen auf Futtersuche haben die Gäste sämtliche Stühle und Bänke besetzt und krächzen laut durcheinander. Warum tragen die Deutschen bloß alle so gerne Schwarz? Richtig unheimlich ist das! He Xue bekommt eine Gänsehaut auf dem Herzen.

Beim Waschen des Salats tropft Wasser zu Boden und bildet kleine Pfützen auf den Fliesen. Aber zum Aufwischen ist keine Zeit. Als ihr Schweiß in die Augen rinnt, wischt ihn He Xue mit dem Handrücken ab, aber der ist auch schon ganz nass. Sie hebt den Teller, will ihn zur Durchreiche bringen und – rutscht in einer der Pfützen aus. Mit einem lauten Aufschrei geht sie zu Boden. Der Teller fliegt ihr aus der Hand und zerschellt an der gekachelten Wand. Als der Chef das laute Splittern vernimmt, kommt er von der Theke herüber und wirft einen wütenden Blick auf die kleine Chinesin, sagt aber nichts, sondern kehrt an die Kaffeemaschine zurück. He Xue schenkt dem Schmerz in ihrem Bein keine Beachtung, fegt die Scherben auf und richtet einen neuen Teller mit Aufschnitt an. Inzwischen kommen schon die ersten schmutzigen Tassen und Teller zurück. Hektisch räumt He Xue das Geschirr in die Spülmaschine. In ihrem Kopf hallt es ständig: „Schnell! Schneller! Noch Schneller!“

Mittags um eins drückt ihr der Chef am Tresen sechzig Mark in die Hand, den Lohn für sechs Stunden. Er sagt: „Sie sind mir zu langsam, Sie brauchen ab jetzt nicht mehr zu kommen.“ He Xue sagt kein Wort, lässt den Kopf hängen, schleppt sich mit müden Schritten aus dem Café. Sie hat hier gerade erst drei Tage zur Probe gearbeitet, da wird sie schon vom Chef an die Luft gesetzt.

He Xue studiert Informatik, mit Spezialisierung auf Automatisierungsprogramme für Maschinen. Am Nachmittag hat sie noch ein Seminar, aber sie hat nicht mehr die Energie in die Uni zu gehen. Sie möchte sich nur noch hinlegen. Sie fährt direkt nach Hause, eine lange Fahrt. In der U-Bahn sprechen die Leute unverständliche Sprachen wie Türkisch, Griechisch, Polnisch und Russisch, nur Chinesisch spricht niemand. He Xue nickt ein. Sie weiß gar nicht mehr, wo ihr Körper ist. Als sie aus der U-Bahn steigt, muss sie noch fünfzehn Minuten laufen, bis sie zu Hause ist. Auf der einen Seite der Allee hängt ein großes Wahlplakat für Gerhard Schröder, auf der gegenüberliegenden Seite ein Plakat für die Wiederwahl des dicken Helmut Kohl. He Xue erinnert sich undeutlich, dass jetzt das Jahr 1998 ist, das dritte Jahr seit sie nach Deutschland gekommen ist. Mit beinahe geschlossenen Augen taumelt sie nach Hause, legt sich, ohne an ihren Hunger zu denken, gleich angezogen aufs Bett und schläft ein.

 

Aber Regina hat sie nicht vergessen. Kurz nach acht klopft sie an die Tür, und zwei Stunden später sind sie in einer Privatwohnung in Charlottenburg. Die Wohnung ist riesig, wenn auch ein bisschen heruntergekommen, und es sind schon mindestens fünfzig seltsam ausstaffierte Frauen da. He Xue findet, dass nur einige wenige davon schön aussehen. Zwar gibt es keine alten Weiblein mit krummen Nasen und tückischem Blick, und auch schwarze Umhänge, spitze Hüte und Besenstiele sind eher selten, aber die erotischen Verkleidungen der neuen Hexen gefallen He Xue auch nicht so recht. Viele Frauen haben auf merkwürdige Weise die eine Hälfte ihres Gesichtes farbig und die andere mit einer Schlange bemalt. Andere sind beinahe nackt, tragen wilde Masken, bunte Perücken und knappe Kostüme. Eine hat sich die Brüste mit Augen bemalt, die einen andauernd ansehen.

Allen Neuankömmlingen wird als erstes ein Glas mit perlendem Wein in die Hände gedrückt, und vor lauter Befangenheit trinkt es He Xue auch gleich aus. Unschlüssig steht sie in der Garderobe. Sie muss daran denken, dass der Professor gesagt hat, sie werde wohl eine solche Party nicht mögen. Sie lässt sich ihr Glas gleich erneut füllen. Eigentlich hat sie gar keine Lust, ein Kostüm anzuziehen. Sie kann jedoch Reginas Überredungskünsten nicht widerstehen und streift sich zu guter Letzt ein weites dunkelblaues Kleid an, das sie völlig verhüllt. Um diese Zeit beginnen die Frauen im großen Saal Tango zu tanzen. Da He Xue nicht tanzen kann, lädt sie sich stattdessen einen Teller mit Essen voll, sucht sich eine ruhigere Ecke und sieht den tanzenden Frauen zu. Immer wenn sie in der Menge einen Blick auf Reginas blondes Haar erhascht, bewundert He Xue sie aus tiefstem Herzen. Sie findet, dass sie die schönste Frau der Party ist. Neben ihr stehen zwei Frauen mit prächtigem Kopfschmuck, die schon einiges getrunken haben. He Xue hört, wie die eine sagt: „Unser Chef ist wirklich ein geiler Bock, jetzt treibt er es sogar schon mit der Putzfrau. Hihi, er wurde von seinem Assistenten dabei überrascht. Sein Ding soll so ähnlich wie eine Möhre ausgesehen haben.“ Die andere sagt: „Wenn ich das gesehen hätte, hätte ich ihn ordentlich schwitzen lassen. Eine Gehaltserhöhung hätte dabei schon raus springen müssen. Siehst du die Blonde mit dem Augenbrauen-Piercing? Geil, was? Die heißt Regina. Ich habe gehört, dass sie sich jetzt einen Zahnarzt geangelt hat. Wenn er sie heiratet, ist das wie eine Lebensversicherung. Wenn …“ Die beiden lachen merkwürdig meckernd und gehen in ein anderes Zimmer, um einen Spiegel zu suchen.

Verblüfft sucht He Xue nach einer Spur ihrer Freundin. Sie weiß, dass Regina ihre Freunde recht häufig wechselt. Aber dass Regina jetzt einen Zahnarzt als Freund hat, das hat sie nie erwähnt. He Xue sieht, dass die Frauen jetzt mit türkischem Bauchtanz beginnen. Auch dabei ist Regina der Star. Sie hat die Arme gehoben, windet sich wie eine Schlange und lacht dabei fröhlich. Sie trägt jetzt ein eng am Körper anliegendes himmelblaues Oberteil und einen langen Rock. Um die Hüften trägt sie einen aus kleinen, miteinander verbundenen Goldplättchen bestehenden Gürtel, so dass der Körper bei jeder Schüttelbewegung ein faszinierendes, klirrendes Geräusch von sich gibt. Für He Xue ist ihre Freundin so schön wie eine Prinzessin. Sie verfolgt jede ihrer Bewegungen.

Gegen Mitternacht nehmen die Frauen die bisher noch nicht angezündeten Fackeln, verlassen das Haus und ziehen zum nicht weit entfernten Teufelsberg, wobei sie den ganzen Weg über singen. Der Teufelsberg ragt tatsächlich nicht sehr hoch auf und es gibt dort auch keine Geister. Er ist eigentlich nichts weiter als ein aus Trümmern des Zweiten Weltkriegs aufgeschütteter, großer Hügel am westlichen Stadtrand. Aber die Berliner, die immer gern hoch hinauswollen, kommen häufig zum Teufelsberg, um dort spazieren zu gehen und sich an der Größe des grauen Häusermeeres zu freuen.

Nachdem sie eine Weile durch den dunklen Park nach oben gestiegen sind, erreichen sie schließlich den Gipfel. Es ist schon fast Mitternacht, und auf dem flachen Plateau warten schon zahllose andere Frauen. Die meisten sind ebenfalls kostümiert. Auch aus anderen Richtungen kommen immer noch Scharen von Vermummten heraufgestiegen. Mehr als zweihundert bis dreihundert Frauen jüngeren und mittleren Alters haben sich unter dem düsteren Himmel versammelt.

He Xue schaut sich eine Weile in alle Richtungen um, und als sie den Kopf wieder zurückdreht, ist Regina plötzlich verschwunden. Die junge Chinesin sucht in der nächsten Umgebung, kann ihre Freundin aber nirgends entdecken. Alle drängen sich in der Mitte zusammen, und da He Xue den Grund dafür nicht kennt, zieht sie sich auf eine Seite zurück.

---ENDE DER LESEPROBE---