Das Mädchen und der Tod - Lingyuan Luo - E-Book

Das Mädchen und der Tod E-Book

Luo Lingyuan

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Beschreibung

Basierend auf einem Sexualverbrechen in Dessau, bei dem 2016 eine junge chinesische Studentin zu Tode gekommen ist, hat Luo Lingyuan einen Roman verfasst, der auf zwei Handlungssträngen basiert: Einerseits die Ankunft der jungen chinesischen Studentin in Deutschland und ihr Werdegang an der Dessauer Universität, ihre Freundschaften und ihre erste, zarte Liebe. Andererseits das Aufwachsen des Täters, sein soziales Umfeld, sein Konsum von Pornografie, sein brutales Denken und sein immer stärker wachsender Wahn einer Allverfügbarkeit des weiblichen Körpers.

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Seitenzahl: 315

Veröffentlichungsjahr: 2024

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LUO LINGYUAN

DAS MÄDCHEN UND DER TOD

TRUE CRIME                     ROMAN

Erste Auflage

© 2024 by Secession Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christian Ruzicska

www.secession-verlag.com

Gestaltung und Satz: Eva Mutter, Barcelona

Gesetzt aus EB Garmond und PT Sans Bold Printed in Germany

E-ISBN 978-3-96639-102-3

Inhaltsverzeichnis

1. Nach der Landung

2. Ein starker Abgang

3. »Ist die Stadt krank?«

4. Brandbeschleuniger

5. Wie eine geöffnete Muschel

6. Isabel

7. Das Holzhaus

8. Unter dem Birnbaum

9. Ein goldenes Herz

10. Eine Art Liebesbrief

11. Nachts allein in der WG

12. Gefährliche Süßigkeiten

13. In einem anderen Land

14. »Ruf mich nicht mehr an!«

15. Mondnacht

16. Kopf im Eimer

17. Der schwarze Rahmen

18. Der Umzug

19. Ein Kuss

20. Der eiserne Ring

21. Baal

Danksagung

1. Nach der Landung

Sie sitzt im Flugzeug, schön, elegant gekleidet und selbstsicher. Sie hat gerade einen internationalen Architekturauftrag gewonnen und ist voller Tatendrang. Bei der Landung lächelt sie den vertrauten Wolkenkratzern von Manhattan zu. Das Lächeln einer Siegerin. Bei der Einreise geht sie durch die VIP-Schleuse, steigt in die wartende Limousine und lässt sich in ihr Büro im dreißigsten Stock des One World Center fahren.

Der Blick auf den Hudson befriedigt sie jedes Mal, besonders wenn die Abendsonne den Westen rötet. Lächelnd, während sie telefoniert, bedankt sie sich für den golden schimmernden Tee, den ihr ihre persönliche Assistentin reicht. Ihre zwanzig Mitarbeiter haben sich an dem großen Glastisch versammelt und warten respektvoll, bis sie das Wort an sie richtet. Dann wird das Büro verdunkelt, die Projektion eines futuristischen Gebäudes erhellt den Raum. Mit einer roten Laserlampe und messerscharfen Worten analysiert sie die Stärken und Schwächen des Bauwerks. Im Anschluss bittet sie die Anwesenden um Input. Die Diskussion ist harmonisch, beschwingt und kreativ. Sie kann sich auf ihre Leute verlassen. Übermorgen, für die Präsentation in Brüssel, wird sie mit erstklassigem Material die Kommission überzeugen.

Am nächsten Tag sitzt sie wieder im Flugzeug. Business Class. Der Flug nach Osten ist einfacher: Irgendwann in der Nacht schläft man ein und wacht am Morgen in Europa auf. Aber heute klappt es nicht so wie immer. Sie massiert ihren Nacken, um sich zu entspannen. Sie drückt das Kinn auf die Brust, um die Wirbelsäule zu lockern. Plötzlich sieht sie im Boden der Maschine ein riesiges Loch klaffen. Eisberge treiben im schwarzen Wasser des Nordatlantiks tief unter ihr. Schon reißt sie der Luftstrom vom Sitz und sie stürzt hinaus in die eisige Kälte. Mit einem Schrei wacht sie auf …

Noch halb benommen schaut sie aus dem Kabinenfenster. Dicke Wolken ziehen vorbei. Sie befinden sich wohl schon im Landeanflug. In wenigen Minuten wird sie deutschen Boden betreten!

Ihre Freundin und Kommilitonin Zhao Wanxia, die neben ihr sitzt, schaut sie fragend an. »Das war wohl kein besonders schöner Traum?«

»Eher ein wilder …« Sie lächelt. »Ich war Stararchitektin mit einem Büro in New York und hatte gerade was ganz Grandioses entworfen, als …«

»Wir haben das Masterstudium noch gar nicht begonnen«, lacht ihre Freundin, »und du träumst schon von einer internationalen Karriere? Dein Ehrgeiz ist ja gieriger als die Schlange, die einen Elefanten verschluckt hat. Es wird höchste Zeit, dass wir landen.«

»Träume sind Träume, Boden ist Boden. Das kann ich schon auseinanderhalten. Aber Träume sind eben was Schönes. Warum sollen sie sich nicht erfüllen? Die deutschen Architekten bauen auf der ganzen Welt und werden auch bei uns in China geschätzt. Ich sage dir: Wir sind genau richtig in diesem Land.«

Li Yanyan war schon immer eine gute Studentin. Aber jetzt, genau in diesem Moment, beschließt sie, noch besser zu werden.

Die Maschine hat die Wolkendecke verlassen. Yanyan presst die Stirn gegen die Scheibe und blickt begierig hinunter auf die ihr fremde Landschaft.

Der Pilot macht eine Ansage und verabschiedet sich von seinen Gästen. Auf dem Bildschirm vor dem Sitz ist ein großer Bogen zu sehen, der von Peking bis Frankfurt reicht. Das kleine Flugzeug, das auf dem Bogen schwebt, befindet sich jetzt direkt über seinem Zielort.

Li Yanyan hat ein Gesicht, nach dem man sich gern noch einmal umdreht. Ihr schwarzes Haar ist zu einem glatten Zopf geflochten, der ihr bis zur Taille reicht. Man sieht ihr nicht an, dass sie schon vier Jahre studiert und ein sehr gutes Examen in der Tasche hat. Neben und vor ihr sitzen ein halbes Dutzend andere junge Leute. T-Shirts und Jeans, Kopfhörer, Smartphones und Turnschuhe – man könnte meinen, man habe eine Schulklasse vor sich. Aber nein. Die jungen Leute sind allein unterwegs und brennen vor Ehrgeiz. Sie wollen in Deutschland studieren.

Die Maschine sinkt schnell herunter. »Alles grün«, meldet Yanyan. »Die Deutschen leben wohl in den Wäldern.«

Zhao Wanxia schaut ebenfalls zum Fenster. Sie ist etwas größer als Yanyan und trägt ihr kurzes, drahtiges Haar gescheitelt. So sitzt die Frisur wie eine schräge Mütze auf ihrem Kopf. Ihre Kommilitonen nennen sie »Kratzbürste«, weil ihre Worte nicht immer leicht zu genießen sind. Sie hat eine angeborene Neigung zur Stichelei. »Was sagt der in den Brunnen gefallene Frosch? Der Himmel ist rund, sagt er. Quaak, quaak!«

Yanyan will ihr einen Klaps geben. »Selber Brunnenfrosch!«, sagt sie. Aber Wanxia rettet sich rechtzeitig, indem sie den Kopf in den Schoß ihrer Nachbarin legt.

»Warte nur«, sagt Yanyan. »Heute Nacht kriegst du einen Nixenkuss!«

»Oh Gnade, Liebling«, ruft Wanxia.

»Ein Nixenkuss? Was ist das?«, will einer der Jungs in der Reihe hinter ihnen wissen. Wegen des schwarzen Flaums auf seiner Oberlippe und seiner schmalen Figur hat er den Beinamen Magerkater.

Die beiden jungen Frauen beginnen zu kichern. »Das ist ein Mädchengeheimnis.« Der junge Mann schaut verlegen weg. Neben ihnen rast jetzt das Flugfeld vorbei. Die Maschine macht einen Ruck. Sie sind gelandet.

Sie müssen einzeln durch die Passkontrolle, aber dann steuern sie gemeinsam auf die Gepäckhalle zu. Eine Stunde später steigen sie alle in den am Gleis stehenden Zug. Yanyan und Wanxia, die zwei Plätze nebeneinander ergattert haben, lassen ihre Koffer von zwei freundlichen Männern in der Gepäckablage verstauen und bedanken sich mit einem verlegenen Kichern. Bevor sie sich hinsetzen, werfen sie einen Blick durch den Waggon. »Jetzt sind wir eindeutig im Land der Langnasen«, sagt Yanyan unsicher. »Sie haben uns von allen Seiten umzingelt.«

Wanxia überlässt der Freundin den Sitzplatz am Fenster und nimmt den Platz am Gang ein. »Nun wein doch nicht gleich! Ich bin ja bei dir«, sagt sie. Schon müssen sie wieder kichern.

Hinter Yanyan und Wanxia sitzt eine junge Frau mit ihrer kleinen Tochter. »Deutsch klingt viel klarer als Englisch«, sagt Yanyan. »Manchmal habe ich das Gefühl, ich könnte sie fast verstehen.«

»Aha, und was hat die Mutter hinter uns gerade gesagt?«, fragt Wanxia herausfordernd.

Yanyan schaut durch den Spalt zwischen den Sitzen und sieht, wie die Mutter eine Plastikdose öffnet und der Tochter geschnittenes Obst anbietet. »Lass dir die Äpfel schmecken«, behauptet sie.

Wanxia wirft einen skeptischen Blick durch den Spalt. »Quatsch, das ist eine Birne.«

»Wirklich?« Es folgen Gekicher und ein neuer Blick nach hinten. »Nein, Birne ist es auch nicht.« Sie rätseln hin und her, kommen aber zu keinem Ergebnis. Schließlich nimmt Yanyan all ihren Mut zusammen und fragt auf Englisch, was die beiden essen. Die Mutter reicht die Dose herüber und sagt: »Kohlrabi.«

»Ko-la-bi«, spricht Yanyan gehorsam nach.

»Yes, perfect«, sagt die Mutter und bedeutet den beiden, sie mögen doch zugreifen. Sie kommen der Einladung nach und kosten. »Ganlan! Das muss Ganlan sein«, sagt Yanyan zu ihrer Freundin.

»Kenne ich nicht. Ist das Obst oder Gemüse?«, fragt Wanxia.

»Eher Gemüse«, sagt Yanyan. »Aber gebraten schmeckt es besser.«

Sie möchte sich bei der Frau revanchieren und sucht in ihrer Tasche nach einem Leckerbissen, den sie anbieten könnte. Eine kleine Tüte mit Erdnüssen kommt ihr in die Hand. Sie zögert. Die Nüsse sind von ihrer Mutter. Es war am letzten Tag zu Hause. Die Koffer waren gepackt, der Rucksack übervoll. Trotzdem versuchte die Mutter, immer noch mehr Leckerbissen in ihn hineinzustopfen.

»Mama, ich habe schon so viel Knabberzeug, dass ich mich davon wochenlang ernähren könnte. Dabei dauert die Reise nicht einmal einen Tag«, sagte Yanyan und nahm die Packung wieder heraus. Die Großmutter saß in der Ecke und fächelte sich mit ihrem Fächer aus Gänsefedern Luft zu.

»Schau mal, wie dünn du bist. Grundschule, Oberschule, dann vier Jahre Studium und in den Ferien Englischkurse. Seit deinem ersten Schultag hast du immer nur gelernt, gelernt und gelernt. Jetzt bist du dreiundzwanzig und musst in Deutschland noch mehr lernen«, sagte die Mutter besorgt. »Die Leute von der Agentur haben gesagt, es gibt dort gar keine Mensa wie hier bei uns. Pack die Erdnüsse lieber wieder ein!«

»Mama, die anderen haben’s doch auch geschafft.«

»Erdnüsse sind gesund und sättigend. Außerdem ist das nur eine kleine Tüte«, sagt die Mutter. Sie unternimmt einen neuen Versuch, die Packung noch irgendwie in den Rucksack zu quetschen, lässt aber dann plötzlich den Kopf sinken und beginnt zu weinen. »Ich wünschte, du würdest nicht fortgehen. Wir haben doch nur dich, Yanyan! In China hättest du doch auch weiterstudieren können!«

Yanyan legte ihrer Mutter den Arm um die Schultern: »Mama, ich bin ja nur zwei Jahre weg. Dann bin ich wieder bei euch. Dann baue ich ein Haus für die ganze Familie. Für dich, für Papa und Oma. Du wirst dich jeden Tag wie im Urlaub fühlen. Wäre das nicht schön?«

Die Mutter wischte sich mit der Hand über die Augen. Aber der Schmerz war zu groß. Die Tränen flossen weiter. »Es ist doch so weit weg, und wir haben nicht das Geld, dich zu besuchen. Wer weiß, wann wir dich wiedersehen!«

Vater Li Baoshan, mit dem Wiegen der beiden Koffer beschäftigt, erkannte die Gefahr und sagte: »Wir haben die Sache gemeinsam beschlossen. Jetzt mach’s dem Kind nicht so schwer. Alle jungen Leute wollen die Nummer eins auf der Welt werden. Yanyan muss ihre Chance haben.«

Li Baoshan ist ein stattlicher Mann. Betrachtet man seinen Rücken, hat man das Gefühl, da ruht ein zuverlässiger Berg. Aber wenn er sich umdreht, sieht man nur seinen Blick. Seine Augen sind so gelassen, forschend und durchdringend wie die eines Tigers. Er ist Leiter der Mordkommission von Wutian.

»Ich weiß, ich weiß, alle Kinder wollen allein durch die Welt gehen«, sagte die Mutter mit erstickter Stimme. »Aber ich möchte mein Kind einfach nicht gehen sehen. Hier werden doch auch schöne Häuser gebaut. Man muss nicht ins Ausland gehen, um zu studieren. Niemand weiß, wie es in diesem Deutschland ist und was es da für Menschen gibt …«

Yanyan unterbrach sie hastig, ehe sie etwas sagte, das ihr das Herz brechen könnte: »Mama, ich schicke euch viele Fotos. Ihr werdet eine Menge von Deutschland sehen. Außerdem haben wir WeChat. Da können wir uns jeden Tag sehen und miteinander sprechen.« Sie kitzelte die Mutter mit ihrem Zopf, um sie von der Angst abzulenken.

Oma Nana machte sich andere Sorgen. »Diese Koffer! Wie soll unsere kleine Yanyan diese riesigen Berge wegschleppen?«

»Oma, ich bin mit einer ganzen Gruppe unterwegs. Mach dir keine Sorgen. Wir helfen uns gegenseitig«, sagte Yanyan und wandte sich der Mutter zu: »Mama, ich hab eine große Bitte an dich. Du und Papa, ihr müsst wieder viel mehr zusammen unternehmen. Spazieren gehen, oder vielleicht auch mal tanzen. Dann nehme ich auch die Erdnüsse mit.«

Die Mutter lächelte. »Ich soll mit meinem Mann tanzen gehen? Schau dir deine Tochter an! Sie hat genauso eine aalglatte Zunge wie du.«

Nun musste auch der Vater lächeln. »Na hör mal. Mit mir tanzen gehen, das kann doch nicht so schlimm sein. Du hast früher doch gern mit mir getanzt.« Er ging ins Schlafzimmer und kam mit einem Briefumschlag zurück. »Deine Mutter und ich haben gedacht, es sei besser, wenn du unterwegs ein bisschen mehr Geld hast. Das sind dreihundert Euro. Steck sie ein, Yanyan.«

»Aber ihr habt mir schon so viel Geld gegeben. Das reicht bestimmt für den ersten Monat!«

»Betrachte es als Sicherheit für Notfälle. Nimm es, sonst kann deine Mutter nicht schlafen.«

»Danke, Papa. Danke, Mama.« Yanyan steckte den Briefumschlag sorgfältig in den Brustbeutel, der ihren Pass und ihr Geld schützen sollte.

Der Vater sah sie sanft an: »Deine Mutter und ich können uns keine Flügel nähen und zu dir fliegen, um dir zu helfen. Sei stets freundlich und hilfsbereit zu deinen Lehrern und Mitschülern und den Menschen in deinem Gastland. Dann werden sie dir auch helfen, wenn du in Not bist.«

»Natürlich, Papa«, sagte Yanyan mit fester Stimme.

»Wenn du es nicht schaffst, komm einfach nach Hause, ja?«, sagte die Mutter. »Du hast es schon so weit gebracht. Viel weiter als ich. Du musst nicht noch mehr erreichen …«

Der Vater unterbrach sie: »Ich habe Hunger. Die Verwandten warten wahrscheinlich schon im Restaurant. Lasst uns aufbrechen.«

Yanyan betrachtet jetzt im Zug die Erdnusspackung und presst sie an ihr Herz. »Ich werde meine Eltern glücklich und stolz machen!«, schwört sie sich. Dann kramt sie eine Packung Würzige Bohnen aus ihrem Rucksack und reicht sie dem kleinen Kohlrabi-Mädchen.

Vom Bahnhof in Leipzig ist Yanyan begeistert. Die gewaltige Halle, die schöne Fassade – so hat sie sich Deutschland vorgestellt: Stark und hell, kraftvoll und leicht. Ein Bahnhof für einen König. Sie wäre gern länger geblieben, aber nach einer halben Stunde kommt pünktlich der Anschlusszug. Nach einer weiteren Stunde Fahrt kommen sie endlich in K. an. Die sehr überschaubare Größe des Bahnhofs enttäuscht Yanyan. »Das ist ja ein Wohnzimmerbahnhof. Wir sind in einer Spielzeugstadt«, murmelt sie unzufrieden.

»So ähnlich kommt es mir auch vor«, sagt Magerkater.

Das Empfangskomitee, darunter ein chinesischer Student, steht schon auf dem Bahnsteig. Die Deutschen kommen auf sie zu und schütteln ihnen herzlich die Hände. Daran muss Yanyan sich noch gewöhnen.

Drei Kleinbusse warten am Ausgang. Yanyan, Wanxia und Magerkater steigen zusammen ein. Während der Fahrt schaut Yanyan gespannt hinaus, um sich einen Eindruck von der Stadt zu verschaffen, in der sie die nächsten zwei Jahre leben soll. Am Anfang sieht sie ein paar hübsche Häuser, die aus einem Museum zu stammen scheinen, aber dann tauchen hässliche Wohnblocks auf wie in den schäbigsten kleinen Provinzstädten Chinas. Mit ihren flachen Dächern und schmucklosen Fassaden ziehen sie sich grotesk in die Länge, als hätten Außerirdische beim Verlassen der Erde ihre kantigen Schlagstöcke liegenlassen. Obwohl die Sonne strahlt, ist kaum jemand unterwegs. In manchen Seitenstraßen herrscht völlige Stille, nichts rührt sich. Ein kalter Schauer erfasst Yanyan. »Wo sind bloß die Menschen?«, fragt sie sich.

Magerkater steigt mit einem Betreuer vor einem Plattenbau aus. Kurz darauf sind auch Yanyan und Wanxia am Ziel. Ihr Betreuer bringt sie zu einem Hochhaus mit einer bunt bemalten Fassade. Es wirkt etwas freundlicher als seine grauen Geschwister. Der Hausverwalter, ein Mann mit Leninbart und blauer Latzhose, wartet bereits auf sie. Mit einem quietschenden Fahrstuhl fahren sie in die zehnte Etage. Der Hausverwalter schließt eine Drei-Zimmer-Wohnung auf.

Die kleinen, niedrigen Zimmer mit ihren weißen Tapeten wirken ein bisschen bedrückend. Die Fenster sehen aus, als ob sie geköpft wären. Der Verwalter geht mit den neuen Bewohnerinnen des Appartements die Einrichtung durch: In der Küche stehen ein Herd, ein Kühlschrank, ein Schrank, ein Tisch mit drei Stühlen. In jedem Zimmer gibt es ein Bett mit Matratze, einen Schreibtisch mit Stuhl, einen Kleiderschrank und ein Bücherregal. Alles schlichte, funktionale Möbel. Die beiden jungen Frauen unterschreiben die Inventarliste und fragen nach dem dritten Zimmer. »Da kommt noch eine dritte Chinesin, ein paar Tage später, aus einer anderen Provinz«, sagt der Verwalter auf Deutsch, und der Betreuer übersetzt es ins Englische. Die beiden Mädchen lächeln beruhigt.

Bei der Schlüsselübergabe müssen sie jeweils sechshundert Euro Kaution zahlen. Yanyan entschuldigt sich, geht ins Bad, holt ein paar fremde Scheine aus ihrem Brustbeutel und zählt sie dreimal ab. Dann ist sie mit Wanxia allein in der Wohnung.

Sie öffnen ihre nach Osten gerichteten Fenster. Der Lärm des Straßenverkehrs drängt herauf und lässt den Septembertag wärmer und trockener erscheinen, als er ist. Hinter der Straße schlängelt sich ein kleiner Fluss dahin. Die Natur dort wirkt saftig grün und hat selbst aus der Ferne eine kühlende Wirkung auf Yanyans Gemüt. »Wir sehen zwar kaum was von der Stadt, aber immerhin haben wir eine schöne Aussicht«, sagt sie. »Wie ein Gemälde.«

»Stimmt. Hier studiert man anscheinend direkt im Wald«, knurrt Wanxia.

Aber jetzt ist es höchste Zeit, sich bei den Eltern zu melden. Beide Mädchen greifen nach ihren Smartphones und gehen in ihre Zimmer. »Mama, Papa, Oma, wir haben’s geschafft«, ruft Yanyan vergnügt ins Gerät. »Wir sind in unserer Wohnung! Hurra!« Sie geht durch die Räume und hält das Handy hoch, damit ihre Familie die Wohnung und die Landschaft vor dem Fenster sehen kann. »Ja, die Deutschen sind richtige Riesen. Aber sehr nett und freundlich … Ja, es ist sonnig, aber viel kälter. Ganz angenehm, eigentlich … Ja, ich ziehe mir gleich eine Jacke an … Ja, wir passen gut auf und machen alles zusammen.«

2. Ein starker Abgang

Die Sonne scheint, der Himmel ist hoch und lädt dazu ein, irgendwo draußen am Fluss abzuhängen. Bei solchem Wetter hat er null Bock auf die Schule, genauer gesagt: auf die »berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme des Jugendamtes«. Am Wochenende ist er achtzehn geworden. Seine Mutter war ganz aus dem Häuschen. »Mein Prinz aus Arabien, mein Sonnenstrahl aus dem Herzen Europas! Was für ein schöner, kräftiger, unwiderstehlicher Junge bist du geworden!« Die vielen Küsse hätte sie sich allerdings sparen können. Am Nachmittag dann das Grillfest im neuen Schrebergarten, den seine Mutter und sein Stiefvater sich zugelegt haben. Es sei der Kolonie Morgenröte eine Ehre, zwei so wichtige Persönlichkeiten der Stadt in ihren Reihen zu haben, hatte der Gartenlaubenvorsitzende bei der Begrüßung gesagt, und man hatte mit Rotkäppchensekt angestoßen. Zu Bens Überraschung waren einige lokale Persönlichkeiten gekommen, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Das waren Kollegen und Parteifreunde seines Stiefvaters. Sie wollten dem einflussreichen Mann eine Freude machen, indem sie Ben gratulierten. Außerdem gab es reichlich Geschenke: Geld, Markenklamotten, Musikanlagen, DVDs, ein neues Smartphone, ein Tablet, einen Satz Hanteln aus Edelstahl, ein Paar schwarze Boxhandschuhe und sogar ein Surfbrett, obwohl es weit und breit keinen richtigen See gibt. Darum ist Ben heute auch gut gelaunt wieder zur Schule gegangen.

In den Pausen prahlt er mit seinen Geschenken. Im Unterricht beschäftigt er sich hauptsächlich mit seinem neuen Smartphone. Es ist schon fast Mittag und Ben knurrt der Magen. Kaum hat er sich für die letzte Unterrichtsstunde hingesetzt, betritt hinter der Sozialkundelehrerin auch der Vertrauenslehrer den Raum. Er kommt zielstrebig auf ihn zu und sagt leise: »Herr Röckl, kommen Sie bitte mit? Wir haben etwas zu besprechen mit Ihnen.«

Ben runzelt misstrauisch die Stirn, folgt ihm jedoch. Erst als sie draußen im leeren Flur stehen, sagt der Lehrer: »Der Direktor möchte Sie sprechen.« Ben schwant nichts Gutes. Seine rechte Hand umklammert den Talisman, den er in der Tasche trägt: ein schwarzes Kästchen aus Plastik mit einem kleinen Display und fünf Tasten. Das ist sein Funkmeldeempfänger, und wenn der losgeht, kann Ben einfach wegrennen. Dann zählt keine Schule und kein Direktor. Dann ist ALARM. Aber das Kästchen bleibt stumm, und Ben muss in den vierten Stock hinauf zum Direktor. Der Lehrer hält ihm die Tür auf und sie treten ein. Der bebrillte Direktor und seine Stellvertreterin warten bereits.

Nachdem sie sich zu viert an den Konferenztisch gesetzt haben, macht der Direktor ein besorgtes Gesicht. »Herr Röckl«, sagt er, »die Zwischenbilanz Ihrer Ausbildungsförderung liegt uns vor. Wir machen uns Sorgen, was Ihre Leistungen angeht: Sie haben an drei Prüfungsterminen gefehlt und zwei Wiederholungsprüfungen nicht bestanden.«

Ben wird sofort patzig. »Ich war krank. Wie soll ich denn die Prüfungen schaffen, wenn ich nicht im Unterricht sein konnte. Versuchen Sie’s doch mal selbst, da fallen Sie auch auf die Schnauze.«

Der Direktor schaut den jungen Mann an, als hätte er Zahnschmerzen. »Darum habe ich Sie sprechen wollen, um zu sehen, wie Sie Ihre Leistungen verbessern können.« Dann wird er ironisch. »Im Moment scheinen Sie aber fit zu sein, oder? Sie strotzen ja geradezu vor Gesundheit und Energie!«

Ben ahnt, worauf der Direktor hinauswill. Er scheint genau zu wissen, dass Bens »Krankheiten« nicht so ganz echt sind. Das muss Ben sich nicht anhören, das hat er nicht nötig. »Was ist das hier für’n Laden!«, brüllt er und springt auf. »Man wird doch mal krank sein dürfen! Ein Saustall ist das hier!«

Der Direktor schaut den Jungen scharf über den Brillenrand an. »Bitte, schreien Sie nicht herum! Setzen Sie sich!«

»Dauernd werd ich hier gemobbt. Das lass ich mir nicht gefallen!« Ben stößt den Stuhl krachend zu Boden und verlässt mit schwingenden Armen den Raum.

Draußen grinst er zufrieden, da er mit einem Schlag die drei lästigen Lehrer losgeworden ist. Denen hat er’s gezeigt. In den Klassenraum will er jetzt nicht mehr zurück. Dafür ist er noch zu aufgeregt. Er setzt sich in den Hof und raucht, bis die Unterrichtsstunde vorbei ist. Als die Klingel zur Pause ertönt, kehrt er mit aufgesetzter Kapuze in den Klassenraum zurück, um seinen Rucksack zu holen.

Die anderen Schüler strömen die Treppe herunter, ohne ihn zu beachten. Als er oben ankommt, ist die Klasse schon leer. Ben tritt ein und sammelt seine Sachen zusammen. Keiner kommt zurück, um nach ihm zu schauen. Keiner will wissen, wo er gewesen ist. Na gut, dann verlässt er die Schule eben allein. Morgen und übermorgen will er hier auf keinen Fall herkommen. Er braucht ein paar freie Tage, um seine Schmach zu verdrängen. Am besten, er bleibt so lange weg, bis Gras darüber gewachsen ist.

Nun hat er seinen Rucksack und kann gehen. Aber er zögert noch. »Eines Tages werde ich als der Reaper zurückkommen, dann muss mir der Direktor die Stiefel lecken, und die Lehrerinnen …« Er beißt sich auf die Lippen und ballt die Fäuste, während er daran denkt, was er mit den Lehrerinnen anstellen wird. Alle werden sie Angst vor ihm haben.

Vorerst wirft er aber bloß den Lehrerstuhl krachend gegen die Wand. Der Stuhl knallt auf den Boden, und eins der hölzernen Beine bricht ab. Ben zieht die Kapuze tief ins Gesicht und verlässt das Gebäude.

Auf dem Weg zur Bushaltstelle setzt er die Kopfhörer auf und wiegt sich in der Musik, als wäre er beim Aufwärmen fürs Boxtraining. Da taucht ein Mädchen mit einem kurzen weißen Rock vor ihm auf. Sie ist schlank, aber der runde Hintern gefällt ihm. Leider ist sie nicht bei ihm in der Klasse. Heute möchte er sie nicht bloß mit den Augen verschlingen. Er stellt sich vor, wie es wäre, ihr in die Innenseite der Schenkel zu beißen. Er möchte ihr die Fingernägel und Zähne ins weiche Fleisch schlagen, bis Blut kommt. Er will sie schreien hören. Dann hält er plötzlich inne und schüttelt den Kopf. Er weiß selbst nicht, warum er immer solch blutige Bilder sieht. Das kann doch wohl nicht normal sein. Haben die anderen auch so Sachen im Kopf? Bestimmt nicht. Die sind so bescheuert und brav, die fallen sofort in Ohnmacht, wenn sie nur einen einzigen Tropfen Blut sehen. »Ich bin ein As, und ich werde es euch zeigen!«, knurrt er.

Hat er das jetzt laut gesagt? Um nicht aufzufallen, lehnt sich Ben an die Bushaltestelle und starrt mit halb geschlossenen Lidern zwischen die nackten Beine des Mädchens. Dann versperren ihm andere Schüler den Blick. Ben dreht den Kopf weg und gähnt. Das »Ausbildungszentrum« liegt an einer Ausfallstraße, weit weg vom Zentrum, ein riesiger Kasten aus schwarzen Ziegelsteinen. Dahinter ein Industriegebiet.

Gestern ist er achtzehn geworden. Volljährig, erwachsen! So viele Geschenke. Aber sein größter Wunsch ist nicht in Erfüllung gegangen. Sein Vater ist wieder nicht dagewesen. Seit er sich von seiner Mutter getrennt hat, hat er sich kaum blicken lassen. Und für Ben scheint er sich nicht mehr zu interessieren. Sein Vater ist ein cooler Typ. Er hat funkelnde blaue Augen, breite Schultern und kräftige Arme. Er war ein richtiger Frauenheld, sagt Bens Mutter, alle haben sie ihm nachgeschaut. Aber jetzt wohnt er in Leipzig und hat eine neue Familie. Er verdient gutes Geld und hinter seinem Haus hat er einen Garten mit Swimmingpool. Ben ist sogar schon mal dort gewesen. Aber daran denkt er nicht gern zurück. Damals war er vierzehn. Und was an diesem Tag vor vier Jahren passiert ist, führte dazu, dass sein Vater ihn nicht mehr sehen will.

Ben ist schon immer ein wilder Junge gewesen. Einmal hat er einen Mülleimer angezündet, bei einer anderen Gelegenheit hat er die Katze des Nachbarn gegen die Wand der Garage geworfen. Wenn er erwischt wurde, kriegte er Prügel. Ständig gab es zu Hause Streit wegen ihm. Der Vater warf der Mutter vor, dass sie den Jungen verwöhnt hätte. »Du hast ihn völlig verzogen«, hat er einmal gesagt. »Ben ist ein kleiner Taugenichts. Wenn er so weitermacht, nimmt es ein böses Ende mit ihm.« Die Mutter weinte und kam oft spät nach Hause, dann blieb sie hin und wieder den ganzen Tag und die ganze Nacht weg. Der Vater wurde wütend und trank häufiger. Ben war auf sich allein gestellt und musste zusehen, dass der Vater ihn nicht erwischte, sonst gab es wieder eine Tracht Prügel. Er hasste den Vater.

Einmal versteckte er sich unter dem Bett der Eltern, als der Vater die Tür aufschloss. Kurz danach kam die Mutter nach Hause. Der Vater zerrte sie zu sich ins Bett, und die Erwachsenen begannen über Bens Kopf zu kämpfen. Kleider wurden zu Boden geschleudert, schließlich landete Mutters schwarzer BH vor Bens Nase. Ben wollte schon herauskriechen, um seiner Mutter zu helfen, da merkte er, dass es ihr gefiel. Dann grunzte der Vater, und die Mutter hielt still. Die beiden hatten aufgehört, sich zu bewegen. Bald darauf schliefen die Eltern ein, und Ben konnte endlich aus seinem Versteck kriechen und hastig in sein Zimmer huschen. Instinktiv wusste er, dass von seinem Vater jetzt erst mal keine Gefahr ausging. Aber die Mutter wurde ein großes Rätsel für ihn. Als er sechs Jahre alt war, trennten sich seine Eltern. Der Vater nahm eine Stelle als IT-Berater in Leipzig an und kam nur noch am Wochenende nach Hause. Dann zog er ganz aus.

Bens Mutter war damals noch eine junge attraktive Frau voller Temperament und wusste sich schnell zu trösten. Sie brachte hin und wieder Männer mit nach Hause. Ben sah einmal zufällig, was die Mutter mit ihrem Liebhaber im Schlafzimmer trieb, da wurde ihm klar, warum die Erwachsenen immer ein großes Bett brauchten. Er fing an, der Mutter nachzuspionieren. Er beobachtete sie beim Anziehen und Schminken, vor allem aber, wenn die Männer bei ihr zu Besuch waren. Er bekam viel zu sehen.

Einer von Mutters Liebhabern, der Vorarbeiter auf einer Baustelle war, erwischte ihn beim Spionieren und wollte ihn erziehen. Es passierte immer häufiger, dass ihm die Hand ausrutschte, vor allem in Mutters Anwesenheit. Da machte Ben ihm das Haus zur Hölle. Mal pinkelte er in seine Bierflasche, mal ließ er seine Uhr im Klo verschwinden, schließlich verbrannte er seinen Führerschein. Er trieb den bulligen Mann zur Verzweiflung. Nach drei Monaten zog er aus. Bens erster Sieg! Mit zwölf hatte er es geschafft, einen erwachsenen, vierzigjährigen Kraftprotz aus seinem Liebesnest zu vertreiben. Jetzt brauchte er vor niemand mehr Angst zu haben!

Die Mutter seufzte. War sie einsam, holte sie den Sohn zu sich ins Bett. »Mein Baby, dir wird nichts fehlen, solange ich da bin. Du wirst ein toller, gutaussehender Junge, wie ein Prinz aus dem Morgenland, und alle anderen werden neidisch auf dich sein!«, sagte sie und schmiegte sich an ihn. Ben hatte das großartige Gefühl, er wäre der Mann, den seine Mutter begehrte.

Schließlich machte die Mutter ihrem Chef, einem der einflussreichsten Männer der Stadt, schöne Augen. Der Mann, der gerade in Trennung lebte, ließ sich nicht zweimal bitten, und bald hörte Ben seine Mutter jede zweite Nacht unter ihm stöhnen. Sie strengte sich mächtig an, um ihn zu heiraten. Der Junge allerdings störte die Zweisamkeit. Der Liebhaber gab sich zwar alle Mühe mit Ben, aber er war einfach zu viel für den eher phlegmatischen, rundlichen Mann, der sich gern von der »scharfen Rita« verwöhnen ließ. Ben wurde von der Mutter mit oberflächlichen Zärtlichkeiten und einem üppigen Taschengeld abgespeist, und wenn er wieder mal etwas ausgefressen hatte, beschützte sie ihn vor den Folgen. Weder die Lehrer noch die Polizei konnten ihrem »Schatz« etwas anhaben.

Schließlich heiratete die Mutter ihren Chef und zog mit Ben in dessen Haus. Ben hatte jetzt einen mächtigen Stiefvater und wurde bei seinen Streichen dreister. In dem zweistöckigen Haus mit acht Zimmern war immer was los. Der Stiefvater bekam viel Besuch, mal von Verwandten, mal von Kunden, Kollegen und Freunden, und seine Mutter hatte nicht nur mit der Bewirtung der Gäste zu tun. Sie musste »repräsentieren«. Ben spürte, dass sich niemand für ihn interessierte. Für sein Essen sorgte meist die Großmutter, die in einem Haus am Stadtrand wohnte. Und so oft es ging, setzte sich Ben in die S-Bahn und fuhr nach Leipzig zu seinem richtigen Vater.

Aber dort war es auch nicht so einfach. Sein leiblicher Vater kümmerte sich zwar weiterhin um ihn und holte ihn dann und wann einmal zu sich, viel Zeit jedoch brachte er nicht auf für seinen Sohn aus erster Ehe, sondern ließ ihn mit den beiden Halbgeschwistern spielen. Dabei merkte Ben, dass die neue Frau seines Vaters ihm gegenüber sehr misstrauisch war. Erzählte er schmutzige Witze, lachte er zu laut oder warf mit hässlichen Schimpfwörtern um sich, hielt sie ihren Kindern die Ohren zu.

Als der kleine Halbbruder das erste Schuljahr erfolgreich hinter sich gebracht hatte, veranstaltete sein Vater ein Grillfest im Garten. Es kamen viele Leute. Das Fest war für Ben eine Tortur. Er konnte partout nicht verstehen, warum alle den milchigen Halbbruder anhimmelten, ihn aber völlig ignorierten, obwohl er schon vierzehn war und viel mehr konnte. Als er das Kerlchen beim Versteckspiel in einem abgelegenen Winkel des Gartens erwischte, beschloss er, dem kleinen Scheißer mal eine Lektion zu erteilen. Er warf ihn zu Boden, ritt auf seinem Gesicht, wie er’s im Internet gesehen hatte und zwang ihn, sein Glied zu lutschen. »Du darfst niemandem etwas sagen«, schärfte er dem Kind ein. »Sonst brech ich dir die Beine. Und deine Mama, die mach ich blind.« Der Kleine hatte tapfer genickt, während ihm die Tränen übers Gesicht liefen. Er hatte tatsächlich nichts verraten, aber die Mutter hörte nicht auf nachzufragen, warum seine Kleidung so schmutzig war, dass er am Ende doch alles erzählte. Er hatte überhaupt nicht begriffen, was Ben gewollt hatte.

Ben saß da längst wieder im Zug. Der Vater rief die Mutter an und sagte, sie solle Ben nie wieder nach Leipzig schicken. Er verbot ihm, sein Haus zu betreten und brach den Kontakt ab. Seitdem hat Ben den Vater nicht mehr gesehen. Die Mutter des Kleinen informierte zudem das Jugendamt, sodass Ben sich medizinisch untersuchen lassen musste. Es wurde eine »Hyperaktivitätsstörung« bei ihm festgestellt. Es folgte eine stationäre Behandlung, die ihn sehr ärgerte. In der Schule hielt man ihm dauernd Moralpredigten, die ihn in Weißglut versetzten. Einmal stieß er eine Lehrerin, die ihn ermahnte, zu Boden und trat nach ihr. Die Frau erstattete Anzeige. Seine Mutter nahm Ben in Schutz und erklärte vor Gericht, ihr Sohn habe unter starkem Medikamenteneinfluss gestanden. Die Lehrerin erhielt Schmerzensgeld zugesprochen, aber Ben kam mit einer Ermahnung davon. Die Schule wollte ihn allerdings nicht mehr behalten. Schließlich entschied das Jugendamt: Ben musste auf eine Förderschule.

Dort kam er sich wie im Gefängnis vor. Es war eine Schule mit vielen Betreuern, die in Bens Augen eher Wächter waren. Morgens wurde er vom Fahrdienst abgeholt und in die Schule gebracht. Dann gab es den ganzen Tag kein Entrinnen. Eines Tages weigerte er sich, in den Bus einzusteigen. Er brüllte seine Mutter und seinen Stiefvater an und schlug wild um sich. Die Eltern gaben nach und ließen ihn zu Hause. Dass er keinen Schulabschluss hatte, war ihm egal. Und ihnen offenbar auch.

Aber das Jugendamt vergaß ihn nicht. Zusammen mit seinen Eltern beschloss die Behörde, ihn in eine berufsvorbereitende Maßnahme aufzunehmen und schickte ihn in die Berufsschule. Sie zahlten ihm sogar Geld dafür. Daraufhin zog er bei seiner Mutter und seinem Stiefvater aus.

Inzwischen wird seine körperliche Erscheinung der seines Vaters immer ähnlicher. Aber ganz so weit ist er noch nicht, denn er ist zwar in die Höhe geschossen, aber Schultern und Hüfte sind schmal und die Beine dünn. Doch er strahlt Jugend, Energie und Frische aus und sieht insgesamt gar nicht so schlecht aus. Nur einige hartnäckige Pickel machen ihm zu schaffen. Immer wieder merkt er, wie die Mädchen sich wegdrehen, wenn er ihnen zu nahekommt. Es ist, als wäre er aussätzig. Seither trägt er eine Kapuze auf dem Kopf, selbst beim Unterricht setzt er sie nicht ab. Die verdunkelt seine Wangen und macht sein schmales Gesicht markanter. Er sieht aus wie der Reaper, und das gefällt ihm.

Der große Gelenkbus hält an und öffnet seine Türen. Dreißig Schüler steigen ein. Sonja, das schlanke Mädchen mit dem weißen Rock, ist eine der letzten. Die meisten Reihen sind schon besetzt, sie bleibt im Mittelgang stehen. Ben drängt dicht an ihr vorbei und berührt mit der Hand ihren Hintern. Sie spürt etwas und presst sich zwischen zwei Sitzreihen, um sich vor seinen Fingern zu retten. »He, warum musst du immer drängeln, Ben?«, fragt sie ärgerlich. Sonja hat jede Menge Sommersprossen rund um ihre Nase. Es ist, als hätte ein Maler eine Handvoll Konfetti in ihr Gesicht geschleudert.

Ben hat große Lust, mit einem Mädchen zu spielen, um den Ärger mit der Schulleitung zu vergessen. Grinsend sagt er: »Soll ich lieber langsam machen? Kein Problem. Ich kann alles. Wenn du willst, mach ich’s schön langsam.« Er macht einen Schritt rückwärts und drängt sich in Zeitlupe an ihr vorbei. Dabei fasst er ihr beiläufig an den Bauch und lässt seine Finger spielen. Sonja zittert vor Wut. »Jetzt machst du schon wieder so was. Du bist doch nicht ganz normal!« Sie flüchtet in die Mitte des Busses.

»Stimmt, ich bin nicht normal. Erstaunlich, dass dein kleines Hirn das kapiert«, sagt Ben grinsend. Er stößt den ausgestreckten Zeigefinger in Richtung ihrer Brüste und macht: »Tut, tut!« Dann verschwindet er im hinteren Bereich des Fahrzeugs. Der wütende Blick, den das Mädchen ihm nachwirft, kümmert ihn wenig. Wenn man reich und mächtig ist, denkt er, darf man sie überall anfassen. Auch an der Pussy. Er überlegt, wie sich so eine Pussy wohl anfühlt. Irgendwie weich und lebendig. Während der Fahrt hört er mit geschlossenen Augen ratternde Rapmusik. Als Sonja aussteigt, heftet er seine Augen auf ihren Rücken und ihren Rock. Wo wohnt die eigentlich? Das wäre doch mal interessant. Von einem spontanen Impuls getrieben, springt er im letzten Augenblick aus dem Bus.

3. »Ist die Stadt krank?«

Mit nicht zu bändigender Neugier machen sich Yanyan und Wanxia auf ihre erste Erkundungstour. Die Sonne strahlt hoch am Himmel, es ist warm. Entsprechend sommerlich sind sie gekleidet: T-Shirt, kurze Hose, Sandalen. Ihr erstes Ziel ist die Universität. Wenn das Semester beginnt, werden sie da jeden Tag hinpilgern müssen. Daher wollen sie sich jetzt schon mit dem Weg vertraut machen.

Zunächst geht es hinter den Häusern entlang. Die staubigen Rasenstreifen zwischen den Wohnblocks sind zu breit und haben kaum Bäume, es sind eher Überwachungszonen zwischen den Betonfassaden der Plattenbausiedlung. Nach ein paar Schritten begegnen sie einem Mann im Trainingsanzug mit einem kleinen Hund an der Leine. Dann kommt ihnen ein alter Mann mit einem geistig behinderten Jungen entgegen, der nicht richtig laufen kann. Sie biegen um die Ecke und gelangen an eine Hauptverkehrsstraße. Drei ältere weißhaarige Frauen stehen schweigend an der Ampel, hinter ihnen wartet eine Frau mit rotgefärbtem Haar und einem Kinderwagen darauf, dass die Ampel auf Grün umspringt. Auf der anderen Seite kommt ihnen ein Mann mit Brille und graumeliertem Haar entgegen. »U-ni-ver-si-ty?« fragt Yanyan, und der Mann zeigt die lange Straße hinauf, die nach Norden führt.

»Die Stadt wirkt irgendwie verlassen«, sagt Yanyan und blickt an den Häusern hoch. »Schau, da drüben stehen zwei Wohnungen frei. Und die im Erdgeschoss ist auch leer.« Die Fensterscheiben sind staubig, hinter den ausgebleichten Gardinen liegen verlassene Räume. Nach kurzer Zeit fügt Yanyan hinzu: »Ich hab gelesen, dass viele junge Leute von hier in den Westen gehen, wegen der Jobs. Sie machen ihren großen Sprung nach vorn wahrscheinlich eher dort als hier in der Gegend.«

»Jetzt sind wir gerade fünf Minuten unterwegs, und du machst schon alles schlecht«, sagt Wanxia. »Sei nicht so voreilig. Es gibt bestimmt auch ganz andere Straßen.«

Tatsächlich: Nach zwanzig Minuten kommen sie ins Stadtzentrum mit einer Ladenpassage. Hier ist es lebendiger. Vor einer Drogerie mit Kosmetikartikeln bleibt Wanxia stehen. »Lass uns da reingehen«, sagt sie.

Aber Yanyan schiebt sie in einen Supermarkt. »Das Essen ist wichtiger!«, sagt sie. »Mit Sicherheit müssen wir selbst kochen. Lass uns mal schauen, was es so gibt.«

Die Auswahl ist geringer, als es auf den ersten Blick scheint. Obst und Gemüse sind nicht sehr beeindruckend, frischen Fisch gibt es gar nicht. »Hmm, alles tiefgefroren. Gemüse ist ziemlich teuer. Das Fleisch bei manchen Sorten billiger. Schokolade auch billiger. Wir werden schon überleben«, sagt Wanxia.

»Schade, dass sie keine chinesischen Nudeln haben. Aber schau mal, die Nivea ist hier viel billiger. Der Reis ist definitiv zu teuer, dafür sind die Kartoffeln billig. So ein Sack kostet noch nicht mal zwei Euro«, sagt Yanyan, »wenn wir mal knapp bei Kasse sind, steigen wir auf Kartoffel und Schokolade um.«

»Dann sehen wir bald genauso aus wie die Deutschen. Nur, die Deutschen bleiben weiß, aber wir werden noch gelber von den Kartoffeln«, grinst Wanxia.

»Nein, schwarz! Von der Schokolade!«, lacht Yanyan.

Sie marschieren durch ein paar Nebenstraßen und dann durch einen kleinen Park Richtung Bahnhof. Jetzt sehen sie plötzlich eine Gruppe Jugendlicher auf der Wiese herumsitzen. Sie trinken Bier oder Cola aus Büchsen und brüllen und lachen so laut, dass die beiden jungen Frauen unmerklich ihre Schritte beschleunigen. Erst als sie vor dem Bahnhofsgebäude einen Streifenwagen der Polizei sehen, entspannen sie sich wieder.

»Uni-ver-sity?«, fragen sie wieder, und zu ihrer Überraschung schickt man sie in den Bahnhof.