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Eine neue prickelnde Novella aus der Erfolgsserie Elder Races: Die Bibliothekarin Olivia soll gemeinsam mit einem Team von Spezialisten die magische Bibliothek der Vampyrin Carling Severan an einen sicheren Ort bringen. Geleitet wird die Expedition von Sebastian Hale, zu dem Olivia sofort eine tiefe Verbindung spürt. Sie ahnt nicht, dass Sebastian Opfer eines Fluchs wurde, der ihm nach und nach das Augenlicht nimmt. Doch beide müssen ihre Gefühle hintenan stellen, als klar wird, dass sich ein Verräter unter ihnen befindet. (ca. 120 Buchseiten)
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Seitenzahl: 175
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
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6
7
8
9
10
Die Autorin
Die Romane von Thea Harrison bei LYX
Impressum
THEA HARRISON
Ins Deutsche übertragen
von Simone Heller
Zu diesem Buch
Die Bibliothekarin Olivia soll gemeinsam mit einem Team von Spezialisten die magische Bibliothek der Vampyrin Carling Severan an einen sicheren Ort bringen. Geleitet wird die Expedition von Sebastian Hale, zu dem Olivia sofort eine tiefe Verbindung spürt. Sie ahnt nicht, dass Sebastian Opfer eines Fluchs wurde, der ihm nach und nach das Augenlicht nimmt. Doch beide müssen ihre Gefühle hintenan stellen, als klar wird, dass sich ein Verräter unter ihnen befindet.
Für die wunderbaren Frauen, die mir beim Testlesen dieser Geschichte geholfen haben: Kristin, Anne, Andrea, Rene und Holly. Und für Heather und Amy.
»Wisst ihr, heute sollte ich eigentlich nicht zur Schule müssen«, nuschelte Chloe mit dem Mund voller selbst gebackener Blaubeer-Muffins und warf Olivia ein gerissenes Lächeln von der Seite zu.
Olivia erwiderte das Lächeln der Kleinen. Chloe war ein ungestümes Kind, das viel Aufmerksamkeit benötigte, und Olivia vergötterte sie.
Olivia hatte zwar keine eigenen Kinder, aber das lag nicht daran, dass sie keine wollte. Sie liebte Kinder. Und selbst wenn sie Kinder nicht gemocht hätte, wäre es ihr sehr schwergefallen, sich Chloes durchtriebenem Charme zu entziehen.
Nachdem sich Olivia und Chloe angelächelt hatten, drehten sie sich um und blickten einem der bedeutendsten Dschinns der Welt ins Gesicht. Khalil räkelte sich am Kopfende des Frühstückstischs wie ein Pascha, der über die Adligen seines Hofes gebot.
Das Licht der frühen Morgensonne fiel durch die Glastüren hinter ihm – ein glitzerndes, silbern gleißendes Funkeln, das vom Meer gleich auf der anderen Seite eines breiten Sandstrands zurückgeworfen wurde. Die Sonnenstrahlen trafen wie eine weiße Messerklinge auf Khalils rabenschwarzes Haar und leuchteten ebenso hell wie seine merkwürdigen diamantgleichen Augen.
Khalil betrachtete die Fünfjährige, die ungeduldig auf ihrem Stuhl herumrutschte, mit aufrichtiger Neugier in den blassen, herrschaftlichen Zügen. »Bitte, erklär mir das. Weshalb solltest du denn dieses Mal nicht zur Schule gehen müssen?«
Chloe riss die Augen weit auf. »Na, weil Olivia heute wegfahren muss. Es ist der allerletzte Tag ihrer Woche. Du brauchst jemanden, der mit Max spielt, damit du noch mit ihr plaudern kannst, solange es geht.« Etwas Berechnendes trat in ihren Blick. »Ich würde dir einen Gefallen tun, weißt du?«
Nachdem sie eine Urlaubswoche damit verbracht hatte, den exzentrischen Lebensstil ihrer Freundin Grace zu teilen, war Olivia inzwischen bestens mit der Dynamik dieses Hauses vertraut. Sie erkannte, dass Chloe mit ihrem letzten Satz einen taktischen Fehler gemacht hatte, und ihr Blick wanderte erwartungsvoll zurück zu dem Dschinn.
Khalil sah Chloe an und hob eine seiner schmalen Augenbrauen. »Ich denke, es wäre äußerst unklug, dir dadurch etwas schuldig zu sein. Du hast dir den Hang zum Feilschen allzu gut von den Dschinn abgeschaut. Grace und ich werden es schon schaffen, sowohl Max als auch einen letzten Plausch mit Olivia auf die Reihe zu bekommen. Du gehst zur Schule wie geplant.«
Sturmwolken zogen in Chloes himmelblauen Augen auf. »Max muss nicht zur Schule, wenn wir hier Gesellschaft haben.«
Mit makelloser, wenn auch womöglich bedauerlicher Logik antwortete Khalil: »Max muss überhaupt nicht zur Schule, aber du schon.«
Olivia hüstelte und gab vor, sich für das zu interessieren, was auf ihrem Frühstücksteller lag: ein halber Blaubeer-Muffin und die Reste einer Scheibe Speck.
Niemand nahm ihre Umsicht zur Kenntnis. Der Sturm brach los. »Ich hasse es! Es ist nicht fair, dass ich zur Schule gehen muss, und er nicht!«, schrie Chloe.
Der riesige Dschinn legte den Kopf schief, während er das kleine Menschenmädchen vor sich musterte. »Möchtest du wirklich vor mir die Stimme erheben?«, fragte er milde.
Olivia konnte sich das Grinsen nicht mehr verkneifen. Sie griff nach ihrer Kaffeetasse, um sich dahinter zu verstecken. Für die Nichte und den Neffen ihrer Freundin Grace, Chloe und Max, war Khalil ein vollkommener Beschützer, unfehlbar zuverlässig und wahrhaft liebevoll. Ansonsten hätte diese Frage vielleicht bedrohlich geklungen, und sie konnte erkennen, dass sogar Chloe davon aus der Bahn geworfen wurde.
Das Mädchen wurde still und runzelte die Stirn, während es noch einmal darüber nachdachte. Dann richtete es den schmalen Rücken auf, schob das Kinn vor und sagte mit fester Stimme: »Ja.«
»Ich glaube, du solltest dir ein paar Minuten nehmen, um darüber nachzudenken. Allein in deinem Zimmer«, erwiderte Khalil. »Auch wenn ich deine Fähigkeit bewundere, einen Standpunkt einzunehmen und dabei zu bleiben. Wenn zehn Minuten vergangen sind, wirst du wie üblich zur Schule gehen.«
Chloes Mund ging auf. Sie war ein Abbild der Entrüstung. »Du gibst mir eine Auszeit?«
Khalil schnippte mit den Fingern. »Ach ja, so nennt man das. Eine Auszeit. Das vergesse ich immer, weil es überhaupt keinen Sinn ergibt. So etwas wie eine ›Auszeit‹ gibt es nicht. In deinem Zimmer vergeht die Zeit genauso schnell wie überall sonst in Florida auch.«
Olivia prustete los, bevor sie etwas dagegen tun konnte. Sie schlug sich eine Hand vor den Mund und schaffte es, ihre Kaffeetasse auf der Untertasse abzustellen, bevor sie sich mit der heißen Flüssigkeit bekleckerte.
Chloe heulte, den Mund weit aufgerissen, und ihre zarte Gesichtsfarbe wurde dunkler. Wie ein Heiligenschein schwebten die blonden Locken um ihren Kopf, während sie sich umdrehte und in den Flur von Khalils und Graces geräumigem, weitläufigem Ranch-Haus davonstapfte.
Noch während Olivia den dramatischen Abgang beobachtete, kam es beinahe zu einer Kollision zwischen Chloe und ihrer Tante Grace, die mit Max auf der Hüfte zum Essbereich humpelte. Ein weiterer Dschinn, Khalils Tochter Phaedra, folgte dicht hinter Grace.
Sobald Chloe die anderen bemerkte, heulte sie nur noch lauter, rannte an ihnen vorbei und verschwand, vermutlich um tatsächlich auf ihr Zimmer zu gehen, wie es ihr befohlen worden war. Für ein Kind mit einem so starken Willen war sie erstaunlich gut erzogen.
»Lustig«, bemerkte Grace. »Ich habe gar keine Tornadowarnung gehört.«
»Weshalb solltest du eine Tornadowarnung hören?«, fragte Phaedra ungeduldig. »Der Himmel draußen ist vollkommen klar.«
»Ich … du … ach egal«, erwiderte Grace.
Olivia machte sich nicht mehr die Mühe, ihr Grinsen weiterhin zu verbergen, als sie Graces funkelnden Blick bemerkte.
Grace humpelte zum Frühstückstisch, gefolgt von Phaedra.
»Phaedra hat sich beim ersten Mal Windelwechseln ganz gut angestellt«, verkündete Grace. »Und ihr könnt mir glauben, Max kann wirklich müffelnde Windeln fabrizieren.«
»Natürlich habe ich es gut gemacht«, sagte Phaedra mit einem heftigen Stirnrunzeln. Sie verschränkte die Arme. In ihrer körperlichen Gestalt war sie größer als Grace und Olivia, und sie hatte sich entschieden, in strengen schwarzen Kleidern aufzutreten. Ihre weißen herrschaftlichen Züge ähnelten denen ihres Vaters, wohingegen das Haar, das ihr bis zur Schulter fiel, blutrot war. An ihren langen Fingern befanden sich schwarze Klauen. »Der Inhalt der Windel war bemerkenswert unangenehm, also habe ich einfach bis zum Ende der Prozedur nicht mehr geatmet.«
»Ja, das hast du hervorragend gemacht«, bestätigte Grace fröhlich. »Du hast es sogar so gut gemacht, dass du meiner Ansicht nach bereit bist, in nur etwa sechzehn oder siebzehn Jahren Max ganz allein zu beaufsichtigen.«
»Hier, siehst du«, sagte Phaedra, während sie sich umdrehte, um ihren Vater anzublicken. »Du warst ganz umsonst besorgt.«
Khalil kniff die Augen zusammen und machte den Eindruck, als wäre er auf der Hut. Er blickte von seiner selbstzufriedenen, arroganten Tochter in das verkniffene, schelmische Gesicht von Grace, dann hinüber zu Max. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
»Schweigen ist eine weise Entscheidung«, sagte Grace zu ihm. »Sie wird es schon noch herausfinden.«
Olivia brach in Gelächter aus. Auch wenn es mitunter anstrengend sein konnte, liebte sie diesen exzentrischen Haushalt. Es war etwas vollkommen anderes als ihr stilles Leben zu Hause in Louisville. Ihr Beruf forderte sie, und sie genoss ihr Leben, aber wenn sie ihrer neunjährigen Katze Brutus Katzenminze gab, war das auch schon das aufregendste Ereignis, das sich bei ihr zu Hause abspielte.
Khalil streckte die Hände nach dem Baby aus. Max hatte einen Zeigefinger in eines seiner runden Nasenlöcher gesteckt. Er streckte die Zunge heraus und prustete, als Grace ihn auf die Füße stellte. Max stolzierte hinüber zu Khalil, der das Kind schwungvoll in die Luft hob und auf seinen Schoß setzte.
Angetan – und nicht zum ersten Mal – bemerkte Olivia, wie sehr sich Max in einem Jahr verändert hatte, aber das hatten sie ja alle. Max war zwanzig Monate alt, ein gesunder Wonneproppen. Mit ihren fünf Jahren ging Chloe in den Kindergarten, und normalerweise gefiel es ihr auch, außer, wenn zu Hause etwas Spannendes im Gange war.
Aber die größten Veränderungen sah Olivia bei Grace. Als sie sich im letzten Jahr angefreundet hatten, war Grace bleich und angespannt gewesen, mit Schatten unter den Augen und im Gesicht von Schmerz und Erschöpfung gezeichnet. Grace war gute zehn Jahre jünger als Olivia, aber vor einem Jahr hatte sie älter ausgesehen.
Letztes Jahr hatte Grace mit ihrer Nichte und ihrem Neffen in Kentucky gewohnt, im alten Haus der Familie in Louisville. Sie hatte sich von jenem Autounfall erholt, der ihre Schwester und ihren Schwager das Leben gekostet und ihr selbst eine dauerhafte Behinderung beschert hatte. Außerdem hatte sie darum gerungen, sich mit der Macht des Orakels zu arrangieren, die sie beim Tod ihrer Schwester geerbt hatte, zusammen mit einem Schuldenberg.
Nun hatte Grace ihre Gesundheit wiedererlangt. Das Hinken würde sie niemals wieder loswerden. Ihr Knie war zu schlimm beschädigt gewesen, und als es zu der Verletzung gekommen war, hatte sie keinen Zugang zu kostspieliger, hochwertiger magischer Versorgung gehabt. Aber trotz dieser Behinderung wirkte sie glücklich, wahrhaft glücklich. Ihr Gesicht war nicht mehr eingefallen, und sie hatte richtig Farbe bekommen: rotblondes Haar, funkelnde haselnussbraune Augen und leicht gebräunte Haut.
Im Vergleich kam sich Olivia wie Graces ältere, langweiligere Schwester vor, mit ihrem kurzen kastanienbraunen Haar, den grauen Augen und der blassen Haut, die nicht gut bräunte. Es lag nicht einmal daran, dass sie schlecht aussah, dachte sie. Bei ihr war alles an der richtigen Stelle und hatte die richtige Größe, und auch wenn sie auf der Nase und den Wangen ein paar Sommersprossen hatte, konnte man damit gut leben. Sie sah einfach nicht interessant aus, hatte nichts von dem farbenfrohen, feurigen Strahlen, das Grace anhaftete.
Es schien eine Metapher für die Unterschiede in ihrem jeweiligen Leben zu sein. Auch wenn sie jung war, hatte Grace bereits ein Leben voller Kummer und Drama hinter sich, und sie befand sich mit Khalil in einer äußerst glühenden Affäre.
Olivia hatte hingegen eine vollkommen gewöhnliche Kindheit verbracht. Ihre Eltern hatten ihr das College bezahlt. Sie kam dort gut zurecht, verdiente sich ein paar Stipendien, studierte Magie und war direkt vom College zu einem hervorragenden Job als Auskunftsbibliothekarin an der Exlibris-Bibliothek in Louisville weitergezogen. Daran war überhaupt nichts auszusetzen, genauso wenig wie an ihrem Aussehen, nur nagte der Verdacht an ihr, dass sie ein langweiliges Leben führte und selbst eine langweilige Person war.
Die Einzelheiten waren Olivia nicht bekannt, aber irgendwie hatten sich auch Graces finanzielle Schwierigkeiten lösen lassen. Als Orakel hatte Grace eine große Geldspende von einem Bittsteller erhalten, und sie bekam ein regelmäßiges monatliches Gehalt von der neuen Consulting-Agentur, die der Wyr-Greif Rune Ainissesthai und seine Vampyr-Partnerin Carling Severan gegründet hatten. Olivia wusste nur, das Grace und die Agentur irgendein gestaffeltes Provisionssystem ausgearbeitet hatten, damit sie für diejenigen, die sie nicht bezahlen konnten, immer noch als Orakel dienen konnte, während die Agentur von allen, denen es möglich war, Gebühren einzog.
Das alles zeigte sich in dem ausladenden Ranch-Haus am Strand mit seinem eingezäunten Hof, in dem die Kinder sicher spielen konnten. Und in diesem Haus gab es Liebe, so viel Liebe, dass Olivia es als Privileg empfand, dabei sein zu dürfen. Die Beziehung von Grace und Khalil war so stark, dass sie sich nur vage vorstellen konnte, wie es sein musste, selbst ein so inniges Verhältnis zu jemandem zu haben. Sie waren vernarrt in die Kinder, die unter dieser Fürsorge prächtig gediehen. In ihrem Haus schien es ständig von Dschinn zu wimmeln, die entweder zu Besuch kamen, Geschenke brachten oder um eine Heilung feilschten, die sie nur bei Grace erhalten konnten.
Selbst Khalils Tochter Phaedra, wenn sie auch bissig und unberechenbar war, schien sich zu entspannen und die Atmosphäre und die Kinder zu genießen, wenn sie zu Besuch kam. Olivia war sich nicht ganz sicher, was sie von Phaedra halten sollte, aber zumindest ging die Dschinniya sehr sanft mit Max und Chloe um.
Während Khalil Max auf dem Knie schaukelte und Grace sich am Frühstückstisch bediente, aß Olivia ihren Muffin auf. Phaedra stand daneben, den Kopf schief gelegt und die Diamantaugen durchdringend, während sie sie beobachtete.
Grace hatte Olivia vom ersten Mal erzählt, als sie Phaedra begegnet war. Ihre Augen waren schwarz gewesen wie zwei dunkle Kerkerschächte. Die Dschinniya war so lange von ihrer Mutter gequält und eingesperrt worden, dass ihr Geist darunter gelitten und Schaden genommen hatte. Inzwischen war ihr Geist durch Graces Hilfe geheilt und wieder in Ordnung. Aber deswegen war mit ihr auch nicht besser Kirschen essen.
»Du kannst dich hinsetzen, weißt du«, sagte Grace zu Phaedra. »Iss etwas. Trink ein bisschen Kaffee. Tu so, als würde es dir Spaß machen, beteilige dich am Small Talk.«
Phaedra warf Grace einen verblüfften, gelangweilten Blick zu. »Ich habe kein Interesse daran, über Kleinkram zu sprechen«, erwiderte sie.
»Oh, ich weiß gar nicht, weshalb ich mir die Mühe mache«, bemerkte Grace. Sie wandte sich an Olivia. »Es war so schön, dich zu Besuch zu haben. Ich wünschte, du könntest länger als eine Woche bleiben.«
»Ich hatte schon seit Jahren nicht mehr so viel Spaß«, erwiderte Olivia. »Danke, dass ich hier sein durfte. Ich bin so froh, dass du mich eingeladen hast, bevor es mit dieser neuen Aufgabe losgeht.«
»Ich bin einfach froh, dass du dir die Zeit nehmen konntest«, sagte Grace. »Ich werde dich vermissen, wenn du weg bist.« Sie beugte sich vor. »Bist du noch aufgeregt? Ach, was sage ich, natürlich bist du noch aufgeregt.«
»Ich kann es kaum erwarten.« Olivia zögerte einen Augenblick, dann gestand sie: »Außerdem bin ich wirklich nervös.«
Phaedra glitt zum Frühstückstisch, zog einen Stuhl heraus und setzte sich. Jede ihrer Bewegungen wirkte tödlich und unmenschlich. »Und warum bist du nervös?«
Olivia musterte Phaedra und fragte sich, was die Aufmerksamkeit der Dschinniya erregt hatte. Vielleicht interessierte es sie, weil Olivia und sie auf dieselbe Expedition gehen würden.
»Ich darf beim Verpacken und Umziehen einer der legendärsten magischen Bibliotheken der Welt helfen, die einer der legendärsten Hexen der Welt gehört. So etwas macht man nur einmal im Leben. Ich wäre nicht überrascht, wenn sich jeder Symbologe der Welt für diese Expedition beworben hätte, aber es wurden nur drei ausgewählt, und ich war dabei. Das ist aufregend. Es zerrt aber auch ein bisschen an den Nerven.«
»Dazu darfst du noch ein paar Wochen auf einer mysteriösen Anderland-Insel abhängen«, sagte Grace grinsend. »Nun, zumindest werden es der Inselzeit zufolge ein paar Wochen sein. Wer weiß schon, wie lange du für den Rest der Welt weg sein wirst. Ich wünschte, dort würden Kameras funktionieren und du könntest Bilder machen.«
Bei der Gestaltung der Welt hatten sich Zeit und Raum verworfen, wodurch die Dimensionsnischen der Anderländer entstanden waren, in denen die Magie stärker war, die Sonne anders schien und die Zeit anders verlief, als es auf der Erde der Fall war. Technologie funktionierte dort häufig gar nicht oder wurde geradezu gefährlich. Manchmal war der Zeitverlust zwischen einem Anderland und der Erde vernachlässigbar, und manchmal war er erheblich.
»Als mich Carling angeheuert hat, hat sie mir versichert, der Zeitverlust wäre nicht größer als ein paar Monate, wenn überhaupt«, erklärte Olivia.
Mit Carlings Zusicherung und Olivias Versprechen, dass sie mindestens zwei Artikel über ihre Erlebnisse verfassen würde, hatte sich Dean von der Bibliothek überreden lassen, einem einjährigen Sabbatical zuzustimmen, sodass sie die Reise antreten und sich danach auf das Schreiben konzentrieren konnte. Seit sie angeheuert und die Reise genehmigt war, hatte sie keine Nacht mehr ganz durchgeschlafen.
»Na, das nenne ich mal eine echte Auszeit«, sagte Khalil.
»Eeee«, merkte Max an. Es klang, als würde das Baby zustimmen.
Die letzten paar Stunden von Olivias Besuch vergingen wie im Flug. Die tränenüberströmte Chloe umarmte sie fest, bevor sie zum Kindergarten davonschlurfte.
Als sie ihr nachschaute, spürte Olivia einen traurigen Stich. Sie mochte sich ja entschieden haben, keine eigenen Kinder zu haben, aber ihre Entscheidung gründete nicht auf gesundheitlichen oder finanziellen Überlegungen. Sie hielt sich relativ fit, und wenn sie auch nicht sehr groß war und nur knapp über 1,60 m kam, hatte sie doch eine beachtliche Ausdauer und war stark wie ein Ochse.
Was die Finanzen betraf, hatte sie einen ziemlich spezialisierten Beruf. Sie war eine Hexe, die als Auskunftsbibliothekarin arbeitete, und zwar in der größten Bibliothek mit magischen Werken in den Vereinigten Staaten. Nur begabte Symbologen – jene, die geübt im Lesen, Beherrschen und Durchdringen von Worten und Bildern mit magischer Energie waren – konnten an der Exlibris arbeiten, und sie wurden sehr gut bezahlt.
Ihr gehörte nicht nur ein eigenes Haus, sie hatte auch ein gut gefülltes Sparkonto, ein gutes Börsenportfolio und eine Pension, die ihr gestatten würde, früh und mit einigem Komfort in Rente zu gehen, wenn sie es so wollte.
Sie hatte einfach nie eine stabile, langfristige Beziehung geführt, innerhalb derer es infrage gekommen wäre, Kinder zu haben, und auch wenn sie eine Menschenfrau in den Mittdreißigern war und ihre biologische Uhr tickte, hatte sie kein Interesse daran, allein ein Kind aufzuziehen.
Nachdem sich Chloe zur Schule aufgemacht hatte, war es an der Zeit für Max’ vormittägliches Nickerchen. Olivia freute sich, dass sie eine letzte Gelegenheit bekam, ihn in sein Bettchen zu bringen, dann unterhielten Grace und sie sich ein paar Stunden lang.
Ihre Taschen hatte Olivia bereits gepackt, deswegen musste sie, als die Zeit zum Aufbruch kam, nur noch ihr Gepäck aus dem Gästezimmer holen. Sie hatte so gepackt, wie ihre vorübergehende Arbeitgeberin Carling es ihr aufgetragen hatte. Deswegen hatte sie einen großen Koffer dabei, den man entweder in einem Hotel in San Francisco oder auf einer Yacht in der Bay zurücklassen konnte, und eine wasserabweisende Tasche mit allem, was für sie unentbehrlich war. Dazu kam die Kleidung für die Dauer ihres Aufenthalts auf der Insel.
Sie hatte in den Anweisungen einen Wink gesehen und deshalb vernünftige, robuste Garderobe eingepackt, die sich für den Außeneinsatz eignete – Jeans, T-Shirts, Sweater, eine Regenjacke mit Windschutz, Wanderstiefel und Sneaker. Dazu kam ein ledergebundenes Tagebuch für ihre Notizen.
Mit Blick auf den begrenzten Raum in ihrer Tasche hatte sie ihre Toilettenartikel auf ein Minimum beschränkt, Shampoo, Seife, Zahnbürste, Zahnpasta und Sonnenschutz. Sie machte sich nicht die Mühe, Make-up mitzunehmen. An diesem Morgen trug sie Jeans, ein hellblaues, eng anliegendes T-Shirt und Sneaker.
Die Tasche über eine Schulter geworfen, rollte sie ihren Koffer zum Wohnzimmer, wo Grace und Khalil mit Max und Phaedra standen.
Als Olivia dazutrat, sprach Khalil gerade mit seiner Tochter. »Es hat keinen Sinn, für Olivia ein Taxi zu rufen, wenn ihr beide dasselbe Ziel habt. Du wirst Olivia und ihr Gepäck mitnehmen.«
Phaedra schien es keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten, ihrem beeindruckenden Vater die Stirn zu bieten. Mit kalter Stimme sagte sie: »Ist es vielleicht ein Mittel, um einen Gefallen zu erwerben? Denn das ist der einzige Grund, einen Menschen irgendwohin zu transportieren.«
»Du bist zu lange weg gewesen«, gab Khalil zurück, »entweder als Ausgestoßene mit einem beschädigten Geist oder ruhend in einem nicht-körperlichen Zustand. Du sollst diesen Auftrag als Möglichkeit nutzen, dich wieder an die Welt zu gewöhnen. Versuche nicht, auf dieser Reise mit jemandem einen Tauschhandel zu schließen. Hör zu, wie die Leute miteinander umgehen, und lerne daraus. Tu das, was Grace vorgeschlagen hat. Mach Small Talk. Töte niemanden, der es nicht verdient hat.«
Olivia hob die Augenbrauen. Wenn es je einen Befehl gegeben hatte, der unter zu großer Subjektivität litt, dann war es dieser.
Grace musste es ähnlich empfunden haben, denn sie murmelte: »Khalil.«
Khalil und Phaedra wandten sich gleichzeitig zu Grace um, die Köpfe auf die genau gleiche Weise schief gelegt, gebieterisch und fragend.
»Töte niemanden, wenn du es nicht zur Selbstverteidigung tust. Punkt. Riskiere nicht, einen fatalen Fehler zu begehen und womöglich wieder zur Ausgestoßenen zu werden«, sagte Grace zu Phaedra. »Du hast nicht das Recht zu entscheiden, ob jemand leben darf oder stirbt.«
»Ich werde darüber nachdenken«, antwortete Phaedra mit zusammengekniffenen Augen.
Grace machte ein finsteres Gesicht und sah aus, als wollte sie etwas erwidern, aber Olivia wählte diesen Moment, um vorzutreten. »Entschuldigt«, sagte sie. »Ich muss jetzt ein Taxi rufen, wenn ich noch rechtzeitig zum Treffen ins Büro der Agentur kommen soll.«
Khalil verschränkte die Arme und blickte seine Tochter an. Phaedra kniff die Augen noch stärker zusammen, während sie sein Gesicht musterte. »Also gut«, sagte sie zwischen zusammengebissen Zähnen. »Aber nur für die Dauer dieses Auftrags.« Die jüngere Dschinniya wandte sich Olivia zu und schenkte ihr ein rasiermesserscharfes Lächeln. »Komm, Menschenfrau. Wir müssen an einem Treffen teilnehmen.«
»Ehrlich, ich habe kein Problem damit, mir ein Taxi zu rufen«, wandte Olivia ein. Lieber das, als Phaedra auf dem falschen Fuß zu erwischen. Sie stellte ihre Tasche neben ihrem Koffer ab und ging zu Grace, die sie zum Abschied umarmen wollte.
Phaedras körperliche Gestalt löste sich in einen Wirbelwind aus Energie auf, der Olivia umfing und sie der Welt entriss.