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Auf der Flucht vor der Polizei sind Mary und Michael unterwegs nach Michigan, um sich mit Astra, einer möglichen Verbündeten, zu treffen. Aber können sie ihr wirklich vertrauen? Kurz darauf wird Michaels Loyalität auf eine harte Probe gestellt - ausgerechnet dann, wenn Mary ihn am meisten braucht.
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Seitenzahl: 436
Titel
Zu diesem Buch
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Epilog
Die Autorin
Die Romane von Thea Harrison bei LYX
Impressum
THEA HARRISON
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Richard Betzenbichler
und Katrin Mrugalla
Zu diesem Buch
Die unsterblichen Seelen von Michael und Mary haben sich nach Jahrhunderten der Trennung eben erst wiedergefunden, aber das Böse gönnt ihnen keine Ruhe. Schwer verletzt und einem Großteil ihrer Energien beraubt, liefern sie sich mit ihrem Erzfeind, dem Täuscher, eine halsbrecherische Verfolgungsjagd entlang des Lake Michigan. Dort lebt Astra, die Mächtigste der ursprünglichen Sieben, die dem Täuscher einst in die Welt der Menschen folgten, um seinem zerstörerischen Treiben ein Ende zu setzen. Aber obwohl Michael und Mary wissen, dass sie nur mit vereinten Kräften eine Chance haben, das Böse zu besiegen, drohen Misstrauen und Zweifel den Kern ihrer Gemeinschaft zu zerstören. Die sanfte Mary ist innerlich zerrissen – sehnt sie sich doch eigentlich nur nach einem normalen Leben mit ihrem Geliebten Michael, von dem sie über die Jahrtausende immer wieder durch Tod und Wiedergeburt getrennt wird. Michael hingegen scheint sich ganz auf ihre Mission zu konzentrieren. Mary muss voll Schrecken mit ansehen, zu welcher Gewalt er fähig ist – es scheint, als löse er sich mehr und mehr von seiner menschlichen Seele und damit auch von seiner Bindung an Mary. Verfolgt von den Drohnen des Täuschers gelingt es den beiden schließlich, Astra zu erreichen. Doch sie müssen bald feststellen, dass dieser jedes Opfer recht ist, um das Böse zu bannen – selbst das Leben ihrer Verbündeten …
Mit raschen, gezielten Bewegungen schnitt Michael den beiden bewusstlosen Männern im hohen Gras die Halsschlagadern durch.
Ihr Geist war längst gestorben, war zerstört von dem gefährlichsten Wesen auf Erden. Sie waren Drohnen gewesen – auch wenn sie noch aussahen wie Menschen –, seelenlose Hüllen, die die Wünsche des Täuschers umsetzten.
Obwohl Mary verstand, was den Männern passiert war, hatte sich ihr Gesicht schmerzhaft verzogen, als sie sie untersuchte. Sie hatte gehofft, vielleicht doch noch etwas für sie tun zu können. Michael hatte genau gesehen, wie sich ihre Miene veränderte, als ihr klar wurde, dass den Männern nicht mehr zu helfen war. Sie kümmerte sich um alle; das war das Grundprinzip, nach dem sie heilte.
Anders als Mary waren Michael Fremde völlig egal. Als er sich aufrichtete und zusah, wie die Männer verbluteten, empfand er nur Müdigkeit und Erleichterung. Sobald er sich sicher war, dass sie tatsächlich tot waren, humpelte er dorthin, wo Mary vermutlich ihre Waffe hatte fallen lassen. Er fand die Neun-Millimeter und hob sie auf, dann drehte er sich noch einmal um, um die Umgebung der kleinen einfachen Hütte zu überprüfen.
Auf der Lichtung lagen weitere Leichen, Gefallene in dem jahrtausendealten Krieg, den er und die anderen kämpften.
Bei dieser bisher letzten Konfrontation wäre es dem Täuscher beinahe gelungen, sowohl Michael als auch Mary gefangen zu nehmen. Er hatte Mary angeschossen, und er und seine Drohnen hatten Michael mehrere Wunden zugefügt. Nur mit unglaublich viel Glück war es ihnen gelungen, zu überleben und ihren Feind in die Flucht zu schlagen.
Das helle Licht der Morgensonne blendete Michael. Der gelbliche Nebel drang in seinen Kopf ein, bis ihm die Sicht verschwamm. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, von seinem Körper getrennt zu sein, halb in einer anderen Welt, von wo aus er seine Wunden wie aus weiter Ferne pochen spürte.
Der Messerstich in seinem Oberschenkel war am schlimmsten. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Das Messer war bis zum Knochen eingedrungen. Er hatte Glück, dass es keine Arterie durchtrennt hatte. Als Mary sie in der Hütte verarztet hatte, hatte sie die Wunde mit kleinen Stichen genäht, was die Blutung weitgehend zum Stillstand gebracht hatte. Dennoch spürte er, dass der Verband schon wieder nass und schwer war.
Er hatte auch noch andere Verletzungen, die geistig und nicht körperlich waren, Klauenmale von dem Schwarm dunkler Geister, der ihn angegriffen hatte, und Wunden, die ihm der Täuscher zugefügt hatte, als er ihn beinahe vernichtet hatte.
Er konnte sich nicht erinnern, was geschehen war, wusste nur, was Mary ihm erzählt hatte. Zu dem Zeitpunkt war er bewusstlos gewesen, aber er konnte den Schaden spüren, wie eine Abfolge dunkler fehlgeschalteter Leitungen durch sein innerstes Wesen. Es fühlte sich an, als brauche es nur noch den einen richtigen Schlag, einen Schlag voller geistiger, nicht einfach nur körperlicher Kraft, und sein Verstand würde zerbrechen.
Er musste sich dringend hinlegen, damit die Wunde am Oberschenkel aufhörte zu bluten. Sie mussten hier weg, bevor der Täuscher sich neu organisieren und erneut auf sie stürzen konnte. Michael nahm an, dass der Täuscher sich zurückziehen und seine Truppen verstärken würde und dass er erst mal wieder zu Kräften kommen musste, bevor er sie wieder attackierte. Aber darauf konnten sie sich nicht verlassen. Im Moment waren sie zu schwach, um einen weiteren gezielten Angriff abzuwehren.
Die Hütte lag einsam einige Meilen vom Wolf Lake entfernt tief im Michigan National Forest. Früher einmal war sie ein nützliches Versteck gewesen, aber nachdem ihr Standort nun bekannt war, taugte sie nicht mehr als sicherer Unterschlupf. Hierher würden sie nicht mehr zurückkehren.
Er wandte sich um und humpelte auf Mary zu, die an der Beifahrertür seines Wagens lehnte, einem unauffälligen, zerschrammten Ford mit einem BMW-Motor, den er sorgfältig pflegte.
Während sie darauf wartete, dass er fertig war, hielt sie das Gesicht mit geschlossenen Augen in die Morgensonne.
Ihr Anblick versetzte ihm einen Schlag, als hätte ihn jemand in die Magengrube geboxt. Sie war klein und zierlich, gerade mal einen Meter vierundfünfzig groß, hatte aquamarinblaue Augen, honigfarbene Haut und dichtes, welliges rotbraunes Haar, das sich wie wild kräuselte, wenn sie es sich selbst überließ.
Sie war umwerfend – und quasi eine Fremde. In diesem Leben kannte er sie erst seit ein paar Tagen. Nur eine einzige Nacht hatten sie sich geliebt, aber sie waren seit Tausenden von Jahren Seelenverwandte.
Als er näher kam, öffnete sie die Augen und schaute ihn an. Sie sah so erschöpft aus, wie er sich fühlte. Unter ihren hübschen Augen lagen Schatten, die Linien um ihren weichen, vollen Mund zeugten von Schmerz. Ihre Jeans war voller Dreck, und darüber trug sie eins seiner Flanellhemden. An ihr wirkte es riesig, der Saum reichte ihr fast bis zu den Knien.
Der Täuscher hatte ihr in die Schulter geschossen. Michael hatte ihren Arm in eine Schlinge gehängt und ihr dann geholfen, den einen Ärmel bis zum Handgelenk aufzurollen, während der andere leer blieb.
Sobald er bei ihr war, packte er als Erstes die Waffe in seine schwarze Leinentasche, die auf dem Rücksitz lag. Dann hielt er es nicht mehr aus, sie nicht zu berühren. Er beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie. Sie legte die Hand an seinen Hinterkopf, strich ihm über das kurze Haar und erwiderte seinen Kuss.
Er griff nach ihrer freien Hand. »Hör mir zu. Wir sind beide verletzt, und Astras Kräfte sind aufgebraucht.«
Astra, die alte Mentorin seiner Kindheit.
Astra war zudem die Anführerin der ursprünglichen Siebener-Gruppe, die vor sechstausend Jahren ihre Welt verlassen hatte, um den Täuscher zu verfolgen, nachdem er ihrem Gefängnis entwichen und auf die Erde geflohen war.
Um ihm folgen zu können, hatten die sieben – genau wie der Täuscher – in einem machtvollen Ritual voller Alchemie sterben müssen. Das Ritual hatte ihre Seelen verwandelt. Als sie starben, verließen sie ihre Welt und unterwarfen sich dem irdischen Rhythmus von Tod und Wiedergeburt. Sie lebten und starben wie Menschen, wieder und wieder.
Bei diesem letzten Kampf gegen den Täuscher war Astra Michael und Mary auf astralem Weg zu Hilfe gekommen. Doch astrale Projektion kostete viel Kraft. Auf astralem Weg zu kämpfen forderte sogar noch mehr Kraft, und in nächster Zeit konnten sie von Astra nicht mehr viel Hilfe erwarten.
Mary drückte seine Hand und sah ihn besorgt an. Vage bemerkte er, dass er wie ferngesteuert handelte.
»Durch die Verletzungen, die du ihm zugefügt hast, braucht der Täuscher auch erst mal Zeit, um sich zu erholen, aber wir wissen nicht, wie viel Verstärkung er in der Nähe hat, deshalb können wir uns keinen längeren Zwischenstopp mehr erlauben … Ich kann eine Zeit lang fahren, und du musst dich auf deine Heilung konzentrieren. Alles andere ist unwichtig. Heil dich, damit du fahren kannst, denn ich werde schon bald deine Hilfe brauchen. Verstehst du mich?«
Sie nickte. »Ja.«
»Gut.«
Er nahm ihre Hand, um ihr die Finger zu küssen, und sie legte ihre andere Hand an seine Wange und betrachtete ihn besorgt. Er öffnete ihr die Beifahrertür, und nachdem sie eingestiegen war, ging er um den Wagen herum und setzte sich ans Steuer.
Bevor er den Wagen anließ, warfen sie sich einen besorgten Blick zu. Sie befanden sich tief im Wald, Meilen von jeder möglichen Hilfe entfernt, und sie waren beide verletzt. Falls der Täuscher Zeit gehabt hatte, den Motor lahmzulegen, hatten sie ein riesiges Problem.
»Komm schon, lass ihn an«, flüsterte sie.
Er drehte den Schlüssel, und der Wagen sprang an. Der Motor klang so gleichmäßig wie bei der letzten Fahrt. »Jetzt müssen wir schauen, dass wir wegkommen«, sagte Michael. »Wir müssen viele Meilen fahren, bevor wir an Schlaf denken können.«
»Meilen, bevor ich schlafen kann«, erwiderte sie mit müder Stimme. »War das nicht ein Gedicht von Robert Frost? Irgendein Dichter hat das jedenfalls geschrieben.«
Er schüttelte den Kopf, wünschte sich aber sogleich, er hätte es nicht getan, denn jetzt pochte sein Kopf schlimmer als vorher. Sein Herz machte schwere angestrengte Schläge, und sein Mund fühlte sich heiß und trocken an. »Wer auch immer es war, mit dem habe ich jedenfalls noch ein Hühnchen zu rupfen.«
»Zumindest sind wir am Leben und zusammen«, sagte sie tröstend.
Er legte den Gang ein und fuhr die gekieste Zufahrt hinunter. »Und voraussichtlich bleiben uns noch ein oder zwei Tage. Vielleicht sogar mehr.« Wenn es nach ihm ginge, würden sie noch eine Menge mehr haben.
»Ein stolzes Guthaben in Minuten«, sagte sie.
Damit wiederholte sie, was sie letzte Nacht zueinander gesagt hatten, in der Intimität zerwühlter Laken, nachdem das Feuer erloschen war und die Dunkelheit ins Zimmer gekrochen war.
Trotz des Ernstes der Situation hob sich einer seiner Mundwinkel. »Und ein atemberaubendes Vermögen in Sekunden.«
»He.« Sie gab ihm einen leichten Klaps auf den Arm. »Du hast noch immer keine Blumen für mich geklaut.«
Das war das letzte Versprechen gewesen, das er ihr vor neunhundert Jahren gegeben hatte, als sie sich zuletzt gesehen hatten, in anderen Körpern und in einem anderen, längst vergangenen Leben. Er würde im Frühjahr irgendwo Blumen für sie stibitzen. Sie würde lernen, wie man Kühe melkte, und sie würden sich den ganzen Winter lang lieben, in seinem Landhaus in der Toskana.
Die Gelegenheit, irgendetwas davon zu tun, war ihnen damals versagt geblieben. Wenige Momente später waren sie beide gestorben.
Er schob die Erinnerung beiseite. Diese Tragödie lag schon lange Zeit zurück. Jetzt hatten sie sich wiedergefunden, und er würde nicht zulassen, dass ihnen irgendetwas von dem, was sie jetzt hatten, entglitt.
Er lächelte sie an. »Meine Frau hat das Gedächtnis eines Elefanten. Das mit den Blumen muss ich wohl möglichst bald nachholen.«
Auch sie lächelte jetzt, doch ihr besorgter Gesichtsausdruck blieb. »Ich nehme dich beim Wort.«
Er musste Richtung Süden fahren, um auf die Straße zu gelangen, die sie wieder nach Osten auf die US 131 führen würde. Obwohl sie auf einer zweispurigen Landstraße unterwegs waren und kein anderes Fahrzeug in Sicht war, hielt er bei jedem Stoppschild wie vorgeschrieben an. Dass jemand auf sie aufmerksam wurde, war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnten.
Als der Wagen zum Stehen kam, fiel die Morgensonne schräg durch das Fenster auf der Fahrerseite und blendete Michael mit ihrer goldenen Glut mehr als je zuvor.
Wieder löste er sich von seinem Körper.
Das schräg einfallende Licht.
Seine Gefährtin und er lebten in einer Stadt mit grazilen weißen Turmspitzen. Der Himmel war gekrönt von zwei Sonnen, und deren Licht machte die Tage endlos und golden. Sie waren Wesen aus Energie und Feuer, geboren im selben Moment und dazu bestimmt, gemeinsam durch das Leben zu reisen.
Sie war groß und schlank, in ihren silberfarbenen Augen spiegelten sich ihre Schönheit und das Geheimnis ihrer Seele. Dieses Geheimnis faszinierte ihn. Er konnte mit ihr mitfühlen, sie aber niemals gänzlich verstehen. Die Farben ihrer Gefühle waren wie eine Sinfonie. Sie war ihrer Heilkunst genauso ergeben wie er seiner Kämpfermentalität. Dass sie sich so gut ergänzten, hielt ihn im Gleichgewicht und stützte ihn.
Ihr Volk starb nicht am Alter. Es kannte den Tod nicht, außer durch Unfall, durch Krankheit oder im Krieg.
Bis ein Krimineller den Tod in ihre Stadt brachte. Er mordete Unschuldige, die seinen Verbrechen im Weg standen, bis man ihn gefangen nahm und einsperrte.
Und dann war er geflohen.
Als die Anfrage kam, wer bereit sei, dem Verbrecher zu folgen, hatte Michael nicht gezögert, seine Partnerin zu fragen, ob sie sich freiwillig melden sollten.
Bist du dir sicher?, hatte sie gefragt. Wenn wir gehen, können wir nie wieder zurückkehren.
Was der Zauber, der sie verwandelte, im Einzelnen bedeutete, war ihnen genau erklärt worden. Sie würden sterben. Ihre Seelen würden ihre Welt verlassen, und sie würden sich verwandeln müssen, um an einen völlig neuen, fremden Ort zu reisen.
Der Zauber war die einzige Möglichkeit, in jene andere Welt zu gelangen, in die der Täuscher entflohen war. Eine Rückkehr war ausgeschlossen. Wenn sie sich zu der Umwandlung entschlossen, würden sie nie mehr dieselben Wesen sein. All die Zauberei, die diese außergewöhnliche Reise möglich machte, würden sie auf ihrem Heimatplaneten hinter sich lassen.
Dennoch, der Täuscher musste aufgehalten werden.
Es ist den Preis wert, hatte er geantwortet.
Zu dem Zeitpunkt hatte er nicht wissen können, dass sie immer nur bezahlen würden.
»Michael«, sagte Mary.
Nachdem er die Sonnenstrahlen weggeblinzelt hatte, drängte sich ihm der Eindruck auf, dass sie seinen Namen schon mehrfach gerufen hatte. Der Wagen stand noch immer im Leerlauf vor dem Stoppschild an einer leeren Kreuzung.
Ein enges Band legte sich um sein Handgelenk. Er sah hinunter. Mary hatte seinen Arm mit festem Griff gepackt.
Sie blickte ihn besorgt an. »Du bist ohnmächtig geworden.«
»Nein«, widersprach er. »Jedenfalls nicht richtig. Ich habe mich an etwas erinnert, das ist alles. Schon okay. Mir geht es gut.«
Ihr zweifelnder Gesichtsausdruck machte ihm deutlich, dass sie ihm nicht recht glaubte, aber was hätte sie tun können? Sie hatten keine andere Wahl. Sie mussten weiterfahren.
»Hast du dich an etwas Wichtiges erinnert?«
Er lächelte. »Ich habe mich daran erinnert, wie du vor langer Zeit ausgesehen hast.«
Sie lockerte ihren Griff um sein Handgelenk. »Versprich mir, dass du anhältst, wenn du nicht mehr kannst.«
»Natürlich.«
Spürbar widerwillig ließ sie ihn los, lehnte sich auf ihrem Sitz zurück und schloss die Augen. Im Handschuhfach entdeckte er seine Sonnenbrille. Er setzte sie auf und blockte die Sonne ab und damit auch die Einzelheiten jener so lange zurückliegenden Ereignisse.
Die Vergangenheit hatte keine Bedeutung mehr. Ihre Zukunft war im besten Fall unsicher. Die Gegenwart war alles, was sie hatten.
Es wurde Zeit, das Beste daraus zu machen.
Er gab langsam Gas und bog in die Querstraße ein. Sie fuhren Richtung Osten, bis sie den Highway erreichten. Dann wandten sie sich nach Norden.
Sie mussten sich mit Astra zusammenschließen und ihre Kräfte vereinigen, bevor der Täuscher die Chance bekam, sie erneut anzugreifen.
Dann endlich – endlich! – würden sie den Hurensohn ein für alle Mal aus dem Spiel nehmen können.
Mary war sich Michaels Verletzungen und seines grimmigen, verbissenen Durchhaltens nur zu bewusst. Dennoch tat sie wie geheißen und konzentrierte sich darauf, ihre Schusswunde zu heilen, damit sie ihn unterstützen und ihn beim Fahren ablösen konnte. Sie war müde und hatte Schmerzen, und sie konnte nicht so klar denken, wie sie es sich gewünscht hätte, deshalb gelang es ihr zunächst nicht richtig.
Als der Täuscher sie angeschossen hatte, war unter dem Druck der Krise lang Vergessenes in ihr aufgestiegen. Schock, Schmerz und Instinkt hatten sie ihre Aufmerksamkeit auf ihren Körper richten lassen, und eine Flut alter Erinnerungen war über sie hereingebrochen, wie ein goldener Schatz aus einem geheimen inneren Zimmer. Irgendwie hatte sie den Schockzustand überwunden und begonnen, ihren Körper zu heilen.
Wie hatte sie das gemacht?
Sie konnte sich noch gut an das Gefühl erinnern, die Erscheinung zu erleben, aber zu wiederholen, was sie getan hatte, war etwas völlig anderes. Sie brauchte Übung, bevor sie ohne große Anstrengung heilen konnte.
Es war die Farbe Rot, die die Erinnerungen ausgelöst hatte. Sobald sie sich die Farbe ins Gedächtnis rief, passierte es erneut. Ihre Perspektive verwandelte sich, und sie sah das Innere ihres Körpers als warmes, glühendes rotes Vibrieren, wie brennende Kohlen, außer an der Wunde. Dort war ein dunkles unregelmäßiges Loch.
Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit tief in ihr Inneres. Die Eintrittswunde war klein und saß genau unter ihrem Schlüsselbein, doch die Kugel hatte sich verflacht und so beim Austritt mehr Schaden angerichtet als beim Eintritt. Die Wissenschaftlerin in ihr betrachtete fasziniert den Schaden. Sie konnte sehen und spüren, wo der Heilungsprozess bereits begonnen hatte.
Als sie das erste Mal daran gearbeitet hatte, sich zu heilen, war sie in unmittelbarer Gefahr gewesen. Sie war dem Täuscher gegenübergestanden, der den Körper ihres Exmanns gestohlen hatte. Sie hatte die Kommandos direkt in ihren Körper gejagt, so zartfühlend wie ein Bulldozer. Dieses Mal ging sie sanfter vor.
Und wieder reagierte ihr Körper. Adern verbanden sich, und zerrissenes Fleisch fügte sich zusammen. Während sie zuschaute, wurde ihr klar, dass sie lediglich beschleunigte, was im Laufe der Zeit auch auf natürlichem Weg geschehen wäre. Sie konnte den Schaden nicht rückgängig machen oder ihren Körper dazu bringen, in den Zustand vor dem Schuss zurückzukehren. Sie würde ihre Schulter und ihren Arm sorgfältig dehnen und trainieren müssen, und die Narbe würde ihr bleiben.
Vielleicht gab es noch eine andere Möglichkeit, die Heilung zu beschleunigen, aber falls es die gab, konnte sie sich nicht daran erinnern. Vielleicht würden, je öfter sie ihre neuen Fähigkeiten einsetzte, noch weitere Erinnerungen zurückkehren.
Aber vorläufig machte sie sich keine weiteren Gedanken darüber, dass ihre Haut an den rauen Rändern der Eintritts- und der Austrittswunde pochte oder dass sich ihre Schulter steif und wund anfühlte, während der Rest der Wunde heilte. Sie bemerkte noch weitere, nicht so wichtige Unstimmigkeiten in der glühenden scharlachroten Landschaft ihres Körpers – verschiedene Kratzer und Prellungen, die sie sich im Lauf der letzten ereignisreichen Tage zugezogen hatte.
Diese Wunden waren klein, also ignorierte Mary sie. Michael zu helfen war dringender, als ein paar ihrer Kratzer zu heilen. Während sie ihr Werk betrachtete, empfand sie tiefe Befriedigung.
Sie hatte immer gewusst, dass sie eine Heilerin war. Auf diese Weise heilte sie.
So berauschend ihre Erfahrung auch war, sie hatte die Ressourcen ihres Körpers verbraucht. Sie benötigte unbedingt ein paar Minuten Schlaf, bevor sie sich ans Lenkrad setzen konnte. Also befahl sie sich zu schlafen, und wie so oft in den vergangenen Tagen glitt sie in einen Traum.
Astra hatte sich einfach übernommen.
Irgendwie hatte der Täuscher Mary vor neunhundert Jahren so schwer verletzt, dass sie über mehrere Generationen hinweg keine Reinkarnation erfahren hatte. In dieser Zeit hatte Astra mit dem Täuscher Katz und Maus gespielt und – soweit ihr das möglich gewesen war – in jedem von Michaels Leben mit ihm Kontakt aufgenommen. Gleichzeitig hatte sie nach Hinweisen gesucht, was mit Mary geschehen war.
Wäre Astra in der Lage gewesen, den Täuscher ganz allein zu zerstören, hätte sie das schon vor langer Zeit getan. Aber das konnte sie nicht. Sie waren beide in etwa gleich stark. Nur wenn die anderen an ihrer Seite kämpften, konnte sie ihn besiegen.
In diesem Leben waren Astra und Michael zu der Überzeugung gelangt, dass Mary endlich wiedergeboren war. Jahrelang hatten sie nach ihr gesucht, hatten sie aber nur gelegentlich aus der Ferne im Reich des Übersinnlichen wahrnehmen können.
Vor ein paar Tagen hatten sich die Ereignisse dann überstürzt. Mary hatte jene alte geistige Wunde wieder aufgerissen, und Astra hatte mittels einer astralen Projektion versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen.
Dann hatte der Täuscher Astra in einen Traum hineingezogen, um ihr einen seiner Morde vorzuführen. Nur Stunden später hatte sie sich erneut in eine astrale Projektion gestürzt, um Michael und Mary in ihrem Kampf gegen den Täuscher und seine Truppen beizustehen. Sie hatte sich so lange wie möglich an dem Kampf beteiligt, bis sie sich schließlich zurückziehen musste.
Jetzt, nach diesem ungeheuerlichen Verbrauch an Energie, schlief Astra, während ihr alter, gebrechlicher Körper versuchte, sich zu regenerieren. Der ursprüngliche außerirdische Teil in ihr war stets wach, stets bei vollem Bewusstsein. Er verharrte geduldig in dem dunklen Teil ihres Geistes.
Jener Teil von ihr konnte den Rest des Kampfs spüren, in dem sich die anderen verausgabten. Selbst aus der Ferne erleuchtete er die Landschaft des Übersinnlichen. Astra beobachtete, tat aber nichts, denn es gab einfach nichts mehr, was sie hätte tun können.
Also sammelte sie ihre übersinnlichen Kräfte. Sobald sie genügend an Kraft zurückgewonnen hatte, erschuf sie ein feines Netz aus Bildersprache, Illusion und Sehnsucht, aus dem sich eine Traumsendung zusammensetzte. Als das Netz fertig gewebt war, ließ sie es in Richtung ihrer Zielperson davonschweben. Dann wartete sie.
Einige Zeit nach dem Kampf glitt diejenige, auf die sie wartete, in den Schlaf. Astra spürte, wie ihre Traumsendung aktiv wurde. Sie hangelte sich an dem Netz entlang, das sie gewebt hatte. Als sie bei dem Gehirn der Schlafenden ankam, hatte der Traum bereits begonnen. Sie mogelte sich hinein.
Ihr Traumkörper fand sich mitten in einer riesigen gefliesten Halle wieder. Sie schritt sie in der ganzen Länge ab, vorbei an Reihen von Säulen, und sah sich neugierig um. Die Decken waren hoch und gewölbt, die Wände mit einer feinen Schicht aus gemeißeltem Marmor verblendet. Die Linien formten keine Bilder, nur ineinandergreifende Muster von solch erlesener Kunstfertigkeit, dass der kalte harte Stein wie Seide wirkte.
Es war Tag, und der Traum brachte eine schwüle Hitze mit sich. In der Nähe war das helle Plätschern von Wasser zu hören, und sie folgte dem Klang. Sie kam in einen Hof, in dem sich ein kleiner, gepflegter Garten befand, der von dem Duft einer wunderbaren Mischung bunter Blumen erfüllt war. In der Mitte des Gartens sprudelte Wasser aus einem elegant geformten Brunnen.
Auf dem Brunnenrand saß eine junge Frau, angetan mit einer einfachen Tunika und Hose aus selbst gesponnener Baumwolle. Sie war zu dünn, ihr unbewegliches Gesicht von Stress gezeichnet, das dichte Haar am Nacken zu einem Zopf geflochten.
Als Astra näher kam, richtete die junge Frau den Blick ihrer großen himmelblauen Augen auf sie und sagte: »Aus irgendeinem Grund kehre ich immer wieder zu Szenen aus jenem Leben zurück. Ich bin zwar geheilt, aber offenbar bin ich mit jenem Leben noch immer nicht fertig. Du musst Astra sein.«
»Ja«, erwiderte Astra.
»Dachte ich mir doch, dass ich dich kenne. Ich bin Mary, aber das weißt du vermutlich schon.« Mary sah Astra mit unverhüllter Neugier an. »Michael sagte, du seist alt, aber du siehst aus wie eine junge Frau.«
»Mein Körper ist alt, aber in meinen Träumen muss ich Gott sei Dank nicht alt sein.«
»Vor ein paar Tagen bist du zu mir gekommen, in der Grotte auf dem Gelände der Notre-Dame-Universität.«
»Ich habe mich gefragt, wo du steckst«, erwiderte Astra. »Ich wusste, dass du nicht in meiner Nähe warst, aber auch nicht ganz weit weg, mit Sicherheit nicht in Übersee. Natürlich sind die Dinge im Reich des Übersinnlichen anders als in der realen Welt. Außerdem warst du zu verwirrt und bekümmert, um mir irgendetwas Konkretes erzählen zu können.«
»Als du aufgetaucht bist, habe ich dich doch tatsächlich für die Jungfrau Maria gehalten. Ich war ziemlich enttäuscht, dass du sie nicht warst.« Mary zuckte ergeben mit den Schultern. »Das soll keine Beleidigung sein.«
Astra lachte. »Ich bin nicht beleidigt.«
»Ist Nicholas schon da?«, fragte Mary.
Überrascht versank Astras Traumkörper in Reglosigkeit, während ihr Verstand raste.
Vor Tausenden von Jahren, als sie zum ersten Mal auf diesem Planeten geboren wurde, hatte sie enge Verbindungen zu den indianischen Ureinwohnern geknüpft. Sie hatte sie in das Reich des Übersinnlichen eingeführt, in der Hoffnung, sie als Verbündete im Kampf gegen den Täuscher gewinnen zu können. Ptesan Wi nannten sie sie. Tochter des Weißen Büffels.
Über die Jahre hinweg hatte sie die Verbindung mit wenigen ausgewählten Ältesten aufrechterhalten. Nicholas’ Vater, ein Ältester vom Stamm der Ojibwa namens Jerry Crow, war einer ihrer Verbündeten der letzten Jahre. Gemeinsam hatten Jerry und sie Nicholas trainiert, der für einen Menschen ungewöhnlich stark war, sowohl geistig als auch körperlich.
Der Junge hatte alle ihre Hoffnungen erfüllt. Er war ein Green Beret geworden und hatte sich bis zu der Abteilung im Secret Service hochgearbeitet, die für die Sicherheit des Präsidenten der Vereinigten Staaten zuständig war. Es waren nicht allein physische Bedrohungen gewesen, vor denen er ihn geschützt hatte. Durch seine Verbindung zum Reich des Übersinnlichen war Nicholas ihre Verteidigung gegen die Versuche des Täuschers gewesen, den Präsidenten zum Werkzeug seiner Wünsche zu machen.
Vor ein paar Tagen war Nicholas ermordet worden. Jerry und einer seiner Enkel, Jamie, hatten die weite Reise zu ihrem Haus auf sich genommen, um ihr die Nachricht zu überbringen. Jerry lag noch immer in einem ihrer Gästezimmer und rang mit dem Tod. Nach einem Leben mit zu vielen Zigaretten und zu viel Stress ließ ihn sein Herz nun endgültig im Stich.
Er hätte eigentlich in ein Krankenhaus gehört, aber er hatte seine Kräfte völlig verausgabt, als er zu ihr gekommen war, um ihr die Nachricht von Nicholas’ Tod zu überbringen. Astras Haus war so abgelegen, dass Jerry die Reise bis zum Krankenhaus wohl kaum überleben würde.
Astra war zwar keine Heilerin, verfügte aber über einige Fähigkeiten. Sie wusste, dass sie Jerry heilen könnte. Das lag gerade noch im Bereich ihrer Möglichkeiten, nur konnte sie die wertvolle Energie nicht entbehren, die seine Heilung sie kosten würde.
Nicht wenn sie so erschöpft und der Täuscher so nah und eine derartige Gefahr für sie alle war. Und vor allem nicht, wenn die Zerstörung des Täuschers das einzige Ziel war, weshalb sie auf diesen Planeten gekommen war.
Aber wie hätte Mary all das wissen sollen?
Mit zusammengekniffenen Augen fragte sie: »Woher weißt du von Nicholas? Hat Michael dir von ihm erzählt? Falls Michael hofft, dass Nicholas ihm helfen könnte, dann fürchte ich, habe ich schlechte Nachrichten für euch. Nicholas wurde vor ein paar Tagen ermordet.«
»Ja, das wissen wir«, erwiderte Mary und überraschte Astra damit erneut. »Die genaueren Umstände sind uns nicht bekannt, aber dass er ermordet wurde, wissen wir. Sein Geist kam, um uns zu helfen – zumindest mir hat er geholfen, als ich durch den Wald lief. Wir haben ihn gebeten, nachzusehen, ob bei dir alles in Ordnung ist.«
Astra entspannte sich ein wenig. Wenn Nicholas’ Geist zu ihrem Haus gekommen war, hatte er bestimmt Jerrys Anwesenheit gespürt und war zu seinem kränkelnden Vater geeilt.
Sobald dieser Traum zu Ende war, würde sie nachschauen gehen. Jetzt saß sie erst einmal neben Mary auf dem breiten Rand des Brunnens.
»Wenn er versprochen hat zu kommen, wird er bestimmt bald auftauchen«, erwiderte sie. »Er ist zu schlau, um sich von den Verbündeten des Täuschers in eine Falle locken zu lassen.« Sie ließ die Finger durch das kühle Wasser gleiten und sah sich um. »Das ist ein herrlicher Ort.«
»Ich glaube, bis auf das Ende war auch mein Leben hier herrlich. Vielleicht komme ich deshalb in meinen Träumen immer wieder hierher.« Mary richtete den Blick auf die Rosenbüsche. »Die Frau, die in jenem Leben meine Mutter war, liebte diesen Garten. Mein Vater hat den Brunnen extra für sie gebaut, und dies hier war ihr Lieblingsplatz.«
Astra lächelte sie an. »Das ist leicht nachvollziehbar. Wie hast du dich geheilt?«
Mary richtete den Blick wieder auf Astra. »Wann?«
Astra holte tief Luft. »Aha. Dann bist du also in dem Kampf verletzt worden?«
»Ja. Michael und ich wurden beide verletzt. Michael wäre beinahe zerstört worden.« Marys Mundwinkel zuckten. Dann wurde ihr schmales junges Gesicht ausdruckslos. »Im Moment stehen wir nicht sonderlich gut da.«
»Ich habe gespürt, dass Michael Schaden genommen hatte«, sagte Astra sanft. »Wenn ich euch mehr helfen könnte, würde ich das tun.«
Mary sah sie durchdringend aus ihren blauen Augen an. »Er hat gesagt, dass du keine Kraft mehr übrig hattest.«
Astra zeigte ihr ein mentales Bild ihres kalten, zerbrechlichen körperlichen Ichs, das auf ihrem schmalen Bett lag. »Mein Körper ist sehr alt. Ich habe bereits genug damit zu tun, den Tod abzuwehren, und in den letzten Tagen habe ich eine Menge Energie verbraucht.«
Nach kurzem Schweigen sagte Mary: »Ich verstehe. Ich glaube, ich hatte gehofft, dass du uns mehr helfen kannst. Es tut mir leid.«
Während Mary gegen ihre Enttäuschung ankämpfte, glitt Astra gewandt und unauffällig in die Illusion des Traumkörpers der jungen Frau. Mochte Marys physischer Körper auch weit weg sein, so konnte Astra doch ihren Geist untersuchen, der einen gesunden und leuchtenden Eindruck machte. Sie schien wirklich vollkommen geheilt zu sein. Astra zog sich wieder zurück, bevor Mary etwas bemerken konnte.
»Wie hast du dich denn nun geheilt?«, fragte Astra. »Als ich dich in der Grotte gesehen habe, lief deine geistige Wunde über deinen gesamten Rumpf.«
Michael hatte ihr bereits erzählt, dass Mary einen Drachen des Ostens zu ihrer Heilung herbeigerufen hatte, doch Misstrauen war zu Astras ältestem und bestem Freund geworden. Sie wollte sich vergewissern, ob die Geschichten der beiden übereinstimmten.
»Ich habe um Hilfe gebeten«, erwiderte Mary und senkte den Blick, während sie den Saum ihrer Tunika zusammenfaltete. »Das ist etwas, das ich in diesem Leben gelernt habe.«
Astra zog die Stirn kraus. »Verstehe. Kein Wunder, dass du in deinen Träumen immer wieder hierher zurückkehrst.«
»Ja.«
Astra beugte sich vor und legte die Hand auf Marys. Sie spürte, wie sich die junge Frau innerlich dagegen sträubte, auch wenn sich ihr Traumkörper nicht rührte. »Mary, hör mir zu. Ich habe gespürt, als Michael und du bei der Hütte gehalten habt. Ich habe mir gleich gedacht, dass das eine gefährliche Entscheidung ist, und dann hätte euch der Täuscher beinahe beide erwischt. Ihr dürft nicht noch einmal anhalten. Es gibt Dinge, die ich dir beibringen kann, und Dinge, bei denen du mir helfen musst. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Täuscher unser Zusammentreffen verhindert.«
»Das sagt Michael auch.« Mary hob das Gesicht. »Wir werden nicht noch einmal anhalten.«
»Gut«, erwiderte Astra, die spürte, dass Mary nicht log.
»Ich muss los«, sagte Mary plötzlich. »Ich wollte eigentlich nur ein paar Minuten ausruhen, nachdem ich meine Schulter geheilt hatte. Michael ist ebenfalls verletzt. Er braucht mich.«
»Natürlich.« Astra stand auf. »Es tut so gut, dich wiederzusehen, Mary. Es war viel zu lange. Ich habe dich vermisst. Bitte, kommt rasch.«
Mary stand ebenfalls auf. »Das machen wir.«
Astra nickte und zog sich behutsam aus dem Traum der jungen Frau zurück, zurück in den kühlen stillen Brunnen ihres eigenen Geists.
Ich habe keine Kontrolle über sie, dachte Astra. Und Mary zeigt nicht die absolute Ergebenheit in unsere Sache, die wir alle brauchen, vor allem jetzt, wo der Täuscher so nah ist.
Die Erkenntnis war bitter. So viele Jahrhunderte lang war Astra sich Michaels sicher gewesen. Viele Leben lang. Seine Wut über das Verschwinden seiner Partnerin saß tief. Aber jetzt, nachdem er Mary gefunden hatte, begann Astra an seinen Motiven zu zweifeln.
Sie fingen an, um ihr Überleben zu kämpfen statt für die Zerstörung des Täuschers.
Astra musste sich darauf einstellen, beide bei ihrer Ankunft umzubringen.
Fast eine Stunde nachdem er mit Michael und Mary bei der Hütte gekämpft hatte, war er noch immer in einem Rausch aus Adrenalin und Wut. Die Energie, die er seinen Opfern in dem Diner auf dem Land abgezapft hatte, ließ seine Nervenenden vibrieren. In ein paar Stunden würde diese Wirkung nachlassen. Bis dahin war es besser als jede Droge, und er musste es wissen. Er hatte sie alle probiert.
Heroin, Kokain, Methamphetamine, Crack, LSD, Ecstasy, PCP. Marihuana gab ihm überhaupt nichts. Wenn er es rauchte, wurde er hungrig und noch paranoider als sonst. Was das bringen sollte, war ihm ein Rätsel. Opium dagegen gefiel ihm gut.
Es war so einfach, Drogen zu genießen, wenn man nicht sein ganzes Leben lang nur mit einem Körper zurechtkommen musste. Nikotin? Er liebte es. Nichts war so großartig wie die erste Zigarette, nachdem er sich einen neuen Körper angeeignet hatte. Den Rauch des ersten Zuges in jungfräuliche Lungen zu inhalieren war besser als Sex.
Wenn er experimentierte, achtete er immer sorgfältig darauf, keine Überdosis zu riskieren. Schließlich bedeuteten Drogen für ihn Erholung, nicht Flucht vor seinem Leben. Er wollte nicht aus Versehen sterben und das Leben als Baby neu beginnen, ohne Wissen um seine wahre Identität. Das würde ihn seinen Feinden gegenüber zu verletzlich machen.
Aber keine der Drogen, nicht einmal seine Lieblingsdroge Koks, konnte mit der Erfahrung mithalten, sich menschliches Leben anzueignen. Er trank menschliche Leben in sich hinein, als wären sie die edelsten Liköre. Falls Gold einen Geschmack hatte, dann, so stellte er sich vor, entsprach dieser dem Geschmack einer Seele.
Pure Lebenskraft. Es war der wertvollste Rohstoff im Universum. Außerdem war es die am einfachsten auszubeutende Ressource und das beste High aller Zeiten.
Er wünschte, er könnte die Lebenskraft seiner alten Feinde genauso in sich hineintrinken, wie er das bei Menschen tun konnte. Was wäre das für ein High! Rache und Nahrung zugleich. Er hatte es ein- oder zweimal versucht, bei den seltenen Gelegenheiten, als es ihm gelungen war, einen von ihnen zu erwischen. Aber es hatte ihm kein Vergnügen bereitet. Entweder war ihr Geist zu stark, oder er ähnelte seinem zu sehr, und so blieb sein Wunsch nichts als eine frustrierte Fantasie.
Ihm war klar, dass er ein wenig vor sich hin schwadronierte, ohne viel Sinn und Verstand. Um seine Gedanken davon abzuhalten, überall herumzuschweifen, stellte er eine Liste auf, was er seit seiner Flucht von der Hütte erreicht hatte.
Inzwischen hatte die Polizei von Michigan sicher das Massaker im Northside Restaurant entdeckt. Seine Drohne in Quantico hatte bestimmt schon Kontakt mit der zuständigen Polizeidienststelle aufgenommen und dafür gesorgt, dass das FBI den Mordfall übernahm. Sobald man seiner Drohne die Suche nach den Verdächtigen übertrug, würde – spätestens am Abend – eine der intensivsten Fahndungen in der Geschichte der Vereinigten Staaten beginnen, nach Michael und Mary.
So gut es tat, das zu wissen, konnte er sich doch nicht zurücklehnen und warten, bis die Polizei ihre Beute bei ihm ablieferte. Für einen Überlebenskünstler wie Michael gab es viele Orte, an denen er sich verstecken konnte, und Michigan hatte so viele Grenzen, die durch Wasser verliefen, dass die Grenzkontrollen ein einziger Albtraum waren.
Außerdem wusste der Täuscher nur zu gut, dass Michael und Mary alles daransetzen würden, zu Astra vorzustoßen, wo auch immer dieses Miststück sich zurzeit verkrochen hatte. Gemeinsam waren sie stärker als jeder für sich allein. Auch wenn nur noch drei seiner Feinde übrig waren, konnte ihm selbst diese kleine Gruppe gefährlich werden, sobald Astra ihre Kräfte bündelte.
Wenn möglich musste er verhindern, dass sich die drei zusammentaten, sonst würde er die nächsten Jahrzehnte – die restlichen Lebensjahre dieser Generation – vermutlich auf der Flucht verbringen. Er wusste aus Erfahrung, dass das Pendel in diesem Fall erst wieder zu seinen Gunsten ausschlagen würde, wenn Michaels und Marys derzeitige Körper alt und gebrechlich waren.
Das Alter war kein Freund seiner Feinde. Ihr Geist wurde zum Gefangenen der Grenzen, die der verfallende Körper ihm setzte. Das hatte ihn damals dazu getrieben, eine Möglichkeit zu finden, von Wirt zu Wirt zu springen, um immer jung und stark zu bleiben.
Tief in Gedanken versunken, fuhr er zu seinem neuesten Hauptquartier, einem Motelzimmer in Grand Rapids. Er hatte gerade die Tür aufgeschlossen und das Zimmer betreten, als sein Handy klingelte.
Er warf einen Blick auf die Nummer. Es war seine Drohne in Quantico. Er schloss die Tür mit einem Tritt und nahm das Gespräch an.
»Die Verantwortung für den Fall ist Washington D.C. übertragen worden«, sagte seine Drohne. »Ich habe darauf bestanden, dass ich an dem Fall dranbleibe, und die Verantwortlichen haben mich beauftragt, die Sonderkommission zu leiten.«
Er zuckte ungeduldig mit den Schultern. Manchmal war die Arbeit mit Drohnen ein ziemliches Ärgernis. Sie mochten zwar völlig unter seiner Kontrolle stehen, aber diese Kontrolle hatte ihren Preis. Drohnen verloren in gewisser Weise die Initiative oder die Energie, die unabhängige Menschen besaßen.
Aber unabhängigen Menschen Aufgaben zu übertragen oder sie zu Partnern zu machen beinhaltete immer das Risiko, hintergangen zu werden. Er musste jedes Mal sorgfältig abwägen, welchen Weg er mit einem Projekt einschlagen sollte.
»Martin, was habe ich dir zu dem Thema gesagt, mich mit unwichtigen Details zu belästigen?«, fragte er. »Du bist weiterhin für den Fall zuständig. Das ist alles, was zählt.«
»Nun, ja und nein«, erwiderte Martin entschuldigend. »Was ich sagen will: Ich werde mit Leuten von außen, aus D.C., zusammenarbeiten müssen. Einige von ihnen werden mich bei jedem Einsatz begleiten, also werde ich für alles, was ich tue, Zeugen haben. Das macht die Sache komplizierter und eventuell auch langsamer. Es wird nicht ganz einfach sein, falsches Beweismaterial zu platzieren und die Suche in die richtige Richtung zu lenken.«
»Tja, dann musst du mich eben mit deinen Kollegen bekannt machen«, erwiderte er. »Du weißt doch, wie gern ich Leute kennenlerne.«
Einmal Händeschütteln reichte. Wenn er einen Menschen persönlich kennenlernte, konnte er ihn oder sie in eine seiner Drohnen verwandeln. Der Vorgang kostete Energie und erschöpfte ihn eine Zeit lang, ließ sich aber oft nicht umgehen. Die Mission war zu wichtig. Eine Gefährdung durch Außenstehende konnte er nicht riskieren. Über diese Sache musste er die uneingeschränkte Kontrolle haben.
»Verstanden«, sagte Martin. »Vorläufig haben wir nur die ersten Schritte besprochen. Michigan ist für eine Fahndung ein logistischer Albtraum. Selbst wenn wir die Nationalgarde zu Hilfe rufen, können wir unmöglich alle Staatsgrenzen überwachen, vor allem nicht die Küsten.«
»Das ist mir durchaus klar«, schnauzte er ihn an.
»Wir müssen irgendwelche Prioritäten für die Jagd festlegen«, fuhr Martin fort. »Haben Sie irgendwelche Befehle oder Wünsche, wie wir dabei vorgehen sollen?«
Während er darüber nachdachte, tippte er mit dem Daumennagel gegen einen seiner Schneidezähne. Mary hatte in St. Joseph gelebt, im Südosten Michigans. Vor ein paar Tagen hatte sie die Staatsgrenze überquert, um nach Notre Dame im Norden von Indiana zu fahren, wo zwei seiner Drohnen vergeblich versucht hatten, sie zu entführen.
Dann hatten Michael und sie sich irgendwie irgendwo getroffen. Es spielte keine Rolle, wie die beiden sich gefunden hatten. Er wusste, dass Michael und Astra nach Mary gesucht hatten, genau wie er. Und Zwillingsseelen fiel es leichter, miteinander in Kontakt zu treten.
Kurz nachdem die beiden sich wiedergefunden hatten, hatte er sie mithilfe eines kleinen dunklen Geists aufgespürt, der ihm – gegen einen Blutpreis – ihr Versteck preisgegeben hatte. Sie hatten sich in einer Hütte nicht weit von der Westküste Michigans versteckt, und zwar ziemlich weit im Norden, fast schon auf halbem Weg zur Lower Peninsula.
Vielleicht waren Michael und Mary deshalb in die Richtung gefahren, weil sich dort die Hütte befand. Aber wenn Astras Aufenthaltsort irgendwo anders wäre, zum Beispiel weiter südlich, hätten sie dann riskiert, viele Meilen Umweg zu fahren, vor allem wenn sie wussten, dass er hinter ihnen her war?
Das konnte er sich nicht vorstellen. Was bedeutete, es gab einen Grund, weshalb sie sich nach Norden gewandt hatten. Und mit ihm so dicht auf den Fersen konnte dieser Grund nur heißen: Astra.
Zu seiner Drohne sagte er: »Konzentriert eure Einsatzkräfte entlang der westlichen und nördlichen Küste der Lower Peninsula. Errichtet eine Straßensperre auf der Mackinac Bridge. Wir wollen verhindern, dass sie auf die Upper Peninsula gelangen. Wenn sie es erst bis in den Nationalforst dort oben geschafft haben, wird es noch schwieriger, sie zu erwischen. Und mach den Polizeistreifen klar, dass sie auf allen wichtigen Highways sorgfältig die Augen offen halten müssen.«
»Ja, Sir«, entgegnete Martin.
Seine Gedanken wandten sich einem anderen Thema zu, das er noch verfolgen wollte.
Wie sich herausgestellt hatte, kannte sich Nicholas Crow mit übersinnlichen Dingen aus, von denen die meisten Menschen noch nie etwas gehört hatten. Deshalb hatte er ihn umbringen lassen.
Das hatte er getan, um den Weg zu einem Treffen mit dem Präsidenten freizuräumen – dem Präsidenten die Hand zu schütteln war ein Ziel, das ihm nach wie vor sehr am Herzen lag. Ironischerweise hatte er jetzt, da Crow kein Hindernis mehr darstellte, keine Zeit, um ein Treffen mit dem Präsidenten in die Wege zu leiten, bei dem er ihn entweder in eine Drohne verwandeln oder aber in seinen Körper schlüpfen konnte. Die Eroberung des obersten Regierungschefs würde er leider fürs Erste vertagen müssen.
Doch Crow interessierte ihn noch immer, auch nach seinem Tod. Wo hatte der Mann all das gelernt, was er konnte? Und wieso hatte Crow einen Karriereweg eingeschlagen, der ihn unweigerlich an die Spitze genau der Abteilung des Secret Service führen musste, die für den Schutz des Präsidenten zuständig war? Alles an Crow wirkte so … zielgerichtet.
Vor langer Zeit hatte Astra ihre Weisheit wahllos an die indianischen Ureinwohner weitergegeben, hatte ihr Wissen vom Reich des Übersinnlichen all den Völkern vermittelt, die sich über die Kontinente hinweg verbreitet und wie die Kaninchen vermehrt hatten. Seit damals wusste er nie, wann irgendwo etwas auftauchen und ihm Schwierigkeiten bereiten würde.
Hatte Crow das, was er wusste, von einem seiner Ältesten gelernt? Oder war es möglich, dass Astra an seiner Ausbildung höchstpersönlich beteiligt gewesen war?
»Eins noch«, sagte er. »Ich möchte, dass du Erkundigungen über Nicholas Crow einziehst.«
Ein Gutes zumindest hatten seine Drohnen: Wenn er einen Befehl gab, fragten sie nie, warum. Sie taten einfach, was er ihnen sagte.
»Selbstverständlich«, erwiderte Martin. »In den Akten finden sich bestimmt schon ein oder zwei ausführliche Dossiers über ihn. Um an so exponierter Stelle arbeiten zu können, muss er auf Herz und Nieren geprüft worden sein, außerdem wird der Mord an ihm intensiv untersucht. An welcher Art von Informationen sind Sie interessiert?«
»Ich will alles wissen«, erwiderte er. »Ich will wissen, was Crow zum Frühstück aß. Ich will wissen, wo er geboren wurde, wo er aufgewachsen ist, mit wem er als Teenager gevögelt hat sowie die Namen aller Frauen, die danach kamen. Ich will die Namen von Freunden und Familienmitgliedern, von allen wichtigen Leuten in seinem Leben, und ich will ihre Adressen.«
Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, nichts dem Zufall zu überlassen. Sosehr er zurzeit auch beschäftigt war, mochte es sich doch als sinnvoll erweisen, ein paar Leuten aus Crows Leben die eine oder andere Frage zu stellen.
»Ich werde meine Mitarbeiter anweisen, die vorhandenen Daten zusammenzutragen«, sagte Martin. »Ich lasse sie Ihnen so schnell wie möglich zukommen.«
»Ausgezeichnet.« Das war für den Anfang nicht schlecht. Wenn das, was in den Akten stand, für seinen Geschmack nicht ausführlich genug war, würde er Martins Mitarbeiter genauere Erkundigungen einziehen lassen. »Wann kommst du nach Michigan?«
»Ich werde heute Abend nach Grand Rapids fliegen.«
»Gib mir Bescheid, wenn du dort bist.« Er drückte auf die Taste, mit der man das Gespräch beendete.
Dabei sah er auf seine Hände hinunter, sah sie zum ersten Mal seit dem Kampf bei der Hütte wirklich an. Dort hatte Mary seinen vorherigen Wirt getötet, indem sie bei ihm einen Herzinfarkt ausgelöst hatte. Das hatte ihn dazu gezwungen, in den Körper der erstbesten Soldatendrohne zu schlüpfen, die gerade in Reichweite war. Selbst jetzt, wo er in einem völlig anderen Körper steckte, verspürte er bei der Erinnerung an den Kampf einen heftigen Phantomschmerz in seiner Brust.
Er beachtete ihn nicht weiter und drehte die Handflächen nach oben. Die Hände waren breit und voller Schwielen, mit dicken Hand- und klobigen Fingergelenken. Handrücken und Arme waren mit borstigen rötlichen Haaren bedeckt.
Er verzog vor Abscheu den Mund. Das war ganz und gar nicht der Typ Körper, den er gern bewohnte. Normalerweise suchte er sich junge, hübsche Wirte mit gut trainierten Körpern. Außerdem hatte er eine Vorliebe für blaue Augen. Die Menschen reagierten so positiv auf gut aussehende, blauäugige junge Männer.
Dieser Körper mochte zwar über eine gewisse brutale Kraft verfügen, dafür fehlten ihm Stil und Eleganz völlig. Igitt, auf den Fingern wuchsen ja ebenfalls diese drahtigen roten Haare!
Unter den Fingernägeln hatte sich Dreck angesammelt.
Angeekelt starrte er die Finger an.
Diesen dreckigen Fingernagel hatte er sich in den Mund gesteckt! Und sein Mund war Teil dieses neuen Körpers, der zu diesem dreckigen Fingernagel gehörte. Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Sie fühlten sich ungeputzt und klebrig an.
Schlagartig endete das High, das ihm von den Morden beim Restaurant geblieben war, und ihm wurde vollends bewusst, in was für einem ekelhaften Körper er steckte.
Mit einem Knurrlaut warf er das Handy auf das Bett und stürzte ins Bad, um sich anzuschauen.
Trübe grüne Augen sahen ihm aus einem Quadratschädel entgegen, der eine kartoffelförmige klobige Nase hatte. Sie musste mindestens einmal gebrochen worden sein. Sein Wirt hatte einen Kurzhaarschnitt, der kaum den zurückweichenden Haaransatz kaschierte. Er bleckte die Zähne. Sie waren vorstehend und gelb.
Hässlich, hässlich, hässlich.
Er versetzte dem Spiegel einen Schlag. Ein Spinnennetz aus Rissen zog sich über die Oberfläche und löschte sein Bild aus. Rasch schnappte er sich Zahnbürste und Zahnpasta und putzte die Zähne des Körpers so kräftig, dass das Zahnfleisch schließlich zu bluten begann. Als er endlich fertig was, riss er sich die gesamte Kleidung vom Leib und duschte so heiß, dass die Haut des Körpers ganz rot wurde.
Er ignorierte das unangenehme Gefühl, genau wie er den Schmerz der blutenden Fingerknöchel seines – NICHT SEINES – Körpers ignorierte. Er hatte keine Drohnen bei sich. Er hatte keine Zeit, sich einen passenden Kandidaten zu suchen, um diesen Körper zu ersetzen. Und er konnte auch keine Energie auf den Umzug in einen weiteren neuen Körper verschwenden. Im Moment musste er damit leben, eine Zeit lang in dieser Witzfigur zu verbringen.
»Das werde ich dir heimzahlen, Schätzchen«, flüsterte er an Mary gerichtet.
Diesen Ärger konnte er der langen, Tausende von Jahren alten Liste hinzufügen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben – wütend zu sein wurde ihm niemals langweilig.
Dass man erst einmal darüber schlafen sollte, bevor man sich in Racheaktionen stürzte, war völliger Blödsinn.
Seinen Rachegelüsten gab man am besten nach, so lange sie noch frisch und heiß glühten.
Sobald Astra am Brunnen aufgetaucht war, hatte Mary begriffen, dass sie träumte. Sie wusste, dass alles, was sie miteinander sprachen, so real und wahr war, als hätten sie wirklich gemeinsam dort gesessen.
Nachdem sie ihr Gespräch beendet hatten und Astra verschwunden war, wachte sie auf.
Die nachmittägliche Sonne schien ins Auto. Ihr Schlaf war viel zu kurz gewesen, und ihr Körper stöhnte unter der Müdigkeit und den Verletzungen. Ihre linke Schulter war besonders steif, die Muskeln schmerzten, aber die Schusswunde war tatsächlich verheilt. Fasziniert befühlte sie ihre Schulter rund um die Wunde.
Das hatte sie selbst geleistet. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie nahm den Verband ab und zog sich das Flanellhemd bis über die Schulter hoch.
Dann richtete sie den Blick auf Michael. Ihn anzuschauen, versetzte ihr einen Schock. Er war ein kräftig wirkender, großer Mann mit ausladenden Schultern, breitem Brustkorb und durchtrainierten Muskeln. Sein dunkles Haar war zu kurz, um zerzaust zu sein, aber die frischen Bartstoppeln ließen seine harten Gesichtszüge ein wenig weicher wirken und verliehen ihm ein leicht abgerissenes Erscheinungsbild. Er strahlte die Entschlossenheit und das Selbstbewusstsein eines Soldaten aus, und diese Ausstrahlung schien das gesamte Wageninnere auszufüllen.
Sie fragte sich, ob sein Anblick sie so schockierte, weil sie füreinander noch so neu waren, fast noch Fremde, oder ob er diesen Effekt immer auf sie haben würde. Sie vermutete, dass es immer so sein würde. Sie hatte den Tiger gesehen, der sich unter seiner äußeren Schale verbarg.
Er hatte sich eine Sonnenbrille aufgesetzt und fuhr, eine Hand am Lenkrad, den Kopf in die andere gestützt, den Ellbogen gegen die Tür gelehnt.
Er wirkte ausgezehrt und in Gedanken weit weg, in seiner eigenen Welt, zu der sie keinen Zutritt hatte. Unter seiner Bräune hatte seine Haut eine aschgraue Färbung, die Mary gar nicht gefiel.
»Okay«, sagte sie bedächtig. »Mir geht es besser, und jetzt kann ich dir helfen.«
»Gut. Ich fahre bei nächster Gelegenheit raus.«
Er sprach abgehackt, und seine Miene war hart und ausdruckslos.
Sie runzelte die Stirn. Sie hatte einen Spitznamen für seine Fähigkeit, alle Gefühlsregungen abzustellen. Mr Rätselhaft. Eine Zeit lang hatte sie geglaubt, sie wären diesen Teil von ihm losgeworden, aber wie es aussah, war Mr Rätselhaft aus dem Exil zurück. Sie streckte die Hand aus und legte sie ihm auf den Arm.
»Lass das«, sagte er schroff. »Fass mich jetzt nicht an.«
Das war nicht der Liebhaber, der vergangene Nacht in ihrem Bett gelegen und der ihr all die zärtlichen Worte zugeflüstert hatte, während er sich in ihr bewegte.
Sie zog die Hand zurück und saß verletzt und schweigend da, bis er zehn Minuten später den Blinker setzte und auf einen Rastplatz hinausfuhr. Er parkte den Ford weit von den anderen Wagen entfernt, machte den Motor aus und ließ den Kopf gegen die Nackenstütze sinken. Sein Körper erschlaffte, und er stieß einen zittrigen Seufzer aus.
Mary beobachtete ihn. Der Unterschied zwischen seiner vorherigen Anspannung und diesem plötzlichen Elend machte ihr gleich noch viel mehr Sorgen. Ohne sich um seine Zurückweisung von vorher zu kümmern, legte sie ihm sanft die Hand auf die Schulter und streckte ihre geistigen Fühler nach ihm aus.
Über die Berührung drangen seine Schmerzen und seine Erschöpfung in sie ein. Sie schnappte nach Luft.
»Oh, verdammt«, sagte sie. Reine Anspannung hatte ihn zusammengehalten, bloß um weiterfahren zu können, während sie sich in ihren unreifen, verletzten Gefühlen gesuhlt hatte. Sie zog an ihm, aber er war so groß und schwer, dass sie ihn nicht bewegen konnte. »Komm her.«
Halb lehnte er sich, halb fiel er zu ihr hinüber. Sie nahm ihm die Sonnenbrille ab, legte seinen Kopf an ihre Schulter und hielt ihn fest. Er schmiegte sein Gesicht an ihren Hals. »Setz dich ans Lenkrad«, murmelte er. »Wir müssen weiter Richtung Norden fahren. Sag mir Bescheid, wenn wir in Petoskey sind.«
Seine Worte machten sie unglaublich wütend. »Zuerst werde ich dir helfen. Du musst geheilt werden.«
Er ging zur telepathischen Verständigung über, wobei das Band zwischen ihnen dünn und brüchig war. Ich habe nicht die Energie, mich mit dir zu streiten. Wir müssen weiterfahren.
»Halt den Mund«, presste sie hervor. Er erinnerte sie an ein misshandeltes Tier, das um Hilfe weder bat noch sie erwartete, weil es Mitgefühl oder Zärtlichkeit nicht kannte. Sie verspürte das Bedürfnis, jemandem eine Ohrfeige zu verpassen. Stattdessen strich sie ihm über sein kurzes schwarzes Haar. »Ich weiß sehr wohl, dass wir weiterfahren müssen. In einer Minute sind wir wieder unterwegs.«
Jemand klopfte gegen ihr Fenster.
Erschrocken fuhr sie herum. Eine Frau mittleren Alters starrte mit besorgtem Gesichtsausdruck in den Wagen. In der Nähe stand ein Mann und hielt einen Hund an der Leine. Mary kurbelte ihr Fenster ein Stück herunter und zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Entschuldigen Sie.« Die Frau sprach einen angenehm weichen Südstaatendialekt. »Mein Mann und ich haben gerade unseren Hund Gassi geführt, und dabei ist mir aufgefallen … Ist alles in Ordnung mit Ihnen beiden?«
Michael hatte sich trotz der Störung kaum gerührt, ein deutlicher Hinweis darauf, dass er völlig am Ende war. Mary konnte spüren, dass er kaum noch bei Bewusstsein war. Ihre Gedanken rasten, während sie rasch die verschiedenen Möglichkeiten durchging.
»Nein«, erwiderte sie. »Er ist krank, und ich will ihn nicht allein lassen. Könnten Sie uns einen Gefallen tun?«
»Aber natürlich, Liebes. Wir haben ein Handy. Sollen wir den Notarzt rufen?«
Mary schüttelte den Kopf, unsicher, wie sie weiter vorgehen sollte. Sollte sie sagen, dass sie Ärztin war? Nein, das war zu auffällig, wobei die Situation an sich schon ungewöhnlich genug war, dass die Frau sie nicht so bald vergessen würde.
Es war zu spät, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie sagte: »Danke, aber es geht schneller, wenn ich ihn fahre, als wenn wir einen Krankenwagen rufen. Aber Sie könnten etwas anderes für mich tun, wenn Sie möchten.«
Ohne zu zögern, erwiderte die Frau: »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Mary ließ ihre Hand an Michaels muskulösem Rücken hinuntergleiten, tastete in der Hosentasche seiner Jeans nach seiner Brieftasche und zog sie heraus. Unauffällig warf sie einen Blick auf deren Inhalt, der aus mehreren Tausend Dollar in großen Scheinen sowie etwa fünfundfünfzig Dollar in kleineren Scheinen bestand. Sie zog einen Zwanziger und einen Zehner heraus und reichte sie der Frau.
»Ich will ihn nicht allein lassen. Würden Sie so lieb sein und nach drinnen gehen und mir so viel Gatorade und Mineralwasser bringen, wie Sie tragen können? Ich hoffe, es gibt eine Möglichkeit, das Geld zu wechseln. Als wir auf den Parkplatz gefahren sind, habe ich nicht darauf geachtet, ob sich in dem Kiosk ein Laden befindet oder nur Getränkeautomaten.«