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» Rasantes Romandebüt voller skurrilem Witz, Wärme und tieferer Bedeutung.« Knut Elstermann »Eine irre Liebesgeschichte zum Einsaugen.« Ulrike Folkerts Jannik und Tai, von ihren Mitschülern liebevoll Fetti und Fidschi genannt, sind zwei ganz normale Sechzehnjährige. Bis sie eines Tages ihren Rektor sturzbetrunken auf der Straße auflesen und in seiner eigenen Wohnung einsperren. Aus dem Scherz wird schnell eine handfeste Entführung. Tai genießt es, »Gott« zu spielen und zwingt den Lehrer zu einem Seelenstriptease. Ein Höllentrip für Jannik, der schnell bemerkt, dass Tai seine zarte Verliebtheit nur ausnutzt. Er muss handeln… Eine liebevolle und schräge Coming-of-Age-Geschichte, lustig und voller Überraschung erzählt. »Das Buch ist der Killer« Robert Gwisdeck »Dieser Roman bin ich, trotzdem ist alles erfunden.« Axel Ranisch
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Das Buch
Jannik und Tai, von ihren Mitschülern liebevoll Fetti und Fidschi genannt, sind zwei ganz normale Siebzehnjährige. Bis sie eines Tages ihren sturzbetrunkenen Rektor auf der Straße auflesen und in seiner eigenen Wohnung einsperren. Aus dem Scherz wird schnell eine handfeste Entführung. Tai genießt es, Gott zu spielen, und zwingt den Lehrer zu einem Seelenstriptease. Ein Höllentrip für Jannik, der sowieso mit seiner zarten Verliebtheit zu Tai ringt. Er muss handeln … »Dieses Buch ist wie eine altgriechische Fruchtbarkeits-Göttin die in einem Ananas-Kostüm auf einem Kindergeburtstag in der Plattenbau-Siedlung aus der Torte springt.« Robert Gwisdek »Intensiv, spannend, frisch und sexy!« Devid Striesow
Der Autor
Axel Ranisch, Regisseur, Schauspieler und Opernschreiber ist ein kreativer Tausendsassa. Nach den Filmen »Dicke Mädchen«, »Ich fühl mich Disco« und »Alki Alki« hat er nun seinen Einfallsreichtum in Literatur gegossen.
Ranisch
Nackt über Berlin
Roman
Ullstein fünf
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ISBN 978-3-8437-1713-7
© 2018 © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Covergestaltung: Rothfos & Gabler Titelabbildung: © Getty Images Foto des Autors: © Denis Pauls
E-Book: L42 AG, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Für den großen Thorsten Merten,
für »Paule Panther«
für »Pianopenner« und den »Patagonischen Pinguinficker«
&
für meinen Opa Johannes, der immer wollte,
dass ich mal Schriftsteller werde.
Alles Egon.
Papa war im Ausland und Mama beim Zumba. Es konnte mich also niemand stören.
Rachmaninoff. Sinfonische Tänze op. 45 – der Morgen.
Ich legte die CD ein, zog meine Hose aus und kroch mit der Fernbedienung unter die Bettdecke. Ich drückte auf Play. Noch vor dem ersten Ton schoss mir das Blut in den Unterleib. Ich drehte mich auf den Bauch und bohrte meine Erektion in die Matratze.
Die Musik begann. Ein Pulsieren der Streicher. Wie die Hüter einer Traumwelt warfen die Holzbläser Bedenken in den Raum. Es klang wie »Lass es sein … lass es sein, lass es sein, lass es sein …«.
Erst Englischhorn, dann Klarinette, Fagott und schließlich noch grummelnd, verstummend die Bassklarinette. Ihre Warnungen halfen nichts. Ich war bereit. Das Orchester und ich holten tief Luft, um zum großen Tutti anzuschwellen. Auf die Plätze, fertig, LOS:
»Bamm, bamm, bamm, bamm. Dadadiii Damm.«
Ich sang laut mit und schlug unisono mit den Fäusten auf mein Kopfkissen:
»Bamm, bamm, bamm, bamm. Ramtatiii Tamm.«
Die Pauke pfefferte mir ihre Schläge ins Gesicht.
»Badabaaaaa!«
Das Hauptthema bohrte sich durch meinen ganzen Körper und zog mich hinein in einen Strudel aus Monsterwellen und Warpantrieb und Gletschereis und Weltuntergang.
Ich hatte nichts als theoretische Vorstellungen davon, aber so in etwa musste sich Sex anfühlen. Zeit und Raum und Lust und Dasein und Totsein strömten zu einem gewaltigen Fluss zusammen und spülten mich willenlos vor die Füße von Tai.
Er stand barfuß mit seiner Kamera auf einer Lichtung und filmte zwei ineinander verknotete Schlangen. Die Holzbläser errichteten einen Bambuswald um ihn. Nebelschwaden zogen auf. Es roch nach Jasminreis und Zimt. Ich ging zu Tai und nahm ihm die Kamera aus der Hand. Statt der blöden Schlangen filmte ich ihn. Die Kamera schwebte wie von allein über seine schlanken Füße, seine Waden, über die von einer kurzen Hose bedeckten Oberschenkel, über den schmalen Spalt von blanker Haut, den das kurze Leinenhemd über seinem Hosenbund freigab und der wie ein Meer schimmerte, in dem ich gern ertrunken wäre. Tai schloss die Augen und ließ sich filmen. Kleine Härchen erwachten auf seiner Haut und stellten sich der Kamera entgegen. Aus seinem Nacken kam Wärme, die mich schwerelos machte. Ich wollte im Ganzen verdampfen, um in tausend Tröpfchen auf Tais Haut zu kondensieren.
Doch Rachmaninoff formierte seine Truppen erneut und rief mit höllenhaftem Krächzen des Englischhorns das Hauptthema zurück in den Wald. Erneut schlug ich in mein Kissen, erneut sang ich mir die Kehle aus dem Leib, erneut durchfuhr der gewaltige Orchesterapparat meinen jugendlichen Körper und brachte mit dem Knarzen der Bleche und dem Wirbeln der Pauken Verstand und Fleisch zum Bersten.
Völlig verausgabt sank ich auf meine Matratze nieder. Rachmaninoff hatte mich erlegt, und ich hatte es nicht anders gewollt.
Hämisch zogen Streicher und Holzbläser über meinen Leichnam hinweg, auf dem Weg zum Nächsten, der sie für seine Träume missbrauchen wollte.
Nach einigen Sekunden Ruhe kam ich zu mir. Ich hatte, ganz ohne meine Hände zu gebrauchen, in meine Bettwäsche kondensiert. Ein unbeschreibliches Gefühl.
Die Tür wurde aufgerissen. Mama steckte ihren Kopf in mein Zimmer.
»Das ist zu laut, Janni, das weißte doch.«
Ruckartig zog ich die Decke über den Kopf und versuchte unbeteiligt zu wirken. Meine Mutter trat ins Zimmer und näherte sich meinem Bett:
»Janni, was is’n los? Biste krank?«
Warum sind ausgerechnet Eltern die unsensibelsten aller Geschöpfe auf dieser Erde?
»Nein, Mama, dein Janni hat sich zu russischer Spätromantik einen von der Palme gewedelt, weil er dachte, dass du beim Zumba bist, und liegt deshalb nackig und vollgesifft unter seiner Bettdecke und möchte, dass du ganz schnell sein Zimmer verlässt!«
Es gibt ja Kinder, die mit ihren Eltern so sprechen können. Ich konnte das nie, und ich wollte auch nicht. Das Einzige, was ich in diesem Moment dringend wollte, war meine Ruhe. Mama setzte sich zu mir auf die Bettkante.
»Du bist ja ganz rot und außer Atem.«
Sie fasste mir auf die Stirn.
»Hast du Fieber?«
Ich schüttelte den Kopf und drehte mich zur Seite:
»Bin nur müde, Mama.«
Endlich stand sie auf.
»Ich mach dir mal ’nen Ingwertee, mein Hase, und lass dir ’ne warme Badewanne ein.«
Mama ging, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Selbst Buckelwale sind einfühlsamer.
*
Mama versorgte mich mit Brühe, Tee und ihrer Anwesenheit. Anscheinend wollte sie ihren Feierabend partout nicht alleine verbringen.
Sie legte sich in meinen Sitzsack und wollte Musik hören. Das wollte sie nie! Sie wusste, dass sie sich mit dem Interesse an meiner Musik ein Bleiberecht in meinem Zimmer erkaufen konnte. Also legte ich auf. MC Jannik Schade an der Stereoanlage.
Gerade hatte ich Schönbergs zwölfdiatonischen KZ-Brecher Ein Überlebender aus Warschau aus dem Regal gefischt, da schob Mama noch mit großen braunen Rehaugen die Bitte hinterher, sie nicht allzu hart ranzunehmen.
»Denk dran, ich hatte einen langen Tag, Janni.«
Na gut. Ich wollte Mama ja tatsächlich etwas beibringen.
Irgendwie war die Klassische Musik an ihr vorübergegangen. ABBA mochte sie, die Beatles, Manne Krug … Da sprach ja auch grundsätzlich nichts dagegen. Trotzdem war mir vollkommen schleierhaft, wie auch nur ein halbwegs vernünftiger Mensch aus Mama hatte werden können, wo ihr doch die Werke von Mahler, Saint-Saëns oder Mussorgski nicht vertraut waren.
Ich musste geschickt vorgehen. Ein langsames Stück musste einem schnellen folgen, ein emotionales einem leichten. Mama durfte weder einschlafen noch überfordert werden. Außerdem musste sie durch kleine Anekdoten aus der Werkshistorie für die Dreh- und Angelpunkte im jeweiligen Stück sensibilisiert werden.
Ich begann mit Giovanni Bottesinis Elegie in D. Um die Musikstunde interaktiv zu gestalten, forderte ich sie auf, das Soloinstrument zu erraten. Wie ich erhofft hatte, tippte sie auf das Cello. Und schon waren wir im Gespräch. Bottesini gehört nämlich zu den ganz wenigen Komponisten, die im 19. Jahrhundert überhaupt Solowerke für den Kontrabass geschrieben haben.
Dieser freundlich nasalen Liebeskantilene des säuselnden Basses musste nun etwas mit größerem Wiedererkennungswert folgen. So brachte ich die Callas mit Madame Butterfly. Mama und mir schossen augenblicklich die Tränen in die Augen. Die kleine Cio-Cio-San wartete seit Jahren auf die Heimkehr ihres Mannes.
Ein japanisches Mädchen, das sich unsterblich in einen amerikanischen Marineoffizier verliebt und ihn überstürzt geheiratet hatte. Nun saß sie da. Allein, mit dem Kind, das er ihr gemacht hatte, und sang so herzzerreißend schön.
Ein bisschen erinnerte mich die Situation an Mama und mich. Auf Papa musste man auch immer warten. Immer und überall. Bisher war er stets wiedergekommen. Auch wenn die Tage seiner Anwesenheit nicht unbedingt angenehmer waren als die seines Fortbleibens. Papa hatte den nervigen Ehrgeiz, seinen über Jahre und Monate angewachsenen Erziehungsrückstand in den wenigen Tagen seiner Heimatbesuche aufzuholen. Das machte die Sache mit der bedingungslosen Vaterliebe schwer.
Mama kullerten die Tränen über die Augen. Maria Callas hatte wie immer den richtigen Tonfall getroffen. Jetzt brauchte ich, beziehungsweise Mama, etwas Aufmunterndes. Man darf die Gefühle der Frauen nicht endlos strapazieren. Sie werden sonst unberechenbar. Und irgendwie hatte der Abend gerade so schön begonnen. Ich entscheid mich für den Schneeflockenwalzer aus Tschaikowskis Nussknacker.
Tschaikowski hat die Kraft, mich glücklich zu machen. Es gibt da eine Seelenverwandtschaft. Ich kann es nicht erklären. Tschaikowski ist vielleicht mein bester Freund. Das klingt furchtbar seltsam, ich weiß. Tschaikowski ist über 120 Jahre tot und trotzdem verstehe ich mich besser mit ihm als mit allen anderen Menschen, Mama vielleicht ausgenommen.
Da ist hinter den Walzern und Tänzen, den eingängigen Melodien und kitschigen Geschichten eine verträumte, weltvergessene Melancholie, die mich genau da abholt, wo auch immer ich gerade stehe. Ich liebe ihn. Mama kann ich solche Sachen nicht wirklich sagen. Sie macht sich dann Sorgen um mich und bittet Papa, mir einen Platz im Wasserballteam zu organisieren, damit ich abnehme und Freunde finde.
Warum glauben Eltern, dass man dringend gleichaltrige Freunde braucht, um glücklich zu sein? Vielleicht brauche ich gar keine Freunde. Jedenfalls keine in meinem Alter. Auf Schule könnte ich komplett verzichten. Alles, was da kreucht und fleucht, kann mir gestohlen bleiben. Außer Tai. Aber das ist was anderes. Tai ist nicht von dieser Welt.
Mama war kurz vorm Einschlafen. Sie hatte die Augen geschlossen und begann geräuschvoll zu atmen. Ich ermahnte sie. Mama räusperte sich und gab vor zu genießen. Wir wussten beide, dass das nicht stimmte.
Ich musste ein Stück auswählen, dass sie bei Laune hielt. Ich spielte ihr Paganinis dämonisches 24. Capriccio in a-Moll vor, um dann einen Sprung durch die Epochen hin zu Rachmaninow zu unternehmen, der dieses Capriccio zum Thema seiner Paganinivariationen gemacht hatte. Die ersten Töne erklangen kraftvoll wie Glockenschläge, und schon regte es sich wieder in meiner Unterhose. Mein Gott, wann endet endlich diese Zeit, in der zu jeder unpassenden Gelegenheit ein Gruß aus der Lendenregion die Sinne vernebelt?
Bis vor wenigen Monaten musste ich zum Wasserball. Papa hatte über die Arbeit Kontakte zu einem Trainer, der Wasserballnachwuchs suchte. Ich war so ziemlich der ungeeignetste Nachwuchs, den man nur finden konnte, und trotzdem nahm Herr Hinrichs mich aus kollegialer Verbundenheit zu meinem Vater in seiner Truppe auf. Also war ich von diesem Zeitpunkt an dreimal die Woche umgeben von vierzehn Jungs, die einen ganzen Kopf größer waren als ich, körperlich mindestens zwei Jahre älter, geistig nicht, muskulös, furchtbar gut gebaut und allesamt beeindruckend unbehaart, am ganzen Körper. Das war das Einzige, was ich mit ihnen gemein hatte. Sie, weil sie sich alles abrasierten, ich, weil nichts wuchs, außer auf dem Kopf. Aber da hatten die Jungs wiederum nichts.
Die Wasserballstunden begannen stets mit dem gemeinsamen Umziehen und Duschen.
Ich weiß nicht, ob es Allgemeingültigkeit hat, aber in der Dynamohalle beim Wasserball gab es einige ungeschriebene Gesetze. Eines davon lautete, dass das Duschen nur ohne Badehose erlaubt ist, aus hygienischen Gründen.
Nun war ich schon übergewichtig und sah in meiner engen Badehose nicht wirklich gut aus. Aber ohne Badehose hatte ich noch deutlich weniger zu bieten. Das war nur leider genau das, was die nackten, pubertären Riesen interessierte. Und so zogen sie mir in der ersten Trainingsstunde mit vereinten Kräften unter der Dusche die Badehose vom Leib und feierten meinen körperlichen Rückstand mit großem Hallo.
Warum in solchen Momenten die intellektuelle Abneigung meines Geistes nicht imstande war, über die niederen, körperlichen Erregungen meines Instinktes zu triumphieren, wird mir immer ein Rätsel bleiben, jedenfalls bekam ich auch in dieser Situation eine Erektion und damit vielleicht einen entscheidenden, körperlichen Hinweis auf meine sexuelle Orientierung, die ich noch immer nicht in endgültiger Konsequenz akzeptiert hatte. Bis heute nicht.
Mama schlief. Rachmaninow, der selbst am Flügel saß, hatte mit der Variation XVIII begonnen – Andante cantabile.
Diese Musik kam direkt von da, wo alles Schöne dieser Welt herkommt. Ich weiß nicht, wo dieser Ort ist und wie er heißt, aber Sonnenuntergänge am Ostseestrand kommen von da, Bananensaft und Flugmangos und Traubenhyazinthen und Grießbrei und Tais Haare, die so weich sind, dass ich in ihnen einschlafen möchte.
Nach dem Andante machte ich die Musik aus. Das konnte jetzt nicht mehr getoppt werden, und außerdem hatte ich mein Publikum verloren.
Mama erwachte mit schlechtem Gewissen. Ich ließ es mir nicht anmerken, aber ich sah ihr das nach. Sie arbeitete mit Downies, wie sie liebevoll sagte, Autisten, Spastikern und vielen anderen Behinderten. Ich hatte mal in der 9. Klasse ein Schülerpraktikum bei ihr in der Schule gemacht. Man muss ein dickes Fell haben, wenn man tagaus, tagein gegen Symptome ankämpft, die man nicht wirklich lindern kann. Wie hält man das aus?
Mama stand müde auf und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
»Entschuldige, mein Schatz. Schön, deine Musik.«
Dann ging sie ins Bett.
*
Kurz nach zehn bekam ich eine SMS. Sie war von Tai. Ich hatte bereits gedöst. Jetzt waren alle meine Sinne wach.
Komm penner, das musst du sehen!
Seinen Worten fügte er ein etwas verwackeltes Bildchen an, von einem Mann, der offensichtlich bewusstlos auf dem Gehweg lag.
Wo bist du? Wer ist das?, schrieb ich zurück.
Die Antwort folgte prompt in Form eines weiteren, schärferen Bildes. Jetzt war das Gesicht des Mannes in Großaufnahme zu sehen. Ich erkannte Herrn Lamprecht, den Direktor unserer Schule.
Geil, geil, geil! Der ist stramm wie brot. Das gibt millionen klicks!, schrieb Tai.
Er hatte so ein Ding weg mit seinem Camcorder. Tai träumte davon, YouTuber zu werden, und filmte alles, was nicht bei drei auf den Bäumen war.
Es ist halb elf, du Honk!, erwiderte ich, freute mich aber für Tai und seinen großen Fang.
Dann schleck doch deiner oma die möse aus du pimmel!, kam als Antwort zurück. Ich musste grinsen. Meine Mutter war immer ganz begeistert, wenn Tai bei uns zu Besuch war. Sie fand ihn so höflich und wohlerzogen. Und Papa lobte Tais Familie als exzellentes Beispiel für vorbildliche Integration. Eine derart obszöne Nachricht hätten beide nicht von dem schüchternen Jungen erwartet, der in Wirklichkeit so was wie der Antichrist im Gewand eines asiatischen Engels war. Aber das wusste keiner. Nur ich.
Tai kannte sämtliche bewusstseinserweiternden Substanzen, wusste vor allem, wo man sie bekam und wie man sie einzunehmen hatte, er konnte Sprengsätze zusammenbauen und war ein absoluter Technikfreak. Er kam selbst mit dem billigen Zeug aus China zurecht, das schon nach dem ersten Gebrauch kaputtging.
Sein Vater gehörte irgendwie zu den Gründern des Dong Xuan Centers. Das ist der größte vietnamesische Markt in ganz Europa. Da arbeiten nur Vietnamesen, und da gehen auch fast nur Vietnamesen einkaufen. Sechs Hallen gibt es. Tai sagt, man kriegt da alles, was man will. Ganz egal was. Ich weiß immer nie, was ich ihm glauben kann.
»Wenn du mal ’ne Giftschlange brauchst, ein Baby, Crystal Meth oder ’nen abgehackten Finger, dann gib mir Bescheid. Alles nur ’ne Frage des Preises.«
Immer wenn er so was sagte, suchte ich nach einem ironischen Bruch in seinen Gesichtszügen. Den gab es aber nicht. Tai hatte das absolute Pokerface. Und trotzdem glaubte ich ihm nicht. Immerhin lebten wir in Deutschland, da galten Gesetze, und außerdem liebte er es, mir Angst einzujagen.
Na was ist? Kommst du jetzt?
Ich gab mir einen Ruck.
Du spinnst. Wo soll ich hin?
*
Ich ließ, so leise es ging, die Tür ins Schloss fallen, knüpperte mir Musik ans Ohr und schoss auf meinem Fahrrad durch die sternenklare Nacht. Mama hatte nichts gemerkt.
Tschaikowski: Trio a-Moll, op 50.
Ein herrliches Gefühl von Freiheit überkam mich, das ich nicht oft spürte. Ich fühlte mich sonst so eingekesselt in meinem Leben. Ich hasste die Schule, und trotzdem machte sie mehr als die Hälfte meiner Lebenszeit aus. Früh aufstehen, zur Schule gehen, nach Hause kommen, Hausaufgaben machen, lernen, schlafen gehen und wieder von vorne.
Früher weinte ich oft, bevor ich die Kraft fand, das Haus zu verlassen. Wenn nicht ab und zu Tschaikowski da gewesen wäre, hätte ich mir sicher vor zwei Jahren das Leben genommen. Da war es am allerschlimmsten.
Ich ging auf so ein Kackgymnasium, und ich kam einfach nicht klar. In Musik hatte ich ’ne Fünf. Ich meine, das muss man sich mal vorstellen. Musik war immer mein Lieblingsfach, und dann kommt da diese Trulla von Lehrerin an und verlangt von mir, dass ich vor der ganzen Klasse Atemlos von Helene Fischer singe. Das hat doch nichts mit Musik zu tun.
Welcher Spast hat eigentlich eingeführt, dass Schüler für die Qualität ihrer Stimme, für das Malen von Bildern oder ihr Talent im Stangenklettern benotet werden? Für mich gehört dieses ganze Schulsystem gekippt.
Das fing schon in der ersten Klasse an. Da war ich noch so naiv, mich auf die Schule zu freuen. Ich interessierte mich damals für Dinosaurier und Tiefseefische. Ich habe bis zu meinem heutigen Tag in der Schule nichts über Dinosaurier oder die Tiefsee gelernt, was ich nicht schon im Vorschulalter gewusst hätte. Stattdessen diese tägliche Konfrontation mit den Gleichaltrigen.
Kinder sind scheiße. Sie wissen einfach nicht, wann man besser die Klappe zu halten hat. Ich weiß nicht, warum ich übergewichtig bin, aber ich weiß, dass es so ist, und aus irgendwelchen Gründen bin ich machtlos, etwas dagegen zu unternehmen. Aber ich muss wirklich nicht jeden Tag von neuem von irgendwelchen unmusikalischen Kotzbrocken auf gehässige Weise daran erinnert werden, dass es so ist.
Spätestens seitdem rum war, dass ich regelmäßig zum Schulpsychologen ging, war ich eh der Kloppi in der Klasse.
Meine Eltern entschieden, dass es besser wäre, die Schule zu wechseln. Lange Zeit wollte ich das nicht, fühlte mich wie ein Versager. Mittlerweile bin ich froh, dass sich meine Eltern durchgesetzt haben.
Die Idioten in der neuen Schule sind zwar immer noch in der Überzahl. Aber der Schulstoff fällt mir leichter, und außerdem gibt es Tai. Wir beide sind so was wie ’ne Variante von Dick und Doof. Die Mitschüler nennen uns »Fetti und Fidschi«. Ich schoss die Landsberger Allee mit fünfzig Sachen bergab und überfuhr alle roten Ampeln. Mein Bauch kribbelte. Tschaikowski bebte. Ich konnte fast fliegen. Tai hatte nicht die geringste Ahnung davon, dass er Hauptdarsteller meiner Adoleszenz-Fantasien war, und das musste so bleiben. Mein Übergewicht reichte aus. Mit einer weiteren Behinderung hätte ich gleich an Mamas Schule wechseln können.
*
Tai erwartete mich auf der Fischerinsel. Herr Lamprecht lag noch immer in der gleichen Position unter einer Straßenlaterne mit Blick auf die Spree.
Tai jauchzte vor Begeisterung. Er spulte in seinem Camcorder hin und her und zeigte mir die besten Szenen des Abends. Offensichtlich hatte er Herrn Lamprecht schon seit einer Weile verfolgt.
Vor der Tankstelle an der Holzmarktstraße hatte Herr Lamprecht mit ein paar Obdachlosen Brüderschaft getrunken und sie anschließend beleidigt.
»Son Lehm wie ihr möchtich auch mal führen. Keine Verandwordung, kein Schtress, keine Disssziblin. Einfach gehen lassen. Wissd ihr was ich verdiene? Scheiße viel Asche! Aber bin ich glücklich? Neeee!«
Nachdem er von den Obdachlosen vom Platz gejagt worden war, hatte er versucht, von der Mühlendammbrücke in die Spree zu pinkeln, und sich dabei völlig zugeschifft. Schließlich war er auf der Suche nach Feuer vom Weg abgekommen und hier liegen geblieben. Nun schien seit einer halben Stunde nichts Neues passiert zu sein. Herr Lamprecht lag friedlich auf dem Boden und schlief. Ich hatte den naiven Gedanken, einen Krankenwagen zu rufen.
»Du bist echt zu gut für diese Welt«, lachte Tai auf, drückte mir die Kamera in die Hand und zog Herrn Lamprecht die Hosen runter, so dass sein blanker Hintern die Nacht erhellte.
»Der Mond ist aufgegangen«, amüsierte er sich und fuhr mit seiner Kamera genüsslich über den Rektorenarsch.
Keiner mochte Herrn Lamprecht. Er war ein zynisches Sackgesicht, das gerne auf Kosten anderer seine Witzchen machte. Es gab zahlreiche Geschichten, in denen er Schüler bloßgestellt und gedemütigt hatte. Vor ein paar Monaten gab es sogar einen Prozess, der gegen ihn geführt wurde.
Melanie Heise, eine Schülerin, hatte sich das Leben genommen, weil herauskam, dass sie in ihren Deutschlehrer Herrn Lehmann verknallt war. Sie hatte ihm Liebesbriefe geschrieben, die Herr Lamprecht, als die Sache aufflog, genüsslich vor der versammelten Klasse zum Besten gab.
Ich weiß nicht, wie Herr Lehmann vor ’nem halben Jahr aussah, aber wenn er die gleiche Statur hatte wie heute, dann würde sogar ich als Sexbombe durchgehen. Das machte mir immer ein wenig Mut.
Herrn Lamprecht und der Schule konnte jedenfalls kein pädagogisches Fehlverhalten nachgewiesen werden. Was keinen Schüler daran hinderte, den Direktor hinter seinem Rücken als Mörder zu bezeichnen.
Plötzlich fuhr Leben in Herrn Lamprecht. Tai und ich sprangen in ein Gebüsch und wurden Zeuge von »Akt 2 der Tragödie«, wie Tai sich ausdrückte.
Herr Lamprecht war komplett hinüber. Ich hatte noch nie jemanden leibhaftig gesehen, der so betrunken war. In seiner tolpatschigen Hilflosigkeit wirke er regelrecht berührend. Er brauchte geschlagene zwanzig Minuten, um sich die Hosen wieder über den Hintern zu ziehen. Dann ging es mit dem Kampf gegen den Gürtel weiter.
Tai und ich hatten nach einer halben Stunde einen solchen Muskelkater vom vielen Lachen, dass wir regelrecht froh waren, als das Hosenschauspiel endlich abgeschlossen war.
Herr Lamprecht setzte sich in Bewegung. Er hatte nun ein Ziel vor Augen und schoss mit einer ordentlichen Vorlage über die Fußgängerbrücke Richtung Märkisches Ufer. Wir hinterher.
Inzwischen war auch ich vom Unterhaltungswert und Sensationspotential des Materials überzeugt. Herr Lamprecht kotzte der Deutschen Rentenversicherung vor die Eingangstür, dann führte sein Weg auf die Leipziger Straße, wo er beinahe von einem Bus erfasst worden wäre, der ihn lautstark von der Fahrbahn hupte. Kurz rutschte mir das Herz in die Hose. Tai entfuhr ein:
»Fuck! Das wär’s gewesen.«
Er war so wahnsinnig ehrgeizig in allem, was ihn interessierte. Jetzt zum Beispiel dachte Tai in jeder Sekunde an die Schneidbarkeit des Materials und hatte ein klares visuelles Konzept vor Augen. Er rannte Herrn Lamprecht voraus, um eine spektakuläre Totale mit durchwischenden Autos von der Straßenseite zu filmen. Er näherte sich ihm vorsichtig von hinten, um eine entsprechende Nahaufnahme einzufangen, drehte sogar einige unscharfe Einstellungen aus der Perspektive von Herrn Lamprecht. Es glich einem Ballett mit zwei Beteiligten. Ein eleganter Tänzer, der um einen trägen, aber unberechenbaren Mittelpunkt seine Pirouetten drehte.
Mir schoss Ravels La Valse in den Kopf. Besoffen im Dreivierteltakt. Ich dachte an eine schunkelnde Kartoffelsuppe, die sich durch einen Ballsaal bewegt und an jeder Ecke die Damen in ihren feinen Kleidern mit Bockwurstbröckchen besaut. Herr Lamprecht war die Kartoffelsuppe. Ich musste grinsen.
Dann waren wir angekommen. Herr Lamprecht schien in dem Neubau zu wohnen, den sie erst letztes Jahr in der Alten Leipziger hochgezogen hatten. Jedenfalls fummelte er erfolglos mit so was Ähnlichem wie einem Schlüssel, Tai nannte es Transponder, an der Eingangstür herum.
Für mich wäre an dieser Stelle Schluss gewesen. Doch Tai wollte Herrn Lamprecht unbedingt nach oben begleiten.
»Wir müssen doch sicherstellen, dass er gut zu Hause ankommt, oder?«
Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie wir es anstellen wollten, Herrn Lamprecht unauffällig bis zu seiner Wohnung zu folgen. Außerdem hatte ich Schiss, dass wir entdeckt werden. Wir wussten ja nicht, wer da noch alles wohnt. Hatte Herr Lamprecht Familie, die vielleicht auf ihn wartete?
Ich fand, dass wir ausreichend Material hatten, um einen anständigen YouTube-Hit zu produzieren. Doch Tai hatte schon einen Plan.
»Wer hat denn gesagt, dass wir ihm unauffällig folgen müssen?«
Was dann geschah, ging mir zu weit, und trotzdem dackelte ich wie ein treudoofes Lamm hinterher. Tais Selbstsicherheit war atemberaubend. Er gab mir den Camcorder, nahm freundlich und bestimmt Herrn Lamprecht den Schlüsselbund mit dem Transponder aus der Hand und half ihm, die Tür zu öffnen. Herr Lamprecht bedankte sich, so nüchtern er konnte, und torkelte ins Haus.
Zu meinem Entsetzen gab es einen Empfangsbereich samt Concierge. Der saß jedoch nicht an seinem Platz, sondern in einem Raum dahinter. Man hörte ihn schnarchen. Der Fernseher lief. Die Tür stand offen.
»’n Abend, du faule Sau!«, lallte Herr Lamprecht der offenen Tür entgegen. Ich starb tausend Tode, doch der Concierge blieb stumm. Tai zog eiskalt sein Programm durch.
Am Aufzug erfragte er Etage und Nummer des Appartements. Herr Lamprecht begann zu lachen. Er hatte sie vergessen. Er faselte was von »Oben. Weit oben«, fragte nach Feuer und drohte wieder einzuschlafen. Tai packte Herrn Lamprecht fest an den Armen und rüttelte ihn wach. »Wir fangen oben an und arbeiten uns in die richtige Etage vor. Sie müssen aber ein bisschen mithelfen, Herr Lamprecht!«
Dass Tai ernsthaft daran interessiert war, unseren Direktor sicher ins Bettchen zu begleiten, konnte ich mir nicht vorstellen.
Wir stiegen in der 25. Etage aus und schleppten Herrn Lamprecht durch den Hausflur. Fehlanzeige. Er erkannte keine der Wohnungstüren als die seine. Dafür ratterte etwas anderes in ihm.
»Sag mal, ich kenn euch doch«, lallte es aus ihm heraus. Mir rutschte das Herz in die Hose. Jetzt hatten wir den Salat.
»Aber ja, Herr Lamprecht. Wir gehen auf ihre Schule. Jannik Schade und Nguyen Minh Tai aus der Elften«, antwortete Tai, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
»Stimmt«, lallte der Direktor, »ihr seid nette Jungs. Nich’ so wie mein Sohn. Habt ihr ’ne Sssigaredde?«
Wir schleppten Herrn Lamprecht eine Etage tiefer und wurden fündig. Er schlug aus. Tai kramte den Transponder hervor und öffnete die Tür. Herr Lamprecht stolperte erleichtert in seine Wohnung. Mit den Worten »Trinkd ihr nochn Wein mit mir?« fiel er über die Stufe zur Wohnküche und packte sich auf die Fresse.
Offensichtlich wohnte er noch nicht lange hier. Überall standen Umzugskisten. Er schien allein zu leben.
Wir hievten ihn auf die große Ledercouch im Wohnzimmer, wo er sofort tief und fest zu schnarchen begann.
Tai sah sich in der Wohnung um und klatschte in die Hände.
»Na, das ist ja ein Ding. Weißt du, was man jetzt machen könnte?«
»Na, gar nichts! Wir hauen ab, und dann löschen wir das Material auf deiner Kamera.«
Tai zeigte mir einen Vogel und grinste. Ich wurde panisch.
»Hey, er hat uns voll erkannt!«
Tai schlenderte durch die uneingerichtete Wohnung, als wäre sie sein Eigen.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass er sich da morgen noch dran erinnert.«
Er sah durch die Panoramafenster auf das Lichtermeer der Stadt, nickte und klopfte prüfend gegen die Scheiben.
»Das ist übrigens Panzerglas.«
Ich sah ihn an wie eine Kuh, wenn’s donnert. Er genoss die Überlegenheit.
»Mein Vater hat doch ’n Reinigungsunternehmen. In den Ferien helf ich da aus. Und jetzt rat mal, welches Haus wir unter anderem bedienen?«
Tai musste nicht auf meine Antwort warten. Er wusste, dass ich es wusste.
»Genau! Dieses hier. Wir Fidschis putzen Ärschen wie Lamprecht den Hausflur. Die Wohnungen hier sind auf’m neusten Stand. Musste mal die Flyer lesen. Hundert Prozent einbruchssicher. Und jetzt stehen wir hier einfach drin und könnten alles raustragen.«
Dass Tais Papa im Reinigungsgewerbe tätig war, wusste ich nicht, wunderte mich aber auch nicht. Ich glaube, Tais Familie war in grundsätzlich jedes Geschäft verwickelt.
»Willst du ihn ausrauben, oder was?«
Tai wischte meinen Einwand aus der Luft.
Er erklärte mir, dass Luftzirkulation und Raumtemperatur in diesen Wohnungen wie in den amerikanischen Wolkenkratzern über Zu- und Abluftkanäle, Klimaanlage und Fußbodenheizung geregelt werden. Dass sich die Fenster deshalb nicht öffnen lassen, dass sie von außen blickdicht verspiegelt sind und dass die Wohnungstür einen Stahlkern besitzt, dem man selbst mit dem fettesten Schlagbohrer nichts anhaben konnte.
Er wusste, dass die gesamte Elektrik in der Wohnung, die Wasserversorgung und die Heizkreisverteiler über irgendeinen Installations-Schacht im Hausflur geregelt und die Klingel, die Gegensprechanlage und das elektronische Schließsystem über einen zentralen Computer beim Concierge angesteuert werden.
»Als Einbrecher kommst du hier nicht rein. Das Krasse aber ist, wenn du dich erst mal eingesperrt hast, kommst du auch nicht wieder raus.«
Ich sah zur Wohnungstür. Ein kurzer Schauer lief mir über den Rücken. Hatten wir uns etwa eingesperrt? Dann sah ich zu Tai, der diabolisch mit Lamprechts Schlüsselbund klapperte. Jetzt erst begriff ich.
»Du willst ihn in seiner eigenen Wohnung einsperren?«
»Wär doch mal was.«
»Warum?«
»Weil’s geht. Und weil er ’n Wichser ist. Wir jagen ihm ’n kleinen Schreck ein, und morgen Abend lassen wir ihn wieder frei. Ist doch Wochenende.«
Herr Lamprecht lag schnarchend auf der Couch. Sicher war er ein Wichser, aber …
»Wirst sehen, wir werden einen Riesenspaß haben.«
Natürlich wartete Tai nicht auf meine Antwort. Innerhalb weniger Minuten hatte er an Lamprechts Laptop eine Bluetooth-Verbindung zu seinem Smartphone eingerichtet, das Handy des Ahnungslosen aus der Hosentasche gefischt und mit einem beherzten Tritt auf den WLAN-Router Lamprechts letzten Draht zur Außenwelt gekappt.
In der Küche stand eine Art Kühlschrank, in dem Herr Lamprecht Weinflaschen lagerte. Tai suchte sich eine besonders alte Flasche Bordeaux heraus, dann pfiff er mich aus der Wohnung – »Komm Pussi, wir haben noch was vor« – und schloss den Direktor in seinen eigenen vier Wänden ein.
*
Wir fuhren auf unseren Rädern durch die Nacht. Das herrliche Gefühl von Freiheit war einem stechenden Druck auf den Brustkorb gewichen. Ich bekam kaum Luft, hörte mein Herz schlagen. Tai hatte Lamprechts Handy in die Spree geworfen, riss nun auf seinem Fahrrad ausgelassen die Arme in die Höhe und grölte.
Er verabschiedete freudvoll, wie er sich ausdrückte, den Sommer mit beinahe hysterischem Gejaule. Für mich klang das nicht nach Freude. Tai wusste genauso wie ich, dass wir Scheiße gebaut hatten. Mir wurde schlecht. Ich hielt an und kotzte in die Büsche.
Ich legte mich auf den blanken Asphalt und atmete tief und langsam in mich hinein. Ich schloss die Augen. Für einen Moment machte sich die Hoffnung in mir breit, in einem Traum gefangen zu sein. Gleich würde ich aufwachen und mit einem Schrecken davongekommen sein. Ich öffnete die Augen und sah Tai. Er lächelte mich an.
»Kleiner Jannik«, sagte er und zog mich in eine aufrechte Position. Ich war wesentlich größer und schwerer als Tai.
»Kleiner Jannik«, wiederholte er und legte mir seine kühlen Hände auf die Schläfen.
»Vertrau mir! Keinem geschieht Unrecht. Alles wird gut.«
Dann strich er mir über die Wange. Das war alles ein bisschen viel für mich. Eine Träne löste sich und kullerte mir über die Backe.
»Du bist süß«, sagte Tai und hatte ja überhaupt keine Ahnung, was er damit anrichtete. Natürlich bekam ich einen Ständer. Aber diesmal war es mir egal. Ich sah in seine großen schwarzen Kulleraugen und war glücklich, dass ich nicht träumte.
*
Tais Eltern wohnten in der Vulkanstraße in der elften Etage. Ganz in der Nähe des Dong Xuan Centers. Sie hatten ein fettes Autos, aber eine kleine Wohnung.
Tai hatte zwei bildhübsche fünfzehnjährige Schwestern. Er unterstellte mir immer, dass ich sie ficken wollte. Ich sagte dann jedes Mal, dass ich seine Oma geiler fände, woraufhin er dann mit seiner Zunge in einer imaginären Möse leckte. Das war eines von diesen verbindenden Jungsritualen, die ich gerne mitmachte, um mir selbst zu beweisen, wie sehr ich Junge war.
In Tais Wohnung duftete es zu jeder Tages- und Nachtzeit nach Jasminreis. Ein unglaublicher Geruch, der mich sofort in eine andere Welt versetzte. Als wir die Stube betraten, hingen sein Vater und ein paar andere Männer vor dem Fernseher und sahen die Übertragung eines vietnamesischen Badmintonspiels an.
Um unsere Ankunft wurde wenig Aufhebens gemacht. Tai und sein Vater warfen sich zwar ein paar kurze, borstige Satzfetzen auf Vietnamesisch zu, dann aber verschwanden wir in Tais Zimmer und wurden nicht weiter behelligt. Wenn ich daran denke, was mein Alter für ein Theater gemacht hätte, wenn ich lässig, mit ’ner Flasche Rotwein in der Hand, um zwei Uhr nachts, in Begleitung eines Kumpels nach Hause gekommen wäre … nicht auszumalen.
»Was hat er gesagt?«, fragte ich Tai.
»Wer?«
»Dein Vater.«
»Keine Ahnung, hab ihn nicht verstanden«, witzelte Tai und lachte. Ich lachte mit ihm. Auch wenn ich wusste, dass die Sache eigentlich nicht lustig war.
Neonazis hatten vor Jahren seinem Vater ein beträchtliches Stück Zunge rausgeschnitten. In der Straßenbahn, am helllichten Tag. Und niemand hatte geholfen. Tai war dabei. Er war noch sehr klein, aber er erinnert sich an jedes Detail. Wenn er davon spricht, klingt es lapidar. Aber ich weiß genau, dass es das nicht ist.
Trotzdem ist es lustig, Tais Vater sprechen zu hören. Vietnamesisch klingt schon wie ’ne Sprache vom Mars, aber mit ’ner halben Zunge klingt es so, als ob ’n Außerirdischer mit Golfball im Mund versucht, ’nen englischen Schüttelreim zu sprechen.
Wir machten es uns in Tais Zimmer gemütlich. Er warf seinen Computer an und importierte die Ausbeute der heutigen Nacht.
»Ohne Wein kann man nicht schneiden«, sagte er und holte Korkenzieher und Gläser aus der Küche.
Beim Öffnen des Weines zerbröselte ihm der Korken in hundert Einzelteile. Das war wahrscheinlich das, was Fachleute einen korkenden Wein nannten. Jedenfalls stießen wir an und kippten uns das bittere Zeug hinter die Binde.
Mit Wein, sagte mein Vater immer, ist es wie mit Sex, Zigaretten und Bier. Am Anfang ist es scheiße, aber mit der Zeit gewöhnt man sich dran. Wenn Sex tatsächlich war wie dieser Wein, dann gute Nacht. Ich hoffte auf einen fundamentalen Irrtum meines Vaters und kippte ein weiteres Glas auf ex hinterher.
Ich erzählte Tai von meiner Eingebung mit Ravel und La Valse. Keine zwei Minuten später hatte er das Stück irgendwo aus dem Netz gefischt. Es passte fantastisch zum torkelnden Rektor. Die Hosenszene wurde ein Hit. Erneut kamen wir aus dem Lachen nicht heraus.
Irgendwann fragte mich Tai, ob ich auch mal schneiden wolle. Er hatte das Glühen in meinen Augen gesehen und brachte mir die grundlegenden Shortcuts bei. Der Rest war selbsterklärend. Tai legte sich mit seinem Krümelrotwein aufs Bett und sah mir von dort aus zu.
Ich war tief beeindruckt, was aus dem Material mit Herrn Lamprecht herauszuholen war, wenn man die richtigen Bewegungen auf die entsprechenden Bögen und Schläge der Musik anpasste.
Nach zwei sehr lustigen Sequenzen, fand ich eine Stelle im Material, die mich bewegte. Herr Lamprecht hatte sich gerade die Hosen vollgepisst und saß auf der Mühlendammbrücke. Sein müder Blick ging unbestimmt in Richtung Himmel. Sein Gesicht wurde gleichmäßig von einer Laterne erhellt. Immer wieder zogen Scheinwerfer über ihn hinweg. Ich legte ein Lied aus Schumanns Dichterliebe unter die Szene: Ich hab im Traum geweinet.
Ein unendlich trauriges Lied. A cappella gesungen. Nur ganz spärlich von leisen, hämmernden Klavierschlägen begleitet.
Ich hab im Traum geweinet.
Mir träumte, du lägest im Grab.
Ich wachte auf, und die Träne
floss noch von der Wange herab.
Und plötzlich entdeckte ich es. Herrn Lamprecht floss genau an der richtigen Stelle eine Träne von der Wange herab. Wie konnte das sein? Einfach nur Zufall? Nein, das war magisch.
Mit einem Mal war mir Herr Lamprecht nah. Er war ein trauriger Mann in einer erbärmlichen Situation. Doch durch Tais Kamera und Schumanns Lied wurde etwas Erhabenes daraus. Etwas von Wahrhaftigkeit und Schönheit.
Tai war längst eingeschlafen. Friedlich lag er auf seinem Bett. Seine Lippen waren rot vom Wein.
»Du bist süß«, hatte er gesagt. In einer perfekten Welt hätte ich mich jetzt neben ihn gelegt und seine wilden, weichen Haare gestreichelt. Er hätte seine Augen geöffnet, wir hätten uns tief und sehnsüchtig angesehen und ganz instinktiv gewusst, was zu tun gewesen wäre. Aber in dieser Welt lebte ich nicht. Ich wusste nicht, wo sie war und wie sie hieß. Ab und zu gab es einen Boten aus der perfekten Welt, der mir Sonnenuntergänge an der Ostsee, Tais Haare, Grießbrei oder einen magischen Moment am Schnittplatz zusandte, einfach damit ich wusste, dass sie noch existierte. Ich hatte Sehnsucht danach. Jeden Tag, jede Stunde. Sehnsucht nach einem kurzen Kuss aus der perfekten Welt. Wahrscheinlich war es das, was uns alle am Leben hielt. Tai, Herrn Lamprecht, Mama und mich.
Es war inzwischen kurz nach fünf. Draußen wurde es heller. Ich musste mich beeilen. Ich schaltete den Computer aus, deckte Tai zu und schlich mich aus der Wohnung.
*
Rechtzeitig kehrte ich nach Hause zurück. Mama hatte von meinem nächtlichen Ausflug nichts mitbekommen. Bald schon würde sie aufwachen und zum Wochenenddienst aufbrechen. Ich legte mich, zehn Minuten bevor ihr Wecker klingelte, zurück in mein Bett.
Wenn ich die Augen schloss, war es, als ob sich ein Wirbelsturm in mir drehte. Ich konnte nichts fassen, versank in einem rauschenden Strudel aus Eindrücken und Empfindungen, fühlte ein Kribbeln von Glück unter meiner Haut und machte mir zugleich schreckliche Vorwürfe.
Dann kam mir der rettende Gedanke. Nur leider viel zu spät. Ich hätte Lamprechts Schlüsselbund mitnehmen und heimlich die Tür aufsperren sollen. Lamprecht hätte sich über den eigenen Suff geärgert, aber von allem nichts mitbekommen, und Tai wäre es letztendlich egal gewesen. Der hätte im Nu ein neues Projekt gehabt. Oh, ich hasste mich dafür, dass mir die guten Ideen immer zu spät kamen. Nie war ich schlagfertig genug, nie schnell genug.
Mama öffnete leise meine Zimmertür. Ich schloss die Augen und stellte mich tot. Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn.
»Tu ruhig so, als ob du schläfst, mein Schatz. Ich hab dich lieb. Auch wenn du dich nachts in der Gegend rumtreibst.«
Mist, verdammter! Mütter sind schlauer, als man gemeinhin denkt. Natürlich blieb ich so lange bewegungslos liegen, bis ich die Haustür ins Schloss fallen hörte. Man muss ja auch seinen Stolz bewahren.
Dann nahm ich mein Handy und schrieb eine SMS an Tai:
12 Uhr bei Lamprecht – 3. Akt der Tragödie!
Ich stellte mir den Wecker auf elf und schloss die Augen, um mich dem Strudel meiner verwirrten, pubertären Gedanken hinzugeben.
Jens Lamprecht erwachte auf seiner Couch. Die Welt drehte sich. Im Kopf wummerte Techno. Ein Quell stechenden Schmerzes ergoss sich von den Schläfen über den ganzen Körper. Irgendein pelziges Tier verweste auf seiner Zunge.
Aus schmalen Augenschlitzen erkannte Jens, dass er sich in seiner Wohnung befand. Erleichtert ließ er den Kopf sinken. Sofort geriet die Welt wieder ins Wanken.
Wie war er nach Hause gekommen? Blitze von Erinnerungen schossen ihm ins Gedächtnis. Er hatte Silke angerufen und ihr fürchterliche Beleidigungen auf die Mailbox gequatscht. Lachende Penner prosteten ihm zu. Ein entgegenkommender Bus. Das Hupen hallte in seinem Schädel nach. Wasser. Jens brauchte Wasser.
Er quälte sich in die Senkrechte, zitterte, spürte jetzt auch Schmerzen in den Rippen und den Gliedmaßen, stolperte zur Küchenzeile und ließ das Wasser aus dem Hahn direkt in seinen Mund laufen. Die Uhr an der Kaffeemaschine zeigte 12:17 Uhr.
Der halbe Badezimmerschrank kam ihm auf der Suche nach Schmerztabletten entgegen. Dann ließ er sich mit einer Kaffeekanne voll Wasser auf die Kloschüssel sinken und warf die beiden letzten Ibus ein, die er noch hatte. Schön im Sitzen pissen. Das hatte ihm Silke beigebracht. Seine Ex, die dumme Hohlbratze.
Er stank. Das wusste er. Riechen konnte er sich glücklicherweise nicht. Seine Nase war wie tot. Er strampelte sich Schuhe und Hosen vom Leib und ließ sich zurück auf die Couch fallen. Es war Samstag. Ein Stündchen Schlaf war noch drin. Nur so lange, bis die Tabletten wirkten.
Mit dem nackten Arsch an der Luft döste Jens wieder ein, ohne zu merken, dass an der Kamera seines Laptops ein winziges rotes Licht zu leuchten begann. Er war auf Sendung.
*
Knapp drei Stunden später sah die Welt schon anders aus. Der Techno im Kopf war verstummt. Jens öffnete seine Augen. Die Sonne schien freundlich in die Wohnung. Es musste bereits Nachmittag sein. Seine Erinnerung an die vergangene Nacht war zwar nicht klarer, aber sein Verstand kehrte zurück und die Schmerzen waren betäubt.
Auf dem Wohnzimmertisch lagen Kippen und Feuer. Jens zündete sich eine an und massierte zufrieden seine Eier. Er hatte eine anständige Morgenlatte. Nach durchzechten Nächten war ihm immer nach Sex zumute. Silke fand das eklig. Mit Abstand betrachtet, und den hatte er in den letzten Monaten gewonnen, konnte er nun erkennen, dass es nicht die einzige Diskrepanz zwischen ihnen war. Schade um den schönen Rücken und ihren duftenden Nacken.
Jens schob die Gedanken an seine Exfrau beiseite und holte sich auf eine erotische Fantasie mit seiner jüngeren Kollegin Claudia Giese einen runter. Dann stand er auf, ging duschen und machte sich Kaffee.
Jens suchte sein Handy. Arschloch hatte sicher schon dreimal angerufen und ihn wegen Rufmordes verklagt. Eigentlich hieß Arschloch Achim. Aber so konnte Jens ihn nicht nennen. Er hatte immerhin seine Ehe zerstört.
Er war der Neue an Silkes Seite. Leitender Jurist eines niederländischen Kinderbuchverlags. Glatzköpfig, blauäugig, fünf Jahre jünger und deutlich fetter als Jens. Aber dafür glaubte er tatsächlich an Silkes Talente als Illustratorin und hatte sie innerhalb weniger Wochen in gleich drei Buchprojekten untergebracht, was ungefähr so viel war wie in den vergangenen fünfzehn Jahren davor.
Arschloch managte auch die Trennung, und da Jens als gelernter Ossi nie auf die Idee gekommen wäre, einen Ehevertrag aufzusetzen, sollte die Hälfte von allem, was Jens in den letzten sechzehn Jahren für Silke und seinen Sohn Philipp aufgebaut hatte, als Mitgift nach Holland gehen, wohin Arschloch seine Familie nun entführte.
Aber wo war dieses verdammte Handy?
Einen Festnetzanschluss hatte Jens noch nicht. Er wohnte erst seit fünf Wochen in der neuen Bude. Überhaupt war noch nicht viel da.
Jens kramte in den Klamotten der letzten Nacht. Sein Geruchssinn kam zurück. Der beißende Duft der eingetrockneten Pisse, trieb ihm ein Zerrbild vom eigenen Lebensabend vors geistige Auge.
Er wollte niemals zu einem Pflegefall werden, das hatte er sich geschworen. Jens wollte um jeden Preis Herr seiner Sinne bleiben, der vernunftbegabte, selbständige Mensch, der er immer gewesen war. Ausgerechnet der eigene Urin erinnerte ihn an Silkes Mutter, die nun schon seit sieben Jahren in einem Heim vor sich hin verrottete. Eine Existenz, ihrer Würde beraubt.
Jens setzte eine Waschmaschine auf und ertränkte den Gedanken an die eigene Endlichkeit in Waschmittel und Weichspüler.
Hatte er sein Handy tatsächlich auf der nächtlichen Sauftour verloren?
In seiner Hosentasche hatte er ’ne halbe Packung Kippen und einen Kassenbon von der Tanke an der Holzmarktstraße gefunden, über zwölf Bier, ebendiese Packung Kippen und fünf Bacardi-Cola. Die war von 21:07 Uhr. Und schon an diesen Einkauf konnte er sich nicht mehr erinnern. Wie also hätte er rekonstruieren sollen, wohin der Durst ihn in der letzten Nacht getrieben hatte. Jens beschloss, der Tanke einen Besuch abzustatten. Vielleicht kamen Erinnerungen hoch.
Er zog sich an. Die viel interessantere Frage war, wo er seinen Schlüsselbund hingeworfen hatte. Irgendwo hier musste er liegen. Er war ja schließlich reingekommen. Oder hatte ihm einer dieser idiotischen Pförtner geholfen?
Jens konnte Menschen nicht ernst nehmen, die keinen Beitrag zum Gemeinwohl leisteten. Faulheit war ihm zuwider. Und die verfressenen Pförtner, die da im Eingangsbereich hockten und dafür bezahlt wurden, dass sie rund um die Uhr RTL II glotzten, gehörten definitiv nicht zu den Leistungsträgern, denen Jens Respekt zollte.
»Concierge« nannten sie sich. Er nannte sie Saftsack. Drei von ihnen konnte er mittlerweile auseinanderhalten. Wie viele es genau gab, wusste er nicht.
Einen Vorteil hatte die Sache mit den Pförtnern aber. Probleme durch den Verlust eines Transponders konnten sofort gelöst werden. Jens würde zu einem der Saftsäcke gehen, der würde seinem Appartement einen anderen Code zuweisen und ihm einen neuen Transponder programmieren. Schon war der alte nur noch für die Tonne gut.
Ein größeres Problem stellte der Rest des Schlüsselbundes dar. Da hing der Generalschlüssel für die Schule dran. Aber eins nach dem anderen, dachte Jens, nahm die Türklinke in die Hand und staunte nicht schlecht.
Die Wohnungstür war abgeschlossen. Jens lachte auf.
»Ja, was is’ das denn für’n Quatsch.«
Er drückte die Concierge-Taste an der Gegensprechanlage, dann erst fiel ihm das graue Display auf. Die Anlage war tot, kaputt. Was für ein dämlicher Zeitpunkt für einen Defekt. Er dachte nach. Im Suff Schlüssel und Handy verlieren, gut. Kann passieren. Aber wie war er ohne Transponder in sein Appartement gekommen? Dafür gab es eigentlich nur eine logische Erklärung, der Schlüsselbund musste noch da sein. Irgendwo.
Jens stellte die gesamte Wohnung auf den Kopf, um seine Schlüssel zu finden. Nichts. Gar nichts.
Er setzte sich an seinen Laptop und formulierte eine Rundmail.
Liebe Kollegen,
ich bitte um Verzeihung, ich weiß, es ist Samstag, aber der Chef hat sich aus lauter Dummheit in seinem eigenen Appartement eingesperrt. Haha. Ist jemand in der Nähe der Leipziger Straße und kann mal meinen Concierge rufen? Alte Leipziger 2, App. 2405.
Wer möchte mein Freitag sein?
Gezeichnet: Robinson.
Jens schickte die Nachricht in die Welt. Wie ein Boomerang kam sie zurück.
Ihr Account scheint aufgrund eines Netzwerkproblems offline zu sein.
Jens fluchte über den Anbieter und erhob sich. Dann fand er seinen WLAN-Router zerlatscht hinter dem Vorhang seiner kleinen Abstellkammer im Flur. Langsam wurde ihm das Ausmaß seines Problems bewusst.
Was war gestern Nacht passiert?
Was ging hier vor sich?
Verstehen Sie Spaß oder was? Er fand die Sendung schon immer scheiße.
Mit einem Brotmesser fummelte er am Schloss herum. Wie albern. Er wusste, wie sicher die Tür verschlossen war. Ein paarmal schrie er aus voller Kehle: »Hilfe!« Auch das war zwecklos.
In jeder Etage gab es sechs Wohnungen. Vorn auf der Fahrstuhlseite wohnte eine Familie mit Kindern, das wusste er, und sein Nachbar zur Linken war ein gelackter Börsenfuzzi aus Schweden, der nur alle drei Wochen mit ’nem weißrussischen Stricher vorbeikam. Jens hörte weder die Kinder schreien noch den Schweden, wenn er genagelt wurde. Warum also sollte jemand ihn hören. Seine Wohnung lag hinterm Fahrstuhl. Die andere zu seiner Rechten stand leer.
Jens beruhigte sich. Er saß ein paar Stunden in der eigenen Wohnung fest. An einem Samstagnachmittag. Na und? Das war doch kein Weltuntergang. Eigentlich war es amüsant.
Er stellte sich vor sein Panoramafenster und ließ den Blick schweifen. Die Sonne stand tief. Von hier oben konnte er den Potsdamer Platz sehen, diesen sterilen Steinhaufen, dahinter den vollgeschissenen Tiergarten und sogar die hässlichen Schornsteine des Heizkraftwerks Wilmersdorf, die wie drei ausgestreckte Mittelfinger in die Höhe ragten, und rechts davon den mickrigen Funkturm, der über das verrostete ICC wachte, dieses ausrangierte Star-Trek-Raumschiff. Zu seinen Füßen lag der kitschige Gendarmenmarkt, weiter links konnte er das Tempelhofer Feld sehen, das ein gewaltiges, vergilbtes Loch ins Stadtbild fraß.
Jens konnte jedes Detail zum Kotzen finden, aber eigentlich war Berlin eine verflucht schöne Stadt. Weit und grün und vielfältig. Wie seine Schüler. Jens war ein guter Lehrer, ein hervorragender Direktor sogar, aber der beschissenste Vater, den man sich nur vorstellen konnte. Das wusste er.
Gestern Abend hatte er seinen Sohn das letzte Mal gesehen. Philipp hatte ihn angefleht, bei ihm bleiben zu dürfen. Auch er liebte diese Stadt. Er wollte nicht nach Holland. Er wollte auf keine neue Schule, nicht bei null anfangen, keine neue Sprache lernen. Er wollte seine Freunde behalten, vielleicht sogar seinen Vater. Doch statt gerührt zu sein, den Sohn in den Arm zu nehmen und für ihn zu kämpfen, hatte Jens ihn abgewiesen, mit eloquenten Argumenten, gegen die ein Fünfzehnjähriger nicht ankommen konnte.
Jens sah immer nur die Probleme. Aber warum? Hatte der Beruf ihn so gemacht? Als Direktor war er darauf trainiert, Probleme zu erkennen und zu lösen. Als Vater und Ehemann versuchte er den Problemen stets aus dem Weg zu gehen.
Silke war eine hinreißende Frau. Witzig, begabt, klug, attraktiv. Aber sie verdiente kaum Geld, mit dem was sie tat. Ihre Illustrationen verkauften sich nicht. Jens sah nur das. Und statt ihr zu helfen, nahm er sie immer weniger ernst.
Genauso wie Philipp. Sein Sohn hatte ein echtes Problem. Er verbrachte jede freie Minute am Computer, um mit der ganzen Welt Counter Strike zu spielen. Vor wenigen Monaten hatte er sich sogar zum Global Elite hochgeballert, natürlich auf Kosten seiner schulischen Leistungen, sozialen Kontakte und Papas Geldbeutel.
Philipp hätte Hilfe gebraucht, einen starken Vater. Aber Jens hatte keinen Bock auf all das. Er wollte zu Hause die Früchte seiner Arbeit genießen. Er wollte eine ausgeglichene Frau und einen artigen Sohn. Aber keine Probleme. Davon hatte er in der Schule genug. Wahrscheinlich hätte Jens seinen Hut nehmen müssen, um seine Familie zu retten. Wer vierzehn Jahre lang Chef ist, sollte ernsthaft ans Aufhören denken. Aber dieser Gedanke kam ihm nicht in den Sinn.
Sein Sohn hatte ihm gestern Abend die Quittung dafür erteilt.
»Du nennst Achim ein Arschloch. In Wirklichkeit bist du das Arschloch, Papa!«
*
Inzwischen war es Abend geworden, und an der Grundsituation hatte sich nichts geändert.
Jens saß auf der Couch und sah fern. Ein Tierarzt hatte gerade seinen rechten Arm bis zum Anschlag im Hintern einer Kuh. Es sah schmerzhaft aus. Jens fand es ekelhaft, aber er konnte nicht wegsehen. Silke liebte diese Art von Sendungen. Jens nicht.
Manchmal hatte er ihr den Gefallen getan, dann tranken sie Kaffee und sahen sich gemeinsam eine Zoo- oder Tierarzt- oder Hundepsychologen-Sendung an. Aber jetzt? Was für eine dämliche Ironie. Kaum war Silke nicht mehr da, begann er diesen Mist selber zu schauen.
Das Bild schien plötzlich unscharf zu werden, sein Atem wurde flacher, die Nase begann zu laufen. Jens brauchte einen Moment, bis er begriff, was vor sich ging. Dann spürte er eine Träne über seine Wange laufen. Er weinte.
Jens wischte sich die Feuchtigkeit aus dem Gesicht und ärgerte sich über seine Gefühle. Obwohl er noch immer den Restalkohol im Blut spürte, konnte jetzt nur ein Mouton Cadet helfen.
Jens trat vor seinen Weinhumidor. Er entschied sich für eine Flasche vom 84er-Jahrgang. Der war zwar im Vergleich einer der schwächeren, aber für einen 88er oder 89er war der selbstmitleidige Anlass nicht angemessen genug.
Er goss sich den tiefroten, fast öligen Bordeaux in ein großes, bauchiges Glas. Der erdig ledrige Duft von Beeren und Kirschkonfitüre erfüllte den Raum.
Jens trank einen winzigen Schluck. Der gute Tropfen schmolz direkt auf seiner Zunge. Dann muhte die Kuh im Fernsehen.
Jens fragte sich, ob Arschloch auch gerade derselben Kuh in den Hintern glotzen musste. Wahrscheinlich saß er mit Silke im schicken neuen Schlafzimmer seiner Rotterdammer Bumsbude, nackt, sabbernd, mit einem Ständer zwischen den fetten Schenkeln, der immer weicher wurde, je tiefer der Tierarzt in der Kuh verschwand.
Der Arzt erklärte, stöhnend vor Anstrengung, dass die Kuh aufgrund ihres empfindlichen Kreislaufs die Vollnarkose nicht verträgt und jeden Eingriff, sei er auch noch so schmerzhaft, im Stehen und bei örtlicher Betäubung ertragen muss.
Die Kuh stand fixiert in einem engen Käfig und ließ sich die Schmerzen nicht anmerken. Jens fühlte sich ihr nah. Er musste auch immer stehen: Vorstehen, durchstehen, ausstehen, überstehen, aufstehen, widerstehen und immerzu verstehen. Dabei war ihm oft genug nach Liegen zumute.
Gerade wollte er sich langsam auf die Couch sinken lassen, da gab sein Laptop ein kurzes, quakendes Geräusch von sich. Jens war wach. Er starrte auf das Fenster, das auf seinem Laptop aufgeploppt war.
C80_412 hat Ihnen eine Datei geschickt. Wollen Sie die Datei öffnen?
Jens zögerte. Wer war das? Wie konnte das sein? Er war nicht im Netz. Dann öffnete er die Datei. Es war ein abfotografiertes Bildschirmfoto, und es trieb ihm einen kalten Schauer über den Rücken.
Er sah sich selbst vor dem Fernseher sitzen. Daneben ein Kommentar.
Du bist langweilig, Arschloch.
Vor Schreck klappte Jens den Laptop zu. Die Kuh im Fernsehen gebar ein glibbriges, totes Kalb. Jens schaltete ab. Stille.
Er atmete schwer, sah sich in seiner Wohnung um. Das Foto war mit der Kamera seines eigenen Laptops gemacht worden. Gab es weitere Kameras? Wie lange wurde er schon beobachtet?
Für einen kurzen Moment spürte Jens Erleichterung, dass es für das Verschwinden von Handy und Schlüsselbund eine logische Erklärung gab. Dann aber wurde ihm die Tragweite bewusst: Jemand hielt ihn gefangen. In seiner eigenen Wohnung.
Aber wer? Und wo saß der Täter?
Jens kombinierte. Der Täter hatte Zugriff auf seinen Laptop. Die Internetverbindung war gekappt. Es musste also eine andere kabellose Verbindung geben. Bluetooth.
Jens steckte sich eine Zigarette an und klappte den Laptop wieder auf. In der Menüleiste klickte er auf das Bluetooth-Symbol. Eine graue Liste aller Geräte erschien, die über Bluetooth mit seinem Laptop verbunden werden konnten. Und tatsächlich. An fünfter Stelle stand C80_412.
Jens zog den Rauch tief durch die Lunge und klickte auf Verbinden. Ein kleines Rädchen drehte sich, und C80_412 färbte sich schwarz. Wenige Sekunden später leuchtete das rote Lämpchen seiner Laptopkamera auf.
Diesmal bemerkte er es. Er sah direkt hinein. Lang und eindringlich. Irgendjemand saß ihm da gegenüber. Unsichtbar, anonym, feige. Jens blies Rauch gegen die Kamera. Dann sprach er. Ruhig.
»Sie haben mich eingesperrt und die Kontrolle über meinen Computer gewonnen. Ich gratuliere Ihnen. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie mich nicht nur sehen, sondern auch hören können?«
Wie von Zauberhand setzte sich der Curser in Bewegung und öffnete Word. Eine blanke Seite erschien, darauf wurde die Antwort formuliert. Ein schlichtes korrekt.
Jens nickte.
»Schön. Das erleichtert die Kommunikation.«
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