Namen und Menschen - Erich Mühsam - E-Book

Namen und Menschen E-Book

Erich Mühsam

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Beschreibung

Erich Mühsams Erinnerungen an die Bohème und Intelligenz Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin, Paris, München und Wien. Zum Freundeskreis des berühmten Revoluzzers zählten Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle wie Else Lasker-Schüler, Joachim Ringelnatz, Frank Wedekind, Edvard Munch, Karl Kraus, Peter Hille, Fanny zu Reventlow, Peter Altenberg, Roda Roda. Sie alle lässt Mühsam in seinen unpolitischen Erinnerungen aufleben in warmherzigen Portäts und unterhaltsamen Anekdoten.

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LUNATA

Namen und Menschen

Unpolitische Erinnerungen

Erich Mühsam

Namen und Menschen

Unpolitische Erinnerungen

© 1949 Erich Mühsam

© Lunata Berlin 2021

ISBN: 9783752873276

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand, Norderstedt

Inhalt

Soll man Memoiren schreiben?

Latente Talente

Bohème

Namen und Menschen

Friedrichshagen

Junge Generation

Die zehnte Muse

Scheerbartiana

Allerlei Begegnungen

Wanderjahre

Berliner Nachlese

Schwabing

Wiener Episode

Pariser Eindrücke

Die Gäste der Kathi Kobus

Die Gräfin

Die »Torggelstube«

Brutstätten der Münchener Kultur

Theaterstadt München

Rummelplätze des Geistes

Bierulk mit Bedeutung

Münchener Fasching

Der gute Richter

Frank Wedekinds letzte Jahre

Rückblick – Ausblick

Soll man Memoiren schreiben?

Was, zum Teufel, gehen eigentlich andere Leute meine Erlebnisse an?! Du hast, sagen meine Freunde, mehr erlebt als die meisten; du solltest, wo du jetzt an die Fünfzig herankommst, deine Memoiren schreiben.

Mehr erlebt? Niemand erlebt mehr als ein anderer; jeder erlebt im Maße der Zeit, und dieses Maß hat nur eine Eichung, faßt nicht verschiedene Mengen. Ich habe nicht mehr erlebt als die meisten. Ich habe erlebt wie alle Menschen meines Alters: vom Morgen zum Abend und vom Abend zum Morgen, im Wachen und im Schlafen, im Gehen, Stehen und Sitzen, im Arbeiten und im Träumen, im Spiel, in der Liebe und im Kampf. Ich habe anderes erlebt als die meisten – das wird wohl wahr sein. Kommt es darauf viel an? Etwas vielleicht. Es kommt an auf die Intensität des Erlebens, auf die Beteiligung von Geist und Seele am äußeren Geschehen, auf Impuls und Heftigkeit der Mitwirkung an Leben und Erlebnis. Es kann aber nicht Sache des Memoirenschreibers sein, zu bestimmen, mit wieviel Kraft sein seelischer Motor läuft. Über die Richtung der Erlebnisse, in die mein Temperament mich drängte, kann ich aussagen, nicht über den Grad der Wallungen, die die Erlebnisse bewirkten. Den mögen die Nekrologe post mortem ermessen an Hand der kontrollierbaren Niederschläge des Charakters, der Gedichte und Aufsätze, der Tagebücher und Briefe, der sichtbar gewordenen Einwirkung auf den Gang der öffentlichen Dinge, meinetwegen auch der Anekdoten, die nahe Freunde und gelegentliche Bekannte des Erzählers wert halten mögen. Wozu also Memoiren schreiben?

Es kann sein, daß nur derjenige anderes erlebt als die meisten, der anders erlebt als sie. Es liegt mir aber wenig, vor unbekannten Lesern Beichten abzulegen von meinen Freuden, Schmerzen, Gefühlen und Empfindungen, von der ganzen Art meines Reagierens auf die Erscheinungen meiner Umwelt – es sei denn in den selten gewordenen lyrischen Auslassungen, die aus dem Drange entstehen, sich selbst Rechenschaft zu geben, und die man drucken läßt – warum eigentlich?: aus Eitelkeit, literarischem Ehrgeiz, seelischem Exhibitionsdrang, der das Charakteristikum des Künstlers ist, oder – nun ja, weil bei genügendem Abstand vom lyrisch geformten Gegenstand das Gedicht seinem Autor auch unter dem Gesichtspunkt der pekuniären Ertragsfähigkeit interessant wird. Memoiren schreibt man gleich für andere. Daher habe ich die Frage: Was gehen andere Leute meine Erlebnisse an? besser so zu formulieren: Welche meiner Erlebnisse gehen andere Leute an? Worauf zu antworten wäre: diejenigen, die nicht meine Erlebnisse allein sind, sondern in irgendwelcher Beziehung zur Zeitgeschichte, zur Kultur und zur Kennzeichnung der Gegenwart stehen.

Es gibt noch etwas anderes zu bedenken, bevor ans Werk gegangen werden darf, rückschauend Erinnerungen zu sammeln. Memoiren schreiben heißt Inventur aufnehmen, heißt Erlebnisse registrieren, heißt einen Schlußstrich ziehen unter eine abgeschlossene Rechnung. Mir kommt es um so mehr zu, mich mit diesem Bedenken auseinanderzusetzen, als eine meiner unangenehmsten Erinnerungen, die mir bis heute als Vorwurf gegen mich selbst im Gedächtnis geblieben ist, eben mit dem Einwand gegen das Memoirenschreiben zusammenhängt, der hier zu erörtern ist. In der Einleitung des dritten Bandes seiner gesammelten Werke, die nach seinem Tode von Freunden herausgegeben wurden (bei Egon Fleischel 1907), sagt Heinrich Hart zu seinen »Literarischen Erinnerungen«:

»Als ich einige Bruchstücke dieser Erinnerungen im ›Tag‹ veröffentlicht hatte, machte ein lieber Freund die liebevolle Bemerkung: Erinnerungen pflegt man zum besten zu geben, wenn man sich am Abend seines Lebens, seine Kräfte ermatten fühlt und die produktive Epoche seines Daseins hinter sich hat. Leider werde ich wohl so boshaft sein, mit meiner Person diese Hoffnung nicht zu bestätigen, werde mich schwerlich schon jetzt vom Mitlauf und Mitringen in der großen Arena zurückziehen.«

Leider zog er sich doch recht bald nach dieser Verwahrung aus der großen Arena zurück; er starb im Juni 1906, die liebevolle Bemerkung, die er zitiert, hatte ungefähr 1904 im Magazin für Literatur gestanden, der liebe Freund aber, der sie gemacht hatte, war ich. Ich hätte sie ihm bestimmt abgebeten, wenn die Zeit ihr Gras statt über Heinrich Harts Grab über die keineswegs wichtigen Verstimmungen hätte wachsen lassen, die der Anlaß meiner Bosheit waren. Mögen denn jetzt nach mehr als zwanzig Jahren seine Manen die Abbitte entgegennehmen, die ich gern und dankbar leiste, denn Heinrich Hart war derjenige, der mich bei dem Ursprung aus dem bürgerlichen Beruf eines Apothekergehilfen ins Ungewisse dessen, was mir Freiheit schien und was sich auf dem schwanken Grunde der erwerbsmäßigen Schriftstellerei aufbauen sollte, ermutigte und förderte und mir so lange ein selbstloser und guter Berater war, bis mein Enthusiasmus für die von ihm und seinem Bruder Julius Hart begründete »Neue Gemeinschaft« verflogen war und mein rebellisches Temperament mich steinigere Wege aufsuchen ließ. Sachliche Differenzen wuchsen sich zu persönlichen aus, wobei mir Unrecht geschah, was ich sehr schwernahm. Meine Rache aber schoß in die verkehrte Ecke auf Heinrich Hart, der an den Stänkereien gegen mich, die ich damals für Intrigen und noch Ärgeres hielt, gar keinen Anteil hatte. Sollte es also dazu kommen, daß ich meine Memoiren doch schreibe, so sei das Schuldkonto gegen den ersten Mentor meines literarischen Lebensweges gleich anfangs aufgezeigt und durch ein lautes Peccavi! zu begleichen versucht. Von Heinrich und Julius Hart und von der »Neuen Gemeinschaft« wird dann noch mancherlei Friedliches zu erzählen sein.

Was ich aber als Sechsundzwanzigjähriger in Bitterkeit und um zu verletzen schrieb, hat das nicht, losgelöst von allem Persönlichen, dennoch seine volle Berechtigung? Ich finde: ja. Man kann nicht mitten »in der großen Arena« im »Mitlauf und Mitringen« einhalten, geruhsam Platz nehmen, am Bleistift lecken und jede Kurve des Wettlaufs, jeden Griff des Ringkampfs notieren, um sofort wieder in die Hände zu spucken und weiter zu starten. In der Tat habe ich Aufforderungen, ich solle Erinnerungen schreiben, aus der Buntheit und Fülle meiner Begegnungen und Abenteuer ein Buch schaffen – und solche Anregungen sind schon früher oft an mich herangetreten – noch immer mit dem Einwand abgewiesen, ich sei noch nicht fertig mit meiner Biographie, das Material sei noch nicht beisammen, ich stecke noch mitten drin im Erleben.

Selbst in der mehr als fünfeinhalbjährigen bayerischen Gefangenschaft, die mir die Muße zu solcher Arbeit viel leichter gewährt hätte als zu großen literarischen Unternehmungen anderer Art, zu denen ich dank der Behinderungen durch den Strafvollzug die Konzentration nicht fand – selbst in Niederschönenfeld konnte ich mich nicht dazu entschließen, Memoiren zu schreiben. Dazu brachte gerade dort jeder Tag zu heftige Erregungen und seelische Erschütterungen; dazu stand auch der Aufenthalt in der Festung in zu enger Verbindung mit den Vorgängen, die mich hineingebracht hatten und die immerhin den bewegtesten Teil meiner Erlebnisse ausmachen. Die Erlebnisse, die ich zu Memoiren sortieren sollte, waren noch brausende Gegenwart, die Gegenwart aber läßt sich nicht in Erinnerungen zerlegen.

Die Arena des politischen Kampfes, des Meinungskampfes, hat mich bisher nicht freigegeben, wird mich auch nie freigeben, solange nicht Ziele erreicht sind, die nicht die Ziele der Leser dieser Bekenntnisse sind. Politische Memoiren denke ich somit in absehbarer Zeit nicht zu schreiben. Vielleicht werde ich einmal im Rollstühlchen sitzen, müde, runzlig und resigniert – dann mag meinetwegen auch auf dem Gebiet des sozialen Geschehens der erzählende Schriftsteller den Agitator, Propagandisten und auf öffentliches Wirken bedachten Menschen ablösen. Die Frage erhebt sich: Läßt sich Leben und Schicksal eines in verschiedenen Bezirken geistiger Regsamkeit tätigen Individuums im Ausschnitt betrachten? Kann ich den Teil meiner Daseinsbemühungen, der um Wandlung von Welt und Gesellschaft geht, herausnehmen aus meinen Erinnerungen und Rückschau halten nur auf Begebenheiten, die außerhalb des politischen Kampfplatzes geschahen? Ich glaube, das wird möglich sein. Gerade meine Vergangenheit lief viele Jahre auf zwei getrennten Geleisen, und wenn die Schienen auch manchmal einander eng berührten oder selbst schnitten, so war ich doch streng bedacht, die Züge, deren einen ich als Passagier benutzte, deren anderm ich die Weichen zu stellen strebte, nicht aneinanderfahren zu lassen.

Ich galt ja wohl lange Zeit als »Prototyp eines Caféhausliteraten«, und doch war es für niemanden ein Geheimnis, daß ich in Arbeiterzirkeln verkehrte, mit Zettelverteilung und Hauspropaganda Kleinarbeit tat, an Gruppenabenden Vorträge und in öffentlichen Versammlungen Agitationsreden hielt. Ich stand als Angeklagter in politischen Prozessen vor dem Strafrichter, und jeder wußte, daß ich im Privatleben unter Künstlern zigeunerte, in Kabaretts lustige Gedichte, Schüttelreime und allerlei Bosheiten vortrug, mich in Berlin, München, Zürich, Genf, Florenz, Paris, Wien herumtrieb, in fidelen Ateliers, ein Mädel auf dem Schoß, schlechte Witze riß, mit den zeitlosen Schwärmern der Bohème, wie dem prachtvollen Friedrich von Schennis, ganze Nächte durch zechte und mit vielen berühmten Leuten, die ich – nicht immer bloß für mich – anpumpte, befreundet war.

»Sie reiten stehend auf zwei Gäulen«, sagte mir einmal Frank Wedekind, »die nach verschiedenen Richtungen streben; sie werden Ihnen die Beine auseinanderreißen.« – »Wenn ich einen laufen lasse«, erwiderte ich, «verliere ich die Balance und breche mir das Genick.«

Heute stimmt das Bild nicht mehr. Krieg, Revolution, Gefängnis, nahes Mitleben schwerer Schicksale, tiefgehende Veränderungen der Umwelt, daneben auch wohl das Nachlassen der physischen Elastizität, wachsende Neigung zur Regelmäßigkeit und die Schaffung eines eigenen Hausstandes haben meinem Lebensritt das Zirkusmäßige abgewöhnt.

Wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, sitze ich nun fest im Sattel, wenn auch gerade auf dem Pferd, von dem Wedekind mich gern befreit gesehen hätte; das andere, das geflügelte, führe ich neben mir an der Trense und lasse mich nur in Feierstunden von ihm tragen. Ihr Futter aber erhalten beide aus derselben Krippe.

Ich blicke zurück. Hinter mir liegt das Caféhaus, die Bohème, der ungefegte Ballsaal des sorglosen Lebensspiels: Erinnerung – schöne, frohe, liebenswerte Erinnerung; aber keine Sehnsucht nach dem Vergangenen; keine Spur eines Zurückverlangens nach jenen Freuden und Gefahren des Zigeunertums. Das ist vorbei; das liegt hinter mir – endgültig. So wäre denn wohl nichts mehr dagegen einzuwenden, in diesem Teil meiner Vergangenheit, von dem der Gegenwart kaum etwas mehr gehört, zu graben. Ein paar hübsche Anekdoten werden dabei jedenfalls zutage kommen, ein paar Lichter werden auf die Charakterbilder von Menschen fallen, die ihrer Zeit von ihrem Geiste gaben; ein paar Persönlichkeiten, zu Unrecht vergessen oder verkannt, werden aus dem Schatten gehoben werden. Vielleicht lohnt es wirklich, im Gedächtnis zu wühlen und einige Kleinigkeiten zusammenzutragen, von denen dies und jenes späterhin einmal einem fleißigen Seminaristen als Beitrag zu seiner literarhistorischen Doktordissertation dienen mag.

Unpolitische Erinnerungen eines politischen Menschen! Aber warum soll ein Ackerbauer nicht, ehe das Korn schnittreif ist, die Blumen holen aus seinem herbstelnden Garten? Die Arbeit auf dem Felde wird darum doch getan.

Ich soll Memoiren schreiben? Ich werde euch, meine Freunde, hin und wieder ein paar Blumen aus dem Garten holen. Aber ich habe, wenn auch die Fünfzig bald da sind, auf meinem Ackerfelde noch viel zu tun.

Latente Talente

Heutzutage führen in bürgerlichen Häusern verliebte Mütter sorgfältig Tagebuch über die frühen Ausstrahlungen des unverkennbaren Genies ihres Lieblings. Der arglose Besucher freut sich an der natürlichen Aufgewecktheit des spielenden Kindes und bekommt plötzlich zu Kaffee und Kuchen eine Sturzflut noch nicht dagewesener Beobachtungen, Randbemerkungen, kritischer Betrachtungen, psychologischer Finessen, dazu stoßweise Zeichnungen, Gedichte und sonstige Wunderwerke des kleinen Phänomens serviert. Man glaubt dann wirklich, den großen Philosophen, Dichter, Maler oder Reformator der künftigen Menschheit vor sich zu sehen und läßt sich erst nach genossener Gastfreundschaft auf dem Nachhausewege von dem Gedanken ernüchtern, daß, seit das Buchführen über die geistigen Emanationen der Kinder in Mode geraten ist, reichlich viele latente Genies auf den Tummelplätzen der öffentlichen Anlagen aus Sand Kuchen backen. Sicherlich wird es den Kindern selbst später ganz nützliche Dienste leisten, daß die Eltern recht zeitig beobachtet haben, in welche Richtung die Anlagen des Sprößlings streben, und da die Vorurteile gegen künstlerische Berufe bei der zur Zeit Kinder erziehenden Generation ja einigermaßen geschwunden zu sein scheinen, da andrerseits die Registrierung der kindlichen Gescheitheiten zumeist doch nur in Kreisen üblich ist, die dem Nachwuchs die freie Berufswahl leisten können, so wird dadurch manchem jungen Menschen mancher Stein aus dem Wege seiner Entwicklung geschafft sein.

Früher war das anders. Die Eltern, die ihre Kinder zu ehrengeachteten Mitgliedern der Gesellschaft heranzuziehen trachteten, worunter sie die rechtschaffene Ausübung eines solid-bürgerlichen Berufes verstanden, der nach Absolvierung einer Reihe von Studien- oder Avancementjahren seinen Mann komfortabel zu ernähren vermöchte, bewunderten zwar auch oft kluge Fragen und niedliche Antworten der Kleinen mit viel Stolz, schätzten aber die Bekundung besonderer Talente erheblich niedriger ein als artiges Betragen und ließen die Beschäftigung mit Bleistift oder Tuschkasten und das Fabrizieren gereimter Geburtstagswünsche als Kinderspiel neben dem Häuserbau mit Holzklötzchen und dem Aufstellen der Bleisoldatenheere gelten. Traten beim heranwachsenden Schulkind dergleichen Neigungen mit dem Fanatismus der Monomanie zutage, dann begann ein erst stiller, allmählich offener energischer Kampf dagegen. Die frühreifen Produktionen wurden ignoriert, herabsetzend kritisiert, endlich mit Unterdrückungsmaßnahmen als Extravaganzen systematisch niedergehalten. Es entstanden Konflikte, die sich oft genug zu Tragödien auswuchsen. Fast alle meine Altersgenossen, die von einem übermächtigen Drang zur Besonderheit aus den Bezirken bürgerlicher Wohlhäbigkeit und damit aus dem Zusammenhalt ihrer Gesellschaftsklasse gerissen wurden, wissen davon ein Lied zu singen.

Ich erinnere mich eines Abends im alten »Café des Westens« am Künstlertisch, der vollbesetzt war. Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Schauspieler, Musiker mit und ohne Namen saßen beisammen; da warf Ernst von Wolzogen die Frage auf, wer von uns konfliktlos und in Eintracht mit seinen Angehörigen zu seiner Lebensführung als Künstler gekommen sei. Es stellte sich heraus, daß wir allesamt, ohne eine einzige Ausnahme, Apostaten unserer Herkunft, mißratene Söhne waren.

Es wäre wahrscheinlich sehr verkehrt, nun zu meinen, Genialität bedürfe zu ihrer künstlerischen Entfaltung des Familienkrachs. Zunächst beweist die Wahl eines künstlerischen Berufs, auch wenn sie gegen noch so heftigen Widerstand der Eltern erfolgt ist, noch nichts für die Berufung zur Kunst. Es gibt arge Stümper und Kitscher, sogar fürchterliche Philister unter denen, die den Bruch mit ihrer ganzen Sippe auf sich nahmen, um zu tun, was sie nicht lassen konnten. Des weiteren aber wurzelt in zahlreichen Fällen – sehr möglich, daß hierher auch mein eigener Fall gehört! – der familiäre Konflikt weniger in der vom stürmenden Jüngling erkannten Notwendigkeit, zur Bereitung seiner der Menschheit zugedachten unsterblichen Werke ausschließlich der künstlerischen Mission zu leben, als umgekehrt in dem von den Erziehern richtig gewitterten Hang, sich aus der entsetzlichen Uniformität einer an regelmäßige Arbeitsstunden gebundenen Tätigkeit ins Künstlertum zu drücken. Der kürzlich an den Folgen eines brutalen Hakenkreuzlerüberfalls verstorbene witzige Philosoph Dr. Gregor Itelsohn erwiderte einmal einem frisch im Café gelandeten jungen Mann, der sich auf Befragen als Schriftsteller bezeichnet hatte: »Ja, so nennt man das ja wohl, wenn man für sein Nichtstun einen Namen haben will.« Gewiß ist, daß die Einbildung, ein Dichter oder Maler zu sein, den Dichter oder Maler noch nicht macht – auch dann nicht, wenn die kleinen Talentproben, über die jeder aus dem bürgerlichen Milieu Ausgesprungene verfügt, die latente Künstlerschaft zu bestätigen scheinen.

Was den Künstler ausmacht, ist, neben der angeborenen Veranlagung, Gesehenes, Erdachtes und Erlebtes zu formen: Gesinnung, Fleiß und das Streben nach einem Weltbild. Wirklich tragische und unüberwindbare Künstlerkonflikte, die grundverschieden sind von privaten Differenzen mit der Umwelt, ergeben sich fast nur aus dem Fehlen einer dieser Eigenschaften. Selbstverständlich ist besonders der Mangel an Fleiß in zahllosen Fällen begründet im Mangel an materiellen Mitteln, und ich kenne keine widerwärtigere Weisheit als die, daß Not und Entbehrung geniebefördernde Antriebsmotoren sein sollen. Übrigens habe ich, sooft er mir auch begegnet ist, den Trostspruch niemals von anderen Leuten gehört als von kunstfremden Banausen oder gehemmten Mäzenaten, deren eigener Leib zeitlebens von Not und Entbehrung verschont geblieben ist. Dagegen bedingt das Vorhandensein aller Voraussetzungen echter Künstlerschaft durchaus nicht immer die Klarheit des begnadeten Individuums über das Gebiet seines Könnens und seiner Berufung. Goethe ist mit seinem Jugendwahn, sein Genie habe ihn zum Maler bestimmt, keine Ausnahmeerscheinung. Künstler, die sich verschiedenen Musen ergeben haben, beweisen nichts für die onkelhafte Lehre, wer in mehreren Künsten brillieren wolle, könne in keiner etwas leisten; sie beweisen nur, daß Künstlerschaft im Drange zu metaphorischem Ausdruck in Erscheinung tritt, nicht in der Zufälligkeit einer formalen Begabung. Gerhart Hauptmann (den ich merkwürdigerweise persönlich nie kennengelernt habe; wir hätten wohl auch wenig miteinander anzufangen gewußt) war meines Wissens zuerst Bildhauer; die Schauspieler Friedrich Kayßler und der achtzigjährige Aloys Wohlmuth in München dichten, Albert Steinrück malt; Lovis Corinth schrieb ausgezeichnete deutsche Prosa, und Rudolf Levy, der Maler, dessen sonores Organ das Pariser »Café du Dôme« von heimatlichen Klängen erzittern läßt, schreibt Verse, an deren graziöser Laszivität der alte Aretino seine Freude gehabt hätte. Ein paar Jahre vor Kriegsausbruch besuchte ich einmal auf der Durchfahrt durch Weimar Johannes Schlaf. Da zeigte er mir Bleistiftskizzen, Federzeichnungen und Pastellbildchen aus seiner Jugendzeit, die in ihrer künstlerischen Feinheit und zarten Sorgfalt das Heranreifen eines bedeutenden Malers hätten erwarten lassen. Aus dem latenten Talent erwuchs dann aber die dichterische Kraft, die im »Frühling« und den übrigen an Walt Whitman geschulten meisterhaften lyrischen Kleinmalereien seiner Skizzen und Romane Gestalt gewann.

Was meine eigene künstlerische Laufbahn betrifft, so habe ich allerdings Zweifel darüber, wohin ich durch Neigung und Fähigkeit gehöre, niemals kennengelernt. Ich glaube, ich habe Verse gemacht, ehe ich schreiben und lesen konnte. Als Elfjähriger dichtete ich Tierfabeln, verdiente mit knapp sechzehn Jahren in der Woche drei Mark, indem ich – in ängstlicher Heimlichkeit vor Eltern und Geschwistern – für den Komiker eines Lübecker Zirkus-Varietés regelmäßig die letzten lokalen und politischen Aktualitäten in seine Couplets hineinwob, und verfaßte als Sekundaner das übliche Gymnasiasten-Drama in fünf aus je mindestens drei Vorhangszenen bestehenden Akten in fünffüßigen Jamben mit gereimten Kraftstellen und Aktschlüssen; es hieß »Jugurtha«, hielt sich in seinem Verlauf eng an Sallusts Beschreibung und ließ zuletzt den trotzigen König von Numidien auf offener Szene im Kerker verhungern. Mit siebzehn Jahren flog ich aus dem Lübecker Katharineum heraus, weil ich den Direktor und einige Lehrer in anonymen Berichten an die sozialdemokratische Zeitung bloßgestellt hatte, was die feierliche Bezeichnung »sozialistische Umtriebe« erhielt, und entfaltete, nach einjährigem Besuch des Gymnasiums in Parchim in Mecklenburg in die Vaterstadt zurückgekehrt, als Lehrling der Adler-Apotheke in Gemeinschaft mit meinem Freund, dem damaligen Unterprimaner Curt Siegfried, eine lebhafte Tätigkeit als ungenannter Artikelschreiber für sämtliche Lübecker Tageszeitungen.

Wir verlangten mehr und größere Volkslesehallen, forderten und erreichten allsonntägliche Demonstrationsvorträge im Museum an Hand der ausgestellten Gegenstände, setzten die Schaffung eines Zoologischen Gartens durch und leisteten unser Meisterstück mit der Rettung des zum Abriß bestimmten ältesten Unterbaues eines Lübecker Gebäudes, der Löwen-Apotheke. Eines Sonntagmorgens standen in fünf lübeckischen Zeitungen fünf verschiedene Artikel, die die erschrockenen Landsleute von der Absicht unterrichteten, die alte Stadt eines ihrer wertvollsten Baudenkmäler zu berauben, und zu allgemeinem Protest aufriefen. Der Freund hatte mir tags zuvor die Mitteilung gebracht, und ich setzte mich hin, schrieb meine fünf Aufsätze bis kurz vor Mitternacht, und Siegfried gelang es, in sämtlichen Redaktionen, deren jede natürlich glaubte, die erste und einzige Alarmbläserin zu sein, die Aufnahme noch in der Frühnummer durchzusetzen. Die Wirkung war erstaunlich. In zwei Tagen schon hatte sich ein Komitee zur Erhaltung des Hauses gebildet, der schon angesetzte Termin für die Abrißarbeiten wurde inhibiert; die Architekten erklärten, daß der Umbau der Apotheke bei Erhaltung des Unterbaues 25 000 Mark Mehrkosten verursachen werde, die »Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit« rief auf, die Summe durch eine Kollekte herbeizuschaffen, und in wenigen Tagen war das Geld beisammen. Alles freute sich, nur mein Lehrchef, dem dieses Mal meine Aktivität nicht verborgen geblieben war, ärgerte sich, da sich die Angelegenheit doch als schöne Reklame für die Konkurrenz-Apotheke anließ.

Meine Tätigkeit war in diesem einen Falle über das anonyme Artikelschreiben hinausgegangen. So kam es, daß ich während meiner Dienstzeit in der Apotheke den Besuch des Vorsitzenden des »Vereins zur Hebung des Fremdenverkehrs« empfing, daß der Lehrling von Senatoren und anderen Honoratioren antelephoniert wurde und sich allerlei Ungewöhnliches in der Apotheke zutrug. Unter den Konferenzen, die in der Affäre der Löwen-Apotheke mit mir und Curt Siegfried gepflogen wurden, fand eine statt, zu der uns der Vorsitzende der Gemeinnützigen Gesellschaft eingeladen hatte; das war ein Landrichter namens Neumann. Er ist später Senator und Bürgermeister von Lübeck gewesen und ist identisch mit dem im vorigen Jahre zur Berühmtheit gelangten Reichskanzlerkandidaten des Justizrates Claß.

In dieser Zeit, 1898, 1899, wurden die ersten Gedichte und Artikel auch außerhalb des heimatlichen Umkreises und mit meinem Namen gedruckt. Einer der ersten, die Aufsätze sozialkritischen Inhalts von mir veröffentlichten, war Hans Land in seiner Wochenschrift Das neue Jahrhundert; Gedichte erschienen – mir scheint, erst etwas später – in der Münchener Gesellschaft. Damals trat ich auch, immer in Verbindung mit Curt Siegfried, in persönlichen Verkehr mit dem Lübecker Journalisten- und Schriftstellerverein, und als dort einmal Maximilian Harden einen Vortrag gehalten hatte, an den sich ein geselliges Beisammensein anschloß, ließ ich meine erste Rede vom Stapel, indem ich den Gast im Namen der geistigen Jugend Lübecks begrüßte. Harden hat sich viele Jahre später noch im Gespräch mit mir an das Zusammensein mit dem Primaner und dem Apothekerlehrling erinnert.

Curt Siegfried hat leider früh geendet. Er entschloß sich, nach Absolvierung des Gymnasiums Jura zu studieren. Die Flohknackerei der Rechtswissenschaft und das studentische Treiben mißfielen ihm gleichermaßen. 1901 waren wir in Berlin viel zusammen. Für meine mehr und mehr der Arbeiterbewegung zuneigenden Interessen brachte er gar kein Verständnis auf, wie er, der um mehrere Jahre jüngere, schon mein abruptes Fortstoßen der bürgerlichen Existenzgrundlage kopfschüttelnd mißbilligt hatte. Er selbst fand jedoch, obwohl er materiell sorglos gestellt war und bei einer gütigen und verständnisvollen Mutter in allen Launen und Absonderlichkeiten einen Rückhalt hatte, überhaupt keine Basis im Leben. Höchstes künstlerisches Verlangen setzte sich um in bare genießerische Rezeptivität. Was irgend an moderner Literatur zu erreichen war, fraß er förmlich in sich hinein, blieb endlich bei Oscar Wilde hängen und gefiel sich in der Rolle eines Dorian Gray. Er kleidete sich in übertriebene Eleganz, trug stets eine große Chrysantheme im Knopfloch und gab sich müde und blasiert. Den letzten Versuch, in neuer Umgebung die Beziehung zum Leben und zu seinem Studium wiederzufinden, machte er in München; vergeblich. Eines Tages, im Juli 1903, kam unser gemeinsamer Schulfreund, Gustav Radbruch, der spätere Reichsjustizminister, damals Referendar, zu mir und brachte mir die Mitteilung, daß sich Siegfried in München erschossen habe. Schmerz um seinen Tod habe ich erst in nachträglicher Reflexion empfunden, obgleich ich an diesem Freunde sehr hing. Im ersten Augenblick sagte ich nur: »Es war wohl für ihn das richtigste.«

Curt Siegfried – das war für mich immer ein Schulfall des künstlerischen Menschen, bei dem es zur Künstlerschaft nicht reicht. Es fehlte die Leidenschaft einer gefügten Gesinnung, von der allein das Streben nach einem Weltbild kommen kann. Eine genialische Natur verlor sich in Resignation und Ästhetizismus. Dennoch. Ich danke ihm viel, seiner Freundschaft und seiner oft verblüffend scharfsinnigen Kritik, die um so wertvoller war, weil sie aus reinem und neidlosem Herzen kam. Hier unterschied sich Siegfried von andern verhinderten Künstlern, von den latenten Talenten, denen es am Wichtigsten gebricht, wenn schon sonst die Bedingungen zum Künstlertum gegeben sind – an Fleiß. Das ist ein Mangel, der die trüben Eigenschaften im Charakter hochtreibt, am meisten den Neid. Laßt ein Theater ein Stück, einen Verleger ein Buch annehmen, laßt womöglich den materiellen Erfolg der Arbeit eines Caféhauskumpanen sichtbar werden – es bleibt kein heiler Faden an dem Autor und seinem Werk. Nur wirkliche Künstler wissen auch zu loben und sich mit andern zu freuen. Als die Latenten einmal wieder herfielen über einen Akuten, fragte Dr. Itelsohn: »Haben Sie eigentlich schon mal darüber nachgedacht, warum Ihre Dramen und Ihre Romane keinen Erfolg haben? – Das liegt nur daran, daß Sie sie gar nicht geschrieben haben!«

Es ist zu loben, daß heutzutage liebende Mütter die Klugheiten ihrer Kleinen in Tagebüchern niederlegen. Aber es ist nicht sicher, ob die versprochenen Schöpfungen der Genies jemals entstehen werden.

Bohème

Vor zwanzig Jahren wurde schrecklich viel über den Begriff der Bohème und des Bohemiens orakelt, und ich gehörte zu denen, die sich gelegentlich in Zeitschriften um die Klärung des wichtigen Problems bemühten, ob ein Bohemien als Produkt sozialer Gegebenheiten oder als ahasverischer Menschentypus anzusehen sei, wie er, unabhängig von Zeit und Umwelt, aus dem Zwang individueller Eigenschaften entsteht. In einem Artikel, den Karl Kraus 1906 in seiner Fackel druckte, habe ich mich, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, im Sinne der Auffassung ausgesprochen, daß Bohème die gesellschaftliche Absonderung künstlerischer Naturen sei, denen die Bindung an Konventionen und die Einfügung in allgemeine Normen der Moral und der öffentlichen Ordnung nicht entspreche. Wogegen ich besonders polemisierte, war die neckische Leutseligkeit, mit der die Verehrer des »munteren Künstlervölkchens« einen Taler springen ließen, um irgendwo ein gereimtes Dankeschön zu erwischen oder sich im Kreise von Malern, Dichtern und hübschen Modellen angenehm und ein wenig sündhaft unterhalten zu lassen.

Meine eigene Lebensführung entsprach so wenig den Anforderungen grundsatzfester Zeitgenossen an geregelte Ausgeglichenheit, daß das Bestreben, mich doch wie jeden Menschen irgendwo einzuordnen, nur durch die Etikettierung als Bohemien erreicht werden konnte. Die mit dieser Bezeichnung verbundenen Assoziationen werden gemeinhin von Murgers Zigeunerleben und Puccinis Oper hergeleitet, wo materielle Kalamitäten so lange mit leichtsinnigen Scherzen verpflastert werden, bis die Kunstjünger arrivieren und die Kapitulation vor sittenstrammer Moral und staatsbürgerlicher Korrektheit vollziehen. Man braucht nur an die ganz großen Bohèmenaturen der Weltliteratur, etwa an Li Tai Pe oder François Villon, zu erinnern, um die Seichtigkeit solcher Vorstellungen zu zeigen. Ich habe gewiß viele recht vergnügte Stunden in Gesellschaft künstlerischer Menschen verlebt, und wir haben uns gewiß, wenn kein Geld da war, mit allerlei gewagten Mitteln zu helfen gesucht, weniger, um uns zu amüsieren, als um in häufig schlimmster Not unsere Kameradenpflicht zu erfüllen, aber daß das sozusagen organisierte Bummeln den Lebensinhalt geistig bewegter Persönlichkeiten ausgemacht hätte, dafür habe ich kein Beispiel gefunden. Weder Armut noch Unstetigkeit ist entscheidendes Kriterium für die Bohème, sondern Freiheitsdrang, der den Mut findet, gesellschaftliche Bindungen zu durchbrechen und sich die Lebensformen zu schaffen, die der eigenen inneren Entwicklung die geringsten Widerstände entgegensetzen.

Stimmt die Definition, dann habe ich nichts gegen meine Charakterisierung als Bohemien einzuwenden, dann ist aber auch klar, daß Bohème angeborene Eigenschaft von Menschen ist, die sich dadurch nicht ändert, daß der Freiheitswille nicht auf die Führung des eigenen Lebens in größtmöglicher Ungebundenheit beschränkt bleibt, sondern sich in Arbeit für die soziale Befreiung aller umsetzt. Bewußt oder geahnt – der Rebellentrotz der Fronde war bei all den Bohèmenaturen lebendig, die nur je meinen Weg gekreuzt haben, ob sie sich aus dumpfen Proletarierkreisen, aus bigottischer Kleinbürgeratmosphäre, aus behütetem Bürgerwohlstand oder aus dem Museumsstaub adliger Herrenschlösser zur Freiheit der Künste und zur Geselligkeit auf sich selbst gestellter Menschen geflüchtet hatten. Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen und will in diesem Zusammenhange, der Beschränkung meines Themas wegen, keine Vermutung begründen, warum die Bohème von heute so gut wie völlig unsichtbar ist; denn die Meinungsbörse im »Romanischen Café« wird im Ernst wohl niemand als den Sammelplatz freier Geister, aus Protest Entwurzelter und freiwillig Abseitiger ansehen, der das alte »Café des Westens«, das Münchener »Café Stefanie«, das »Café du Dôme« in Paris und das »Café Landolt« in Genf gekannt hat, wenn auch der Schatten der einstigen Bohème in der Gestalt meines lieben alten John Höxter aus Erwerbsgründen noch Abend für Abend, ein Gruß vergangener Kulturen, durch das Industriegebiet der Intelligenz an der Gedächtniskirche geistert.

Wer sonst noch aus der Bohèmezeit der »Neuen Gemeinschaft«, der »Elf Scharfrichter«, des Peter-Hille-Kreises und der nächsten zehn Jahre hineinlebt ins Gewerkel und Gemächel eines Intellektuellentums, das keine Programme entwirft, sondern sich in der Anbetung vorgefundener Programme modern dünkt – der sitzt ironisch schauend und ironisch angeschaut beiseite, fremd an einem Orte, der statt der Zuflucht der Besonderheit das Büro für originelle Effekte zu sein scheint. Ich meide, seit ich mir meine Gesellschaft wieder selber aussuchen darf, ängstlich jedes Literatencafé; ehemals suchte ich es auf, um zwischen dichterischer Arbeit und werbendem Eifer für eine Idee den Geist mit der spielerischen Akrobatik von Witz, Aperçu, Abstraktion, Kritik und schlagfertiger Bosheit elastisch zu halten, ihn mit anderen Gedanken zu beschäftigen und zu kneten, als der ernste Teil des Tages von ihm verlangte, heute, kommt mir vor, ist das Foyer zur Szene geworden, das Café zur Brutstätte eines katechisierten Radikalismus, dem es an jeder schöpferischen Radikalität gebricht. Sehe ich in dieser Umgebung wertvolle Überbleibsel der alten Bohème, wie S. Friedländer-Mynona, Lotte Pritzel, Max Herrmann-Neisse oder die geniale, ihrer ungebändigten Eruptivität halber spießerhaft belächelte Else Lasker-Schüler, wahrhaftig: so finde ich Zurückgebliebenheit und Vergreisung nicht bei ihnen und Zukunft und Erneuerung nicht bei denen, die durch ihre Hornbrillen auf ihre Antiquiertheit herabschauen.

Die Absicht, die Erinnerung an Vergangenes zu wecken, hat mich wieder zu Vergleichen mit Gegenwärtigem verführt, und nun frage ich mich besorgt, ob denn die Resultate all dieser Vergleichungen stimmen können, ob man mich nicht selbst mit Grund für zu senil halten wird, um die Wirklichkeit von heute mit der von vorgestern vergleichen zu dürfen. Bin ich schon ein zahnloser Nörgler geworden, der, den knochigen Gichtfinger erhoben, der nachwachsenden Generation nichts Besseres zu sagen hat, als: Ja, je nun, als ich noch so jung war wie ihr – das waren ganz andere Zeiten!? Bitte: Ich kritisiere weder Neues noch Künftiges – und ich weiß mein eigenes Streben voll von Neuem und Künftigem –, ich kritisiere auch das Alte nicht, sondern freue mich, daß es gewesen ist. Aber das kritisiere ich, daß man das Gewesene nicht als Gewesenes in Ruhe läßt, daß man die Bohème, die vor einem Vierteljahrhundert lebendig war, nicht als tot anerkennt, so tot, daß man aus ihrem Moder Memoiren ziehen kann und daß man den köstlichen Wein, für den ich selber das Kristall der Zukunft zu schleifen bemüht bin, muffig werden läßt, indem man ihn in alte Schläuche füllt. Die Bohème, derer ich mich erinnere, lebt nicht mehr, und sie wird dadurch nicht lebendig, daß von solchen, die sich heute Bohème dünken, ihre Gesten kopiert werden. Der abmessende Vergleich jedoch möge sich im ferneren aus der Belebung der Vergangenheit direkt ergeben, wenn Figuren der Bohème aus dem Nebel tauchen, die keines Vorläufers Epigonen waren: Peter Hille, Paul Scheerbart, Friedrich von Schennis, Rudolf Johannes Schmied, Margarete Beutler, Franziska zu Reventlow und viele noch, von deren Freundschaft mein Leben reicher geworden ist.

Die »Neue Gemeinschaft« ließ den sprühenden Glanz ihres Heiligenscheins rasch matt werden. Weihe in Permanenz schafft Narren, Zeloten und Spekulanten. Die Wohnung in der Uhlandstraße diente uns Jungen immerhin in den weihefreien Stunden als Klubraum zur Selbstbeköstigung. Zuerst hatten Gustav Landauer und ich uns die Erlaubnis erwirkt, dort zu kochen. Mir wurde die Erlaubnis dazu allerdings von Landauer bald entzogen, und er, der damals keine Familie hatte, übernahm die Bereitung der Mahlzeiten allein, nachdem ich einmal zur Herstellung von Omeletten alle Milch- und Eiervorräte verrührt hatte, ohne daß die Eierkuchen aufhörten zu zerbröckeln; ich hatte nämlich eine falsche Tüte genommen und statt Mehl Gips erwischt. Bald fand sich als dritter Mittagsstammgast ein Blumen- und Ansichtskartenmaler, Albert Jung, ein, und als Landauer dann zur Begründung seiner zweiten Ehe mit Hedwig Lachmann nach England abreiste, etablierten etliche junge Leute eine reguläre Tischgemeinschaft, und eine Anzahl Damen der »Neuen Gemeinschaft« übernahmen je einen Wochentag, um uns mit einem regelmäßigen Mittagessen zu versorgen. Außer mir kamen als tägliche Gäste mein Freund Eduard Wetzel, ein auf Grund etlicher lyrischer Gedichte aus einem Bankgeschäft ausgesprungener Schwärmer, dessen schwarze Augen alle Frauen bezauberten (er ist jung an einer Lungenentzündung gestorben), die Architekten Rometsch und Suppes, Woldemar Hafa, ein Christ herrnhutischer Richtung, der ebenfalls früh starb, der Maler Duphorn, die Schriftsteller und Dichter Adolf Knoblauch, Dr. Hans W. Fischer (Dr. Frosch) und Otto Albert Schneider. Wir sollten bestimmte Verpflegungsbeiträge leisten, taten es aber selten und ließen uns recht gern von unseren freiwilligen Köchinnen gratis bewirten, am liebsten von der schönen, jungen Ludmilla von Rehren, die stets erlesene Speisen auf den Tisch stellte und in die wir samt und sonders verliebt waren.

Diese Tischgemeinschaft hatte mit Bohème herzlich wenig zu schaffen, sie war für die eigentlichen Zigeuner unter uns Verbürgerlichung, für die zu bürgerlichem Wandel Hinstrebenden so etwas wie Sturm und Drang, für uns alle eine Faute-de-mieux-Angelegenheit, die kennzeichnender für die Entwicklung der »Neuen Gemeinschaft« war als für uns. Die »Neue Gemeinschaft« selbst alterte mit unheimlicher Geschwindigkeit. Die Harts und einige der Gläubigsten erhielten sich ihren Optimismus, andere fanden sich bald enttäuscht. Denn aus dem Überschwang des Sternenfluges zu neuen Lebensformen wurde Gewöhnung und in Jugendstil, der dazumal revoltierend modern war, gekleidete Spießerei. Regelmäßig zweimal wöchentlich gab es Vortragsabende, bei denen manchmal ausgezeichnete Köpfe ausgezeichnete Gedanken entwickelten: Martin Buber z. B., noch sehr jung, aber schon priesterlich versonnen, sprach im modernen Geiste von altjüdischer Mystik, Dr. Magnus Hirschfeld erzählte von sexuellen Absonderlichkeiten, die beim Namen zu nennen damals noch grauenvoll verwegen schien, es gab sehr interessante und wertvolle Diskussionen – aber der Freiheitsdrang derer, die im »Orden vom wahren Leben« grundstürzende Erschütterung von Himmel und Erde fördern und feiern wollten, blieb ungestillt. Kritik schuf Verstimmung, und der Zorn der Eiferer wandte sich nicht gegen das Kritisierte, nicht dagegen, daß schöngeistige Damen sich gewöhnten, mit Häkelarbeiten dabeizusitzen, wenn Julius Hart unsere Seelen mit All-Einheit impfte, nicht dagegen, spleenige Weltreformer zu Dutzenden in der »Neuen Gemeinschaft« ihre Traktätchen zu verhökern suchten, sondern gegen uns junge Stänkerer mit dem Eigensinn des unbestechlichen Idealismus, die wir Verwirklichung forderten und die Gemeinschaft der Vereinsversimplung anklagten.