Nana - Émile Zola - E-Book

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Émile Zola

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Beschreibung

Die Geschichte einer jungen Frau aus dem Volk, die dank ihrer sexuellen Attraktivität einen Aufstieg zur kostenträchtigen Geliebten eines Grafen erlebt, durch ihren Hang zu Ausschweifungen aller Art jedoch in Niedergang, Krankheit und frühem Tod endet - einer der ganz großen Klassiker und Erfolge Zolas.

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Nana

Émile Zola

Inhaltsverzeichnis:

Emile Zola – Biografie und Bibliografie

Nana

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel.

Drittes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Siebentes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

Vierzehntes Kapitel.

Nana, Emile Zola

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN:9783849618223

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Emile Zola – Biografie und Bibliografie

Namhafter franz. Romanschriftsteller, geb. 2. April 1840 in Paris, gest. daselbst 28./29. Sept. 1902, Sohn eines italienischen Ingenieurs, der den Bau des »Kanals Zola« in der Provence leitete, aber schon 1847 in Aix starb, verbrachte seine Jugend in Aix, besuchte seit 1858 das Lycée St.-Louis in Paris und trat dann, um sich dem Buchhandel zu widmen, in das Geschäft von Hachette ein. Seine Mußestunden zu schriftstellerischen Arbeiten benutzend, schrieb er literarische und theatralische Kritiken für verschiedene Zeitungen und versuchte sich bald auch auf dem Gebiete des Romans mit: »Les mystères de Marseille« und »Le vœu d'une morte«. Mehr Beachtung als diese Werke fanden schon seine »Contes à Ninon« (1864) und die »Confession de Claude« (1865), während »Thérèse Raquin« (1867) die Richtung des Autors sowie sein Talent, die Nachtseiten der menschlichen Natur mit grausamer Wahrheit zu schildern, unzweifelhaft bekundete. Nachdem er darauf »Madeleine Férat« (1868), eine Studie über die Fatalität der ererbten Anlagen, gleichsam als Vorspiel vorausgeschickt, begann er 1869 seinen berühmten, dasselbe Thema in systematischer Weise behandelnden Romanzyklus »Les Rougon-Macquart«, den er selbst als die »psychologisch-soziale Geschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich« bezeichnet.Derselbe umfaßt 20 Bände, nämlich: »La fortune des Rougon« (1871), »La curée« (1872), »Le ventre de Paris«, »La conquête de Plassans«, »La faute de l'abbé Mouret«, »Son Excellence Eugène Rougon«, »L'Assommoir«, die Folgen der Trunksucht in Pariser Arbeiterkreisen meisterhaft schildernd und Zolas Weltruhm begründend (1876), »Une page d'amour«, »Nana« (1880), »Pot-Bouille«, »Au Bonheur des dames«, »La joie de vivre«, »Germinal«, Roman der Kohlenminen (1885), »L'Œuvre«, »La Terre«, »Le Rêve«, »La bête humaine«, »L'Argent«, »La Débâcle«, Kriegsgeschichte von 1870 (1892), und »Le Docteur Pascal« (1893).Vom »Assommoir« an erlebten alle Romane der Serie erstaunliche Auflagen, die stärksten der eben genannte (162,000 Exemplare bis 1908 verkauft), »Nana« (203,000 Exemplare), »La Terre« (150,000 Exemplare) und »La Débâcle« (224,000 Exemplare). Über den leitenden Gedanken, der durch das Werk hindurchgehen soll, spricht sich Z. in der Vorrede zum ersten Band selbst aus. Er wolle, sagt er, durch Lösung der doppelten Frage des angebornen Temperaments und der umgebenden Welt den Faden zu verfolgen suchen, der mit mathematischer Genauigkeit von einem Menschen zum andern führe. Wie die Schwerkraft, so habe auch die Erblichkeit ihre bestimmten Gesetze. Die Art, wie Z. diese Aufgabe gelöst, hat ihm ebenso heftige Angriffe wie unbegrenzte Bewunderung eingetragen und ihn jedenfalls zum Chorführer der Naturalisten gemacht. Allein er hat die Anwendung des Grundsatzes der Realisten, daß der Schriftsteller alles solle darstellen dürfen, was die menschliche Handlungsweise bestimmt, daß er es der Wahrheit schuldig sei, nichts zu verschweigen und nichts zu beschönigen, fast mit jedem neuen Gliede der Kette gesteigert. Bei der Kurtisanengeschichte »Nana« glaubte man, er sei jetzt an der äußersten Grenze des Widerwärtigen angelangt; aber man irrte sich, wie »Pot-Bouille«, »Germinal« und namentlich »La Terre« bewiesen; im »Rêve« machte der Verfasser immerhin einige Anstrengung, um eine »weiße Symphonie« für sein junges Patenkind, die Tochter seines Verlegers Charpentier, zu schreiben. 127,000 abgesetzte Exemplare zeigen, daß Z. auch ohne Naturalismen im engern Sinne des Wortes zu interessieren versteht. Der Kritiker Z., der für den »Voltaire«, den »Figaro« und den in Moskau erscheinenden »Europäischen Boten« schrieb, solange der Roman ihm nicht ein hinreichendes Auskommen bot, zeichnete sich durch Rücksichtslosigkeit gegen alle anerkannten Größen und etwas einseitige Empfehlung der eignen neuen Richtung aus. Charakteristisch genug nannte er den ersten Band seiner gesammelten Abhandlungen über lebende Schriftsteller und ihre Werke »Mes haines« (1866, neue Ausg. 1879).Die übrigen Bände sind: »Le roman expérimental« (1880), »Les romanciers naturalistes«, »Le naturalisme an theâtre«, »Nos auteurs dramatiques«, »Documents littéraires« (1881), »Une campagne« (1880–81), »Nouvelle campagne« (1896).Z. hielt sich für berufen, wie dem Roman, so auch dem Theater neue Bahnen zu weisen, drang aber damit nicht durch, ob er seine Romane allein für die Bühne zustutzte oder mit Hilfe William Busnachs dem großen Publikum abschwächende Zugeständnisse machte. »Thérèse Raquin« und »Bouton de rose«, die er ohne fremde Mitwirkung ausführen ließ, wurden ausgezischt; »L'Assommoir« hingegen, »Le ventre de Paris« und »Nana« behaupteten sich lange auf dem Theaterzettel, während »Germinal«, bei dem Z., wie er hatte verkündigen lassen, das meiste tat, nach 17 Vorstellungen einging und »Renée« (Bearbeitung der »Curée«), für die er ganz allein verantwortlich war, nicht einmal einen Achtungserfolg erzielte. Als Z. sein Hauptwerk, die Geschichte der »Rougon-Macquart«, vollendet hatte, unternahm er die Städtetrilogie: »Lourdes«, »Rome«, »Paris« (1894 bis 1898), worin ein schwärmerischer junger Priester zum Sozialisten und Freidenker wird. 1898 griff Z. durch den Artikel »J'accuse« in der »Aurore« mit Wucht in die Dreyfusaffäre ein. Er wurde deshalb als Verleumder des Kriegsgerichts, das den wahren Verräter Esterhazy freigesprochen, von den Pariser Geschwornen verurteilt, appellierte und wurde in Versailles nochmals verurteilt, entzog sich aber durch die Flucht nach England der Haft. Er kehrte 1899 nach dem Revisionsbeschluß des Kassationshofes nach Paris zurück, lebte meist auf seinem Landgut in Médan und starb in Paris im Schlafe durch Kohlenoxydvergiftung, da der Ofen seines Schlafzimmers beschädigt war. Seine Leiche wurde 4. Juni 1908 im Panthéon beigesetzt und ein großes Denkmal wird in Paris 1909 enthüllt werden. Infolge der Dreyfusaffäre nahm auch Zolas Dichtung einen politisch lehrhaften, meist optimistischen Charakter an. Er kündigte »Les quatre Evangiles« an, vollendete aber nur drei: »Fécondité« (1899), »Travail« (1901), »Vérité« (1902). »Justice« blieb Projekt. Die Artikel zur Dreyfusaffäre vereinigte der Band »La Véritéen marche« (1899). Nachdem der Komponist A. Bruneau aus »Le Rêve« eine erfolgreiche Oper (1891) gemacht, schrieb Z. eigens für ihn die Opernbücher »Messidor« (1897), »L'Ouragan« (1901) und »L'Enfant-Roi« (1905 ausgeführt), die geringern Erfolg hatten. Drei Bände »Correspondance« erschienen 1907–08. Zu dem Sammelwerk »Les Soirées de Médan« (1882), das die Namen von Céard, Hennique, Huysmans, Alexis und Maupassant vereinigte, steuerte Z. die Novelle »L'attaque du moulin« bei, aus der Bruneau ebenfalls eine Oper (1892) machte. Zolas Bildnis s. Tafel »Medaillen VI«, Fig. 6. Vgl. P. Alexis, Émile Z., notes d'un ami (Par. 1882); J. ten Brink, Emil Z. und seine Werke (deutsch, Braunschw.1887); die Schmähschrift von Ant. Laporte, Z. contre Z. (Par. 1896); Toulouse, Emile Z., enquête medico-psychologique (das. 1896); »Les personnages des Rougon-Macquart«, mit Vorrede von Ramond (1901); Vizetelly, Emile Z., novelist and reformer (Lond. 1904; deutsch, Berl. 1905); Brulat, Histoire populaire d'Émile Z (Par. 1907); Massis, Comment Émile Z. composait ses romans (das. 1906); M. G. Conrad, Émile Z. (Berl. 1906); Grand-Carteret, Z.en image (Par. 1908).

Nana

Erstes Kapitel.

Das Variététheater war um neun Uhr fast leer. Auf dem Balkon und im Orchesterraum hatten sich nur wenige Personen eingefunden, die auf ihren mit rotem Samt überzogenen Sitzen bei dem Zwielichte des herabgedrehten Gaskronleuchters kaum wahrzunehmen waren. Der Vorhang erschien im Dunkel des Saales als ein großer, roter Fleck; auf der Bühne war es noch still, die Lichter der Rampe waren noch nicht angezündet, die Pulte der Musiker standen in Unordnung durcheinander. Nur oben auf der dritten Galerie rings um die Rundung der Decke, an der nackte Frauen-und Kinderfiguren in einem von Gaslicht grün gefärbten Himmel schwebten, ertönten laute Zurufe und Gelächter; hier sah man unter den mit Goldleisten umrahmten breiten Bogenöffnungen staffelweise die mit Häubchen und Mützen bekleideten Köpfe des Galeriepublikums aneinandergereiht. Von Zeit zu Zeit erschien sehr geschäftig und die Hände voll Kartenabschnitte die Billettabnehmerin. Jetzt schob sie einen Herrn und eine Frau vor sich her, die Platz nahmen; der Herr trug einen schwarzen Rock; die Dame, schmächtig und bucklig, ließ langsam ihre Blicke im Saale umherschweifen.

In diesem Augenblicke erschienen zwei junge Leute im Orchesterraum. Sie blieben stehen und schauten sich um.

Ich sage dir's ja, Hektor, rief der ältere, ein großer, junger Mann mit schwarzem Schnurrbärtchen, daß wir zu früh kommen. Du hättest mich ganz gut meine Zigarre zu Ende rauchen lassen können.

Eine Billettabnehmerin ging vorüber.

Ach, Herr Fauchery, sagte sie vertraulich, es wird kaum vor einer halben Stunde angehen.

Warum zeigt man dann den Beginn auf neun Uhr an? brummte Hektor, dessen langes, mageres Gesicht eine verdrießliche Miene annahm. Clarisse, die in dem Stück beschäftigt ist, versicherte mir erst heute morgen wieder, daß es genau um neun Uhr beginnen werde.

Die jungen Leuten schwiegen eine Weile; sie schauten in die Höhe und suchten mit ihren Blicken das Dunkel der Logen zu durchdringen. Allein, die grünen Papiertapeten, mit denen die Logen bekleidet waren, machten diese noch dunkler. Die »Baignoires«1 im Hintergrund, unterhalb der Galerie, verschwanden in einer vollständigen Finsternis. Nur in einer der Balkonlogen war eine wohlbeleibte Dame zu sehen, die sich auf die samtbekleidete Brustwehr hinauslehnte. Die mit langfransigen Vorhängen versehenen Vorbühnenlauben rechts und links, zwischen hohen Säulen, blieben leer. Der mit Weiß und Gold verzierte Saal, dessen Grundfarbe durch ein helles Grün hervortrat, verschwamm, wie mit feinem Staub erfüllt, in dem schwachen Lichte der Flammen des großen Kristalleuchters.

Hast du die Vorbühnenlaube für Lucy bekommen? fragte Hektor.

Ja, erwiderte der andere; aber es ging nicht ohne Mühe. Lucy wird sicherlich nicht zu früh kommen.

Er unterdrückte ein leises Gähnen und fuhr nach kurzem Schweigen fort:

Du hast Glück mit der Erstaufführung, der du beiwohnst ... ›Die blonde Venus‹ wird das Ereignis des Jahres. Man spricht seit sechs Monaten von dem Stück. Oh, mein Lieber, welche Musik und welche pikante Szenen! Bordenave, der sich darauf versteht, hat das Stück für die Zeit der Ausstellung aufgehoben.

Hektor hörte aufmerksam zu. Dann fragte er:

Kennst du Nana, den neuen Stern, der die ›Venus‹ spielen wird?

Da hat man's, rief Fauchery händeringend, jetzt kommst du mir auch damit! Seit dem Morgen quält man mich mit Nana. Ich bin mehr als zwanzig Personen begegnet – und Nana hier, Nana dort ... Was weiß ich? Kenne ich alle Mädchen in Paris? ... Nana ist eine Entdeckung von Bordenave. Es muß eine saubere Person sein!

Er beruhigte sich allmählich; die Leere des Saales, das Zwielicht des Leuchters, diese Kirchenstille, nur unterbrochen durch das Flüstern von Stimmen und das Zuklappen der Türen, versetzten ihn in Aufregung.

Nein, sagte er endlich ungeduldig, ich halte es nicht länger aus; hier wird man ja alt und grau vor Langeweile, ich gehe hinaus. Vielleicht finden wir unten Bordenave; der wird uns Einzelheiten mitteilen.

Unten, in dem großen mit Marmorplatten belegten Vorraum, wo die Kassen sich befanden, begann das Publikum zu erscheinen. Durch die drei offenen Türen sah man das rege Leben auf den Boulevards, die sich in der schönen Aprilnacht strahlend und von Spaziergängern wimmelnd dahinzogen. Man hörte vor dem Theater die heranrollenden Wagen kurz anhalten, die Türen schlossen sich geräuschvoll; das Publikum kam in kleinen Gruppen, hielt vor den Kassen und stieg dann die Doppeltreppe empor, auf der die Frauen, die schönen Körper in den Hüften wiegend, länger verweilten. In diesem hellerleuchteten, kahlen Vorsaale, dem eine dürftige, im Stile des Kaiserreichs gehaltene Dekoration aus Kartonpapier das Aussehen eines Tempelhofes verlieh, waren in aufdringlicher Weise riesengroße gelbe Anschlagzettel mit dem Namen Nanas in fußhohen schwarzen Buchstaben angebracht. Einige Herren – im Vorübergehen angelockt – standen vor den Anzeigen, um sie zu lesen, und versperrten so den Weg; andere plauderten vor den Eingangstüren. Vor der Kasse stand ein dicker Mensch mit breitem, glattrasiertem Gesicht, der die Leute, die ihn um Eintrittskarten bestürmten, barsch anfuhr.

Das ist Bordenave, sagte Fauchery und stieg die Treppe hinab.

Doch der Direktor hatte ihn schon wahrgenommen.

Ach, Sie sind ein sauberer Patron, rief er ihm schon von weitem zu. So haben Sie mir einen Artikel über Nana geschrieben. Ich habe heute kaum erwarten können, den Figaro zur Hand zu bekommen; aber es steht nichts darin, kein Wort ...

Fassen Sie sich in Geduld, erwiderte Fauchery. Ich muß sie doch kennen lernen, Ihre Nana, ehe ich von ihr spreche ... Ich habe Ihnen übrigens nichts versprochen ...

Um diesem Gespräch ein Ende zu machen, stellte er dem Direktor seinen Vetter vor, Hern Hektor de la Faloise, der nach Paris gekommen war, um seine Ausbildung zu vollenden. Der Direktor maß den jungen Mann mit einem Blicke, Hektor hingegen besah sich den Mann mit großer Aufmerksamkeit. Das also war Bordenave, der große Weiberverführer, der mit ihnen wie ein Galeerensklavenwächter umging; der Mann, dessen Gehirn fortwährend über irgendeine Reklame brütet; der Mann, der jetzt schreit, spuckt, sich mit den Händen auf die Schenkel schlägt, der Zyniker mit dem Geist eines Gendarmen.

Hektor glaubte, etwas angenehmes sagen zu müssen.

Ihr Theater ... begann er mit sanfter Stimme.

Bordenave unterbrach ihn und entgegnete in dem rauhen Tone eines Mannes, der gewohnt ist, frei von der Leber weg zu reden:

Sagen Sie lieber: mein Bordell ...

Fauchery brach in ein zustimmendes Gelächter aus, während La Faloise, dem sein Kompliment in der Kehle stecken blieb, betroffen dastand und sich den Anschein zu geben suchte, als finde er die Bezeichnung des Direktors sehr treffend. Bordenave war inzwischen nach vorne geeilt, um einem Theaterkritiker die Hand zu drücken, dessen Urteile sehr einflußreich waren. Als er zurückkam, hatte sich La Faloise wieder gefaßt. Er fürchtete, als Provinzler behandelt zu werden, wenn er sich allzu empfindlich zeige.

Man hat mir erzählt, sagte er, um durchaus etwas zu sagen, Nana habe eine herrliche Stimme.

Herrlich, ja! rief der Direktor achselzuckend, die Stimme einer Klistierspritze!

Der junge Mann beeilte sich hinzuzufügen:

Aber doch eine ausgezeichnete Schauspielerin ...

Was ... Wie ein Stück Holz! Sie weiß weder mit Händen noch Füßen etwas anzufangen.

La Faloise errötete leicht. Die Sache kam ihm immer seltsamer vor; endlich stammelte er:

Um nichts in der Welt hätte ich die heutige Erstaufführung versäumt. Ich wußte, daß Ihr Theater ...

Sagen Sie: mein Bordell! wiederholte Bordenave mit der kühlen Hartnäckigkeit eines Mannes, der überzeugt ist von dem, was er sagt.

Fauchery, der indessen die eintretenden Frauen gemustert hatte, kam jetzt seinem Vetter zu Hilfe, der mit offenem Munde dastand und nicht wußte, ob er lachen oder sich ärgern sollte.

Tu doch Bordenave den Gefallen, sein Theater ein Bordell zu nennen, da es ihm Vergnügen macht. – Und Sie, mein Lieber, geben Sie uns keine Rätsel auf. Wenn Nana weder singen noch spielen kann, wird Ihre Neuheit nicht einschlagen, was ich ohnehin befürchte.

Was, nicht einschlagen? rief der Direktor, dessen Antlitz sich rötete. Hat eine Frau es nötig, singen und spielen zu können? Ach, mein Kleiner, du bist recht dumm! ... Nana hat etwas anderes ... Donnerwetter! Etwas, das alles ersetzt ... Ich habe es herausgefunden, es ist sehr stark bei ihr ausgeprägt, oder ich müßte eine schlechte Nase haben. Du wirst sehen, sie braucht nur zu erscheinen, und das ganze Haus läßt die Zunge heraushängen.

Er hatte die Hände erhoben, die vor Begeisterung zitterten; dann senkte er besänftigt die Stimme und brummte vor sich hin:

Sie wird ihren Weg machen, sie wird es weit bringen. Eine Haut! Oh, eine Haut ...

Dann gab er, von Fauchery aufgefordert, Einzelheiten über Nana, mit einer Roheit der Ausdrücke, die Hektor de La Faloise in Verlegenheit brachte. Er hatte Nana kennen gelernt, erzählte er, und wolle ihr den Weg bahnen. Er sei auf der Suche nach einer Venus für das neue Stück gewesen. Es sei nicht seine Sache, eine Frau lange auf dem Nacken zu behalten, er liebe es vielmehr, sie bald dem Publikum zu überlassen. Allein, diesmal klappte die Geschichte nicht, denn seine ganze Truppe sei durch die Ankunft dieses großen Mädchens in Aufruhr versetzt. Rosa Mignon, der erste Stern seiner Bühne, eine feine Schauspielerin und vorzügliche Sängerin, drohte fortwährend, ihn im Stiche zu lassen, denn sie witterte in dem Ankömmling eine Nebenbuhlerin und war wütend darüber. Und welcher Höllenspektakel erhob sich wegen der Anschlagzettel; er entschloß sich endlich, die Namen der beiden Schauspielerinnen in gleich großen Buchstaben auf die Anzeigen drucken zu lassen. Er sei übrigens nicht der Mann, sich von seinen Leuten viel schikanieren zu lassen. Wenn eines seiner Weibchen – wie er sie nannte – Simonne oder Clarisse nicht nach seinem Willen handele, so versetzt er ihr einen Stoß in den Hintern. Anders sei mit diesem Volk nicht auszukommen. Er wisse diese Dirnen nach ihrem wahren Wert zu schätzen, denn er treibe Handel mit ihnen.

Schau, rief er, sich unterbrechend, da sind Mignon und Steiner. Immer beisammen; Sie wissen, daß Steiner der Rosa überdrüssig geworden ist; der Gatte der Schönen ist ihm auch immer auf den Fersen, weil er fürchtet, daß er ihm durchgeht.

Die Reihe von Gaslaternen, die am Gesims des Theaters brannten, warfen einen breiten Lichtstreif auf den Gehsteig. Zwei junge Bäumchen hoben sich in frischem Grün ab; nicht weit davon stand eine weiße Säule, die so stark beleuchtet war, daß man wie am hellen Tage die daran geklebten Anzeigen lesen konnte. Darüber hinaus herrschte das nur durch die Flämmchen der Gaslaternen belebte Dunkel der Boulevards, auf denen die Menge auf und nieder wogte. Viele Herren traten nicht sofort in das Theater ein, sondern blieben plaudernd, ihre Zigarre zu Ende rauchend, unter der Gaslampe stehen, die ein fahles Licht auf sie warf und ihre kurzen, schwarzen Schatten auf dem Asphalt zeichnete. Mignon, ein großer, kräftiger Kerl mit dem vierschrötigen Kopfe eines Jahrmarktherkules, bahnte sich einen Weg durch die Gruppen, indem er den Bankier Steiner am Arme schleppte, einen kleinen, dickwanstigen Menschen mit rundem, von einem ergrauenden Barte umrahmtem Gesichte.

Nun ..., sagte Bordenave zu dem Bankier, Sie haben sie ja gestern in meinem Büro getroffen ...

Ah, die war's also! rief Steiner. Ich dachte mir's gleich; allein ich ging gerade fort, als sie kam, und hatte kaum Zeit, sie anzusehen.

Mignon hörte dieses Zwiegespräch mit zusammengezogenen Augenbrauen an und drehte dabei erregt einen großen Brillantring an seinem Finger. Er begriff, daß von Nana die Rede sei. Als er sah, daß Bordenaves Schilderung in den Augen des Bankiers Flammen entzündete, unterbrach er das Gespräch.

Lassen Sie es gut sein, mein Lieber ... Ein Gassenmensch ... Das Publikum wird ihr den Laufpaß geben ... Kommen Sie, Steinerchen, Sie wissen, daß meine Frau Sie in ihrer Ankleideloge erwartet.

Er wollte ihn fortziehen. Steiner weigerte sich, Bordenave zu verlassen. Vor ihnen drängte sich das Publikum an der Kasse; es herrschte lauter Lärm, aus dem der Name Nana in dem Wohlklang seiner kurzen zwei Silben heraustönte. Die Herren vor den Anschlagzetteln buchstabierten den Namen mit lauter Stimme; andere warfen ihn im Vorbeigehen fragend hin, während die Frauen, neugierig und lächelnd, den Namen leise und mit überraschter Miene wiederholten. Niemand kannte Nana. Woher kam diese Nana? Allerlei Geschichten wurden in Umlauf gesetzt; man flüsterte schnurrige Dinge von Ohr zu Ohr. Der Name war eine Liebkosung, ein Kosename, so traulich und einschmeichelnd, daß er bald in aller Munde war. Schon beim Klange dieses Namens war die Menge erheitert und wohlwollend. Ein Fieber der Neugierde befiel jedermann, diese Pariser Neugierde, die sich mit der Heftigkeit eines Wahnsinnsanfalls äußert. Jeder wollte Nana sehen; einer Dame wurden im Gedränge die Spitzen abgetreten, ein Herr büßte seinen Hut ein.

Sie fragen mehr, als ich beantworten kann, rief Bordenave einer Gruppe von jungen Leuten zu, die ihn mit Fragen bestürmten. Sie werden sie ja sehen ... Ich muß jetzt fort, man braucht mich. Er verschwand, entzückt, sein Publikum in Spannung versetzt zu haben.

Mignon zuckte die Achseln und erinnerte Steiner daran, daß seine Frau ihn erwarte, um ihm das Kostüm zu zeigen, das sie im ersten Akte tragen werde.

Schau, da steigt Lucy aus dem Wagen, sagte La Faloise zu Fauchery.

Es war in der Tat Lucy Stewart, eine kleine, häßliche Frau von ungefähr vierzig Jahren mit langem Halse, magerem Antlitz; dabei war sie sehr lebendig und sehr graziös, im ganzen eine anmutige Person. Sie führte Caroline Héquet und deren Mutter mit sich; Caroline war eine Frau von kühler Schönheit, ihre Mutter eine Dame mit würdiger, lebloser Miene.

Du kommst mit uns, ich habe dir einen Platz bewahrt, sagte sie zu Fauchery.

Natürlich, um nichts zu sehen, erwiderte dieser. Ich habe einen Orchestersitz, der ist mir lieber.

Lucy schien beleidigt. Durfte er sich etwa mit ihr nicht zeigen? ... Dann ging sie, plötzlich besänftigt, auf ein anderes Gespräch über.

Warum sagtest du mir nicht, daß du Nana kennst?

Nana? Ich habe sie nie gesehen.

Wirklich? Und man sagte mir, du hättest dich sogar in ihrem Schlafzimmer tüchtig umgesehen.

In diesem Augenblicke legte Mignon, der vor ihnen stand, einen Finger an die Lippen zum Zeichen, daß sie schweigen sollten. Von Lucy darüber befragt, zeigte er auf einen vorübergehenden jungen Mann und flüsterte:

Das ist der Liebhaber der Nana.

Alle blickten nach dem jungen Mann. Er war ein netter Junge. Fauchery erkannte ihn; es war Daguenet, ein Herr, der dreimalhunderttausend Franken mit den Frauen durchgebracht hatte und sich jetzt auf der Börse herumtrieb, um soviel zu erwerben, daß er ihnen von Zeit zu Zeit einen Blumenstrauß und ein Essen bezahlen konnte.

Lucy fand, daß er hübsche Augen habe.

Ah, da ist Blanche! rief sie aus. Sie war es, die mir erzählte, daß du in Nanas Schlafkammer so heimisch seiest.

Blanche de Sivry, eine große, üppige Blondine mit stark geschminktem, hübschem Gesichte, kam am Arm eines vornehmen, leutseligen Herrn.

Graf Xaver Vandeuvres, flüsterte Fauchery seinem Vetter Hektor ins Ohr.

Der Graf tauschte mit dem Journalisten einen Händedruck, während Lucy und Blanche in eine lebhafte Unterhaltung gerieten. Mit ihren Schleppkleidern – die eine in rosa, die andere in blau – versperrten sie den Weg. Sie sprachen von Nana in einem so wegwerfenden Tone, daß das Publikum aufmerksam wurde.

Graf Vandeuvres entfernte sich mit Blanche. Aber in diesem Augenblicke erscholl in allen Ecken des Vorraumes gleich einem Widerhall Nanas Name mit immer lauter werdendem Klang und durch die Erwartung gesteigerter Ungeduld.

Fängt man noch immer nicht an?

Die Herren zogen die Uhr; einige, die sich verspätet hatten, sprangen aus den Wagen, bevor diese hielten; die Gruppen räumten den Gehsteig, auf dem einzelne Spaziergänger langsam den Lichtstreif überschritten, hin und wieder einen Blick in das Theater werfend. Ein Gassenjunge, der pfeifend vorüberging, blieb vor einem Anschlagzettel stehen und rief höhnisch aus:

Aha, Nana! dann setzte er schlendernd seinen Weg fort, wobei er mit den Sohlen seiner schlechten Schuhe auf dem Straßenpflaster klapperte.

Die Umstehenden lachten.

Einige Herren ahmten dem Gassenjungen nach:

Nana! Aha, Nana!

Das Gedränge vor dem Kassenschalter wurde immer ärger; man prügelte sich. Die Stimmen riefen immer lauter nach Nana. Es war ein Ausbruch jenen rohen Sinnenrausches, der zuweilen die Massen überkommt.

Jetzt wurde das Getöse durch das Glockenzeichen des Regisseurs übertönt. Der Ruf: Es hat geklingelt! pflanzte sich von Mund zu Mund bis auf den Boulevard fort. Ein hastiges Rennen entstand. Jeder wollte hinein, die Angestellten bei den Kassen leisteten Übermenschliches. Mignon zog endlich voller Unruhe den Bankier Steiner fort, der es unterlassen hatte, Rosas Kostüme zu besichtigen. Beim ersten Glockenzeichen hatte La Faloise, seinen Freund Fauchery mit sich ziehend, sich durch die Menge geschoben und war hineingeeilt, um die einleitende Musik nicht zu versäumen. Diese Hast des Publikums verdroß Lucy Stewart. Sind das aber ungezogene Männer, meinte sie, daß sie die Frauen so stoßen. Sie blieb in Gesellschaft der Caroline Héquet und deren Mutter als letzte zurück. Der Vorraum hatte sich geleert; auf den Boulevards dauerte der Lärm des Straßenlebens fort.

Wie sie sich beeilen, brummte Lucy, die Treppe emporsteigend, als ob diese Stücke immer so heiter sind.

Fauchery und La Faloise standen wieder vor ihren Sitzen im Saale und blickten umher. Der Saal erstrahlte im Lichterglanz. Der Kristalleuchter schwamm in einem Meer von gelbem und rosenrotem Licht und erleuchtete den Saal von der Decke bis ins Parterre. Die rotsamtenen Sitze glänzten wie lackiert; die Goldverzierungen schimmerten unterhalb der etwas roh gehaltenen Malerei der Decke. Jetzt war auch die Lampenbeleuchtung in die Höhe geschraubt und verbreitete ein helles Licht über den Purpurvorhang, der in einer Pracht und Fülle niederfloß, die an ein Feenschloß erinnerten; doch stach diese Pracht seltsam von der Dürftigkeit des Rahmens ab, unter dessen abgenützter Vergoldung der Gips zu sehen war. Die Musiker waren schon an ihren Pulten und stimmten die Instrumente; die leichten Triller der Flöte, die erstickten Seufzer des Hornes, der singende Strich der Violine schwirrten durcheinander in dem Saale, der von dem immer lauter werdenden Geplauder der Zuschauer erfüllt war. Alle redeten, die Leute schoben und stießen einander, um zu ihren Plätzen zu gelangen. In den Gängen war das Gedränge so arg, daß die Türen die endlose Flut nur langsam einzulassen vermochten. Grüße wurden ausgetauscht, Kleiderstoffe rauschten, ein endloses Vorüberziehen von Frauenröcken und Haarfrisuren, hie und da untermengt mit einem schwarzen Frack oder Gehrock. Die Sitzreihen füllten sich allmählich. Da hebt sich eine lichte Toilette ab, dort neigt sich ein Haupt mit feinen Zügen, im dunklen Haar blitzt ein Juwel auf. In der Ecke einer Loge schimmert eine Frauenschulter, fein und weiß wie Seide. Damen saßen ruhig, fächelten sich in der Hitze des Saales Kühlung zu und betrachteten das Gewoge der Menge. Junge Leute standen im Orchester, die Weste weit ausgeschnitten, eine Gardenia im Knopfloche, und richteten mit den behandschuhten Händen ihre Operngläser nach allen Seiten.

Die beiden Vettern suchten nach bekannten Gesichtern. Mignon und Steiner saßen nebeneinander in einer Loge, die Arme auf die mit Samt gepolsterte Brustwehr gestützt. Blanche de Sivry schien für sich allein eine Vorbühnenloge im Parterre belegt zu haben. La Faloise fixierte hauptsächlich Daguenet, der zwei Reihen vor ihm einen Orchestersessel innehatte. Neben ihm saß ein Knabe von siebzehn Jahren, der einem Gymnasium entlaufen zu sein schien und mit seinen großen unschuldigen Augen neugierig umherblickte. Fauchery betrachtete ihn lächelnd.

Wer ist jene Dame auf dem Balkon? fragte plötzlich La Faloise. Dort ... in Gesellschaft des in Blau gekleideten Mädchens?

Er wies auf eine dicke Frau, deren Körperfülle das Mieder zu sprengen drohte; sie mochte ehemals blond gewesen sein, die Zeit hatte ihre Haare gebleicht, die sie nun gelb zu färben suchte. Das stark geschminkte Gesicht, von einer Menge kleiner Löckchen eingerahmt, zitterte in seinem schwammigen Fett.

Das ist Gaga, sagte Fauchery einfach.

Als er sah, daß dieser Name seinen Vetter zu verblüffen schien, fügte er hinzu:

Du kennst Gaga nicht? Sie war das Entzücken der Welt in der ersten Zeit der Regierung Louis Philipps. Jetzt führt sie überall ihre Tochter mit sich.

La Faloise hatte keinen Blick für das junge Mädchen. Der Anblick Gagas regte ihn auf, so daß er kein Auge mehr von ihr ließ. Er fand sie noch sehr begehrenswert, aber wagte es nicht zu sagen.

Inzwischen erhob der Kapellmeister den Taktstock und die einleitende Musik begann. Noch immer strömten Leute herein; das Geräusch und die Unordnung wollten kein Ende nehmen. Unter dem Publikum der ersten Aufführungen, welches immer dasselbe war, gab es intime Kreise, wo sich die Bekannten lächelnd wiederfanden. Ständige Theaterbesucher, den Hut gemütlich auf dem Kopfe behaltend, winkten einander Grüße zu. Paris war da, das Paris der Literatur, der Finanzen und des Vergnügens, viele Journalisten, einige Schriftsteller, Börsenleute, mehr Halbwelt als anständige Frauen: eine eigentümlich gemischte Welt, durch alle großen Geister gebildet, durch alle Laster verdorben, in der die gleichen Begierden und die gleiche Langeweile sich auf allen Gesichtern spiegelte. Fauchery, von seinem Vetter befragt, zeigte diesem die Logen der Zeitungen und der Klubs, dann nannte er ihm die Kritiker: zunächst einen mageren Herrn mit vertrocknetem Gesicht und dünnen, boshaften Lippen, dann einen dicken, gutmütigen, der sich gemächlich auf die Schultern seiner Nachbarin, einer Theater-Naiven, lehnte, die er mit seinen väterlichen und zärtlichen Blicken verschlingen zu wollen schien.

Fauchery unterbrach sich, als er sah, daß La Faloise eine Gesellschaft grüßte, die eine Loge gegenüber der Bühne besetzte.

Er schien überrascht.

Wie? fragte er, du kennst den Grafen Muffat de Beuville?

Oh, seit langer Zeit, erwiderte Hektor. Die Muffats hatten eine Besitzung in der Nachbarschaft der unsrigen. Ich komme oft in ihr Haus. Der Graf befindet sich in Gesellschaft seiner Gemahlin und seines Schwiegervaters, Marquis de Chouard.

Stolz über das Erstaunen seines Vetters verweilte er jetzt bei den Einzelheiten über diese Familie. Der Marquis sei Staatsrat, der Graf soeben zum Kammerherrn der Kaiserin ernannt worden. Fauchery hatte inzwischen sein Opernglas zur Hand genommen und betrachtete aufmerksam die Gräfin, eine üppige Brünette mit weißer Haut und schönen, schwarzen Augen.

Du wirst mich während eines Zwischenaktes vorstellen, sagte er endlich. Ich bin wohl dem Grafen schon begegnet, aber ich möchte bei den Dienstagsgesellschaften der gräflichen Familie zugezogen werden.

Von den oberen Galerien tönte ein energisches Pst! herab. Die Musik hatte begonnen, und noch immer strömte das Publikum herein. Einzelne Verspätete zwangen ganze Reihen aufzustehen; Logentüren wurden zugeschlagen, aus den Gängen tönte lautes Gezänke herein. Das Gesumme der Unterhaltung dauerte noch immer fort, es glich dem Gezwitscher einer Armee von Sperlingen zur Abendzeit. Es war ein Durcheinander, ein Gewirre von Köpfen und Armen in Bewegung: die einen saßen und suchten es sich bequem zu machen, die anderen zogen es vor, die Musterung des Saales stehend fortzusetzen. Aus dem rückwärtigen, dunkleren Teile des Saales ertönten heftige Rufe: Niedersetzen! Niedersetzen! Ein Beben ging durch die Anwesenden: endlich wird man diese vielberühmte Nana zu Gesichte bekommen, die seit acht Tagen ganz Paris beschäftigte.

Das Gespräch war allmählich leiser geworden; nur einzelne laute Stimmen ließen sich noch vernehmen. Inmitten dieses erstickten Gemurmels ertönten jetzt die lebhaften, kurzen Töne eines lustigen Walzers, dessen kecke, einschmeichelnde Melodie das Publikum sofort heiter stimmte.

Die Leute in den ersten Bänken klatschten und trommelten; der Vorhang ging in die Höhe.

Schau, sagte La Faloise, bei Lucy befindet sich ein Herr.

Er blickte nach der Loge Lucys, die mit Caroline den vorderen Raum einnahm, während im Hintergrunde das würdige Antlitz der Mama Carolinens und das Profil eines großen jungen Mannes mit hübschem, blondem Haar in tadelloser Kleidung zu sehen waren.

Schau doch, wiederholte La Faloise ungeduldig, es ist ein Herr in der Loge.

Fauchery entschloß sich endlich, das Opernglas zur Hand zu nehmen und hinüber zu blicken, doch wandte er sich gleich wieder um.

Es ist Labordette, sagte er in sorglosem Ton, als ob jedermann die Anwesenheit dieses Herrn natürlich und ohne Bedeutung finden müsse.

Hinter ihnen rief man: Still! sie mußten schweigen. Der Saal war jetzt ruhig und unbeweglich geworden; lange Reihen von aufrechten und aufmerksamen Köpfen erfüllten den ganzen Raum vom Orchester bis zur Galerie. Der erste Akt des Stückes »Die blonde Venus« spielte im Olymp, einem Olymp aus Kartonpapier, die Kulissen stellten Wolken vor, rechts stand Jupiters Thron. Auf der Szene erschienen Iris und Ganymed, die – unterstützt von einer Schar himmlischer Diener, die einen Chor sangen – die Sitze für den Rat der Götter in Ordnung brachten. Der Beifall brach von neuem los, das Publikum aber verhielt sich noch ruhig und abwartend. Nur La Faloise applaudierte Clarisse Besnus, eine von den Dämchen des Bordenave, welche die Iris darstellte, bekleidet mit einem zartblauen Kostüm und einer großen siebenfarbigen Schärpe, die an der Taile durch eine Schleife festgehalten wurde.

Du weißt, daß sie das Hemd ausziehen muß, um dieses Kostüm anzulegen, sagte La Faloise zu Fauchery so laut, daß es die Umgebung hören mußte.

Wir haben die Geschichte heute Morgen probiert ... Man sah das Hemd unter den Armen und im Rücken.

Ein leises Beben ging durch den Saal. Rosa Mignon als Diana trat auf. Obgleich weder ihre Gestalt, noch ihr Gesicht für diese Rolle paßte – ein Gesicht, schwarz und mager, von der liebenswürdigen Häßlichkeit eines Gassenjungen – war ihre Erscheinung doch reizend, gleichsam ein Scherz über ihre Rolle. Ihr Auftrittslied – von einer Blödigkeit des Textes zum Totlachen –, in der sie über Mars wehklagte, der sie vernachlässige, um der Venus nachzulaufen, sang sie mit keuscher Zurückhaltung, wobei sie eine Fülle von pikanten Zweideutigkeiten zum besten gab, die das Publikum in Eregung brachten. Ihr Gatte und Steiner, die neben einander saßen, lachten wohlgefällig. Das ganze Theater brach in Gelächter aus, als Prullière, dieser beliebte Schauspieler, als Mars in der Generalsuniform mit einem riesigen Federhut erschien und einem Schleppsäbel, der ihm bis an die Schultern reichte.

Er sei Dianens überdrüssig, meinte er, sie tue zu spröde.

Diana ihrerseits schwor, ihm aufzupassen und sich zu rächen.

Das Duett schloß mit einer lustigen Tyrolienne, in die Prullière mit der drolligen Stimme eines grimmigen Katers einfiel.

Er trug die belustigende Geckenhaftigkeit eines ersten Liebhabers bei einem galanten Abenteuer zur Schau und rollte prahlerisch die Augen, daß die Frauen in den Logen darüber in lautes Gelächter ausbrachen.

Jetzt wurde das Publikum wieder kühler, man fand die folgenden Szenen langweilig. Nur der alte Bosc in der Rolle des schwachsinnigen Jupiter mit einer ungeheuren Krone auf dem Kopfe erheiterte einen Augenblick die Zuhörer durch einen häuslichen Streit, in der er mit Frau Juno wegen der Küchenrechnung geraten war. Dann folgte ein Aufmarsch der Götter: Neptun, Pluto, Minerva, und die anderen zogen vorüber. Dies hätte fast das ganze Stück zu Fall gebracht, denn das Publikum wurde ungeduldig; das Gemurmel im Saale wurde immer lauter; die Zuschauer verloren das Interesse und blickten zerstreut umher. Lucy lachte mit Labordette; der Graf Vandeuvres steckte den Kopf hinter den starken Schultern Blanches hervor. Fauchery blickte mit einem Auge nach den Muffats; der Graf war sehr ernst, als ob er nichts begriffen habe; die Gräfin lächelte und blickte träumerisch drein. Doch mitten in diesem Unbehagen brach plötzlich der Beifall mit der Regelmäßigkeit eines Trommelfeuers los. Alle Welt wandte sich zur Bühne. Ist Nana endlich da – diese Nana, die so lange auf sich warten ließ?

Es war eine Abordnung der Sterblichen, geführt durch Ganymed und Iris. Es waren ehrsame Spießbürger, lauter betrogene Ehemänner, die gekommen waren, um vor dem Oberhaupt der Götter eine Beschwerde gegen die Venus zu erheben, die ihren Frauen allzu heftige Begierde einflöße. Der kindlich klagende Chor gefiel dem Publikum ausnehmend gut. Ein geflügeltes Wort machte die Runde im Saale: »Der Chor der Hahnreie«, man verlangte den Chor nochmals. Die Köpfe der Choristen waren sehr drollig; man fand, daß sie ganz nach Hahnreien aussähen, besonders ein Dicker mit einem Mondscheingesicht. Jetzt erschien Vulkan wütend und verlangte seine Frau, die seit drei Tagen durchgegangen war. Der Chor begann von neuem und wandte sich diesmal an Vulkan, den Gott der Hahnreie. Den Vulkan spielte Fontan, ein Komiker von originellem, derbem Talent; er erschien als Dorfschmied kostümiert, mit einer roten Perücke und entblößten Armen, auf denen mit Pfeilen durchstochene Herzen tätowiert waren. Einer Frau im Publikum entfuhr der Ausruf: »Ach, ist der häßlich!« Alles brach in Gelächter aus.

Dann folgte wieder eine Szene, die kein Ende nehmen zu wollen schien. Jupiter berief darin den Rat der Götter, um ihm die Klage der betrogenen Ehemänner vorzulegen. Und noch immer keine Nana! Will man sie etwa erst in der letzten Szene auftreten lassen? Durch das lange Warten wurde das Publikum endlich ungeduldig. Man vernahm wieder Gemurmel im Saale.

Das geht schief, bemerkte Mignon freudestrahlend zu Steiner; Sie werden sehen, es folgt ein Reinfall.

In diesem Augenblick zerteilten sich die Wolken im Hintergrunde, und Venus erschien. Nana, sehr groß und stark für ihre achtzehn Jahre, in ein blaues Obergewand gekleidet, das lange blonde Haar einfach über die Schultern aufgelöst, trat mit selbstbewußter Keckheit, das Publikum anlächelnd, bis zur Rampe vor.

Sie begann ihre große Arie:

»Wenn Venus am Abend umherstreicht ...«

Beim zweiten Vers sahen die Leute einander an. War das ein Spaß, etwa eine Wette von Bordenave? Nie hatte man eine so falsche, ungeschulte Stimme gehört. Ihr Direktor hatte sie gut beurteilt: sie sang wie eine Klistierspritze. Sie hatte keine Haltung, warf die Hände in die Luft und wiegte den ganzen Körper, was sehr unschicklich und unschön gefunden wurde. Schon erschollen Hoho-Rufe im Parterre und den oberen Rängen; schon hörte man leises Zischen, als plötzlich im Orchesterraum eine Stimme, so dünn wie die eines jungen Hahns, überzeugten Tones ausrief: Sehr schick!

Alles blickte nach der Stelle, woher diese Worte kamen. Der Knabe hatte gerufen: der Schüler aus dem Gymnasium, der mit weitgeöffneten Augen und hochgerötetem Antlitz Nana bewunderte. Als er sah, daß alles sich nach ihm umwandte, errötete er tief über das unbeabsichtigte Aufsehen. Sein Nachbar Daguenet schaute ihn lächelnd an; das Publikum lachte, gleichsam entwaffnet, niemand zischte mehr. Auch die jungen Leute wurden durch die kecke Erscheinung Nanas immer mehr eingenommen und begannen mit den weißbehandschuhten Händen zu klatschen:

Brav, sehr gut!

Als Nana den Saal lachen sah, lachte sie auch. Die Heiterkeit machte Fortschritte. Alles in allem war das schöne Mädchen recht drollig. Wenn sie lachte, erschien ein reizendes Grübchen in ihrem Kinn. Sie gewann sofort Fühlung mit dem Publikum; durch ein Augenzwinkern schien sie selbst ihm sagen zu wollen: Ich weiß, daß ich kein Stümpfchen Talent habe; aber das tut nichts, ich habe dafür etwas anderes. Sie gab dem Kapellmeister ein Zeichen, das ungefähr besagen wollte: Vorwärts, mein Lieber! und begann ihr zweites Couplet:

»Venus geht um Mitternacht vorbei ...?«

Es war die nächste schrille Stimme, aber sie kitzelte damit das Publikum an der rechten Stelle, so daß zuweilen ein leises Beben die Menge durchzuckte. Nana lächelte immerfort, und dieses Lächeln heiterte ihr kleines rotes Mündchen auf und leuchtete aus ihren schönen hellblauen Augen. Bei gewissen, etwas lebendigeren Versen rümpfte sich lüstern das Näschen, dessen Flügel zitterten, während ihre Wangen aufglühten. Sie fuhr fort, den Körper zu wiegen, offenbar wußte sie nichts anderes anzufangen. Man fand dies allmählich gar nicht übel; die Herren richteten ihre Operngläser auf sie. Als sie das Couplet beendigte, versagte ihr die Stimme: sie begriff, daß es nicht weiter gehe. Ohne sich darüber viel zu grämen, machte sie eine Bewegung mit den Hüften, wodurch unter dem dünnen Gewande die Rundung ihrer Formen sich abzeichnete. Ein Beifallssturm brach los. Dann kehrte sie um und ging ab, wobei ihr Nacken sichtbar wurde, über den ihre rötlichblonden Haare gleich einer Mähne herabfielen. Der Beifall steigerte sich bis zur Raserei.

Der Aktschluß war kühler. Vulkan wollte Venus mit Faustschlägen traktieren. Die Götter hielten Rat und beschlossen, daß auf Erden eine Untersuchung stattfinden solle, bevor den betrogenen Ehegatten Genugtuung gegeben werde. Diana, die den Austausch von zärtlichen Worten zwischen Venus und Mars erlauscht hatte, schwur, daß sie die beiden während der Reise nicht mehr aus den Augen verlieren wolle. Es folgte noch eine Szene, in der Amor, dargestellt von einem flotten Backfisch von zwölf Jahren, auf alle Fragen in weinerlichem Tone erwiderte: »Ja, Mama ... Nein, Mama ...« und dabei fortwährend im Näschen herumbohrte. Dann bestrafte Jupiter als strenger Meister den Amor, indem er ihn in sein schwarzes Kabinett sperrte und ihm das Zeitwort »lieben« zwanzigmal zu konjugieren aufgab. Der Schluß gefiel besser: es war ein Chor, von dem Personal und dem Orchester ausgezeichnet vorgetragen.

Allein als der Vorhang gefallen war, bemühten sich die bezahlten Beifallsspender vergebens, das Publikum mit fortzureißen. Alles war schon aufgestanden und drängte den Türen zu. Man stieß und schob sich durch die engen Sitzreihen, wobei die Leute ihre Bemerkungen über das Stück austauschten.

Das einstimmige Urteil lautete: Blöd!

Ein Kritiker meinte, man müsse diesem Stück unbarmherzig zu Leibe gehen. Das Publikum aber kümmerte sich um das Stück wenig, man sprach vorwiegend von Nana. Fauchery und La Faloise, die als erste hinausgegangen waren, trafen im Orchestergang Mignon und Steiner. Man erstickte fast vor Hitze in diesem engen Schlauch; sie standen einen Augenblick am Fuße der rechtsseitigen Treppe im Schatten der Rückseite der Rampe. Die Zuschauer der höheren Ränge stiegen unter fortwährendem Geklapper ihres derben Schuhwerks herab; eine Flut von schwarzen Röcken wälzte sich vorüber, eine Türschließerin bemühte sich vergebens, einen Sessel, auf dem allerlei Kleider aufgehäuft waren, gegen das Anstürmen der Menge zu schützen.

Aber ich kenne sie ja! rief Steiner, sobald er Faucherys ansichtig wurde. Ich habe sie sicher irgendwo gesehen. Ich glaube gar, im Kasino ... Und dort war sie dermaßen betrunken, daß man sie vom Boden auflesen mußte.

Ich kann mich nicht genau erinnern, wo ich sie gesehen habe, bemerkte der Journalist, aber ich bin ihr irgendwo begegnet ...

Dann fügte er lächelnd und mit leiser Stimme hinzu:

Vielleicht bei der Tricon.

Zum Teufel! Jedenfalls an irgendeinem schmutzigen Orte! rief Mignon entrüstet aus. Es ist doch ekelhaft, daß das Publikum jede Hergelaufene so aufnimmt. Es wird bald keine anständigen Frauen mehr beim Theater geben ... Es wird soweit kommen, daß ich meiner Rosa verbieten werde zu spielen.

Fauchery konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

Der Lärm der groben Schuhe der Herabsteigenden dauerte fort; ein kleiner Mensch mit einer Mütze auf dem Kopfe sagte mit gedehnter Stimme:

Hehe! Sie ist nicht bitter! Es gibt da was zu knacken.

Zwei junge Leute im Gange, sehr geschniegelt und tadellos gekleidet, stritten laut über Nana. Schmutzig, gemein! sagte der eine, ohne Gründe für seine Ansicht anzuführen. Glänzend, entzückend! erwiderte unaufhörlich der andere, der es gleichfalls verschmähte, sein Urteil durch Beweise zu unterstützen.

La Faloise fand sie sehr gut und meinte nur, sie solle ihre Stimme besser schulen. Daraufhin wurde Steiner wieder aufmerksam. Man müsse mit dem Urteil noch warten, meinte er. Die übrigen Akte würden vielleicht alles wieder verderben. Das Publikum habe sich wohlwollend gezeigt, aber es sei sicherlich noch nicht völlig erobert. Mignon schwor, daß man das Stück nicht werde zu Ende spielen können, und da Fauchery und La Faloise sich anschickten, in das Unterhaltungszimmer zu gehen, nahm er Steiner am Arm und flüsterte ihm ins Ohr:

Mein Lieber, Sie müssen sich doch das Kostüm meiner Frau im zweiten Akt ansehen. Es ist famos!

Im Unterhaltungszimmer verbreiteten drei Gasleuchter ein helles Licht. Die beiden Vettern zögerten einen Augenblick; durch die Glastür sah man die langen Reihen von Köpfen auf den beiden Galerien. Sie traten endlich ein. Inmitten des Gewühls standen fünf oder sechs Gruppen von Herren, die sich laut und unter lebhaften Gebärden unterhielten; andere gingen auf und ab, kehrten am Ende des Saales immer wieder um und klapperten mit ihren Sohlen auf dem gewichsten Parkett. Rechts und links, zwischen den Säulen von gesprenkeltem Marmor, saßen auf mit rotem Samt gepolsterten Bänken die Damen, die, von der Hitze erschöpft, mit müden Augen die im Saale Umhergehenden betrachteten; in den hohen Spiegeln hinter ihnen sah man ihre Haarknoten. Vor dem Büfett, das im Hintergrunde des Saales errichtet war, stand ein dickbäuchiger Herr und schlürfte ein Glas Sirup.

Fauchery trat auf den Balkon, um frische Luft zu schöpfen. La Faloise, der eine Weile die zwischen den Säulen angebrachten Photographien der Schauspielerinnen betrachtete, folgte ihm auf den Balkon. Man verlöschte eben die Gasflammen am Gesimse des Theaters. Es war finster und ziemlich kühl auf dem Balkon, den sie für leer hielten. Ein junger Mann stand aber im Schatten der rechtsseitigen Nische. Er lehnte an der Brustwehr und rauchte eine Zigarette, deren Glut in der Finsternis leuchtete. Fauchery erkannte Daguenet, sie reichten einander die Hände.

Was machen Sie da, mein Lieber? fragte Fauchery. Sie verstecken sich in den Winkeln. Sie, der Sie sonst bei Erstaufführungen das Orchester nicht verlassen?

Ich rauche, wie Sie sehen, erwiderte Daguenet.

Um ihn in Verlegenheit zu bringen, richtete Fauchery an Daguenet die Frage:

Was halten Sie von der neuen Darstellerin? In den Gängen urteilt man ziemlich abfällig über sie.

Wahrscheinlich solche Herren, die sie abgewiesen hat.

Das war das ganze Urteil Daguenets über Nanas Talent. La Faloise neigte sich über die Brustwehr des Balkons und auf den Boulevard hinab. Gegenüber waren die Fenster eines Hotels und eines Klubs hell erleuchtet; auf dem Bürgersteig aber saßen dichtgedrängt in schwarzen Massen die Gäste an kleinen Tischen im Café Madrid und nahmen Erfrischungen. Trotz der vorgerückten Abendstunden wogte eine große Menge in den Straßen, so daß man nur langsam vorwärts kommen konnte. Aus der Passage Jouffroy strömten die Leute in Massen hervor; die Wagen fuhren in einer so langen Reihe, daß die Fußgänger oft fünf Minuten warten mußten, ehe sie die Straße überschreiten konnten.

Welches Leben, welcher Lärm! sagte ein über das andere Mal La Faloise, den Paris noch immer in Staunen versetzte.

Die Glocke des Regisseurs ertönte; das Unterhaltungszimmer leerte sich rasch. Der Vorhang war schon in die Höhe gegangen, als die Leute truppweise in den Saal strömten zum großen Verdruß jener, die schon Platz genommen hatten. Alles beeilte sich, die Sitze aufzusuchen, und man saß wieder neugierig und aufmerksam da. Der erste Blick La Faloises galt der Gaga. Er war erstaunt, den großen, blonden Herrn bei ihr zu sehen, der sich vorhin in der Loge Lucy Stewarts befunden.

Wie heißt doch nur dieser Herr?

Fauchery sah ihn nicht gleich.

Ach ja! Labordette, sagte er dann mit der nämlichen sorglosen Miene wie vorhin.

Die Dekoration des zweiten Aktes brachte eine kleine Überraschung. Man sah eine Vorstadtschenke »Zur schwarzen Kugel«, in der das tolle Treiben des Fasching-Dienstags herrschte. Die angeheiterten Gäste sangen einen Chor und schlugen dazu die Fersen zusammen. Diese unerwartete »Hetz« gefiel dermaßen, daß der Chor zur Wiederholung verlangt wurde. Hier wollten die Götter, die durch Iris – welche die Erde zu kennen vorgab – irregeführt wurden, ihre Untersuchung halten. Sie hatten sich vermummt, um nicht erkannt zu werden. Jupiter trat als König Dagobert auf in einer verkehrten Hose, mit einer Krone von Weißblech auf dem Haupte. Phöbus erschien als Postillon von Lonjumeau, Minerva als Amme aus der Normandie. Mit großer Heiterkeit wurde Mars empfangen, der das phantastische Kostüm eines schweizerischen Admirals trug. Doch das Gelächter wurde übermütig, als Neptun erschien, bekleidet mit einer Bluse, eine hohe Mütze auf dem Kopfe, von der kleine Herzchen auf seine Schläfe herabbaumelten; er schlenderte, mit seinen Schuhen klappernd, herein und rief mit seiner behäbigen Stimme: »Ja, wenn man ein schöner Mann ist, muß man sich von den Frauen lieben lassen.« Man hörte einige Hoho! im Saale, während die Frauen sich mit dem Fächer das Gesicht halb verdeckten. Lucy lachte in ihrer Loge so geräuschvoll, daß Caroline Héquet sie mit dem Fächer auf die Schulter tippte, um sie zum Schweigen zu bringen.

Von da ab war das Stück gerettet und ein großer Erfolg unausbleiblich. Dieser Götterkarneval, der Olymp im Kot, eine Religion, eine Poesie in den Staub gezerrt: Das war ein erlesener Schmaus für dieses Publikum. Ein Fieber der Unehrerbietigkeit überkam diese gebildeten ständigen Besucher der ersten Vorstellungen, man trat die Legende mit Füßen, man zerschlug die Heiligenbilder. Jupiter war ein »guter Kerl«, Mars ein gekräuselter Dandy. Das Königtum war eine Posse, die Armee eine Spielerei. Als Jupiter, plötzlich in eine kleine Wäscherin vernarrt, einen flotten Cancan anhob, schleuderte Simonne, welche die Wäscherin spielte, ihm den Fuß an die Nasenspitze und rief: »Dickes Väterchen!« – was ein wahnsinniges Gelächter im Saale hervorrief. Während man tanzte, zahlte Phöbus der Göttin Minerva einige Schoppen Glühwein; Neptun thronte inmitten einer Gruppe von sieben oder acht Weibern, die ihn mit Kuchen fütterten. Man griff die Zweideutigkeiten auf und fügte noch Zoten hinzu; die harmloseren Scherze wurden durch die Zwischenrufe aus dem Orchester ihres Sinnes entkleidet. Seit langer Zeit hatte in keinem Theater das Publikum sich dem dummen Spaß mit solchem Behagen hingegeben.

Unter Torheiten dieser Art nahm die Handlung des Stückes ihren Fortgang. Vulkan, als »fescher Jüngling«, ganz gelb gekleidet, mit gelben Handschuhen, das Monokel ins Auge geklemmt, lief immerfort hinter der Venus her, die als Fischerweib erschien, mit einem Tüchlein auf dem Kopfe, Brust und Hals entblößt, mit allerlei Goldschmuck behängt. Nana war so weiß und wohlgeformt, so natürlich in dieser an Hüfte und Mundwerk starken Figur, daß sie sofort den ganzen Saal für sich einnahm. Man vergaß neben ihr vollständig Rosa Mignon, ein reizendes Kindchen in Fallhut und kurzem Musselinkleid, das die Klagen der Diana in rührendem Tone vortrug. Die andere, dieses große, starke Mädchen, das sich auf die Schenkel schlug und gluckste wie eine Henne, verbreitete einen Duft des Lebens, der Allmacht des Weibes um sich her, der das Publikum berauschte. Von diesem zweiten Akt an war ihr alles erlaubt: die schlechte Haltung auf der Bühne, das Falschsingen, die Unkenntnis der Rollen. Sie brauchte sich nur umzuwenden und zu lachen, um Beifall zu ernten. Als sie die famose Hüftenbewegung machte, geriet das Parkettpublikum in Feuer; die Hitze stieg von Rang zu Rang bis zur Decke hinauf. Ihr Auftreten in der Schenke war ein Triumph. Hier war sie in ihrem Element als Venus, die sich – die Arme in die Seiten gestemmt – am Rande des Gehsteigs in die Gosse setzt. Und die Musik schien ganz für ihre kreischende Stimme gemacht zu sein, diese Kneipmusik, die einen Marsch für die Heimkehr vom Jahrmarkte zu Saint-Cloud aufspielte, in den die Klarinette dareinnieste und die kleine Flöte dareinquiekte.

Zwei Nummern wurden wiederholt. Der Walzer aus der einleitenden Musik – dieser Walzer mit der neckischen Melodie – kehrte wieder und versetzte die Götter in Entzücken. Juno, als Pächterin gekleidet, erwischte Jupiter mit seiner Wäscherin und versetzte ihm Kopfnüsse. Diana, die Venus dabei ertappte, wie sie dem Mars ein Rendezvous gab, beeilte sich, Ort und Stunde des Stelldicheins dem Vulkan zu verraten, der ausrief: »Nun habe ich meinen Plan!« Der Rest des Stückes war nicht recht klar. Die Untersuchung der Götter auf Erden schloß mit einem Galopp, nach dem Jupiter außer Atem, ohne Krone, in Schweiß gebadet erklärte: die irdischen Frauen seien köstlich, ihre Männer hätten insgesamt unrecht.

Der Vorhang fiel und aus dem Saal ertönte der Ruf: Alle hervor!

Die Schauspieler erschienen, einander bei den Händen haltend. In der Mitte befanden sich Nana und Rosa Mignon, die sich fortwährend verneigten.

Man klatschte Beifall, die bezahlten Leute brüllten, dann leerte der Saal sich langsam.

Ich muß hinauf gehen, um die Gräfin Muffat zu begrüßen, sagte La Faloise.

Ganz recht; du wirst mich bei dieser Gelegenheit ihr vorstellen; dann kommen wir gleich wieder herunter.

Aber es war nicht so leicht, zu den Balkonlogen zu gelangen. Der Gang war oben zum Erdrücken voll. Man mußte die Ellbogen tüchtig gebrauchen, um zwischen den Gruppen vorwärts zu kommen. Da stand wieder der vierschrötige Kritiker unter einer Gaslampe und besprach die Neuheit vor einem Kreise aufmerksamer Zuhörer. Die Vorübergehenden nannten halblaut seinen Namen. Man erzählte in den Gängen, er habe während des ganzen Aktes immerfort gelacht. Er sprach indes jetzt mit vieler Strenge über das Stück, sprach von Geschmack und guter Sitte. Weiter stand der andere Kritiker, der mit den dünnen Lippen. Dieser äußerte sich sehr wohlwollend; aber sein Wohlwollen hatte einen gewissen üblen Nachgeschmack wie abgestandene Milch.

Fauchery musterte die Insassen der Logen durch die runden Scheiben, die in die Logentüren eingelassen waren. Da trat Graf Vandeuvres zu ihm und fragte, wen er suche, worauf er ihm die Loge Nr. 7 als die der gräflichen Familie Muffat bezeichnete, der er selbst soeben einen kurzen Besuch gemacht hatte.

Dann neigte er sich zu Fauchery und flüsterte ihm zu:

Diese Nana, mein Lieber, ist wohl die nämliche, die wir eines Abends an der Ecke der Provence-Straße trafen ...?

Wahrhaftig, Sie haben recht. Ich wußte wohl, daß sie mir bekannt sei ...

La Faloise stellte seinen Vetter dem Grafen Muffat de Beuville vor, der sich sehr kühl zeigte. Die Gräfin hingegen erhob bei dem Namen Fauchery den Kopf und beglückwünschte höflich den Journalisten zu seinen Artikeln im »Figaro«. Sie stützte die Ellbogen auf die mit Samt gepolsterte Logenbrüstung und wandte sich dabei mit einer hübschen Bewegung der Schultern halb um.

Man plauderte eine Weile, dann kam man auf die Ausstellung zu sprechen.

Es wird sehr hübsch werden, sagte der Graf, dessen regelmäßiges, rundes Gesicht einen gewissen amtlichen Ernst bewahrte.

Ich habe heute das Marsfeld besichtigt ... und bin entzückt zurückgekehrt.

Es wird versichert, daß man nicht zur rechten Zeit fertig wird, bemerkte La Faloise. Es herrscht dort noch ein Durcheinander ...

Doch der Graf unterbrach ihn in strengem Tone:

Man wird fertig sein ... Der Kaiser will es.

Fauchery erzählte scherzhaft, er sei neulich fast in ein Aquarium gestürzt, als er den Ausstellungspalast besuchte, um dort Stoff für einen Artikel zu finden. Die Gräfin lächelte. Sie blickte zuweilen in den Saal hinab, wobei sie den mit einem weißen, bis zum Ellbogen reichenden Handschuh bekleideten Arm erhob und mit der anderen Hand sich langsam Kühlung zufächelte. Der Saal lag halbleer, wie im Schlummer; einige Herren im Parkett hatten ihre Zeitung vor sich ausgebreitet. Die Damen waren heiter und empfingen Besuche, als ob sie zu Hause seien. Man plauderte gemütlich unter dem Leuchter, dessen Licht einigermaßen durch den Staub verdunkelt wurde, den die Zwischenaktvorbereitungen auf der Bühne verursachten. In den Türen standen die Herren in ihren herzförmig ausgeschnittenen Westen und weißen Hemden, um die Damen mit Muße zu betrachten.

Wir erwarten Sie nächsten Dienstag, sagte die Gräfin zu La Faloise.

Sie lud auch Fauchery ein, der sich dankend verneigte. Vom Stücke wurde nicht gesprochen, Nanas Name nicht genannt. Der Graf bewahrte eine so eisige Würde, als sitze er in der Kammer. Um die Anwesenheit der Familie zu erklären, sagte er, sein Schwiegervater sei ein Theaterfreund. Der Marquis Chouard hatte den Gästen Platz gemacht und stand vor der offenen Logentür. Er war ein hoher Greis mit schlaffem, weißem Gesicht. Er hatte das Haupt mit einem breitkrempigen Hute bedeckt und musterte mit trüben Augen die vorbeigehenden Damen.

Fauchery hatte, sobald die Gräfin ihn eingeladen, die Loge verlassen; er fühlte, daß es unschicklich sei, über das Stück zu sprechen. La Faloise verabschiedete sich als letzter von der gräflichen Familie. Er hatte eben in der Loge des Grafen Vandeuvres den blonden Labordette bemerkt, der an der Seite Blanche Sivrys sehr vertraulich Platz genommen hatte und mit ihr vertraulich plauderte.

Ei, kennt denn dieser Labordette alle Frauen? fragte Hektor seinen Vetter ... Jetzt ist er wieder bei Blanche.

Gewiß, er kennt alle Frauen, entgegnete Fauchery ruhig. Woher kommst du denn, daß du es nicht weißt? ...

Die Gänge hatten sich ein wenig geleert. Fauchery war im Begriff, wieder hinabzugehen, als Lucy ihn rief. Sie stand vor der Tür ihrer Loge, wo man vor Hitze umkommen müsse, wie sie sagte. Sie nahm mit Caroline Héquet und deren Mutter die ganze Breite des Korridors ein. Die Damen aßen Krachmandeln, wobei sie vertraulich mit einer Logenschließerin plauderten. Lucy zankte den Journalisten aus; es sei garstig von ihm, sagte sie, daß er die anderen Damen besuche und sich um sie nicht kümmere; sie könnte seinethalben verdursten. Dann sprang sie auf ein anderes Thema über und sagte:

Weißt du, mein Lieber, daß ich diese Nana ganz nett finde?

Sie redete ihm zu, den letzten Akt in ihrer Loge anzuhören, doch er entschlüpfte, indem er versprach, sie nach Schluß der Vorstellung aufzusuchen. Unten zündeten Fauchery und La Faloise ihre Zigaretten an.

Eine Anzahl von Besuchern hielt den Gehsteig besetzt, sie waren von der Galerie herabgestiegen, um inmitten des allmählich schwächer werdenden Straßenlärms die frische Nachtluft zu genießen.

Inzwischen hatte Mignon den Bankier Steiner ins Variété-Café geschleppt. Da er Nanas Erfolg sah, sprach er mit Begeisterung von ihr, wobei er mit einem Auge fortwährend den Bankier beobachtete. Er kannte diesen recht gut; zweimal hatte er ihm schon geholfen, Rosa zu betrügen und hatte ihn dann wieder reumütig zurückgeführt. Im Café drängten sich zahlreiche Gäste um die Marmortische. Einige nahmen stehend und eilig ihre Erfrischung zu sich. Die breiten Spiegel vermehrten diese Masse von Köpfen ins Unendliche und vergrößerten maßlos diesen engen Saal mit seinen drei Leuchtern, seinen gepolsterten Sitzbänken und seiner rotausgeschlagenen Wendeltreppe. Steiner setzte sich an einen Tisch im ersten Saale, der sich nach dem Boulevard öffnete, und dessen Türe man für die Jahreszeit allzu früh ausgehoben hatte. Als Fauchery und La Faloise vorübergingen, rief der Bankier sie an:

Trinken Sie doch ein Glas Bier mit uns.

Ein Gedanke beschäftigte ihn. Er wollte der Nana einen Blumenstrauß zuwerfen.

Er rief einen Kellner des Cafés herbei, den er kurzweg August nannte.

Mignon, der genau aufpaßte, blickte dem Bankier so eindringlich in die Augen, daß dieser verwirrt wurde und stammelte:

Holen Sie zwei Sträuße, August, und übergeben Sie dieselben der Logenschließerin ... Für jede der Damen einen im richtigen Augenblick, verstanden?

Am anderen Ende des Saales saß, den Nacken an einen Spiegelrahmen gelehnt, ein junges Mädchen von höchstens achtzehn Jahren unbeweglich vor einem leeren Glase, wie erschöpft von einer langen und vergeblichen Erwartung. Das natürlich gekräuselte aschblonde Haar umrahmte ein jungfräuliches Gesicht mit samtweichen Augenbrauen und einem sanften, keuschen Blick. Sie trug ein verschossenes grünes Seidenkleid und einen runden Hut, der offenbar durch Faustschläge aus der Form gekommen war. In der kühlen Nachtluft war das Mädchen bleich geworden.

Schau, da sitzt Satin, murmelte Fauchery, als er ihrer ansichtig ward.

La Faloise fragte ihn, wer das junge Mädchen sei?

Eine Straßendirne, nichts weiter, lautete die Antwort, dabei sei sie dermaßen schnippisch, daß es amüsant sei, mit ihr zu plaudern.

Dann redete der Journalist sie an.

Was machst du da, Satin?

Ich besudle mich, sagte das junge Mädchen ruhig, ohne sich zu rühren.

Die vier Männer lachten laut.

Mignon versicherte, es sei nicht eilig, man brauche noch zwanzig Minuten, um die Dekorationen des dritten Aktes in Ordnung zu bringen. Allein die beiden Vettern, die ihr Bier getrunken hatten, wollten ins Haus zurückkehren, denn es fröstelte sie. Jetzt blieb Mignon allein mit Steiner. Er stütze den Ellbogen auf den Tisch und sagte ihm gerade ins Gesicht:

Also einverstanden: wir gehen miteinander zu ihr, und ich stelle Sie vor. Die Sache bleibt unter uns, meine Frau braucht nicht alles zu wissen.

Zu ihren Sitzen zurückgekehrt, bemerkten Fauchery und La Faloise in einer Loge im zweiten Rang eine hübsche Frau in bescheidener Toilette. Sie war in Begleitung eines ernst dreinblickenden Herrn. La Faloise kannte ihn; es war ein Bürochef im Ministerium des Innern, den er öfter bei dem Grafen Muffat getroffen. Fauchery behauptete, die Dame heiße Mme. Robert, sei recht ehrbar und habe immer nur einen Liebhaber, der stets ein achtbarer Mann sei.

Doch sie mußten sich umwenden, Daguenet lächelte ihnen zu. Jetzt, da Nana einen Triumph errang, verbarg er sich nicht mehr, sondern genoß in den Gängen ihren Erfolg. Der Student an seiner Seite hatte seinen Sitz nicht verlassen, er saß noch immer in Bewunderung versunken da, in die Nanas Erscheinung ihn gestürzt hatte. Das war's ... das war das Weib ... und er errötete tief. Er zog mechanisch seine Handschuhe an und aus ... Als er sah, daß sein Nachbar von Nana sprach, wagte er die Frage:

Um Vergebung, mein Herr; kennen Sie die Dame, die spielt?

Ja, ein wenig, erwiderte Daguenet überrascht und zögernd.

Dann kennen Sie wohl auch ihre Adresse?

Diese Frage kam ihm so unerwartet, daß er sie am liebsten mit einer Ohrfeige beantwortet hätte.

Nein, sagte er endlich.

Er wandte ihm den Rücken.

Der blonde Knabe begriff, daß er eine Unschicklichkeit begangen habe; er errötete noch mehr und saß in stummer Verlegenheit da.