Narzissa die Glückliche - Michael Fröhlich - E-Book

Narzissa die Glückliche E-Book

Michael Fröhlich

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Beschreibung

Dieser Band umfasst die Werke Narzissa die Glückliche, Giuseppe und Der reine Tisch. Die Novellen entstanden in einem Zeitraum vom Frühjahr 2019 bis zum Sommer 2020. Im Mittelpunkt stehen eine karikierte, narzisstische Persönlichkeit, das Leben eines sozial entgleisten Obdachlosen, sowie der Konflikt eines Bauers mit seinem charismatischen Knecht.

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Seitenzahl: 292

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Michael Fröhlich, am 01. Mai 1995 in Mutlangen geboren, war nach dem Abitur Freiwilliger beim Deutschen Roten Kreuz. Danach verschiedene Reisen und Aufenthalte in Europa, Afrika und Neuseeland. Anschließend Studium der Germanistik und Philosophie. Später Student der Soziologie an der Universität Bamberg. Für »Heinrich und Puk« 2019 Arbeitsstipendium des Förderkreis dt. Schriftsteller in BW. Im selben Jahr erster Abdruck in fortississimo: Edition junger Texte.

Inhalt

Narzissa die Glückliche

Giuseppe

Der reine Tisch

Narzissa die Glückliche

1.

Es war ein Abend im Frühjahr, als ein junges, verliebtes Paar auf seinem Spaziergang Halt machte. Beide sahen amüsiert hinauf, denn sie gingen am Stadtrand, und dort befand sich der Hang, auf welchem einige große Villen erbaut waren; manche in barockem Stil und recht protzig, andere modern und quaderhaft hinzugebaut, da es Prestige bedeutete, hier zu wohnen.

»Schau«, sagte sie, »Frau Martinelli gibt Abendgesellschaft.«

»Die Villa Vanille«, sagte er.

Und gemeinsam sahen sie hinauf, wo man einen beleuchteten Weg durch Ginsterhecken bis hin zur beleuchteten Villa erkannte. Diese gehörte im Übrigen zu den barocken Protzen unter den Häusern und war im vergangenen Jahr mit einem knalligen rosa überstrichen worden, was den meisten Anwohnern ein Dorn im Auge war. Vor dem schmiedeeisernen Eingangstor stand ein Wagen und ein Portier führte die Insassen gerade hinein, in den hellbeleuchteten Garten. Jener verfügte über eine Balustrade über dem Hang, und dort glommen bisweilen kleine, orange Glutpunkte auf.

»Da sitzen sie und rauchen ihre Zigarren«, sagte er, als beobachte man eine Horde Affen, die naturgemäß Bananen verspeisend auf ihrem Affenberg sitzt. Schweigend sah das Paar hinauf.

Da sagte er, in einem Anflug von Kühnheit: »Lieber lasse ich mich vierteilen, als dort oben eine solche Farce zu spielen. Sie schauen auf uns herunter und leben von Geld, das ihnen gar nicht gehört. Wie unangenehm ist es, nur daran zu denken, in deren Welt zu leben.«

Da sie wusste, dass er das Reden liebte, rollte sie herzlich mit den Augen und sagte: »Wie meinst du?«

»Ach«, tat er mit einer lässigen Handbewegung, »man kennt es doch: Sie leben dort oben auf hohem Fuß, sind immer freundlich und korrekt, pflegen ihre Kontakte und würden nicht zögern, einander zu hintergehen, sobald es sich um ein sicheres Geschäft handelt. Wenn man so viel besitzt wie die da oben, ist man gefangen in seinem Reichtum, denn man verkehrt ausschließlich mit reichen Leuten, die ausschließlich über Reiche-Leute-Dinge reden und deren Gewohnheit der Reichtum ist. Man sollte meinen, sie hätten einen Sinn für das Existenzielle und Philosophische, denn sie haben ja wenig zu tun und jede Freiheit, sich Gedanken zu machen. In Wahrheit aber werden sie in einer solchen Gesellschaft nur immer hohler und unwirklicher. Sie werden zu Vertretern ihres Reichtums und müssen immer perfekt sein. Und um immer perfekt zu sein, muss man entweder alle Zweifel immerzu abtun und sich, und überhaupt allen, einreden, man sei die Excellence in Person, oder aber man darf nichts verfängliches sagen. Darum reden sie nur an der Oberfläche herum, über Uhren und natürlich über die Kunst, von der sie eigentlich nicht mehr verstehen, als den Preis, mit dem sie sich schmücken … Lieber vierteile mich!«

So sprach der junge Mann, der sich nämlich als Musiker versuchte, und sich darum als natürlichen Feind der Kapitalisten verstand. Gleichwohl strebte er danach, seine Miete von der Musik bezahlt zu machen und eines – nicht allzu fernen Tages – letztendlich doch noch international bejubelt zu werden. Er befand sich in einer angenehmen Situation; denn er war jung, und dabei, voller Ignoranz, Eitelkeit und Zuversicht in die Zukunft zu blicken – gleichzeitig war er jedoch zu jung, um sich seiner Erfolglosigkeit schämen zu müssen. So kamen seine Worte leicht über seine Lippen, und im Grunde sagte er es doch nicht, um klar zu stellen, wer die da oben waren, sondern vielmehr, um ein wenig mehr zu wissen, wer er sei.

»Unsinn. Die sind auch gewöhnliche Menschen … und wer die Sorge nicht mit dem Geld hat, der hat sie anderswo. Außerdem muss man etwas können, um reich zu werden. Jeder, der reich ist, kann etwas.«

Sie hakte sich unter, bemaß sich überlegen, und zog ihn, einen energischen Schritt vorangehend, den Bordstein runter auf die Straße.

Für sie war es zwar so, dass sie seine wohlklingenden Reden als kokett empfand, und manches Mal als geradezu unüberlegt und dumm, – gleichzeitig aber fühlte sie sich eben darum zu ihm hingezogen. Die Einfachheit und Bestimmtheit seiner Worte erzeugten eine Illusion der Sicherheit, und obwohl sie seine Urteile verstandesgemäß als Possen abtat, fühlte sie sich in den Possen geborgen und aufgehoben. Sie wusste dadurch nicht mehr über die Welt und wie sie war – doch wusste sie dadurch mehr über die Welt, wie sie für ihn war, und das muss dem Menschen ausreichen.

»Ja … «, quäkte er lapidar in einem Ton, der das Thema beenden wollte. » … oder man ist ein Glückspilz und wird Alleinerbin, wie die Martinelli. Lieber vierteile mich.«

Und gemeinsam ließen sie die Villa Vanille hinter sich.

Schon zwei Tage nach jener Begebenheit machte der junge Mann Schlagzeilen, allerdings ohne jedwedes musikalische Zutun. Obwohl er sich nur stückweise finden ließ, konnte er identifiziert werden, und die gesamte Stadt redete über den brutalen Musikanten-Mord. Rätselhafte Vierteilung lautete eine der Überschriften, und darunter: Leichnam mit Prothese bestattet! Rechtes Schienbein noch immer vermisst!

Zwei ganze Wochen befand sich das Städtchen in Aufruhr. Dann mussten aber doch langsam neue Schlagzeilen her, zumal die Maikönigen gewählt wurde. Und eine weitere Woche später tobten die Kinder abends wieder fröhlich auf den Spielplätzen, und auch die Älteren schlenderten spätabends gedankenverloren hinaus auf den Wald zu, ohne an den Vierteiler auf freiem Fuß zu denken.

2.

In der runden Ausbuchtung des Turmes hatte Holger, der Diener, das Teeservice angerichtet. Frau Martinelli trug eine weiße Hose mit golden geschupptem Gürtel, eine weiße, kurzärmelige Bluse und zum Gürtel passende Sandalen, die golden über die Fließen funkelten. Schlank und schön geleitete sie den Besuch zu Tisch.

»Setz dich, meine Liebe«, sagte sie, rückte einen Stuhl zurecht, und fasste sich in das voluminöse Ebenholzhaar, um es sich hübsch auf die Schulter zurecht zu legen.

»Danke, danke«, sagte Matilda von Rothendorf würdevoll, die in ein gelbes Sommerkleid gehüllt platznahm. »Ach, es ist so schön bei dir. Der Garten! Alles Ihre Arbeit, Holger?«

Holger deutete ein vornehmes und zurückhaltendes Nicken an.

»Holger ist der Beste!«, setzte sich Frau Martinelli hinzu. »Und das meine ich so – nein, nein, schämen Sie sich nicht! Sie gehören mit Sicherheit zu den Zuverlässigsten und Besten auf Ihrem Gebiet!« Sie lehnte sich näher zu Frau von Rothendorf. »Der Mann macht einfach alles für mich.« Und laut: »Was wäre ich ohne Sie, Holger? Sie sind der treueste Diener, treuer noch als Ludwig!«

Bei besagtem Ludwig, ebenfalls Ludo gerufen, handelte es sich um den kleinwüchsigen Mops, den sich Frau Martinelli zwei Jahre zuvor zugelegt hatte.

»Bediensteter«, erinnerte Holger mit verhaltener Miene.

»Jaja!«, rief Frau Martinelli entzückt, neigte sich über den Tisch zu Frau von Rothendorf und sagte leise und doch unmissverständlich: »Er mag es nicht, wenn ich ihn Diener heiße. Aber was soll er machen? Für mich ist und bleibt er mein Diener.«

Sie kicherte und schenkte Tee ein. Frau von Rothendorf sah daraufhin zu Holger und musste ob der versteinerten Grimasse schmunzeln. »Nun, Narzissa«, beugte sie sich jetzt über den Tisch, »was tut er denn alles für dich?«

Zwar kannten sich die Frauen schon lange und betitelten einander gerne als enge Freundinnen, doch eine gewisse Konkurrenz unter ihnen war nie gänzlich verschwunden, und so sprach die von Rothendorf frech und gar nicht besonders freundschaftlich die Begebenheit an, dass Frau Martinelli seit mehreren Jahren ohne Mann war.

»Red’ keinen Blödsinn!«, wusste sich Frau Martinelli zu behaupten, die mit dem Thema abgeschlossen hatte: »Ich kann keinen Mann an meiner Seite gebrauchen, weder einen Betthasen noch sonst irgendwas. Außerdem muss ich meinen Holger doch schonen, nicht wahr, Holger? Der Mann, der meinen Ansprüchen genügt, muss erst noch geboren werden!« Und sie kicherte wieder, indes sie Bienenstich auf Frau von Rothendorfs Teller lud. »Probiere! Es ist der beste Bienenstich im Land! Jeden Sonntag lasse ich einen kommen.«

»Weiß ich doch«, antwortete Frau von Rothendorf und ließ einen Löffel Sahne auf den Kuchen fallen. Insgeheim dachte sie aber, dass es kein Wunder mit den Männern sei, schließlich konnte auch sie die Gesellschaft von Frau Martinelli allerhöchstens zwei Mal im Monat vertragen. Die Männer wussten schon, weshalb sie der Villa Vanille fernblieben. Ihre abweisenden Gedanken wurden durch eine atmosphärische Spannung am Tisch wirklich, und Frau Martinelli sagte, als habe sie die Gedanken gehört: »Nein. Mit den Männern bin ich fertig. Die einzigen, die ich bei mir wissen will, sind Ludwig und Holger.« »Nicht wahr?«, rief sie ungerichtet hinter die Schulter.

Holger neigte abermals den Kopf.

Auch er wusste, dass es sich keineswegs um eine freiwillige Männerlosigkeit handelte. Seit bereits sechs Jahren arbeitete er in und um die Villa, und er hatte erlebt, wie Frau Martinelli nach jedem Anbandeln rasch das Interesse verlor und viele halbgute und halbschlechte Gründe fand, um das Verhältnis wieder zu lösen. Der letzte Liebhaber, ein etwa vierzigjähriger Galerist, hatte die Hausherrin damals als unerträglich egoistisch und falsch beschimpft. Frau Martinelli vertrat daraufhin die Auffassung, der Mann habe selbst ein ernstzunehmendes Problem, ohnehin keine Manieren, und sei es darum auch nicht wert gewesen.

»Nein«, sagte Frau Martinelli abermals, die Tasse an die Lippen gesetzt und verwegen, unbeirrbar selbstsicher lächelnd. »Ich bin rundum zufrieden. Ich kann die ganzen Frauen, die einen Mann brauchen, auch nicht verstehen. Liebt eure Freiheit! – oder nicht? … Und für den Fall, dass ich jemanden brauche, der ständig meine Anerkennung will, der nicht weiß, wie man eine Toilettenbürste benutzt, und den man schon viel früher hätte kastrieren sollen – für diesen Fall habe ich Ludwig!« An dieser Stelle stieß sie ein lautes »Ha!« aus, das eigenartig einsam durch den Saal hallte.

Obwohl es Frau von Rothendorf, hätte sie gekonnt, anders gemacht hätte, brach sie in ein Gelächter aus. Die Frauen lachten, als handle es sich um den Jahrhundertwitz. Bald vergrub Frau von Rothendorf ihre Augen in der Handfläche, zuckte zwar noch mit den Schultern und japste – Frau Martinelli hingegen konnte wieder ruhig atmen und betrachtete das geschauspielerte Beruhigen der Freundin mit Genugtuung. Sie erkannte die Falschheit der Belustigung, störte sich jedoch nicht daran. Tatsächlich war es ihr gerade recht, dass man sich verpflichtet fühlte, über ihre Scherze zu lachen. Immerhin war sie nicht niemand.

»Ja«, sagte sie, selbstgefällig aus dem Turmfenster schauend. »Ludo!«, rief sie plötzlich. »Holger! Ludwig ist im Garten und hat da irgendwas. Schau nach, nicht, dass er sich etwas tut.«

»Natürlich«, japste Holger, durchmaß den Saal, und schloss die Flügeltür hinter sich. Auf der Treppe streckte er sich und atmete erschöpft; seine Haltung erschlaffte dabei. Langsam tat er Schritte dem Treppengeländer entlang, wischte mit dem Finger über sein Mobiltelefon, steckte es, unten angelangt, schwer seufzend wieder ein, und ging erneut aufrecht, galant, zur Gartentür aus.

Inmitten des Gartens, vor dem Brunnen noch, welcher, ganz nebenbei, mit Büsten der Frau Martinelli selbst besetzt war, wandte sich Holger kurz um. Oben erkannte er die zwei Frauengesichter an der Scheibe. Rasch ging er weiter, und fand den in das Spiel vertieften Mops an der Hecke.

»Aufmachen«, sagte Frau Martinelli.

Frau von Rothendorf reckte sich, gehorchte, und öffnete das schmale, lange Turmfenster. Der Befehl kränkte sie, zumal der Diener freundlichere Worte gewohnt war, und wie sich Frau Martinelli an das Fenster drängte, und Frau von Rothendorf unangenehm zur Seite weichen musste; verbogen zwischen Tisch und Fenster stand, sagte Frau Martinelli: »Meine Liebe, was soll das denn« und ließ sie hervorhuschen. Frau von Rothendorf nahm konsterniert Platz und begann, Bienenstich zu vertilgen.

»Was hat er da?«, rief Frau Martinelli in sachlich besorgtem Ton. Ihr schwarzes Haar glänzte in der Mittagssonne, sie steckte Kopf und Arme aus dem Fensterspalt, und hob das Popöchen bei durchgestreckten Beinen allzu nahe in Frau von Rothendorfs Wahrnehmungsfeld. Jene schob darauf den Teller von sich und beäugte das weiße Hinterteil missfällig.

Ein Taschentuch aus dem Sakko ziehend, bückte sich Holger, um damit dem Hund den Gegenstand zu entwenden. Kurz rang er mit dem Tier um den schienbeinlangen Knochen; und schließlich hielt er ihn empor, indes Ludwig empört kläffend umhersprang, wobei er jedes Mal mit allen Vieren den Rasen verließ.

Frau Martinelli lachte und war wunderschön, wie sie der Prinzessin Rapunzel ähnlich aus dem Turm strahlte. Sie wandte ihren Blick gen Sonne, ließ die Zähne blitzen, fuhr sich durchs Haar, roch den Duft des Mandelöls darin, gefiel sich, grinste höchst zufrieden nach Holger – und empfand das starke Bewusstsein, dass der Diener verliebt in sie sei und einiges, wenn nicht alles, für ihren Leib geben würde – was außerdem kein Wunder war, wo sie von dort unten doch einer Göttin glich. Vielleicht war sie es ja. Der Gedanke gefiel ihr so sehr, dass sie, sich bescheinen lassend, schwieg, und wartete, dass Holger bittstellend von selbst unter den Turm trat.

»Und? Was ist es?«, fragte sie heiter und wohlwollend gegen den hoffnungslos Verliebten.

»Ein Knochen, Frau Martinelli. Wie er hereinkam, weiß ich nicht. Ludwig hat ihn nicht hereingetragen?«

»Unsinn! Seit wann spielt mein Ludo denn mit solchen Brocken? Desinfizieren und ab in die Spülmaschine damit!«

Sie manövrierte sich zurück in den Turm und schloss das Fenster. »Ist das möglich?« Einen zufriedenen Seufzer ausstoßend, setzte sie sich. Frau von Rothendorf nahm die Gabel wieder zur Hand: »Ein Knochen?«

»Ganz recht. Wo kommt das Ding nur her? Groß genug für eine Kuh … «

Frau Martinelli hängte den Arm über ihre Stuhllehne und betrachtete die Teekanne, bis sich Frau von Rothendorf hüstelnd verschluckte, da ihr eine gewitzte Anmerkung eingefallen war: »Vielleicht … «, hielt sich die Hand vor den Mund, » … ist es das vermisste Schienbein!«

Frau Martinelli, die nicht gerne über anderer Leute Witze lachte, verzog den Mund in die Breite, war innerlich jedoch mit dem Gedanken beschäftigt, einen Fotografen kommen zu lassen. Wie charmant, geradezu artistisch, wäre es, die Fotografie von ihr, aus dem Turm schauend, im Turm aufzuhängen? Ein genialer Einfall! Also rief sie auf Frau von Rothedorfs durchaus nicht uninteressante Bemerkung hin nur ein lautes, barsches und gedanklich völlig andersorientiertes: »Holger!«

– In diesem Moment fasste Frau von Rothendorf den Entschluss, zu gehen und möglichst nie wieder zu kommen. Zwar konnte sie nicht genau bestimmen, was es war; warf sich sogar selbst vor, der Martinelli nicht gewachsen zu sein, doch tatsächlich empfand sie sich in ihrer Gegenwart nur als eine Art leere, bedeutungslose Hülle, eine glanzlose, nichts zu bieten habende Figur, die nicht wirklich war, und das gefiel ihr nicht. Dass dies an Frau Martinelli lag, lag auf der Hand. Doch war Matilda von Rothendorf im Moment außerstande, diesem diffusen Gefühl auf den Grund zu gehen, und so war der Ausweg der einzig richtige Weg. Sie aß hastig, verzichtete sogar auf ihre Manieren, als sie mit dem Finger Krokant auf die Gabel schob, und sah dabei nicht ein Mal auf. Frau Martinelli hing großartigen Gedanken nach. Als sie sich endlich vergegenwärtigte, sagte sie: »Matilda! Nun schling nicht so!«

Frau von Rothendorf hob die Brauen und hatte eine bissige Antwort parat, über die sie lange nachgedacht hatte, – doch da trat Holger ein und Frau Martinelli sprang auf.

»Holger, erkundigen Sie sich umgehend nach einem Fotografen! Morgen soll er kommen, Punkt zwölf Uhr. Legen Sie mir heute Abend um achtzehn Uhr eine Auswahl vor, ich wähle den Besten.«

»In Ordnung«, sagte Holger, der noch im Türrahmen stand und dem es nicht neu war, dass der Sonntag ein Ruhetag war, sofern Frau Martinelli dies gestattete. Er gedachte seinen Begrüßungen am Hörer und bereitete sich auf Beschimpfungen vor.

»Jetzt gleich«, sagte Frau Martinelli ungeduldig nachdrücklich.

Demütig nickte Holger, wandte sich aber nochmal um: »Wenn die Maschine durchgelaufen ist …?«

»Maschine? Ach, ja. Geben Sie Ludwig den Knochen zurück. Er wird seine Freude daran haben.«

Und so begab sich Holger für die Recherche auf sein Zimmer; ein bisschen dankbar, aus dem direkten Dienst entlassen zu sein, und wohlwissend, dass sich dies rasch ändern konnte.

Frau von Rothendorf derweil hatte aufgegessen und schaute ihrer Gastgeberin mit verdecktem Abscheu zu, wie jene überlegend Schritte tat, immer wieder innehielt, und schließlich »Ja« sagte. Sie wirbelte auf den Fußballen herum; ihr Augenpaar wanderten über die Wandtäfelung, wo das Bildnis hängen sollte, und fiel dann wie zufällig auf Frau von Rothendorf: »Was wolltest du sagen, meine Liebe?«

Inzwischen waren die spitzen Worte Frau von Rothendorfs zurück in den Rachen gepurzelt, also erhob sie sich, sagte, es tue ihr leid, sie müsse los, sie sehe, sie, Frau Martinelli, sei beschäftigt. Es sei köstlich gewesen und auf bald. Frau Martinelli insistierte; es sei doch so angenehm, sie sei doch eben erst gekommen! Und mit einem Mal unternahm die Gastgeberin einen großen Aufwand, um ihre »liebe Matilda« zu einem weiteren Stück Kuchen zu bewegen. Sie will mich fett sehen!, dachte die von Rothendorf und hob der inzwischen Argumentierenden entschieden den Rücken vor, indes sie in ihre Strickjacke schlüpfte. Während sie, nette Worte austauschend, von Frau Martinelli zur Haustür geleitet wurde, nahm sie sich inständig vor, einer Einladung dieser fürchterlichen Person nie wieder Folge zu leisten. Zwei Wochen später allerdings hockte sie mit überschlagenen Beinen unter der vergrößerten Fotografie einer retuschierten Martinelli, und wurde zum x-ten Mal in Sachen Bienenstich behelligt. Es war wirklich der beste im ganzen Land.

3.

»Mar-ti-nelli. Kommen Sie, so schnell es geht. Ich mache mir wirklich Sorgen!« Frau Martinelli ging rege im zum Turm angrenzenden Saal auf und ab, das Telefon, auf Lautsprecher, vor ihren Mund gehoben.

»Mar … ti … nelli. Und die Adresse?«, sagte Antonio, der Kammerjäger.

»Es war Jürgen, der mich auf den Gedanken brachte«, fuhr Frau Martinelli atemlos fort. »Jürgen ist mein Fotograf, er ist wirklich der Beste, und er meinte, bei seinen Eltern habe ein wilder Hund gelebt, ein Wolfshund, ein Wolfshybrid. Stellen Sie sich vor, so eine Bestie schleicht in meinem Garten aus und ein. Der arme Ludo! Ich habe selbst einen Hund. Wenn das Tier solche Knochen heranträgt! Überlegen Sie!«

»Ich bin Kammerjäger, liebe Frau, kein Dompteur … «

»Hören Sie nicht? Ludwig ist schon ganz verstört, er weiß gar nicht, was los ist. Er darf nicht mehr in den Garten. Haben Sie nicht eine Falle? Für Waschbären oder … Füchse, Marder? Sie wissen schon. Wenn sich das Ungeheuer damit fangen ließe … Hallo, Herr Galli? Herr Galli, sind Sie noch da?!«

Antonio Galli saß am Tresen einer Kücheninsel und empfing einen Espresso von seiner Sekretären, die außerdem seine Frau war. Sie hatte ihm dabei einen fragenden Blick zu geworfen, er hatte ein Gesicht geschnitten, worauf sie, erheitert, seine massige Schulter streichelte und ihn bemitleidend ansah. Antonio Galli pflegte zu sagen: Die größten Plagen darf man nicht bekämpfen; Sie geben einem das Geld.

»Was sagten Sie?«, meldete er sich zurück. »Ich kann vorbei kommen, und mir die Sache ansehen. Das ist natürlich nicht kostenlos.«

Frau Martinelli war vor einem hohen Standspiegel stehen geblieben, das Telefon nach wie vor vor den Mund gehalten; besorgt sah sie gut aus. »Ja, bitte! Kommen Sie jetzt gleich!«

»Gut, ich komme sofort. Dann muss ich einen Notfall abrechnen. Die Adresse?«

»Natürlich. Kommen Sie! Villa Vanille, geben Sie es in die Suchmaschine ein.«

»Danke.«

Es tutete. Frau Martinelli seufzte ihr Spiegelbild an und schüttelte den Kopf. Dann griff sie sich von unten in das volle Haar, drehte die Hüfte etwas ein und betrachtete ihren Po von der Seite. So eine Aufregung!

Antonio Galli trank seinen Espresso, ging hinter den Tresen und umschloss seine Frau von hinten. Sie rieben ihre Unterleibe aneinander und aus dem mechanischen Prozess wurde ein heißes, lustvolles Verlangen, das, als sich Antonio doch endlich losriss, beide in großer Erwartung an den Abend zurückließ. Umso missmutiger plumpste Antonio auf den Fahrersitz seines Pickups. Zigarette, Feuerzeug, Fensterknopf. Anschnallen. »Anschnallen nicht vergessen … «, murmelte er vor sich hin, schlug ein, und rollte auf die Straße. »Villa Vanille … Lecker … Bescheuert.«

Es waren nur sieben Minuten, bis Antonio Gallis Motor angesichts der steilen Passage heulte, die auf die Anhöhe über der Stadt führte. Zur selben Zeit hellte sich sein Gemüt auf. Er fuhr an prächtigen Häusern vorüber, an Zäunen mit bösen Spießen und lächerlich grünen Rasenflächen, und ein fröhliches Abenteuergefühl war mit ihm, denn es war ganz klar, dass er nicht hier her gehörte, und umso neugieriger spähte er nach den Anwesen, und immer mit einer gut gemeinten Verachtung für die Übertreibungen dieser reichen Menschen. Schließlich fragte er einen betagten Mann mit dunklen Sonnengläsern nach der Villa.

Frau Martinelli drängte sich mit ausgestrecktem Arm an Holger vorbei: »Herr Galli, gut, dass Sie da sind! Martinelli, wir haben telefoniert. Kommen Sie. Es ist schlimm.« Im Stechschritt floh sie schon davon, in den Garten, und Antonio folgte ihr, sich fragend nach dem Butler, wie er Holgers Erscheinung wahrnahm, umsehend, bald aber das Augenmerk auf den sportlichen Hintern der hysterischen Dame lenkend, die in jener Schockstimmung sein musste, die er leider allzu gut kannte: Die Leute in dieser Laune hören nicht zu, haben keinen Verstand, wollen, dass man alles weiß, und alles sofort geschieht.

»Ich hätte Sie nicht angerufen, wenn es nicht wirklich dringend wäre, hier, das ist der Garten, da; sehen sie? Mein Diener hat es entdeckt, vielleicht hat es was damit zu tun, schauen sie, die Erde ist ganz aufgewühlt, und hier, an der Hecke, nein, hier oben Herr Galli, hier sehen Sie, dieser Ast ist auch abgebrochen.«

Antonio musterte den Boden, die Hecke, den Wedel, der ihm vorgehoben wurde. Eine Weile sah er Frau Martinelli ins Gesicht; sie hatte ein wunderschönes Gesicht, mit wilden, grünen Augen, einer sanften, spitzen Nase, von leichten Sommersprossen gesäumt, dunkle Lippen, – und ein Name tanzte durch Antonios Gedächtnis: Romilda. Auch Romilda war auf diese Art schön. Und außerdem strunzdumm. Nanu, was wollte er schon, er war hässlich, haarig und fett; und er zuckte innerlich mit den Schultern.

»Und Sie meinen, es könnte ein Wolf sein?«, fragte er, wobei es, ohne dass er es wollte, klang, als mache er sich lustig.

»Nicht direkt ein Wolf. Ein Wolfs-hybride. Vielleicht haben wir Glück, und es ist nur ein Fuchs – was kenne ich mich damit aus! Es war Jürgen, der davon erzählt hat und heute Nacht wache ich auf, und ich hatte ein seltsames Gefühl, eine Ahnung, und ich schaue aus dem Fenster in den Garten.«

Auf das Stillschweigen hin wagte Antonio ein zögerliches: »Und?«

»Nichts!«, sagte Frau Martinelli. »Aber es könnte doch! Hören Sie, ich bilde mir so etwas doch nicht ein, und nur, weil ich nichts gesehen habe! Also bitte, Herr Galli, kümmern Sie sich darum! Sie haben doch eine Falle mitgebracht?«

Antonio nickte langsam und sah der Hecke auf und ab. »Gehen Sie in das Haus. Ich sperre den Garten ab und stelle die Falle auf. Dann melde ich mich nochmal.«

»Sehr gut! Ich danke Ihnen Herr Galli! Ich danke Ihnen! Ich werde Sie weiterempfehlen! Dann melden Sie sich, Holger – mein Diener, wird Ihnen eine Tasse Kaffee bringen. Haben Sie vielen Dank, ja!«

Herr Galli machte beschwichtigende Handbewegungen, um anzuzeigen, dass er noch nichts getan hatte. Als die Martinelli weg war, lud er langsam das Gehege aus dem Auto und malte sich aus, wie er seiner Frau erzählen würde: Diener, jawoll. Brunnen im Garten, Limousine in der Einfahrt. Diener hat sie die ganze Zeit gesagt, Ehrenwort. Ab und an schüttelte er den Kopf.

Innerhalb von zwei Stunden errichtete Galli mit Gitterteilen einen Schutzwall entlang der Hecke, stellte eine Waschbärfalle dahinter auf, legte ein Stück Köderfleisch hinein, und rauchte außerdem acht Zigaretten. Als der Butler den Kaffee brachte, ausgezeichneter Kaffee, versuchte er, etwas aus ihm rauszukriegen, doch der Kerl blieb aalglatt und wollte nichts über seine Arbeitgeberin preisgeben. Schließlich führte er der Frau Martinelli sein errichtetes System vor, wie er es nannte, und füllte den Eindruck, er habe kaum zu tun gehabt, mit vielen Worten und Erklärungen, sodass die Hochwohlgeborene verständig nickte und sich in dem Gefühl wägte, der Kammerjäger habe alles im Griff. Ehe Antonio die Rechnung aufstellen konnte, verschwand Frau Martinelli, und wiederkehrend hielt sie einen Knochen in der Hand und machte vielsagende Miene.

»Schauen Sie, Herr Galli. Dieses Ding hat der Hybrid hinterlassen. Beweisstück A.« Sie lachte. Auch er lachte. »Herr Galli, welches Tier hat denn solche Knochen? Womöglich gehört er zu einem Dinosaurier! Man sollte ein Museum anrufen!« Wieder lachte sie. Er schmunzelte, Nettigkeiten gehören dazu, emotionales Arbeiten, wichtig.

»Keine Ahnung.« Antonio nahm den vor seine Nase gehobenen Knochen und außerdem eine dilettantische Untersuchung desselben vor. »Schwer zu sagen. Aber wir werden schon sehen, was uns in die Falle geht.«

»Ja, Sie sagen es.« Frau Martinelli seufzte, als nehme sie die ganze Sache ordentlich mit. Antonio sah mitfühlend drein, wurde aber ungeduldig. Er gab den Knochen zurück.

»Gut. Rufen Sie an, wenn die Falle zuschnappt. Die Rechnung schicke ich Ihnen dann. Mal sehen … Notfallgebühr, Anfahrt, Leihgabe der Materialien, dann war ich zwei Stunden hier … Das macht … Pi mal Daumen um die dreihundert.«

Frau Martinelli hatte ab der Hälfte nicht mehr richtig zugehört, sie wedelte mit dem Knochen in der Hand, als handle es sich um eine lästige Nebensächlichkeiten. »Sie haben mein vollstes Vertrauen, Herr Galli. Wir Landsmänner und Frauen halten doch zusammen, nicht wahr! Tun Sie, was nötig ist, Hauptsache, mein Ludwig kann eines Tages wieder unbesorgt im Grünen spielen. So etwas Furchtbares! Und ja, natürlich, ich melde mich, sobald sich etwas getan hat!«

Im Auto zögerte Antonio, ehe er den Schlüssel umdrehte. Aus irgendeinem Grund meldete sich sein Gewissen, doch kurz darauf schüttelte er es ab; er machte nur seinen Job und was von ihm verlangt wurde. Punkt. Und wie lästig sind diese reichen Wasserköpfe? Schrecklich nett gegen alle Handwerker, immer. »Die haben ein schlechtes Gewissen«, murmelte er. Weil sie sich schuldig fühlen. Immer wollen sie auf gutem Fuß mit einem stehen, als sei man einander verbunden. Man muss es eben für sich ausnutzen. Um ein wenig Geld auf die eigene Seite zu schaffen. Alle betrügen einander, so funktioniert die Welt.

Zehn nach Mitternacht: »Herr Galli! Hören Sie, ich, nun, Herr Galli, hören Sie, ich war schon zu Bett, da höre ich es klappern, gerade eben, kaum eine Minute her, es muss die Falle gewesen sein!«

Frau Martinelli, kerzengerade im Daunenbett sitzend, fasste sich mit der freien Hand ans knochige Brustbein; ihre Brüste versteckten sich hinter dem Revers eines seidenen Kimono mit rotschwarzer Musterung am Saum. Nun saß sie im Bett, zuvor war sie jedoch tatsächlich im Badezimmer zugange gewesen, wo sie Hand angelegt hatte, bis das verräterische Klappern durch das Kippfenster gedrungen war und sie in einen hellen Schrecken versetzt hatte – sie war aus dem Badezimmer gerannt, ins Bett gehüpft, und hatte von dort den Kammerjäger antelefoniert.

»Frau öh äh Martines.« Antonio Galli, ebenfalls zu Bett, und soeben aus komatösem Zustand erwacht, fuhr mit der Hand entlang seines Kugelbauchs, bis seine dicken Wurstfinger einen Klumpen getrockneten Samen im Gestrüpp seines Glückspfades zu fassen bekamen, an welchem er gedankenverloren herumspielte und zupfte. Seine Sekretärin drehte sich grummelnd auf die Seite.

»Martinelli.« Gekränkt ließ sie für kurz jede Höflichkeit fahren: »Kommen Sie jetzt, es ist ernst.«

»Was ist es denn?«, fragte Antonio schläfrig und überprüfte mit selber Hand die Zigarettenschachtel auf dem Nachttisch.

»Was?«, fragte die Martinelli hohl.

»In der Falle. Was ist in der Fall?«

»Das weiß ich nicht, ich werde aber gleich Holger schicken. Er soll nachsehen.« Und verärgert setzte sie hinzu: »Mein Diener, Holger, wenn Sie sich erinnern.«

Antonio Galli musste in seiner Schlaftrunkenheit ehrlich lächeln und er kicherte etwas tumb vor sich hin: »Ja, daran erinnere ich mich … «

»Gut. Kommen Sie?«

»Dann muss ich einen Notfall abrechnen.«

»Es ist ein Notfall.«

»Zehn Minuten.«

Fünfundzwanzig Minuten später hätte ein müder Galli beinahe einen noch müderen Holger überfahren. Beide waren zu müde, um sich zu entschuldigen. Wortlos führte der Bedienstete den Kammerjäger hinter die Zäune und Hecken des Anwesens und erklärte dabei: »Es ist nichts. Gar nichts. Aber irgendwas hat den Mechanismus ausgelöst. Die Falle ist zugeschnappt. Nur saß niemand darin.«

Der Mond stand hoch über der Villa. Antonio rümpfte die Nase zu einem entsetzlichen Gesichtsausdruck. »Sie ist leer?« Er stierte Holger in den Rücken, sah dann aber zu einem der wenigen, beleuchteten Fenster hinauf. Frau Martinelli stand im obersten Turmzimmer, wie ein Gemälde; die verschränkten Arme im Kimono, das schwarze Haar, ohne jede Spur von Schlaf, makellos, der Hintergrund; ein tief orangefarbenes Nachtlicht.

»Ganz leer. Völlig leer«, sagte Holger zustimmend.

»Sie ist völlig leer« und Antonios Tonfall suggerierte die Frage, weshalb er dann hier sei. Er hob die Hand zum Gruß. Frau Martinelli zog die ihre aus der Armbeuge. Holger sagte über die Schulter: »Sagen Sie uns, wie das passieren konnte.«

Er zückte eine Taschenlampe, leuchtete im Hintergarten umher, da blitzten die Gitterstäbe auf. Die Tür war zugefallen, die Falle leer. Antonio Galli zog sich die Hosen hoch, marschierte zur Falle hin, fummelte ebenfalls eine Lampe aus der Tasche und leuchtete in die Hocke gegangen in dem Käfig herum.

»Der Köder ist auch weg. Sie haben doch einen Köder hineingelegt oder nicht?«

»Ja … hab ich … « Antonio stand auf, er war einen Kopf größer als Holger und dreimal sie breit. »Ich schlafe auch, wissen Sie … Meistens jetzt, um die Uhrzeit.«

»Entschuldigen Sie, Frau Martinelli hat sich sehr erschreckt. Sie ist sehr sensibel … «

Antonio sah kurz hinauf zum Turmfenster und sprach leiser: »Sie können ja nichts dafür … Also. Schauen Sie. Da passt eine Katze rein. Ein Waschbär. Ein kleiner Hund. Glaube kaum, dass wir was anderes fangen damit. Beruhigen Sie lieber ihre … ihre … «

»Frau Martinelli.«

»Ihre Frau Martinelli, beruhigen Sie sie einfach ein bisschen.«

Das Fenster knackte einsam durch die Nacht; Holger und Antonio hoben gleichsam die Köpfe.

»Herr Galli, ist alles in Ordnung?«

»Alles in Ordnung!«, rief Antonio den Turm hinauf. »Vermutlich Mäuse. Haben den Köder gefressen.«

»Mäuse?«, schrillte Frau Martinelli, nicht sicher, ob dies gut sei.

»Ja. Sie können durch die breiten Gitterstäbe ein und aus.«

»Wir haben Mäuse im Garten?!«

»Ja … aber … wissen Sie, das ist – «

»Können Sie dagegen vorgehen?«

Antonio wechselte einen merkwürdigen Blick mit Holger, nach dem er nicht sicher war, ob der Bedienstete auf seiner Seite, der Seite der Vernunft stand, oder ob der Diener seine Rolle fortspielen und alles im Sinne der Dame ergebenst abnicken und ausführen würde. Holger verwies mit den Augen hinauf, und dass es Frau Martinelli war, welcher Herr Galli verpflichtet sei.

»Ja. Dagegen vorgehen kann man immer.«

»Oh Gott sei Dank!«, kam es prompt von oben. »Dann tun sie es! Alles! Machen Sie, was Sie für richtig halten. Hauptsache, der Garten ist nicht voller Wild!«

Antonio nickte nach oben, ihm war seltsam zumute; irgendetwas zwischen Sprachlosigkeit, müder Belustigung, Empörung und durchaus ausgeprägtem Geschäftssinn.

»Dann … komme ich morgen Vormittag. Heute Nacht sollte alles sicher sein.«

»Gut … Sehr gut! Ich bezahle alles! Hauptsache, kein Ungeziefer im Garten.« Das Fenster knackte, als sie den Hebel umlegte.

Antonio schob die Finger unter die Schildmütze und kratzte sich den Kopf. Holger wippte kurz auf den Ballen. Das Turmfenster knackte nochmal, diesmal hastiger: »Herr Galli. Stellen Sie doch jetzt schon etwas auf, ein Gift oder was, das Sie jetzt da haben. Für die Mäuse! Nicht, dass Sie umsonst gekommen sind. Gute Nacht.« Das Fenster wurde geschlossen.

Antonio lüftete den Kopf, indem er die Mütze kurz abnahm: »Umsonst sicher nicht.« Er sah nach Holger und lachte. Holger deutete ein Lächeln mit spitzem Mund an und sah zu Boden. Herr Galli seufzte. »Ist nicht immer einfach, hier zu arbeiten, was? Die Gnädige hat Vorstellungen.«

Da Holger schwieg, wurde Antonio erneut nicht schlau aus dem gefrackten Männchen. Er murrte, gut gut, dann wolle er mal, und ging zum Auto hin – ein drittes Mal wurde indes das Fenster aufgerissen: »Herr Galli! Sie lassen die Falle doch da, nicht wahr? Die große, also. Nicht dass der Hybrid doch kommt, und von dem ganzen nächtlichen Tamtam hier im Garten angelockt wird!«

»Natürlich! Das ist das Wichtigste«, sagte Antonio mit dem Kopf im Nacken. Während er es sagte, gab er alle Versuche, die Kundin ernst zu nehmen, für immer auf. Gemächlich ging er zum Pickup, wurstelte in Seilen und Apparaturen herum und fand schließlich eine rostige Rattenfalle.

Zurück im Garten hantierte er im Lichtkegel, welcher vom Bediensteten gespendet wurde, an der großen Falle; und öffnete zunächst das Fallgitter. Dann nahm er die Rattenfalle her, spannte sie, und spießte einen Köder auf. Langsam stellte er die Rattenfalle in die Waschbärfalle, und zog den Arm vorsichtig heraus. Weil er das, was er getan hatte, für absurd hielt, blickte er kniend und erwartungsvoll zu Holger auf.

Analytisch hatte der Bedienstete den Vorgang beobachtet, und als Galli auf eine so verschmitzte Art aufsah, huschte auch ein Lächeln über Holgers Gesicht: »Vorzüglich. Sie sind wirklich der Beste, Herr Galli.«

»Das will ich doch meinen!«, lachte und prustete jener, drückte sich in den Stand, zog die Hosen hoch. Er harrte zu Boden schauend aus und wedelte nach kurzem mit der Hand: »Gut. Gute Nacht. Ruhige Nacht.«

Holger sagte nichts weiter, nickte, langsam und vorsichtig. Der kleine Spott, der ihm über die Lippen gekommen war, verunsicherte ihn; für wenige Worte war er aus seiner Rolle gefallen. Herr Galli aber hatte diesen ungetrübten Blick auf die Dinge, und die charmante Angewohnheit, eben nicht zu schauspielern, und das empfand der Bedienstete als unerhört erfrischend. Beide fühlten sich nach diesem uneindeutigen Austausch merkwürdig beschwingt: Sie hatten einander gewonnen.

4.

Zwei Tage später, zu den hohen und offenstehenden Fenstern im zweiten Geschoss der Villa Vanille fiel frühlingshaftes Licht ein. Der Himmel war wolkenlos blau, die Vögel sangen, und auf dem ergrünten Hang lag eine friedvolle Stimmung, die auch zu den Fenster eintrat.

Narzissa Martinelli trug eine lila Sporthose, so eng anliegend, dass sie damit etwa durch die Stadt gejoggt gewiss verheimlichte Blicke und öffentliche Ärgernisse hervorgerufen hätte. Auf einer blauen Schaumstoffmatte machte sie den Hund und betrachtete währenddessen ihre auseinanderklaffenden Pobacken eingehend im Spiegel. Der Spiegel kleidete die gesamte Wand des Fitnesszimmers. Während sie ihre athletische Figur in allen Positionen bewunderte, schallte Popmusik aus einem Radio, das war neben der Tür eingesteckt. Hingebungsvoll dehnte sich die Martinelli. Schließlich setzte sie sich, sich selbst im Spiegel zugewandt, zur abschließenden, fünfminütigen Meditation. Wer etwas auf sich hielt, meditierte neuerdings. Außerdem meditierten Frau Kötel, Frau Ilona, selbst die von Rothendorf. Der Timer der intelligenten Sportuhr lief, die Martinelli saß in klassischer Positur da und wartete auf das sie erlösende Piepsen. Anfangs hatte sie das Radio immer abgestellt, inzwischen ließ sie es einfach laufen … Galli kommt gleich, dachte sie, da sie, ehe sie die Augen geschlossen hatte, zuletzt auf die Uhr gesehen hatte. Dieser Mensch. »Mensch«. Ein so hässlicher Kerl. Man könnte ihn glatt mit der Kötel verkuppeln – was käme dabei nur heraus? Ein hässlicher Zwerg, ein Gnom, ein garstiger Wicht, um Gottes Willen, bloß nicht den Galli mit der Kötel … Dem hüpfen die Augen raus, wenn er mich sieht. Tz. Aber er versteht sein Handwerk. Lieber einen, der seine Sache beherrscht, auch wenn er hässlich ist, als geschönte Zweitklasse. Sie nickte und sackte in der aufrechten Haltung zusammen. Kurz darauf öffnete sie die Augen und kniff sie schnell wieder zu;