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Willkommen in NAYO! Ein Rebell. Ein mutiges Mädchen. Eine verbotene Liebe. Als Sally Cooper ein Attentat auf den Präsidenten vereitelt, feiert sie die Akademie für Verteidigungswissenschaften als Heldin. Doch zwei neue Mitschüler, darunter der mysteriöse und verboten gut aussehende Fireball, bringen das Leben in dem Eliteinternat tüchtig durcheinander. Wer sind die beiden? Warum brechen sie alle Regeln der Akademie – ohne Konsequenzen? Und was hat Fireball mit dem Attentat auf den Präsidenten zu tun? Je näher Sally Fireballs Geheimnis kommt, desto tiefer gerät sie in die Fänge seiner tödlichen Feinde. Doch ihr Herz ist stärker als ihr Verstand – mit fatalen Folgen ... »NAYO – The Dark Side of You« ist ein mitreißender Pageturner – ein Buch wie ein Kinofilm, das dich von der ersten Seite an in seinen Bann zieht. Alle Bände der Reihe: Band 1: NAYO – The Dark Side of You Band 2: NAYO – The Dark Side of Me Band 3: NAYO – The Dark Side of Us Band 4: NAYO – The Dark Side of Them Band 5: NAYO – The Dark Side of All Leserstimmen: »Ganz klare Leseempfehlung!« – Aline »Packende dystopische Geschichte mit zarter Lovestory und viel Action« – Vanessa »Actionreiche Liebesgeschichte« – Diebuchfluesterin
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Playlist
Über NAYO
Prolog
1. Sally
2. Fireball
3. Sally
4. Fireball
5. Sally
6. Fireball
7. Sally
8. Fireball
9. Sally
10. Sally
11. Fireball
12. Sally
13. Fireball
14. Sally
15. Fireball
16. Sally
17. Fireball
18. Sally
19. Fireball
20. Sally
21. Sally
22. Fireball
23. Sally
24. Fireball
25. Sally
26. Fireball
27. Sally
28. Sally
29. Fireball
30. Sally
31. Sally
32. Fireball
33. Sally
34. Fireball
35. Sally
36. Fireball
37. Sally
38. Fireball
39. Fireball
40. Sally
41. Sally
42. Fireball
43. Sally
44. Fireball
45. Sally
46. Fireball
47. Sally
48. Sally
49. Fireball
50. Sally
51. Leseprobe Band 2
Danksagung
Für Fireball,
der unbedingt wollte,
dass ich seine Geschichte aufschreibe.
nicest thing - kate nash
chances - backstreet boys
rollin’ - limp bizkit
green eyes - coldplay
bury a friend - billie eilish
can’t hold us - macklemore & ryan lewis
labyrinth - taylor swift
bad guy - billie eilish (tina’s theme)
enemy - imagine dragons
chasing cars - snow patrol
lost - liza anne
how to save a life - the fray
liebe meines lebens - philipp poisel
Die Erde, wie wir sie kennen, wurde im Dritten Weltkrieg zerstört. Die Kontinente Europa, Asien, Nord- und Südamerika sowie Afrika sind nach schweren atomaren Angriffen unbewohnbar. Die überlebenden Menschen sind in ihrer technologischen Entwicklung um Jahrhunderte zurückgeworfen und befinden sich nun, im Jahre 2520, in etwa auf dem Stand von 2050. Aber: Sie haben Frieden miteinander geschlossen und leben unabhängig von Hautfarbe, Religion, Geschlecht und sexueller Orientierung friedlich auf Inseln im Indischen Ozean. Als Zeichen dieses friedlichen Neubeginns haben sie die Erde umbenannt in Nayo. Nayo steht für Glück und Freude, kann aber auch übersetzt werden in „grüne Welt“. Jedoch: Friede liegt nicht in der Natur des Menschen und so lauern auf den Straßen Nayos weiterhin Gefahren …
Die Dark-Side-Reihe spielt in Australien.
Würde ich mein Leben
mit einem Gegenstand vergleichen –
so wäre es eine Sanduhr.
Denn wie die Körnchen
durch deren Hals rieseln,
rinnen meine Tage durch die Woche.
Immer gleich.
Und ist die Woche vorbei,
drehe ich die Sanduhr um
und alles beginnt von vorn.
Ich hatte ja keine Ahnung,
dass mein Leben so eintönig ist.
Dass es mehr geben könnte.
Bis ich dich traf.
Gerade als mein Vater seine Rede beginnt, sticht mir ein winziges Staubkorn in den Hals. Ich räuspere mich leise. Das hilft nur kurz, dann ist das Kratzen zurück. Verdammt. Ich schlucke und sehe mich im Raum um. Dads Rede hält die Anwesenden in Bann. Als Schulleiter weiß er, wie er mit der perfekten Mischung aus bedeutungsschwerem Inhalt und einer Prise Humor die Spannung aufrechterhält. Davon hätte sich so manch einer seiner öden Vorredner eine Scheibe abschneiden können.
Wir haben den vierten Gang und die sechste Ansprache hinter uns. Dad ist Nummer sieben. Bin ich voreingenommen oder ist seine Rede tatsächlich genial? Mir gegenüber sitzt ein alter Mann mit Haarkranz. Er zieht sich die Krawatte lockerer, die zu eng um seinen dicken Hals gebunden ist. Sein Hemd spannt am Bauch. Er starrt meinen Vater an, und als Dad einen Scherz macht, wabbelt sein Hals beim Lachen. Neben ihm sitzt seine Frau. Eine rothaarige, vollbusige Dame mit ausladendem Dekolleté und Sektglas in der Hand. Gerade unterdrückt sie einen Rülpser, aber es sieht so aus, als sei ihr dabei der letzte Schluck Sekt zurück in den Mund gelaufen.
Die beiden sind widerlich. Aber verdammt wichtig. Denn er ist der Kommandant für Soziales, sie die Vorstandsvorsitzende des Bekleidungs-Giganten Tree of Hope – des Ausstatters des Kommandariats und unserer Schule. Sie haben das Ballkleid bezahlt, das ich gerade trage.
Ich bin umgeben von solchen bedeutsamen Leuten. Denn das hier ist die größte Wirtschaftsveranstaltung des Planeten. Hier berichten Vertreter aus Kultur, Wirtschaft und Bildung dem Präsidenten und der obersten Führungsriege über ihre Pläne und Ausgaben und versuchen, von ihnen Geld zu bekommen. Für die Vertreter der Kultur lief der Abend bisher alles andere als erfolgreich. Nur ein Gesangsprojekt, das durch alle Truppenstationen im All touren möchte, hat einen Zuschlag erhalten. Ein Unternehmen konnte mit einer Technologie überzeugen, die die Schutzschilde unserer Kampfschiffe stärken soll. Ein anderes wollte Geld für ein kalorienarmes Müsli, aber es hatte keine Chance – im All braucht man Energie. Eine Schule, die nicht mit dem Kommandariat kooperiert, wollte Geld für die Erneuerung ihrer naturwissenschaftlichen Räume, aber natürlich ging sie leer aus. Dass sie sich überhaupt getraut haben, heute Abend vorzusprechen. Mein Vater und ich können uns dagegen sehr wohl Hoffnung auf Unterstützung machen. Dad ist der Leiter der Akademie für Verteidigungswissenschaften, der wichtigsten Nachwuchsquelle des Kommandariats. Wenn er heute Abend alles richtig macht, können wir uns im nächsten Schuljahr über Klassenausflüge oder eine Anschaffung für die Wissenschaftsabteilung freuen. Falls ich ihm nicht die Rede mit diesem verdammten Staubkorn vermassele, das schon wieder kratzt. Ich räuspere mich verhalten.
Da spüre ich einen Blick. Links von mir, fünf Plätze weiter auf der anderen Seite des Tisches, sitzt Kommandantin Josephine Galeri. Welchen Bereich sie verantwortet, habe ich vergessen, also ist es wohl kein wichtiger. Sie lächelt mich freundlich an, hebt ihr Glas ein winziges Stück und blickt dann auf etwas hinter mir. Der Tisch mit den Getränken.
Ich schüttele kaum merklich den Kopf und schaue konzentriert zu meinem Vater. Aber keine zwei Sekunden später meldet sich das Staubkorn zurück. Verdammt! Ich lege den Kopf in den Nacken und schlucke.
Über mir spiegeln sich die Tischreihen und mein blasses Gesicht in der gläsernen Kuppel. Das goldene Besteck glitzert in der Glasfläche wie kleine Sterne, der silberne Reif in meinem dunkelbraunen Haar blitzt auf wie eine Krone. Man könnte meinen, wir säßen in einem überdimensionalen Wintergarten, aber es gibt sehr wohl feste Wände. Sie sind mit Stofftapeten bezogen und an den Seitenfenstern hängen seidene Vorhänge. Meine Güte, ist das glamourös. In meinem Bauch flattern Schmetterlinge. Ich bin zu Gast im Palast des Präsidenten! Da der Palast Teil des gigantischen Schutzgürtels ist, der sich um ganz Nayo spannt, gelangt man nur mit einem Shuttle des Kommandariats hierher und befindet sich knapp unter der Schwelle zur Schwerelosigkeit.
Mein Vater macht einen Witz und das Lachen der Anwesenden hallt durch den Saal. Ich nutze die Gelegenheit, um mich ordentlich zu räuspern. Es hilft nicht. Und das Glas vor mir ist leer.
Ob es unangebracht ist, während der Rede meines Vaters aufzustehen und mir etwas zu trinken zu holen? Auf jeden Fall. Aber noch schlimmer wäre es, wenn ich die Rede meines Vaters mit meinem Räuspern verhunzte. Immerhin wird sie live in alle Haushalte übertragen. Ich beobachte die Kameras. Sie sind auf meinen Vater gerichtet. Nur die Menschen hier an den Tischen würden bemerken, wenn ich aufstehe. Also nur etwa die mächtigsten und reichsten Menschen der ganzen Welt.
Ich schiele zu dem Tisch, auf dem die Gläser mit Sekt, Saft und Wasser ordentlich in Reih und Glied stehen, ein junger Mann dahinter, immer bereit, ein frisches Glas zu reichen. Mein Vater spricht gerade über die Maßnahmen, die unsere Akademie durchführt, um Kinder und Jugendliche auf die Ausbildung als Kadetten vorzubereiten. Nahkampf, Strategieschulung, Kampftheorie, Kriegsgeschichte … Es piekst so schmerzhaft in meinem Hals, dass mir die Augen tränen. Ich schlucke dagegen an.
Leise schiebe ich meinen Stuhl Zentimeter um Zentimeter vom Tisch weg. Der Kommandant für Soziales beobachtet mich mit gerunzelter Stirn. Ich lächele entschuldigend und deute auf meinen Hals. Fast geräuschlos erhebe ich mich und mache die ersten Schritte Richtung Getränketisch. Fast geräuschlos. Denn mein ausladendes Kleid raschelt und schleift bei jedem Schritt über den Boden, als wolle es rufen: »Achtung, Achtung! Die Tochter des Akademieleiters hat sich erhoben – während seiner Rede, auf die er sich zwei Wochen vorbereitet und wegen der er drei Nächte nicht geschlafen hat. Achtung, Achtung!«
Und als wäre mein Kleid nicht laut genug, höre ich in meinem Rücken, dass Dad in seiner Rede stockt, innehält, dann mit flatternder Stimme weitermacht. Mist! Ich habe ihn aus dem Konzept gebracht.
Mit wackeligen Beinen gehe ich die paar Meter zu den Getränken. Ich kann die Blicke der Anwesenden in meinem Rücken spüren. Mir ist so heiß, dass meine Wangen glühen. Hoffentlich sieht man durch das Kleid keine verräterischen Flecken unter den Achseln. Oder wie mir der Schweiß den Rücken hinunterläuft.
Der junge Mann hinter dem Tisch mit den Getränken trägt eine schwarze Hose, ein blütenweißes Hemd und eine rote Krawatte mit dem goldenen Lebensbaum, dem Tree-of-Hope-Logo. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und hört meinem Vater so aufmerksam zu, dass er gar nicht mitbekommt, wie ich auf ihn zugehe. Obwohl sein Blick so finster ist, ist er unglaublich attraktiv. Auf seinem Kopf hat sich hier und da eine dunkle Strähne quergelegt, als wäre er sich heute Abend mehr als einmal mit den Händen durch die Haare gefahren.
Ich bin schon fast da, da tut er etwas, das mich erstarren lässt. Es ist nur ein kurzer Moment, eine kleine Geste, aber sie sorgt dafür, dass ich plötzlich nervös bin. Mit diesem Typen stimmt etwas nicht. Ich weiß es. Denn auf irgendetwas hin, das mein Vater eben gesagt hat, hat er mit den Augen gerollt. So etwas macht man nicht. Nicht, wenn man dem Kommandariat und dem Präsidenten treu ergeben ist. Nicht, wenn man seinen Job im Palast behalten will.
Mein Vater redet von körperlicher Fitness und Geschicklichkeit, keine Ahnung, worum es vor zwei Sekunden ging, was den Barkeeper zu dieser Reaktion bewegt hat. Gott, ich war so damit beschäftigt, ihn zu betrachten, dass ich die Rede meines Vaters vollkommen ausgeblendet habe.
Jetzt entdeckt er mich und starrt mich an. Ich stehe nur zwei Meter von ihm entfernt, steif, wie eine Aufziehpuppe, deren Schnur sich komplett eingezogen hat. Er löst die Hände von der Brust und reckt mir fragend das Kinn entgegen.
Was, wenn er nicht kommandariatstreu ist? Wenn er ein Verräter ist, im schlimmsten Fall sogar ein Rebell?
Ich schüttele die düsteren Gedanken aus meinem Kopf und gehe die letzten paar Schritte zur Theke.
»Wasser«, krächze ich.
Mein Hals fühlt sich an wie zugeschnürt. Der junge Mann greift nach einer Flasche und dreht mit einem weißen Tuch in der Hand den Verschluss auf. Wenn er ein Verräter sein sollte, ist dann Gefahr in Verzug? Falls er ein Rebell ist, befinden wir uns alle in Gefahr, allen voran der Präsident. Rebellen hassen Snobs wie uns. Und wir hassen diese Verräter, die einfach nicht verstehen wollen, wie wichtig die Mission des Kommandariats ist.
Ich sehe zum Eingang, wo zwei Männer vom Sicherheitsdienst des Palastes stehen. Ihre Blicke gleiten aufmerksam durch den Saal. Kadetten wie diese sind an jedem strategischen Punkt des Raumes positioniert. Sicher fünfzehn oder zwanzig Männer und Frauen, die Waffen einsatzbereit in den Holstern. Nein. Niemand wäre so verrückt, bei einer Veranstaltung voller Kommandeure und Sicherheitsleute etwas Dummes zu planen. Und garantiert wurden alle Mitarbeitenden vor der Veranstaltung überprüft.
Aber was, wenn bei dem Kerl hier etwas schiefgegangen ist? Was, wenn sie bei ihm etwas übersehen haben?
Dann sollte ich auf dem schnellsten Weg einem Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes einen Hinweis geben. Das ist meine Pflicht. Was, wenn ich nichts sage, und der Typ im nächsten Moment den Präsidenten erschießt?
»Bitte sehr.« Der Kerl hält mir ein Glas hin. Er sieht mich an, als mache er sich Sorgen um meine Gesundheit. Dann verrutscht sein Blick und er fixiert eine Person neben mir.
»Junge Dame, geht es Ihnen nicht gut?«
Beinahe fällt mir das Glas aus der Hand. Mein Hals ist plötzlich noch trockener als zuvor und ich bringe nur ein Krächzen heraus.
Neben mir steht Anthony Dwaine. Der Präsident. Der mächtigste Mann des Planeten. Ein großgewachsener Herr mit zurecht gegeltem Schnauzer und etwas zu fülligem Bauch.
Ich bin ihm schon häufiger auf Veranstaltungen begegnet, durfte ihm sogar zweimal die Hand schütteln – das zweite Mal erst wenige Stunden zuvor an diesem Abend. Aber noch nie hat er mit mir gesprochen, immer nur mit meinem Vater.
»Ich hatte schon Sorge, Sie langweilen sich bei der Rede Ihres Vaters.«
»Aber nein, Sir«, sage ich und räuspere mich. »Die Rede ist unglaublich spannend und … wichtig.«
Anthony Dwaine nickt, nimmt sich ein Glas Sekt und lehnt sich an die Kante des Tisches. Seinen Blick richtet er auf meinen Vater, als würde er ihm zuhören. Aber er hebt das Glas vor sein Gesicht und spricht mit mir. »Es ist eine Schande.«
»Verzeihung, Sir?«
»Besonders an Abenden wie diesem werde ich den Gedanken nicht los, wo die Menschheit sein könnte, wenn es den Dritten Weltkrieg und den Angriff der Schattenjäger nicht gegeben hätte. Wir könnten so viel weiter sein. Die Technologie so viel ausgereifter. Hier und heute lesen wir doch nur die Asche auf und versuchen, daraus Gold zu machen.« Er schüttelt vage den Kopf und strafft dann die Schultern. »Für Sie müssen diese Veranstaltungen furchtbar langatmig sein. Eine junge Dame hat an einem Samstagabend sicher andere Pläne.«
»Oh, das ist schon okay. Seit meine Mom … Nun ja, ich unterstütze meinen Vater, wo ich kann. Wir sind ein Team.«
Er nickt. Ich schaue mich nach den Sicherheitsleuten an der Tür um. Ihre Blicke liegen aufmerksam auf uns, der eine von ihnen bewegt den Mund. Wahrscheinlich informiert er über irgendein technisches Gerät, das ich nicht sehen kann, seine Kollegen darüber, dass der Präsident am Getränketisch mit einem Mädchen spricht. Ob er eine Beschreibung von mir liefert, falls ich gefährlich werde? Bestimmt überprüfen sie gerade meinen Lebenslauf.
»Werden Sie sich diesen Sommer dem Kommandariat anschließen?«
»Nein, Sir, ich habe noch ein Jahr Schule vor mir.«
Präsident Dwaine lächelt freundlich. »Dann freue ich mich, Sie nächsten Sommer im Dienst des Kommandariats wiederzusehen.«
Ich wiege den Kopf hin und her. »Ich denke, es zieht mich eher in die Fußstapfen meines Vaters. Er zählt auf meine Unterstützung iin der Akademie, wenn ich mit dem Studium fertig bin.«
Die Lippen des Präsidenten werden eine schmale Linie. »Verstehe. Wie Ihr Vater ziehen auch Sie es vor, nicht um Ihr Recht auf Leben zu kämpfen. Sie bleiben lieber im Hintergrund. Dabei gibt es nichts Wichtigeres als die Heimat. Es lohnt sich, für sie zu kämpfen, vergessen Sie das nicht.« Sein Blick auf meinen Vater verändert sich.
Da verstehe ich plötzlich, was er eben zu mir gesagt hat. Er hat mir und meinem Vater Feigheit unterstellt. Dieser Mann, der uns überhaupt nicht kennt, glaubt, wir wären zu feige, um ins Weltall zu ziehen, nach den Schattenjägern oder anderen Feinden zu suchen und sie zu bekämpfen, bis sie unschädlich gemacht sind.
Ich stelle mein Glas geräuschvoll auf den Tisch. Das Kratzen in meinem Hals ist irgendwie von allein verschwunden.
»Mein Vater ist kein Feigling«, raune ich dem Präsidenten ins Ohr, so leise, dass es außer uns vielleicht noch der Typ hinter der Theke hören kann, aber laut genug, dass Anthony Dwaine meine Wut bemerken muss.
Überrascht sieht er mich an.
»Mein Vater ist vielleicht nicht im Weltall unterwegs, um die Schattenjäger aufzuspüren, aber er steht Ihnen genauso treu zu Diensten wie jeder andere auch. Seine Arbeit in der Akademie ist wichtig. Sonst müssten Sie im Kommandariat lauter Jugendliche ausbilden, die noch nicht mal drei Kilometer in fünfzehn Minuten rennen können, ohne dabei zusammenzubrechen. Solche Kids bekommen Sie nicht ins Weltall und sicher nicht in eine Ihrer Elitekampftruppen. Sie sollten meinem Vater dankbar sein für seine wertvolle Arbeit, statt abschätzig über ihn zu sprechen!«
Meine Güte, Sally Cooper, was hast du da eben getan? Du hast den Präsidenten beschimpft! Dafür droht sicher eine Haftstrafe. Ich sollte etwas Versöhnliches sagen, irgendetwas, das meine Aussage mildert oder mich wenigstens als unzurechnungsfähig entlarvt.
Aber da passiert etwas, das mich mit all seiner Gewalt beinah in die Knie zwingt.
Über unseren Köpfen bersten die Scheiben des Glasdachs. Neben uns krachen die Fenster und zersplittern mit ohrenbetäubendem Lärm auf dem Steinboden. Eine eisige Kälte strömt in den Saal, eine Sirene kreischt. Menschen schreien, mehr und mehr. So, wie ihre panischen Rufe von allen Seiten den Raum füllen, so stürmen schwarz gekleidete, vermummte Eindringlinge in den Saal. Ich sehe mich nach einem Fluchtweg um, doch diese schwarzen Schatten kommen von überall, sie dringen durch alle Eingänge und Fenster. Sogar vom Dach hangeln sie sich herunter. Es ist, als wäre der Raum plötzlich gefüllt mit Wasser, einem Wasser aus Todesangst, und keiner hier kann schwimmen.
Was ist nur los?
Die Sicherheitsleute greifen nach ihren Laserpistolen und zielen auf die Eindringlinge. Aber irgendetwas stimmt nicht. Die Waffen lösen nicht aus. Sie funktionieren nicht. Was zur Hölle …?!
»Tod dem Präsidenten!«, ruft einer der vermummten Typen.
Ein anderer springt auf einen Tisch und brüllt: »Schluss mit Strafversetzungen ins Weltall! Gebt den Menschen Essen und Kleidung! Medikamente für alle!«
Er hüpft vom Tisch und stürzt sich auf einen der Sicherheitsleute, der mit einem Angreifer ringt. Aus der anderen Ecke des Raumes hallt die Stimme eines maskierten Mädchens. Auch sie hat sich auf einen Tisch gestellt und ruft: »Hört auf, Menschen gegen ihren Willen auf Expeditionen ins All zu schicken! Lasst die Menschen selbst entscheiden, welche Berufe sie ausüben wollen! Wir wollen wählen dürfen! Tod dem Präsidenten!«
Neben mir wimmert Anthony Dwaine. »Ich verstehe das nicht. Ich verstehe das nicht. Wo sind meine Leute? Sicherheitsdienst! Sicherheitsdienst!«
Aber auf seine Bewacher kann er lange warten. Zielsicher schlagen und treten die Eindringlinge auf die Kadetten ein, als hätten sie einen Plan. Und um den umzusetzen, müssen die Sicherheitsleute weg. Am Eingang erschießt ein Eindringling einen der Kadetten aus nächster Nähe. Direkt neben ihm schleudert ein anderer eine Kadettin von sich, die bewegungslos auf dem Boden liegen bleibt.
Was haben die vor? Wollen sie uns alle töten? Oder als Geiseln nehmen, um ihre abstrusen Forderungen zu erzwingen? Glauben die wirklich, sie könnten den Präsidenten umbringen? In seinem eigenen Palast, umgeben von Kommandeuren und Kadetten? Das wäre doch Wahnsinn! Es ist Wahnsinn, in den Palast einzubrechen und zu glauben, dass man ihn lebend wieder verlässt.
Aber das sind nicht irgendwelche Eindringlinge. Nein. Viel schlimmer. Ihre jungen Stimmen haben sie verraten. Es sind Rebellen. Verdammte Rebellen. Verdammte Kids, die glauben, nur weil sie Elternlose sind, könnten sie machen, was sie wollen, könnten die Menschen und das Kommandariat terrorisieren. Über mir schließt sich – Zentimeter um Zentimeter – der Mantel des Schutzringes. Ich wusste, dass es so eine Vorrichtung gibt, aber soweit ich weiß, kam sie noch nie zum Einsatz. Langsam schließt sie den Palast und alle, die darin sind, ein. Ich weiß nicht recht, ob mir das gefällt – eingesperrt mit Rebellen.
Da fällt mir der Typ an der Theke wieder ein. Ich drehe mich um. Und wünsche mir im nächsten Moment, ich hätte es nicht getan.
Der Junge hält eine Waffe in der rechten Hand. Und die zielt genau auf den Kopf des Präsidenten, der neben mir steht. Aber er schießt nicht. Warum schießt er nicht?
Er hebt die Linke und spricht in die Uhr an seinem Handgelenk. »Boss, ich kann es tun. Wo bist du? Soll ich übernehmen?«
Was auch immer sein Boss geantwortet hat, es hält ihn davon ab, den Präsidenten sofort zu erschießen, denn er richtet nur weiter den Lauf der Waffe auf den Hinterkopf von Anthony Dwaine. Und der? Der bemerkt noch nicht einmal, dass er in Gefahr ist, weil er so schockiert ist, dass sein Palast trotz des großen Sicherheitsaufgebots überfallen wird.
So stehen wir drei reglos da, der Präsident, der Junge mit der Waffe und ich. Wie Salzsäulen, während um uns herum ein Kampf tobt.
Ich wünschte, ich wäre taub. Denn die Geräusche sind unerträglich. Der ganze Saal ist ein Schreien, ein Kreischen, ein Stöhnen. Überall kämpfen die Sicherheitsleute gegen maskierte Rebellen, die sich bewegen wie Katzen – schnell, elegant, effektiv. Mein Vater ist weit weg auf der Bühne, versucht, einem Kadetten zu helfen, der im Schwitzkasten eines Angreifers steckt. Ich habe meinen Vater noch nie kämpfen sehen. Er ist überraschend gut!
Ein Kadett versucht, zum Präsidenten zu kommen, aber er wird von gleich zwei Rebellen zu Boden geworfen. Die Gäste der Gala kauern unter den Tischen. Schutz suchen! Das sollte ich auch tun. Ich hebe die Tischdecke des Getränketisches an und will mich gerade darunter ducken, da gibt der Präsident einen erstickten Ton von sich.
Sein Gesicht ist schneeweiß und mir ist klar, dass es für Anthony Dwaine gerade um Leben oder Tod geht. Ich folge seinem Blick. Ein vermummter Mann, keine fünf Meter von uns entfernt, zielt mit einer Waffe auf Dwaines Kopf. Die schlanke Gestalt ragt ruhig wie ein Fels im Sturm vor uns auf. Während alles um ihn herum im Kampf umherwirbelt, steht er fest und sicher. Seine schwarze Maske lässt nur seine Augen erkennen. Blaue Augen, die Anthony Dwaine fixieren, als sei er Ungeziefer. Die Pistole hält er ausgestreckt, den Lauf direkt auf ihn gerichtet, und ich schwöre, sein Finger bewegt sich Millimeter für Millimeter am Abzug.
Er wird den Präsidenten erschießen.
Und ich stehe daneben und sehe zu.
Nein. Nein, das tue ich nicht. Ich bin nicht feige.
Ich dachte immer, solche Dinge passieren in Zeitlupe. Dass man mehr Zeit hätte. Dass mehr Zeit dafür bliebe, auch sich selbst in Sicherheit zu bringen. Hätte ich vorher gewusst, dass das nicht so ist – ich wäre lieber unter den Tisch gekrochen.
Ich stoße Anthony Dwaine mit einem »Zur Seite!«-Schrei zu Boden, höre das Auslösen des Schusses, spüre einen Schmerz in meinem linken Arm und brenne. Ich brenne innerlich. Ich höre nichts, ich sehe nichts, ich spüre nur. Unter mir der Körper des Präsidenten, in mir dieser fürchterliche Schmerz, der mich von einer Sekunde auf die andere überrollt. Ein Schuss kann doch nicht so verdammt wehtun? Dann verkrampft sich mein Körper und ein Schrei gellt aus meiner Kehle. Das Brennen in mir wird heißer und heißer. Das kann kein normaler Laserstrahl gewesen sein. Es wird so schlimm, so unendlich schlimm, dass ich stumm darum bettle, endlich ohnmächtig werden zu dürfen. Aber ich werde es nicht. Ich werde es einfach nicht.
Hilfe! Warum hilft mir niemand? Hört mich denn keiner? Sieht mich denn keiner? Man muss mir doch helfen – oder mich erlösen. Bitte!
Jemand kniet sich neben mich. Dort, wo mich die Person berührt, wird das Brennen noch heißer. Warum verliere ich nicht das Bewusstsein? Warum sterbe ich nicht? Bitte, bitte! Es soll vorbei sein – bitte! Ich zwinge mich, die Augen zu öffnen, und zwischen meinen Tränen erkenne ich einen maskierten Kerl. Es ist der Typ, der auf mich geschossen hat. Er kauert neben mir und kramt hektisch in seiner Jackentasche herum, zieht irgendetwas heraus. Was hat er vor? Will er seinen Job zu Ende bringen? Den Präsidenten, der unter mir liegt, töten?
Plötzlich sind da noch mehr Menschen. Kadetten. Anthony Dwaine wird unter mir weggezogen, mein Körper fällt auf den kühlen Boden. Kühl. Oh, tut die Kälte gut, dort, wo sie auf das Brennen trifft.
Ich versuche, die Augen aufzubehalten, versuche, meine Schreie zu unterdrücken.
Jemand brüllt: »Der Schutzschild ist gleich dicht! Raus hier! Jetzt!«
Eine andere Stimme ganz in meiner Nähe sagt: »Sie sind festgenommen.«
Direkt neben mir ruft jemand verzweifelt: »Ich will ihr helfen! Sie stirbt, wenn ich ihr nicht helfe!«
Wieder bricht ein Schrei aus mir heraus, der alles andere um mich übertönt.
Dann ein Stich an meinem Oberarm. Es fühlt sich an wie die Spitze eines Nagels. Eine sehr kühle Nagelspitze. Sie wächst und wächst, dehnt sich aus, ist bald so groß wie ein Kieselsteinchen, schwillt zu Kastaniengröße an. Ich konzentriere mich auf den kalten Ball in meiner Schulter, weil der das Einzige ist, das mir nicht höllische Schmerzen bereitet. Der Druck wird größer und größer, bis der Ball platzt und wie frisches Wasser durch meinen Körper fließt. Es dringt immer weiter vor, hinein in alle Gliedmaßen bis in die tiefsten Muskeln. Die Kälte löscht das Feuer und schwemmt den Schmerz fort. Ich ziehe die Luft ein und merke erst jetzt, wie sehr sie mir gefehlt hat.
»Sally!« Die Stimme meines Vaters.
Ich öffne die Augen und blinzele. Da sind Menschen über mir, um mich, an mir. Schwarze Gestalten rasen an Stahlseilen zu der winzigen Öffnung im Mantel, verschwinden darin, bis sich schließlich der letzte von ihnen durch den winzigen Spalt quetscht.
»Sally, mein Gott, Sally!« Mein Vater geht neben mir in die Knie, zieht mich an seine Brust und ich lasse mein Kinn dort ruhen. Er zittert, bebt und schluchzt, und erst da wird mir klar, dass er weint, weil er wohl dachte, er hätte mich für immer verloren. So wie er Mom verloren hat. Ich will ihn trösten, ihm sagen, dass ich okay bin, aber ich kann es nicht. Jegliche Kraft hat mich verlassen. Meine Arme, meine Beine hängen leblos an meinem Körper. Aber das ist okay. Ich brauche sie gerade nicht. Ich blinzele, um das Bild, das sich mir bietet, scharf zu stellen. Die schwarzen Rebellen sind fort. Fort bis auf einen. Den Schützen. Er kniet keine zwei Meter von mir entfernt. Jemand legt ihm Handschellen an, stößt ihn grob auf den Boden, sodass er mit dem Gesicht auf blanken Stein trifft. Die Augen unter seiner Maske sind schmerzverzerrt, aber offen. Sie suchen und finden meine.
Vor uns schleicht ein Motorrad mit Beiwagen die Straße entlang. Okay, nein, es schleicht nicht. Der Fahrer hält sich an das Tempolimit. Das tun wir nicht. Limits sind nicht für uns gemacht. Regeln sind nicht unser Ding.
Jesse schaltet einen Gang runter und der Motor des Driftcars heult auf. Wir überholen die Karre doppelt so schnell wie erlaubt – schweben einfach über seinen Kopf hinweg und landen krachend vor ihm auf der Straße. Ein geiles Gefühl. Einfach davon rauschen. Ich sehe mich nach dem Fahrer um. Wie bekloppt tippt er sich gegen den Helm, dort wo die Stirn ist. Wenn der wüsste, wer wir sind – er würde glatt eine Vollbremsung einlegen und umkehren. Das Weite suchen.
Jesse schweigt mich an. Er hat sich in den Kopf gesetzt, nicht mit mir zu sprechen. Und was sich Jesse in den Kopf setzt, das zieht er durch.
Er hat allen Grund, sauer zu sein. Ich habe es vergeigt. Der Häuptling hatte mich gewarnt: nie zögern, nie Schwäche zeigen.
Aber ich habe gezögert. Hatte Mitleid. Es hat mich fast mein beschissenes Leben gekostet. Und auch wenn ich noch lebe – und das ist es doch, was man tut, solange einem der Atem die Lungen füllt –, ist an jenem Tag der letzte mickrige Teil meiner Seele gestorben. Ich bin verdammt dazu, ein Gefangener in meinem eigenen Leben zu sein.
Der Wagen zieht die Schnellstraße entlang. Je weiter wir uns von der Stadt entfernen, desto voller wird die Landschaft. Die karge Wüste weicht Büschen, Wiesen und Bäumen. Saftiges Grün ersetzt das Grau der Stadt, das Orange der Wüste. Ich lasse die Fensterscheibe hinunter und lehne meinen Kopf an den Rahmen. Von draußen dringt der Geruch von Harz und feuchtem Holz herein. Der Geruch von Freiheit. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf den Fahrtwind, der meine Stirn in unberechenbaren Abständen rammt. Das wäre eine vortreffliche Foltermethode: Schlafentzug durch Fahrtwind.
Wie krank ist mein Hirn, dass ich jetzt an sowas denke?
Ich war schwach. Der Häuptling konnte meine Schwäche noch nie ertragen. Hätte er mich in die Finger bekommen, er hätte mich mein Versagen spüren lassen. Am ganzen Leib. Vielleicht wäre das sogar eine angemessene Strafe gewesen. Eine, die mir mein schlechtes Gewissen genommen hätte, weil sie mich ausreichend hätte leiden lassen. Anders als dieser Mist hier. Wer weiß, vielleicht hätte er mich sogar getötet. Auch das wäre okay gewesen. Doch diesen Gefallen konnte er uns beiden nicht tun. Und jetzt muss ich damit leben. Leben mit diesen Bildern in meinem Kopf, die jede Nacht wiederkehren, mich aus dem Schlaf reißen. Leben mit dieser Schuld, die an mir haftet, die sich anfühlt, als hätte jemand ein fettes Kreuz auf meine Stirn gelasert, das für jeden sichtbar macht, was ich getan habe.
Jesse ist genervt, weil ich so weich bin. Wir haben versagt, weil ich Mitleid hatte. Was ist nur aus uns geworden? Zu was sind wir geworden?
»Wir kommen zu spät«, nörgelt er und bricht damit sein Schweigegelübde.
»Scheiß drauf.«
Dass wir zu spät kommen, ist ihm egal. Es kotzt ihn nur an, dass ich ihn habe warten lassen.
Eigentlich bin ich lieber zu früh dran als zu spät. Heute Morgen aber hat mir mein Körper nicht gehorcht. Er blieb einfach liegen. Die Erinnerung an ein Leben, das ich vergessen soll, hat ihn festgenagelt. Wie soll das gehen? Wie soll ich vergessen, welche Verpflichtungen ich zurückgelassen habe? Wie soll ich vergessen, dass es Menschen gibt, die mal auf mich gezählt haben, vielleicht bereit dazu wären, es wieder zu tun?
Aber vor allem: Wie soll ich all das zurücklassen, wenn der Typ neben mir nur eines will – zurück?
Jesse macht seinen Job. Er passt auf mich auf. Weil er muss. Nicht weil er will. Er glaubt, dass ich mir alles nur einbilde. Niemand will dich loswerden, hat er gesagt. Er hat ja keine Ahnung. Er weiß nicht, was der Häuptling vorhat. Ich weiß es ja selbst nicht. Ich weiß nur, dass ich weder auf der einen noch auf der anderen Seite stehe. Ich bin meine eigene Seite.
Die Straße biegt ab zwischen Nadelbäumen, wird zu einem einspurigen Weg. Der schlängelt sich einen Berg hinauf, führt aus dem Wald an einer Wiese vorbei. Am Horizont tauchen zwei spitze Rundtürme auf. Das frisch gedeckte Dach eines von Efeu bedrängten Gebäudes, das älter ist als alle, die ich je betreten habe, erhebt sich auf dem Bergplateau. Früher war es ein Kloster, in dem sich Mönche vor Verfolgung versteckten. Jetzt ist es mein Versteck.
Mein Puls beschleunigt, noch bevor ich ihn sehe, denn ich weiß, was gleich passiert. Jede Nacht derselbe Traum. Gleich ist es vorbei, gleich. Seine Augen sind blutrot und fixieren mich. Da ist die Waffe, da zuckt sein Finger.
Das Klingeln meines Weckers reißt mich aus meinem Albtraum. Schwer atmend setze ich mich auf, wische mir verstohlen eine Träne von der Wange und versuche, mich zu orientieren. Dieser dämliche Albtraum. Nacht für Nacht derselbe Traum.
Ein Therapeut des Kommandariats hatte mir geraten, mit dem Täter zu sprechen. Ich sollte mich meinen Ängsten stellen und dem Attentäter ins Gesicht blicken. Ich schaffte es bis vor die Tür des Besucherzimmers im Gefängnis. Dann keinen Schritt weiter. Ich hatte den Knauf schon in der Hand und wusste: Der Typ, der auf mich geschossen hat, sitzt dahinter, in Handschellen zwar, aber er wäre da. Die Vorstellung war zu viel. Ich zitterte am ganzen Leib und bekam keine Luft. Mein Vater brachte mich nach Hause. Seitdem weiß ich eines: Ich muss diesen Kerl nicht sehen. Ich muss auch nicht wissen, was aus ihm wird. Ich hoffe nur, dass ihn das Kommandariat für den Rest seines Lebens in einer Zelle verrotten lässt.
* * *
Mit wirren Haaren und verquollenen Augen schleppe ich mich am nächsten Morgen über den Flur zum Badezimmer. Die Hose meines Schlafanzugs ist zu lang, weshalb ich immer auf den Saum trete, was irgendwann an den Fersen drückt. Der Pyjama ist kariert. Grün, rot und marineblau. Die Farben meiner Schule.
»Guten Morgen, Miss Cooper. Haben Sie gut geschlafen?«
Vor Schreck fällt mir die Uniform aus der Hand. Am Ende des Flures, vor unserer Küchentür, steht Mr. Johnson, Mathe und Psychologie. Was zur Hölle macht der am frühen Morgen in unserer Wohnung? Hektisch raffe ich den Haufen zusammen und presse ihn an meinen Oberkörper.
Er registriert meine wirren Haare und meinen Schlafanzug und grinst belustigt.
»Hmm. Ja, danke«, stammele ich. Für gewöhnlich bleibe ich gern auf einen Plausch mit den Lehrkräften stehen. Es ist noch nicht lange her, da fand ich es irre cool, dass sie bei mir daheim ein und aus gehen. Aber jetzt, mit sechzehn Jahren, ist das anders. Jede Schülerin sollte ein Recht darauf haben, niemals ungeschminkt und im Schlafanzug von einem Lehrer gesehen zu werden! Mit heißem Gesicht verschwinde ich im Bad. Bevor ich die Tür schließe, sagt er: »Schön, Sie gesund wieder hier zu haben, Miss Cooper. Das war sehr tapfer, was Sie da gemacht haben.«
»Danke.« Die Tür schließt mit einem Klicken, per Iris-Erkennung checke ich in den Streaming-Dienst ein, und es startet Brand new girl von Chili Heads – meiner Lieblingsband. Ich atme tief durch, lehne meine Stirn an das kühle Türblatt und schließe die Augen. Atmen, nicht daran denken. Nur nicht daran denken. Warum muss die ganze Welt mich auf das einzige Thema ansprechen, an das ich nicht erinnert werden will? Es reicht, dass ich diese bescheuerte Tapferkeitsmedaille in meinem Zimmer aufhängen musste.
Ich putze mir die Zähne und wasche mich. Auf meiner linken Schulter prangt leuchtend rot die Narbe, die mir von dem Vorfall geblieben ist. Keine Ahnung, ob die je verblasst. Ich streiche vorsichtig darüber, aber sie tut nicht mehr weh. Man hatte mir eine winzige Patrone entfernt. Sie war mit einem chemischen Gift gefüllt, das dem Kommandariat unbekannt war. Diese verdammten Rebellen haben ein eigenes Gift entwickelt. Niemand hatte damit gerechnet, dass sie zu so etwas fähig waren. Wie hatte mein Vater gesagt? »Wir haben sie unterschätzt.«
Zum ersten Mal seit den Sommerferien ziehe ich meine Schuluniform an. Der Rock endet knapp über dem Knie. Ich bin gewachsen. »Bestellung aufgeben.« Die Musik unterbricht und ich spreche weiter: »Schuluniform, Rock, zweimal, Länge siebzig Zentimeter.« Ein dezenter Ton sagt mir, dass meine Bestellung aufgegeben ist. Der Blazer sitzt noch immer wie angegossen, er lässt mich gleich aufrechter stehen. Zuletzt binde ich die Krawatte und rücke sie zurecht. Sie ist das Tüpfelchen auf dem I.
Mutters Kette um meinem Hals ist das einzig Persönliche, das ich trage. Sie ist mein Glücksbringer, mein Talisman.
»Musik stopp«, sage ich und gehe zur Tür.
Mit der Hand auf dem Knauf halte ich inne. Aus der Küche dringen laute Stimmen bis ins Bad. Mein Vater diskutiert mit Mr. Johnson. Ich lege das Ohr ans Holz.
Johnson hat sich in Rage geredet: »Wie kannst du ihr das antun?!«
Mein Vater spricht zu leise, als dass ich ihn verstehen könnte.
»Ach? Glaubst du das? Das ist Blödsinn!«
»Beruhige dich, es wird nichts geschehen.« Jetzt verstehe ich auch meinen Vater; er klingt ungeduldig.
»Warum tust du das?«
»Joe und ich vertrauen dem Jungen.«
Ich runzele die Stirn. Wer ist Joe?
Johnsons Stimme wird leiser, aber er hört sich beleidigt an, wie ein kleines Kind. »Tja, ich tue das nicht. Und wenn ich es für nötig halte, werde ich handeln.«
»Fall mir nicht in den Rücken, Patrick. Es ist wichtig, ihn hier zu haben.«
»Es ist Selbstmord.«
Es bleibt eine ganze Weile still zwischen den beiden, dann verabschiedet sich Johnson und seine Schritte hallen über den Flur. Er zieht geräuschvoll die Wohnungstür hinter sich zu. Hoppla, da ist einer sauer! Ich warte zwei Atemzüge, dann gehe ich in die Küche.
Mein Vater sitzt auf einem Barhocker, rührt in seinem Kaffee und schaut ins Leere. Er sieht besorgt aus. Mit seinem dunkelgrauen Anzug könnte er autoritär wirken, doch die fehlenden Schuhe an seinen Füßen zerstören den Eindruck.
»Morgen!«, flöte ich betont fröhlich und gebe ihm einen Kuss auf sein graumeliertes Haar.
»Morgen, mein Schatz.« Sein Mund lächelt, seine Augen aber bleiben matt.
Ich nehme eine Schüssel aus dem Schrank und schütte Haferflocken hinein. »Dad, alles okay?«
»Mhm? Ja.«
Ich kippe Milch dazu und beobachte ihn. »Du hast da diese Falte zwischen deinen Augenbrauen und dein Mund ist nur eine schmale Linie.«
Er seufzt. »Ach, Schulangelegenheiten.«
»Machst du dir Gedanken wegen der beiden neuen Schüler, die heute kommen?«
Er sieht mich aufmerksam an. »Hast du uns gehört?«
»Nein. Es liegt nur nahe.«
Er nickt. »Sie werden sich schwertun mit dem Leben an unserer Schule. Ich hoffe, sie kommen zurecht. Ich hoffe … alle kommen zurecht.«
»Wenn du möchtest, biete ich ihnen an, mich um sie zu kümmern. Ein bisschen Nachhilfe am Anfang. Ich könnte sie zwischen den Kursen zu den Räumen begleiten …«
»Danke für dein Engagement, aber ich bezweifle, dass sie das wollen.«
»Ich könnte es ihnen zumindest anbieten.«
»Sie werden dein Angebot nicht annehmen, Schatz«, sagt er mit Nachdruck.
Das ist alles derart merkwürdig. Sein Verhalten, diese Geheimniskrämerei. Den ganzen Sommer über war er so. Ständig fuhr er in die Hauptstadt zu irgendwelchen wichtigen Terminen. Welche wichtigen Termine kann ein Akademieleiter in den Sommerferien schon haben? Irgendwann hatte er mir dann ganz stolz verkündet, er habe zwei neue Mitschüler für meine Klasse gefunden. Gefunden, hatte er gesagt. Als hätten wir welche gesucht. Ganz außer sich war er, dass er es geschafft hatte, zwei Neue in den Abschlussjahrgang zu bekommen. Ich habe nicht verstanden, was daran so toll sein soll.
Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen. »Sie sind berühmt! O mein Gott, kenne ich sie?« Ich denke an Brian und Josh Stinton – die Frontmänner meiner Lieblingsband.
Mein Vater lacht. »Nein, so ist es nicht.«
»Aber was ist es dann, Dad? Du tust furchtbar geheimnisvoll mit diesen beiden.«
»Sie hatten … es nicht leicht. Ich würde mir wünschen, dass sie sich bald wohlfühlen bei uns.«
»Wo ist das Problem?«
»Sie sind es nicht gewohnt, sich an Regeln zu halten.«
»Na, das dürfte lustig werden«, scherze ich, aber mein Vater verzieht keine Miene. »Dad, ich verspreche dir, ich werde mein Bestes tun, damit sie sich hier schnell wie zu Hause fühlen.«
Mein Vater dreht seinen Kaffeebecher auf der Stelle. »Um ehrlich zu sein, Liebes, wäre es mir recht, wenn du dich von ihnen fernhältst.«
»Was? Wieso denn?«
Er schürzt die Lippen. »Es ist dein Abschlussjahr. Du musst dich voll auf die Schule konzentrieren. Wenn du Lehrerin an meiner Akademie werden willst, kannst du keine Ablenkung brauchen. Nur die Besten können sich einen Studienplatz außerhalb des Kommandariats aussuchen.«
»Dad, ich bitte dich. Ich bin fokussiert. Ich bin Klassenbeste in allen Fächern. Na ja, nicht in allen … aber fast. Ich muss los. Der Unterricht fängt gleich an.«
Ich hole meinen Rucksack, mache aber noch mal Halt im Badezimmer. »Nur für den Fall, dass es vielleicht doch Brian und Josh Stinton sind, werde ich noch ein wenig Lipgloss auftragen.«
Dad lacht. Doch noch bevor ich die Wohnung verlassen habe, klappert sein Löffel wieder in der Kaffeetasse.
Statt den direkten Weg über die Haupttreppe zu nehmen, biege ich in einen schmalen Korridor ein. Er ist ein bisschen düster und gruselig, weshalb ich ihn nur in Notfällen benutze. Und das hier ist ein Notfall. Ich darf mich am ersten Tag nach den Ferien nicht verspäten – nicht, wenn ich vor dem Unterricht noch mit Emma sprechen will.
Die Absätze meiner Lackschuhe klappern die steile Wendeltreppe hinab – klick-klack, klick-klack. Unten angekommen, blendet mich das Licht im hell ausgestrahlten Flur. Aber ich kenne den Weg und gehe einfach weiter, nutze den Personaleingang in den Biologiesaal, trete auf der anderen Seite des Raumes durch die Tür wieder hinaus und befinde mich in einer anderen Welt.
In der Empfangshalle geht es zu wie in einem Taubenschlag. Schülerinnen und Schüler verabschieden sich von ihren Eltern, begrüßen ihre Freunde, strömen durch die Halle, poltern mit Koffern die uralte Holztreppe hinauf. In der Halle herrscht ein Schwatzen und Rufen, wie man es nur einmal im Schuljahr erlebt. In der Luft hängt eine trübe Wolke aus Parfüm, Schweiß und Essen. Die Akademie hat ihre Bewohner wieder. Das Leben ist zurück.
Alle wollen nach oben in ihre Schlafräume, die Koffer abstellen und dann in die Klassenzimmer. Emma winkt mir über die Köpfe mehrerer Sechstklässler hinweg zu. Ihr schwarzes Haar hat sie wie immer zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, ihr Gesicht ist blass, aber die Wangen schimmern rosig. Ich kämpfe mich durch die Menge und falle meiner besten Freundin in die Arme. Sie ist ein ganzes Stück größer als ich, sodass mein Kopf an ihrer Schulter liegt, als sie mich fest an sich drückt.
»Ich weiß, du willst nicht darüber reden, und das ist okay. Ich will nur eine Sache sagen: Ich bin froh, dass es dir gut geht.« Emma lässt mich los und sieht mich aus wässrigen Augen an.
Verlegen beiße ich mir auf die Unterlippe. »Ist okay, danke. Ich hoffe nur, die anderen machen kein Riesending daraus.«
»Glaub mir, alle bewundern dich dafür, dass du dem Präsidenten das Leben gerettet hast. Bestimmt wollen sie deine Geschichte aus erster Hand hören. Aber wenn du das nicht willst, sag mir Bescheid und ich schicke sie weg. Und heute Nachmittag zeigst du mir die Tapferkeitsmedaille, ja?«
»Ach, das dumme Ding. Ich hoffe, ich muss sie nicht im Unterricht präsentieren.« Ich ziehe Emma am Ärmel aus dem Flur Richtung Klassenzimmer und wechsle das Thema. »Stell dir vor: Wir bekommen zwei Neue. Und Dad hat mir nicht verraten, wie sie heißen. Furchtbar geheimnisvoll tut er. Ich glaube, sie sind berühmt.«
»Berühmt?« Neugierig reißt sie die Augen auf und grinst.
»Ja. Oh, und heute Morgen war Mr. Johnson bei uns, und mein Vater und er haben sich furchtbar gestritten.«
»Worum ging es?«
»Keine Ahnung. Um einen Jungen namens Joe oder so. Jedenfalls sind die beiden nicht im Guten auseinandergegangen.«
Die Tür zum Klassenzimmer steht offen und Emma lässt mir den Vortritt. Vorne in der ersten Reihe stehen die anderen in einer Traube zusammen. Martha, Elsa, Sebastian, Corey, Charlotte, über deren Gesicht ich mich am wenigsten freue, und mittendrin Jonah. Er überragt alle und sein blonder Schopf sticht hell heraus. Er sieht mich, lächelt und beginnt zu klatschen. Die anderen drehen sich um, erkennen mich und tun es ihm gleich: Sie klatschen, sie johlen und sie jubeln. Nur Charlotte kneift die Lippen zusammen.
»Unsere Heldin!«
»Ein Hoch auf Sally Cooper, die unserer Schule Ehre gemacht hat!«, ruft Jonah.
»Gute Arbeit, Cooper!«, sagt Brian und klopft mir im Vorübergehen auf die Schulter.
»So muss das sein! Eine von uns rettet den Präsidenten!«
Mein Gesicht wird ganz heiß. Ich will im Erdboden versinken, aber Emma schiebt mich vorwärts, und einer nach dem anderen nimmt mich in den Arm und gratuliert mir. Sogar meine Narbe soll ich zeigen, und auch wenn ich mir dämlich dabei vorkomme, tue ich ihnen den Gefallen.
Jonah hält mich länger als jeder andere und flüstert in mein Ohr: »Ich bin froh, dass es dir gut geht. Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht.«
Ich will heulen und ihm ins Gesicht schreien, dass es mir eben nicht gut geht, dass ich eine Scheißangst habe, fix und fertig bin, weil ich nicht mehr schlafen kann, und eine hässliche Narbe auf meiner Schulter prangt, die mich für immer an diesen Albtraum erinnern wird. Stattdessen sage ich: »Ich bin auch froh. An diesem Abend dachte ich nicht, dass ich mir jemals wieder um Mathe und Nahkampf Gedanken machen müsste.«
Alle lachen.
»Meine Damen und Herren, wenn Sie sich setzen möchten – die Schulglocke hat geläutet.«
Keiner von uns hat bemerkt, dass Mr. Johnson eingetreten ist. Wir stürzen an unsere Plätze, stellen uns hinter den Tischen auf und begrüßen ihn unisono mit einem »Guten Morgen, Mr. Johnson.«
Er gestattet uns kopfnickend, uns zu setzen. Emma und mir gehört der mittlere Tisch in der dritten Reihe. Warum auch immer – seit der fünften Klasse ist das unser Platz. Niemand anderes sitzt dort. In keinem Kurs, in keinem Raum. Immer nur wir. Sally und Emma. Emma und Sally. Emmas schwarzer Zopf wippt um ihren Kopf, als sie sich auf den Stuhl fallen lässt und mir einen »Puh, zum Glück hat Johnson gute Laune«-Blick zuwirft.
Charlotte schreitet nach vorne ans Lehrerpult und überreicht Mr. Johnson das Willkommensgeschenk im Namen des Kurses. Schleimerin.
Ich sehe mich um. Alle Gesichter in diesem Raum sind mir bekannt. Keine Spur von den Neuen. Dabei müssten die doch längst da sein.
Emma lehnt sich zu mir und flüstert: »Ich habe mich für einen Austausch nach Amega beworben.«
Ich reiße die Augen auf. »O mein Gott! Du bist verrückt! Du willst Nayo verlassen?«
»Ich muss hier weg. Da draußen wartet so viel auf uns. Der Krieg ist vorbei, meine Eltern geben mir das Geld – nichts hält mich ab.«
»Also, ich wüsste da schon etwas, das mich abhalten würde.« Und zwar Angst. Aber das kann ich ihr nicht mehr sagen, denn Mr. Johnson wirft uns einen warnenden Blick zu, also reden wir nicht weiter.
Wow, Emma will nach Amega!
Mr. Johnson fliegt mit dem Finger über die Anwesenheitsliste auf seinem Tablet. Sein dunkles, an den Seiten graumeliertes Haar fällt ihm lässig in die Stirn. Der Anzug sitzt perfekt, und trotz aller Strenge strahlt er etwas Lockeres, Kumpelhaftes aus. Die meisten Schülerinnen sind in Mr. Johnson verknallt, manche heimlich, andere halten damit nicht hinterm Berg. Deshalb ist sein Kurs so gut besucht. Außerdem heißt es, er benote diejenigen, die Psychologie bei ihm belegen, in Mathe auffallend wohlwollend. Aus diesem Grund bin ich hier.
»Cooper, Sally?«, fragt er, obwohl er mich schon längst gesehen hat.
Ich erhebe mich und sage: »Anwesend, Sir. Sagen Sie, hätten wir heute nicht zwei neue Mitschüler bekommen sollen?«
»Ja, Miss Cooper. Soweit ich weiß, wollte Ihr Vater sie pünktlich zum Unterricht bringen.«
Mr. Johnson nickt mit zusammengekniffenen Lippen, dann endet er mit »Wabbott, Elsa« und beginnt seinen Unterricht. »Ich freue mich sehr, dass Sie sich so zahlreich in meinen Psychologiekurs eingeschrieben haben. Wir werden uns im kommenden Jahr auf den Intergalaktischen Krieg und dessen psychologische Folgen konzentrieren. Deshalb kooperieren wir eng mit Mrs. Chen und ihrem Geschichtskurs.«
Ich lehne mich zu Emma hinüber. »Warum empfängt mein Vater die beiden und nicht Mrs. Chen? Sie ist doch eigentlich für Neue zuständig«, flüstere ich ihr ins Ohr.
Sie zuckt mit den Schultern.
»Ich verteile heute die Themen für Ihre Referate. Der Intergalaktische Krieg hat tiefe Wunden in die Geschichte Nayos gerissen. Wir haben viel Trauer und Leid erfahren, aber auch gelernt, wie wichtig es ist, zusammenzustehen und gegen einen gemeinsamen Feind zu kämpfen. Und natürlich: wie wichtig es ist, zukünftige Bedrohungen rechtzeitig zu erkennen und zu eliminieren. Nutzen Sie die nächsten Tage, um sich Gedanken zu machen, wie Sie Ihr Thema aufbereiten wollen. Aber zunächst werfen wir einen Blick auf den Zeitstrahl. Wer kann mir sagen, wann der Intergalaktische Krieg begann?«
Mein Arm schießt in die Höhe, ebenso Emmas. Wir haben nicht viel gemeinsam, aber diese eine Sache schon: Wir sind verdammt ehrgeizig.
Mr. Johnson ruft mich auf. Ich erhebe mich und sage: »Im Februar 2508 erfolgte der erste Kontakt zu den Schattenjägern. Im März desselben Jahres griffen sie Nayo an.«
»Korrekt. Wann wurde Amega entdeckt? Miss Wyler?«
Emma springt auf wie von einer Nadel gestochen und sprudelt heraus: »2510, Sir, im November. Amega hat nur zwei Monate nach dem ersten Kontakt eine Allianz mit uns gebildet. Die restlichen alliierten Planeten kamen weitere fünf Monate später dazu.«
»Sehr gut, setzen.«
Emmas Wangen glühen rosarot, sie lächelt beseelt und flüstert mir ins Ohr: »Nicht mehr lange und ich spaziere dort durch blaue Wälder und habe Tag und Nacht Sonne.«
»Nur, wenn das Kommandariat den Reparationszahlungen zustimmt«, raune ich ihr zu.
Emma verzieht den Mund. »Das wird es. Die riskieren keinen Streit mit Amega.«
Mr. Johnson erzählt: »Mit dem Beginn der Allianzen war es möglich, die Angriffe auf Nayo zu unterbinden. Die Front verschob sich zurück ins Weltall. Doch bis dahin hatte es zahlreiche Opfer gegeben, und immer wieder gelang es Morsis und den Schattenjägern, einzelne Ortschaften anzugreifen.«
Reflexartig greife ich an den Anhänger an meinem Hals, drehe den Baum zwischen meinen Fingern, ertaste die Äste mit meinen Fingerkuppen. Meine Mutter ist einem dieser späten Angriffe zum Opfer gefallen.
Mit meinem Schicksal bin ich nicht allein. Auf ganz Nayo gibt es Halbwaisen und die sogenannten Elternlosen. Deren Eltern sind entweder tot, oder seit Jahren für das Kommandariat auf Erkundungsmission im All unterwegs. Immer wieder heißt es in den Nachrichten, dass ein elternloses Kind von Rebellen verschleppt wurde. Manche von ihnen werden später beim Klauen erwischt oder bei Schlägereien festgenommen und werden für viele Jahre ins All verbannt. Aber keiner verrät, wo sich die Rebellen verstecken und wer ihnen all die kriminellen Dinge beigebracht hat, mit denen sie den Frieden auf Nayo bedrohen.
Ich hatte Glück, dass mein Vater nie in den Krieg ziehen musste oder auf Erkundungsmission geschickt wurde. Er durfte wie die anderen Lehrkräfte in der Akademie bleiben.
»Die Kämpfe zehrten an allen alliierten Planeten. Die Ressourcen neigten sich dem Ende zu – sowohl, was Kämpfende und Material, als auch, was finanzielle Mittel anging. Die Allianz drohte zu zerbrechen. Das Kommandariat versuchte, alle Planeten an einem Tisch zu behalten. Denn eines war klar: Wenn Nayo fiele, wäre Amega das nächste Ziel. Danach der Rote Planet. Und immer so weiter.« Mr. Johnson macht eine Pause. »Und dann passierte das Wunder.«
Wir alle wissen, was er meint. Jedes Kind auf diesem Planeten weiß, wem wir den Frieden verdanken.
»Ein Kommandant der Menschenflotte zerstörte das Mutterschiff der Schattenjäger und tötete dabei ihren Anführer. Bei diesem Angriff wurde der Kommandant selbst … ja, was – ebenfalls getötet? Offiziell gilt er als verschollen. Seit vier Jahren. Wer kann mir seinen Namen nennen?«
Achtzehn Hände schießen in die Höhe.
»Mister Taylor.«
Da passieren zwei Dinge gleichzeitig: Jonah gibt die Antwort und die Tür zum Kursraum wird geöffnet.
»Kommandant George McAllister, Sir.«
Ich drehe mich um. Meine Kinnlade klappt nach unten. Im Türrahmen steht Fireball McAllister. Fireball George McAllister. Der Sohn eben jenes berühmten Kommandanten.
»Ihr könnt euch innerhalb des Gebäudes und auf dem gesamten Grundstück frei bewegen. Aber nicht darüber hinaus. So wie alle anderen auch. Ich kann mich darauf verlassen, dass euer … Hobby unter uns bleibt?«
Peter Cooper überragt mich locker um zwei Köpfe, hat breite Schultern und mir beim Händeschütteln fast die Finger zerquetscht. Aber seine Handinnenflächen sind sanft wie Katzenpfoten und sein Blick ist so offen, dass man nie auf die Idee käme, er könnte Geheimnisse vor einem haben. Aber ich weiß es besser. Er verbirgt etwas vor mir. Ich sehe es an seinem hastigen Blick, an der Kuppe seines Daumens, die an manchen Stellen blutig ist, weil er unablässig mit seinen Nägeln daran kratzt. Er ist ein miserabler Lügner.
»Sicher.« Ich will in den Kurs hineingehen, da legt er eine Hand auf meinen Oberarm.
»Eine Bitte noch.«
Jetzt kommt’s.
Er wirft Jesse einen finsteren Blick zu. Aber ich bin es, mit dem er spricht.
»Das sind gute Kids da drinnen. Lasst sie raus aus euren … Geschäften. Sie wissen nicht, wer ihr seid. Das soll so bleiben. Für den Frieden an dieser Schule.«
Gute Kids. Aha. Wir sind das nicht. Schon klar. Aber warum hat uns der Typ überhaupt hierhergeholt, wenn er sich jetzt ins Hemd macht?
»Aye, aye, Sir«, sage ich und wende mich ab.
Jesse öffnet die Tür. Aus dem Raum schallt mir ein einziges Wort entgegen: »McAllister.«
Na super. Also sind die da drinnen schon geimpft worden, dass ich komme?
Mein Blick springt zu Cooper, der mich aus großen Augen ansieht und mit den Schultern zuckt. Ist es ein Fehler, ihm zu vertrauen? Seit seinem Angebot frage ich mich, ob wir uns nicht beide hintergehen. Wer ist in diesem Spiel der Böse? Ich? Oder Cooper? Ich weiß es nicht und mir pocht der Schädel, wenn ich versuche, eine Antwort darauf zu finden.
Er hat mich in der Hand. Aber er hilft mir, und ich will wissen, warum. Warum gibt mir dieser Kerl eine Chance, wenn kein anderer dazu bereit ist?
Jesse schiebt mich in den Raum und plötzlich ist es wahr: Ich bin Schüler an der Akademie für Verteidigungswissenschaften – der selbsternannten Eliteschmiede des Kommandariats. Der Versammlung der Präsidenten-Lämmer. Blinde, hirnlose Möchtegern-Kämpfende, für die die Verleihung der Tapferkeitsmedaille einem Ritterschlag gleichkommt.
Der Lehrer am Hologramm-Panel starrt mich an, als sei ich ein Geist. Alle Köpfe drehen sich nach mir um und jedes einzelne Augenpaar beobachtet, wie mich Jesse weiter und immer weiter vorwärts schiebt. Ich hefte meinen Blick auf den Lehrer, blende alles andere aus. Es ist seine Aufgabe, diese verdammte Stille zu beenden. Aber er tut es nicht. Er schweigt und starrt mich weiter an. Was für ein Vollidiot.
Mein Vater folgt den beiden in den Raum.