Nazaré. Leben und Tod der Big Wave Surfer - Matt Majendie - E-Book

Nazaré. Leben und Tod der Big Wave Surfer E-Book

Matt Majendie

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Beschreibung

Das kleine Fischerdorf Nazaré an der portugiesischen Costa de Prata hat sich in den letzten Jahren zum Hotspot für die besten Surfer der Welt entwickelt. Hier riskieren Profis und Amateure fast täglich ihr Leben, um mit ihren Surfboards die ungeheure Brandung des Atlantiks zu bezwingen.  Der Sportjournalist Matt Majendie verbringt in Nazaré eine Saison im inneren Kreis der Big-Wave-Surfer. Seine Geschichte folgt einer kleinen Gruppe von Spitzensurfern, darunter der deutsche Weltrekordhalter Sebastian Steudtner, der Portugiese Nic von Rupp, die brasilianische Starsurferin Maya Gabeira und der Jetski-Fahrer Sérgio Cosme, der wegen seiner waghalsigen Rettungsaktionen den Spitznamen "Schutzengel von Nazaré" trägt. Ihr unglaubliches Ziel: den "Everest des Ozeans" zu reiten, die 100-Fuß-Welle …

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Seitenzahl: 420

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INHALT

VORBEMERKUNG

PROLOGKAMPF UMS ÜBERLEBEN

DER MOUNT EVEREST DES SURFSPORTS

WILLKOMMEN IN NAZARÉ

EIN OZEAN VOLLER GEFAHREN

WIE ALLES BEGANN

REKORDBRECHER

DER SURFENDE KLEMPNERAndrew Cotton

VERLETZUNGSPECHSebastian Steudtner

DER ERSTE BIG SWELL DER SAISONNic von Rupp und Lucas Chianca

GLEICHSTELLUNG FEHLANZEIGEMaya Gabeira

DER SCHUTZENGEL VON NAZARÉSérgio Cosme

DER BLICK VOM UFERSpotter, Fotografen und Filmer

SUCHE NACH ANERKENNUNGSebastian Steudtner

DER LOKALMATADORNic von Rupp

MESSMETHODENKleine Wellenkunde

DEM TOD VON DER SCHIPPE GESPRUNGENMaya Gabeira

RÜCKENBRECHERAndrew Cotton

DIE ERSTE TOW SURFING CHALLENGE DER SAISON

ENGAGEMENT FÜR DEN PLANETENMaya Gabeira

WEIHNACHTSZEIT

FLUCHT AUS NAZARÉAndrew Cotton

NIEMALS ZUFRIEDENNic von Rupp und Lucas Chianca

BIG WIPEOUT DAY

RÜCKSCHLÄGE UND FORTSCHRITTEMaya Gabeira

DER LIVERPOOL-EFFEKTSebastian Steudtner

BIG MOMMASérgio Cosme

NAZARÉS AUFSTIEG ZUM BIG-WAVE-MEKKADer Bürgermeister

MISTER FIX-ITLino Bogalho

SICHERHEIT IST DAS A UND OSebastian Steudtner

RISIKOFAKTOR MONSTERWELLE

AUF DAS SCHLIMMSTE VORBEREITETSérgio Cosme

DIE ZWEITE TOW SURFING CHALLENGEAndrew Cotton

RIVALINNEN DER BRANDUNGMaya Gabeira

ERHITZTE GEMÜTERNic von Rupp

GEGEN ÄRZTLICHEN RATNic von Rupp

KÖNIG DES COMEBACKSSebastian Steudtner

ZURÜCK IN NAZARÉAndrew Cotton

KRIEG IN DER UKRAINE UND EIN REKORDSebastian Steudtner

UNTERM MESSERSérgio Cosme

LANGSAMER ABSCHIED

DANK

VORBEMERKUNG

Für dieses Buch flog ich in der zweiten Jahreshälfte 2021 und in den ersten Monaten des Jahres 2022 mehrmals nach Portugal zu den Big-Wave-Surfern von Nazaré, für die zu dieser Zeit Hochsaison ist. Häufig wechselnde Corona-Schutzmaßnahmen und -Testpflichten machten jeden Besuch zu einem bürokratischen Akt, sodass es nicht damit getan war, einfach nur den günstigsten Flug in die portugiesische Hauptstadt Lissabon und zurück herauszusuchen. Wenn ich dann auf dem Lissaboner Flughafen gelandet war und ins Auto stieg, um mich auf den Weg nach Nazaré zu machen, mischte sich in meine gespannte Erwartung jedes Mal ein mulmiges Gefühl. Die Kunststücke der Surfer in der Brandung haben etwas Inspirierendes. Wenn man jeden Tag Leuten dabei zuschaut, wie sie etwas scheinbar Unmögliches machen, und das oft auch noch mit erstaunlicher Leichtigkeit, kann man davon regelrecht süchtig werden. Andererseits gab es in meinem Hinterkopf immer diesen bohrenden Gedanken, dass das Ganze jeden Moment entsetzlich schiefgehen konnte. Wellenreiten auf bis zu 25 Meter hohen Brechern ist natürlich gefährlich und hat an den Big-Wave-Surfspots dieser Welt schon etliche Menschenleben gekostet.

Verständlicherweise redet die Surfercommunity nicht ständig über den Tod, aber ein Tabuthema ist er auch nicht. Spricht man sie auf die Möglichkeit an, dass ihr Sport ein tragisches Ende nehmen kann, geben alle Surfer offen und ehrlich zu, dass ihnen dieser Gedanke präsent ist und jeder genau weiß, dass es einmal dazu kommen könnte.

Während der gesamten Big-Wave-Saison war die Angst, dass einem der Surfer, mit denen ich in Kontakt stand, dieses Schicksal ereilen könnte, mein ständiger Begleiter. Das galt besonders für die Protagonisten dieses Buches – Andrew Cotton, Nic von Rupp, Maya Gabeira, Sebastian Steudtner und Sérgio Cosme, die so freundlich waren, mir tiefere Einblicke in ihre spektakuläre und außergewöhnliche Welt zu gewähren. Auch die Sorge, eine solche Tragödie könnte sich direkt vor meinen Augen ereignen, war die ganze Zeit da. Einmal – der Saisonstart lag noch nicht lange zurück – schien ich tatsächlich Zeuge eines tödlichen Surfunfalls zu werden, aber dann gelang dem Surfer und denen, die ihm zu Hilfe eilten, doch noch ein nicht mehr für möglich gehaltenes Rettungsmanöver.

Gegen Ende der Saison 2021/22 war ich einerseits enttäuscht, dass meine Zeit als voyeuristischer Zuschauer dieser Extremsportlerinnen und -sportler sich dem Ende näherte. Andererseits war ich spürbar erleichtert, dass trotz aller Wipeouts, Krankenhausaufenthalte und Rehamaßnahmen sämtliche Akteure das Saisonende lebend erreichten.

Nazaré ist für die Big-Wave-Surfer-Szene eine neue Adresse. Auch am Ende der Saison 2021/22 konnte es von sich behaupten, dass es die Surfer nicht nur zuverlässiger als jeder andere Ort mit Monsterwellen versorgt, sondern auch, dass dort noch nie ein Surfer ums Leben kam. Nachdem ich dieses Buch fertiggestellt habe, gilt das traurigerweise nicht mehr. Marcio Freire war ein 47-jähriger brasilianischer Surfer. Besonders bekannt wurde er 2016 durch den Dokumentarfilm Mad Dogs, der vonden Paddel-Surf-Abenteuern erzählt, die er zusammen mit seinen Kollegen Danilo Couto und Yuri Soledade in den Riesenwellen von Jaws auf Hawaii erlebte. Während eines Familienurlaubs in Portugal begab Freire sich an einem für Nazaré vergleichsweise harmlosen Januartag aufs Wasser. Die Wellen schlugen maximal sechs Meter hoch. Freire war in seiner Surferkarriere auf dreimal so hohen Wellen gesurft. Dennoch brachte ihn eine Welle ins Straucheln und haute ihn vom Board. Er wurde von drei Wellen nacheinander erwischt und unter Wasser gedrückt – nach Aussage von Augenzeugen für rund vierzig Sekunden. Als sein Landsmann Lucas „Chumbo“ Chianca ihn bergen konnte, atmete er nicht mehr. Auch Wiederbelebungsmaßnahmen am Strand konnte ihm nicht mehr helfen; er starb noch an Ort und Stelle.

Damit verlor ein Sohn seinen Vater, Eltern einen Sohn und eine Frau ihren Ehemann – und viele in Nazaré und der Big-Wave-Surfer-Community einen Freund. Von überallher trafen Beileidsbekundungen ein und nahmen kein Ende. Nic von Rupp war am gleichen Tag in und auf den Wellen von Nazaré unterwegs und berichtete, Freire habe beim Surfen den ganzen Tag ein Lächeln auf dem Gesicht gehabt. Für die Leute, die vom Wasser oder von den Klippen aus zusehen mussten, war der tragische Unfall ein tiefer Schock. Viele von ihnen versammelten sich in den Tagen danach genau dort, wo er in den Fluten umkam, auf ihren Jetskis zu einem Kreis und hielten sich an den Händen im Gedenken an einen der ihren.

Die Frage, was zu dem Unfall führte, wird man vielleicht nie genau beantworten können. Fest steht nur, dass Nazaré nun doch den von vielen prophezeiten ersten Todesfall zu verzeichnen hat. Die traurige Wahrheit ist: Freire wird nicht das letzte Todesopfer sein. Das liegt in der Natur des Meeres, auf das die Surfer sich in der Monsterwellensaison im vollen Bewusstsein der Gefahr hinauswagen.

Freire zählte nicht zu den regelmäßigen Gästen in Nazaré, aber trotzdem war der Schmerz um seinen Tod groß. Erst kurz vorher – gleich zu Beginn der Saison 2022/23 – hatte Jorge Leal, der einen großen Anteil an der Geschichte des Big-Wave-Surfens in Nazaré hat, durch einen Schlaganfall das Sprachvermögen verloren und war in eine Spezialklinik eingeliefert worden. Leal, der wegen seiner langen Haare und seines Bartes von vielen „Jesus“ genannt wird, spielt auch in diesem Buch eine Rolle. Er war der erste Kameramann und Fotograf, der die Surfer in den Riesenwellen von Nazaré in Bildern festhielt. Heute wimmelt es auf den Klippen von Amateuren und Profis mit Kameras und Objektiven.

Leal, der viele Freunde und Bekannte in der Surfingcommunity von Nazaré hat, muss sich in einer langwierigen Reha wieder zurückkämpfen, dessen Ausgang ungewiss bleibt. Doch die große Familie der Big-Wave-Surfer hält zusammen: Ihre prominentesten Vertreter betreiben Fundraising für Leal, damit er die Arztrechnungen in Höhe von 15 000 Euro pro Monat bezahlen kann.

Freire und Leal sind und bleiben in den Gedanken vieler Leute, aber auch nach so schweren Schicksalsschlägen geht das Leben in Nazaré weiter. Jeden Tag aufs Neue fahren die Surfer auf ihren Jetskis aufs Meer hinaus, um in einer der gefährlichsten Brandungen der Welt zu surfen.

Wie so oft, wenn etwas Schlimmes passiert, gehen die Menschen in sich – und entscheiden sich dann doch, an diesem einzigartigen Ort zu bleiben und immer wieder alles auf eine Karte zu setzen. Sicherheit ist in Nazaré und überhaupt in der Big-Wave-Surfer-Szene ein Dauerthema, das sich nie erledigt. Auch aus dieser besonderen Tragödie werden Lehren gezogen werden, und es wird weitere Maßnahmen geben, um die gefahrvolle Freizeitbeschäftigung und Profession so sicher zu machen wie menschenmöglich.

Für viele wird Freires Tod das prägende Ereignis der Saison 2022/23 bleiben, die sich nach den Monsterwellen im Vorjahr zunächst ruhig anließ. Genau das, was in Nazaré mit aller Macht vermieden werden sollte, ist schließlich doch eingetreten.

PROLOG

KAMPF UMS ÜBERLEBEN

Gerade noch lag Andrew Cotton entspannt im Licht der Dezembersonne. Wenige Minuten später kämpft er ums Überleben – als schwarzer Punkt, der einsam und allein durch die Todeszone von Nazaré strudelt. Zweieinhalb Minuten lang steckt er im Weißwasser fest. Seiner Freundin Justine White und den Kumpeln und Teamkollegen, die von der Klippe aus zusehen, kommt die Zeit unendlich viel länger vor. Andrews Leben hängt am seidenen Faden.

In Nazaré kann schnell etwas schiefgehen. Nur einen Moment zuvor wird Andrew nach einem letzten Wellenritt von einem Jetski aus dem Wasser geholt. Als sein Rescue-Pilot Alemão de Maresias Gas gibt, damit er es über den Kamm der nächsten Welle schafft, baut die Wellenlippe sich höher auf als von beiden erwartet. Unsanft klatscht das rettende Vehikel auf dem Wasser auf. Cotty, wie ihn hier alle nennen, reibt sich das Wasser aus den Augen. Als er wieder etwas sieht, merkt er: Seinen Retter hat es vom Jetski gefegt. Blitzschnell wechselt er auf den Fahrersitz und gibt Vollgas, damit die nächste Welle ihn nicht erwischt – aber er wird heruntergespült, in Richtung des Felsens, auf dessen Spitze das Fort von São Miguel Arcanjo thront.

Die sogenannten Spotter mit dem Funkgerät in der Hand, die nach ihm Ausschau halten, können ihn von ihrem Standort auf der Klippe jetzt nicht mehr sehen – die alte Festung versperrt ihnen die Sicht. Helfen können sie ihm sowieso nicht. Andere, die am Fort stehen, feuern mit Pfiffen die Fahrer der Jetskis an, die den Felsen umkurven und nach Cotty und nach einem sicheren Rettungsweg Ausschau halten. Bei den hilflosen Zuschauern oben auf der Klippe steigt der Panikpegel genauso rapide wie bei den noch hilfloseren Akteuren auf dem Wasser und erreicht irgendwann den Höhepunkt.

Cotty wird gegen die beiden kleineren vorgelagerten Felsen geschleudert, die zu Füßen des Forts aus dem Wasser ragen. Die Wellen spucken ihn gefährlich nah an den scharf gezackten Aushöhlungen unterhalb des Forts wieder aus, aus denen er mit Sicherheit nicht lebend wieder herauskäme. Wenn jetzt noch eine mächtige Welle heranrollt, haut es ihn frontal gegen die Klippe, und das würde er höchstwahrscheinlich nicht überleben. Später schätzt Nic von Rupp, einer seiner Surfkollegen, die Überlebenschancen an dieser Stelle und unter diesen Bedingungen auf zehn Prozent.

Aber für einen kurzen Moment lässt der Wellengang so weit nach, dass Cotty aufatmen kann. Die Strömung trägt ihn aus der Gefahrenzone – und das maritime Rendezvous mit dem Tod hat ein Ende. 150 Sekunden Chaos sind überstanden. Cotton, ziemlich außer Atem und mit etlichen blauen Flecken, wird von einem Jetskifahrer aufgelesen.

Für die, die oben auf dem Aussichtsfelsen stehen, haben diese zweieinhalb Minuten eine halbe Ewigkeit gedauert, und auch für Cotton waren sie lang genug, um sich darüber klar zu werden, dass er gerade dem möglichen Ende ins Auge geblickt hat.

„Ich weiß noch, dass ich dachte, schlimmer kann es nicht kommen“, sagte er wenige Stunden nach dem Vorfall beim Duschen und Umziehen. „Ich dachte, wenn die nächste Welle mich erwischt, kann es sein, dass ich einen echt grauenhaften, schmerzhaften und langsamen Tod sterbe. Da gibt es ein paar krasse Höhlen und scharfkantige Felsen, due mit Algen überwuchert sind. Wenn es dich da runterdrückt – das ist der Horror. Wenn du die Wellen beobachtest, siehst du, dass sie oft genau an der Stelle brechen, wo ich gerade war. Aus irgendeinem Grund war es diesmal nicht so. Das ist die reinste Lotterie.“

Dabei hatte Cotton an diesem Tag eigentlich schon beschlossen, wegen der Windverhältnisse gar nicht rauszufahren. Die Wellen waren zu holprig. Das Risiko erschien ihm zwei Tage vor einem Wettkampf unnötig hoch. Als Surfer über vierzig verspürt er nicht mehr so wie früher den unwiderstehlichen, fast schmerzhaften Drang, jede Welle zu surfen. Trotzdem kann er manchmal wider besseres Wissen nicht an sich halten. Cottons Instinkt riet ihm daheimzubleiben, in dem Haus, das er für die Big-Wave-Saison in Nazaré angemietet hatte. Aber an Tagen wie diesem kann der große Vorteil der Villa – der freie Blick auf die Brandung – zum Fluch werden. Dann geht von den Wellen eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, die auch vorsichtige Surfer erfasst und in ihnen das Gefühl weckt, etwas zu verpassen, wenn vor ihren Augen, nur wenige Hundert Meter entfernt, die Jetskis durch das Wasser pflügen und die Surfer die eine oder andere große Welle erwischen. Den Gedanken, dass jederzeit ein Unglück passieren kann, verdrängen die Big-Wave-Surfer von Nazaré, die sich sonst nicht immer wieder auf das Wagnis in den Wellen einlassen könnten.

Der Mann aus North Devon ist nicht der Erste, den es beim Big-Wave-Surfen ins Nirgendwo verschlägt. Mit diesem Zwischenbereich zwischen Leben und Tod haben viele schon Bekanntschaft gemacht. Auch Garrett McNamara, der in seinen legendären Zeiten als Erster die richtig hohen Wellen in Nazaré surfte. Das war 2011, nur wenige Augenblicke nachdem er auf einer fast 24 Meter hohen Welle den Weltrekord für die höchste jemals gesurfte Welle gebrochen hatte. So nah liegen an diesem Küstenabschnitt in Portugal Triumph und Tragödie beieinander. Noch Jahre später möchte sich Nicole, die Frau des Hawaiianers, gerne vorstellen, es gäbe da unten in den Höhlen eine Stelle, wo ihr Mann, wenn er dort hineingespült würde, gegen jede Wahrscheinlichkeit in Sicherheit wäre und sie an einem Seil Essen für ihn herunterlassen könnte, bis die Wellen abebben würden und er wohlbehalten aus der Höhle zurückkehren könnte. Die Familienmitglieder und Freunde, die in Nazaré zusehen, reden sich alles Mögliche ein, um sich selbst zu beruhigen, während sie machtlos ein paar Hundert Meter oberhalb des Meers stehen und das Geschehen auf dem Wasser verfolgen.

Bis zum Auftakt zur Surfsaison 2021/22 war an der gefährlichen Küste von Nazaré erstaunlicherweise noch niemand zu Tode gekommen. Doch alle, die hier im Wasser und an Land mitarbeiten, sind darauf eingestellt, dass genau das früher oder später passieren kann. Nach Cottons Meinung sind die, die zuschauen, noch viel schlimmer dran. Seine Freundin hat zum ersten Mal mitangesehen, wie er ernsthaft in Bedrängnis gerät. Sie ist leichenblass und bringt keinen Ton mehr heraus. Einer der Spotter nimmt ihr das Walkie-Talkie, das für die Kommunikation mit den Leuten draußen auf dem Wasser da ist, aus der Hand. Die Rettungsmission gelingt am Ende nur, weil das Meer ein Einsehen hat und die Strömung sich verändert, und nicht wegen der vielen Sicherheitsvorkehrungen an Land und auf dem Wasser.

Cotton, der erfolgreichste Big-Wave-Surfer Großbritanniens, hat sich in der Brandung von Nazaré schon einen Wirbelbruch und einen Riss des vorderen Kreuzbands zugezogen. Seine neueste Kollision mit den Felsen kommentiert er fast lässig:

„Es war nicht so schlimm wie damals bei dem Wirbelbruch. Für die, die das vom Ufer aus mitansehen, ist es traumatischer als für denjenigen, der in der Situation drinsteckt. Trotzdem gab es einen Moment, an dem ich dachte: Jetzt habe ich wirklich verkackt, das wars. Das dachte ich allerdings schon häufiger. Der Albtraum ist, wenn du in eine dieser Höhlen gedrückt wirst. Da kommst du nie wieder raus. Das gehört für mich zu den Top Five der schlimmsten Möglichkeiten – oder ist vielleicht die schlimmste.“

Mit Horrorgeschichten kann in Nazaré so gut wie jeder aufwarten: bewusstlos mit dem Kopf nach unten im Wasser, ausgekugelte Schultern, ein beim Auftauchen in die falsche Richtung verdrehter Arm, von den Lenkgriffen des Jetskis ausgeschlagene Frontzähne, ein fein säuberlich abgetrenntes Ohrläppchen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Trotzdem kommen sie immer wieder her, Megawelle für Megawelle, Dünung für Dünung und allen Beinahe-Tragödien zum Trotz, auf der Suche nach dem ultimativen Adrenalinflash und der perfekten Welle – wenn es so etwas überhaupt gibt oder ihr Surfhunger überhaupt zu stillen ist.

DER MOUNT EVEREST DES SURFSPORTS

Nazaré ist der Superlativ des Big-Wave-Surfens – sein Mekka, sein Mount Everest, sein Heiliger Gral. Hier ist Verlass auf die höchsten und optisch wohl spektakulärsten Wellen auf dem Planeten. Andere Big-Wave-Spots haben vielleicht die atemberaubenderen Barrels und den blaueren Himmel zu bieten, aber die Kulisse von Nazaré ist unvergleichlich. Am besten erschließen sich die Majestät und Wildheit dieses Ortes, wenn man auf dem Aussichtsfelsen ein gutes Stück landeinwärts geht und das Fort mit dem kleinen roten Leuchtturm im Blick hat. Viele Fotos, die von hier aus aufgenommen werden, vermitteln den Eindruck, dass sich die Welle direkt hinter der alten Festung auftürmt und die Surfer, die sie erwischt, im nächsten Augenblick gegen die Felswände schleudert. Vor Ort wirken die Surfer im Meer eher wie kleine Punkte, die von den Jetskis in die Welle gezogen werden, wo sie mit aller Kraft versuchen, auf dem Board zu bleiben.

Es geht eine rätselhafte Anziehungskraft von diesem Ort aus, der Adrenalinjunkies aus aller Welt anlockt. Da gibt es die Dauergäste und solche, die während der Saison mehrmals für kurze Zeit herkommen. Manche kommen auch nur einmal, weil sie sehen wollen, was an dem ganzen Hype dran ist, und tauchen dann nie wieder auf. Für einige wird Nazaré während der Saison oder gar auf Lebenszeit zur Heimat. Eines haben alle gemeinsam: Sie wollen die höchste Welle aller Zeiten surfen und hinterher noch am Leben sein.

Andrew Cotton ist gelernter Installateur und war einer der Ersten, die zum Surfen nach Nazaré kamen. Er stammt aus North Devon, Großbritannien. Manchmal scheint er sich selbst zu wundern, dass er noch immer hier ist – und dass er es überhaupt hierhergeschafft hat. Er hat viel von seiner Lebenszeit in diesen Surfspot investiert und viel zurückbekommen. Obwohl er sich mit seinen 42 Jahren in einer Community von überwiegend jungen Leuten durch sein Alter abhebt, denkt er nicht ans Kürzertreten oder Aufhören. Der Appetit aufs Big-Wave-Surfen ist ihm noch nicht vergangen, wenngleich er inzwischen wählerisch ist, was den richtigen Zeitpunkt angeht. Von Oktober bis März – so lange dauert die Big-Wave-Saison in Portugal – lebt er die meiste Zeit in Nazaré. Die Unterbringung variiert von Jahr zu Jahr – mal ist es, wie in diesem Jahr, eine Villa mit Blick auf die Brandung, aber es kann auch ein Wohnmobil oder das CAR-Surf [Abk. für Centro de Alto Rendimento de Surf] sein, das gut ausgestattete Leistungszentrum am Waldrand, wo die Surfer in Schlafräumen mit Etagenbetten übernachten können. Welche Unterbringungsvariante er wählt, richtet sich meist danach, welches Budget ihm für die betreffende Saison zur Verfügung steht, das heißt, wie viel Geld er von den verschiedenen Sponsoren einwerben konnte.

Wo auch immer er sein Haupt zur Ruhe bettet, er ist schon so lange immer wieder Gast in Nazaré, dass er sich die portugiesische Staatsbürgerschaft verdient hätte. Sechs Monate im Jahr ist der Ort sein Lebensmittelpunkt, wobei er sich gelegentlich eine Auszeit von dem Tollhaus nimmt, das Nazaré sein kann. Das liegt nicht nur an Mutter Natur, sondern auch an den starken Egos, mit denen er hier Tag für Tag wetteifert. Dann zieht es ihn für einen Kurzaufenthalt nach Südwestengland, wo seine beiden Kinder mit seiner Ex-Frau leben. Oder er fährt an die irische Westküste, wo er sich als Big-Wave-Surfer zum ersten Mal einen Namen machte und die für ihn bis heute ein Zufluchtsort ist, an dem er seiner Leidenschaft nachgehen kann und alles noch auf das Wesentliche reduziert ist. Und er hat noch ein weiteres zweites Zuhause: die französischen Alpen, wo seine Freundin wohnt.

Maya Gabeira lebt im Gegensatz zu Andrew Cotton das ganze Jahr über hier – und vielleicht für immer. Die Brasilianerin ist eine Wegbereiterin für die Frauen im Surfsport und war die erste Big-Wave-Surferin, die weltweit bekannt wurde. Sie musste viel einstecken – nicht nur von den Elementen, sondern auch von einigen Kollegen. Sie war Sexismus und verbalen Angriffen ausgesetzt, biss sich aber auf ihre Weise durch und hat die Tür aufgestoßen für die Surferinnen von morgen, die sich bis an die Spitze des Surfsports vorarbeiten konnten. Surferinnen wie Justine Dupont stehen den Männern in nichts mehr nach und beweisen: Der steinige Weg, den Gabeira gehen musste, um dorthin zu gelangen, wo sie heute steht, hat sich gelohnt.

In den Wellen von Nazaré ist sie dem Tod schon mehr als einmal von der Schippe gesprungen. Doch sie gab niemals auf, sondern kämpfte sich immer wieder zurück. Über Jahre rang sie mit den körperlichen und seelischen Folgen eines dramatischen Sturzes mit Nahtoderfahrung, der unter anderem mehrere Rückenoperationen nach sich zog, und griff schließlich erneut an. Für sie hat Nazaré eine Magie, die sich nicht erklären lässt und so stark ist, dass sie den eng vernetzten Familienverband in ihrer brasilianischen Heimat zurückließ und sich hier ein Haus kaufte – paradiesisch gelegen im Hügelland, zehn Autominuten von dem Hafen entfernt, von dem aus die Surfer auf ihren Jetskis zum Wellenreiten aufbrechen. Hier lebt sie relativ abgeschieden mit ihren zwei Hunden, zwei Ziegen und den streunenden Katzen, die gelegentlich vorbeischauen, im Übrigen aber die Bäume außerhalb des Grundstücks als Wohnort vorziehen.

Dass sie und der deutsche Surfer Sebastian Steudtner seit Jahren auf dem Wasser als Team zusammenarbeiten, dürfte der Theorie nach gar nicht funktionieren, aber das Gegenteil ist der Fall. Sie sind nicht so verschieden wie Tag und Nacht, haben aber sehr unterschiedliche Herangehensweisen. Auch Gabeira überlässt nichts dem Zufall, aber sie geht die Sache nicht ganz so methodisch an wie Steudtner. Auf dem Wasser ergänzen die beiden sich wie Yin und Yang und die Zusammenarbeit läuft reibungslos. In manchen Punkten gehen ihre Meinungen weit auseinander, aber es verbindet sie, dass beide oft gerne allein agieren – und dass beide in Nazaré gelegentlich Außenseiter sind.

Der Deutsche ist so etwas wie ein Surfwissenschaftler. Viele sehen in diesem Sport ein Kräftemessen zwischen Surfer und Board auf der einen und der Natur auf der anderen Seite. Steudtner hingegen ist permanent auf der Suche nach Optimierungsmöglichkeiten und lässt dabei nichts unversucht. Er nutzt den Windkanal im Entwicklungszentrum von Porsche, einem seiner Sponsoren, und ließ mit Unterstützung von Technologiepartner Siemens einen Ganzkörperabguss von sich anfertigen, um bis in die kleinsten Feinheiten nachzuvollziehen, wie sich sein Körper verhält, wenn die Elemente auf ihn einwirken. Steudtner ist in Nürnberg aufgewachsen, das bekanntlich mitten im Binnenland liegt und kilometerweit von jedem offenen Gewässer entfernt ist. Sein innovativer Geist unterscheidet ihn grundlegend von seinen Mitstreitern. Das beginnt bei der Nutzung von neuesten Erkenntnissen aus der Wissenschaft und reicht bis zur Verpflichtung eines Bundeswehrarztes, der sonst Patienten aus ganz anderen Kampfgebieten betreut. Hinzu kommt, dass Steudtner mehr für mehr Sicherheit in den portugiesischen Gewässern tut als jeder andere. Auch wenn er dies von sich weisen würde: Es gibt Surfer, die ihm und den von ihm angestoßenen Sicherheitsmaßnahmen ihr Leben verdanken. Darüber hinaus gehört er zu den Besten der Big-Wave-Szene und hat die höchsten Wellen weltweit gesurft – und zwar auf den anspruchsvollsten Routen. Trotzdem wirkt er, ähnlich wie Gabeira, manchmal wie ein Fremdling in dieser kleinen Gemeinschaft.

Auf Nic von Rupp lasten die Erwartungen seines Heimatlands. Er kam nur wenige Kilometer von Nazaré zur Welt, wuchs an Portugals Westküste auf und gehört zu den großen einheimischen Big-Wave-Talenten. Er hat sich einen Namen gemacht als einer der Besten nicht nur in Portugal, sondern weltweit. Er ist stolz auf seine Wurzeln und darauf, dass er daran mitwirkt, sein Heimatland als Mekka des Big-Wave-Surfens zu etablieren. Gemeinsam mit dem Tourismusverband macht er Werbung für Portugal und will noch mehr Menschen dafür gewinnen, ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen zuzuschauen, wenn sie in Aktion treten. In seinen Anfängen war von Rupp Paddlesurfer, also ein Surfer, der sich selbst in die großen Wellen hineinpaddelt. Das Tow-in-Surfen, mit dem sich die Sportler auch in Megawellen hineinwagen können, lehnte er zunächst ab. Der Unterschied zwischen Paddlesurfen und Tow-in-Surfen ist seiner Meinung nach mit dem zwischen einer Tour de France auf dem Motorrad und einer Tour de France auf dem Rennrad vergleichbar. Heute wechselt Nic von Rupp zwischen beiden Varianten hin und her. Bei ruhigerer See paddelt er, bei höherem Wellengang lässt er sich ziehen. Denn auch er weiß, dass man die rekordverdächtigen Monsterwellen nur surfen kann, wenn man sich von einem Jetski hineinziehen lässt.

Was ihn und seine Konkurrenten antreibt, ist ein Rekord, der nach einhelliger Meinung noch niemandem gelungen ist: die sagenumwobene 100-Fuß-Welle (das entspricht etwa 30,5 Metern). Das ist die Zielmarke und der Erwartungshorizont für die Saison, die gerade begonnen hat. Kameras verfolgen jede Bewegung von Nic von Rupp, Andrew Cotton und einigen anderen für eine HBO-Doku, die das Ziel im Titel trägt: 100 Foot Wave. Die Doku dreht sich vor allem um den Mann, der sich als Erster in die Megawellen von Nazaré gewagt hat, Garrett McNamara, und begleitet dann verschiedene Big-Wave-Surfer von Saison zu Saison.

In Nazaré arbeiten die Surfer in Teams. Ab einer bestimmten Höhe ist es unmöglich, bäuchlings auf dem Surfbrett in die Welle zu paddeln. Dann hilft nur noch der Jetski. Dadurch entsteht zusätzliches Gefahrenpotenzial, weil etliche schwere Fahrzeuge und Motoren durch das Wasser pflügen und dabei nicht nur den Riesenwellen, sondern auch den darin trudelnden Surfern ausweichen müssen. Surfer und Jetskifahrer wechseln sich auf dem Wasser immer wieder ab und ziehen sich gegenseitig mit einem am Heck des Fahrzeugs befestigten Schleppseil in die Wellen. Von Rupps ständiger Partner ist Sérgio Cosme. Zwischen den beiden herrscht manchmal ein ziemlich rauer Ton, aber die anderen wissen inzwischen, dass das ihre Art ist, miteinander umzugehen, und eine brüderliche Liebe sie verbindet.

Cosme ist Portugiese und ebenfalls Big-Wave-Surfer, betreibt den Sport aber nicht mehr so intensiv. Das liegt zum Teil an einer Verletzung und zum Teil daran, dass in diesem verschworenen Haufen seine andere Fähigkeit stärker gefragt ist: Heute ist Cosme vor allem als einer der besten Jetskifahrer in Nazaré bekannt, der Surfer wie von Rupp in die Wellen bringt oder aber zum Lebensretter wird, in Situationen, die aus dem Ruder laufen. Ähnlich wie Steudtner hat auch er als Schutzengel von Nazaré vielen das Leben gerettet und ist sich dessen bewusst. Trotzdem sitzt ihm ständig der Gedanke im Nacken, dass eines Tages eine Tragödie passieren könnte und er womöglich nicht rechtzeitig zur Stelle ist, um ein Mitglied der bunten Surfercommunity zu retten. Das hindert ihn aber nicht, mit ansteckendem Optimismus in jeden Tag zu starten – ein Adrenalinjunkie, der genauso gern auf einem der Bikes aus seiner Motorradsammlung unterwegs ist wie auf dem Wasser, auf dem ihm allerdings ganz andere PS-Zahlen zur Verfügung stehen.

Von Rupp war derjenige, der mir das Tor zur Big-Wave-Szene von Nazaré öffnete. Wir lernten uns kennen, als ich mit meiner Familie in einem Ferienhaus auf dem Grundstück seiner Eltern Urlaub machte. Von Rupp fuhr mit mir ans Meer, wo ich die Megawellen zum ersten Mal mit eigenen Augen sah, und machte mich mit dem einen oder anderen namhaften Big-Wave-Surfer bekannt. Die Community pflegt eine Politik der offenen Tür. Auch wenn alle sehr eingespannt sind, nimmt sich jeder Zeit, um über seine Passion zu sprechen, die auf die meisten Außenstehenden einerseits wie der helle Wahnsinn wirkt, andererseits eine magische Anziehungskraft ausübt.

Mir wurde das Glück zuteil, über eine ganze Saison – die Saison 2021/22 – einer dieser Zuschauer zu sein. Ich wollte herausfinden, was diese Besessenen antreibt, und wurde mit offenen Armen aufgenommen. Ich durfte auf dem Jetski hinaus in die Wellenberge mitfahren und die Surfer zu Hause besuchen, wo ich oft großzügig bewirtet wurde. Das Quintett, das ich für dieses Buch begleitet habe, besteht aus fünf Helden an einem Ort, an dem es viele Helden gibt, die eines verbindet: Sie alle begreifen sich als Teil einer verschworenen Gemeinschaft, die versucht, sich buchstäblich und finanziell über Wasser zu halten und, was noch wichtiger ist, von einem Tag auf den anderen zu überleben. Im Laufe der Saison werden sich ihre Wege vielfach kreuzen – mal im Guten, mal im Schlechten.

WILLKOMMEN IN NAZARÉ

Über einer ramponierten Asphaltstraße, die durch eine kleine rot-weiße Automatikschranke für den normalen Verkehr gesperrt ist, hängt ein schlichtes schwarzes Schild, auf dem in weißen Buchstaben steht: „Bem-vindo às maiores ondas do mundo“, „Willkommen bei den höchsten Wellen der Welt“. Auf beiden Seiten der Schranke schlendern vom frühen Morgengrauen bis zum letzten Sonnenstrahl Menschen zu dem markanten Fort hinüber, das seit 1577 felsenfest an seiner Stelle steht und in dem ein Gästebuch ausliegt, in das sich laut der letzten Zählung Menschen aus 120 Ländern eingetragen haben. Erbaut wurde es von König Sebastian I., der auf diese Weise die Fischer und Schiffbauer in der Stadt vor den zunehmenden Überfällen durch Piraten schützen wollte. Die gespannte Erwartung unter den Tagesausflüglern ist mit Händen zu greifen. Alle hoffen, einen Blick auf die tollkühnen Adrenalinjunkies zu erhaschen, die hier an Tagen mit hohem Wellengang den Big Waves die Stirn bieten. Jeder, der zum ersten Mal nach Nazaré kommt, sieht allein an dem Menschenauflauf, dass er hier richtig ist.

Wer im Laufe einer Saison diesen Gang einige Hundert Male absolviert, kann den Eindruck gewinnen, der Ort und die Menschen seien in einer Art Zeitschleife gefangen, in der sich ein und derselbe Moment immer wieder wiederholt: Auf einem Grasfleck oberhalb der Straße spielt der Musiker Claudio Teixeira, besser bekannt als Zuko Nature, untermalt vom Meeresrauschen, seine sphärisch klingenden Melodien. Immer die gleichen Händler versuchen, den Touristen surfbrettförmige Schlüsselanhänger, Nazaré-T-Shirts und Schmuck zu verkaufen. Nur hundert Meter weiter, die Straße hinauf, lenkt ein Obdachloser in der Hoffnung auf ein kleines Trinkgeld mit großer Hingabe den Verkehr auf die wenigen verfügbaren Parkplätze. Um ihn herum versuchen Frauen, die nach alter Tradition sieben Röcke übereinander tragen, die Passanten auf den Hauptplatz von Sítio da Nazaré zu locken, wo sie an Ständen Nüsse feilbieten. An den Häusern rund um den kopfsteingepflasterten Platz blättert unter der Dauereinwirkung der salzigen Seeluft die Farbe ab. Pünktlich zu jeder vollen Stunde ertönt die Glocke der katholischen Kirche Santuário de Nossa Senhora da Nazaré, die im 14. Jahrhundert auf Geheiß eines anderen portugiesischen Königs, Ferdinand I., erbaut wurde.

Die Sehenswürdigkeiten und die Geräuschkulisse auf dem Weg zum Leuchtturm auf der Festung sind immer gleich, aber das, was sich unten auf dem Wasser abspielt, ist jedes Mal anders. Wenn an ruhigen Tagen die Besucher bergauf und bergab strömen, obwohl auf dem Wasser nicht viel los ist, und auf der unbewegten blauen Wasserfläche vor dem Praia do Norte, dem „Nordstrand“ der Stadt, das Sonnenlicht glitzert, kann man sich kaum vorstellen, dass es hier jene Riesenwellen geben soll, die Nazaré berühmt gemacht haben. Doch so seelenruhig das Meer manchmal daliegt, an anderen Tagen wird es von unfassbaren Kräften aufgewühlt und verwandelt sich in einen Abenteuerspielplatz für eine kleine, aber stetig wachsende Zahl von Surferinnen und Surfern aus aller Welt – aus Portugal und Brasilien, von der Küste von North Devon im Südwesten Englands und den Stränden im Norden Hawaiis.

Auf den außenstehenden Betrachter macht das Ganze den Eindruck eines organisierten Chaos. Zu beiden Seiten der asphaltierten Straße, auf der ein Tuk-Tuk-Service Tagesausflügler befördert, die nicht so gut zu Fuß sind, erheben sich rote Lehmklippen. Ausgewiesene Zuschauerplätze oder eine Aussichtsplattform gibt es, vom Dach des Forts abgesehen, nicht. An Big-Wave-Tagen stehen die Menschen dicht gedrängt auf dem einen Felssporn, den Wind und Wetter erodieren. Die Schlichtheit der Umgebung passt irgendwie zu dem Naturschauspiel, das die Wellen in der darunterliegenden Wasserlandschaft aufführen. So manches ist in Nazaré so einfach wie möglich gehalten. Obwohl in den heißen Sommermonaten eine wahre Blechlawine durch die Stadt rollt und seit einiger Zeit auch im Winter Besucher anreisen, um dieses Stück Meer zu erkunden, gibt es keine einzige Verkehrsampel. In einiger Entfernung von dem bröckelnden Felsplateau stehen einige Windräder und drehen sich in den oft stürmischen Winden, die über den beinahe westlichsten Punkt Europas hinwegfegen.

Auf dem Wasser führen Surfer und Jetskifahrer eine Art Ballett mit spiegelbildlichen Bewegungsabläufen auf, wobei der Jetskifahrer den Surfer zunächst in die Welle zieht und dann in den Bergungsmodus wechselt, um ihn wieder aufzunehmen. Die Choreografen dieses Wasserballetts sind die sogenannten Spotter, die mit ihren Funkgeräten oben auf der Klippe stehen, etwas abseits der Schaulustigen. Die Surfer tragen unter dem Neoprenanzug eine Auftriebsweste, die sich im Notfall mit Luft füllt, und dazu eine Neoprenhaube und Surfschuhe zum Schutz vor den kalten Temperaturen im Atlantik. Die Jetskis schaukeln auf dem Rücken der Wellen auf und ab und warten darauf, an die Reihe zu kommen.

Auf unerklärliche Weise ziehen die Wellen alle in ihren Bann. Die Surfer, aber auch die Zuschauer, die sich nicht sattsehen können. Bei jedem Besuch spürt man eine gespannte Vorfreude auf das, was der Tag bringen mag, sowie eine gewisse Ehrfurcht vor der Natur – und vor dem verwegenen Haufen von Surfern aus aller Welt, die hier gemeinsam ihrer Obsession nachgehen. Das Ganze hat etwas von den überdeutlichen Vorgängen bei einer Pantomime: Erwischt ein Surfer eine Monsterwelle genau richtig, bricht die Menge in lauten Jubel aus; wenn es danebengeht und ein Surfer im gewaltigen Weißwasserfeld verschwindet, sind „Oohs“ und „Aahs“ zu hören; wenn der Wellenreiter endlich wieder auftaucht und von einem Jetski aufgenommen wird, erklingt erneut großer Jubel.

Seit der Saison 2021/22 sind die Surfer dazu übergegangen, sich am Ende jeder Session unterhalb der Klippe zu versammeln und den Zuschauern zu danken, indem sie ihnen nach oben zuwinken wie moderne Gladiatoren. Manche kehren auf dem Jetski unversehrt in den Hafen zurück, andere müssen mit dem Krankenwagen abtransportiert werden, wieder andere werden am weitläufigen Nordstrand angespült, der nur allzu oft zum rettenden Ufer für die atemlosen, von den Riesenwellen verschluckten und wieder ausgespuckten Surfer wird. Dass die Surfer diesen Tanz während der Big-Wave-Saison jeden Tag aufs Neue wagen, ist eine unglaubliche Leistung. Sogar an Land vibriert der Boden wie bei einem kleinen Erdbeben, das Tosen der Brandung ist in ganz Nazaré fast überall zu hören, und die Wucht der aufspritzenden Gischt ist so stark, dass sie einem noch in einiger Entfernung vom Klippenrand ins Gesicht schlägt.

Willkommen in Nazaré!

EIN OZEAN VOLLER GEFAHREN

Bevor die Surfer hierherkamen, waren die Fischer die Einzigen, die sich in Nazaré aufs Meer trauten. Noch heute befahren einige stolze Angehörige dieser Zunft mit ihren Trawlern die Gewässer. Zum ersten Mal urkundlich erwähnt wird der Fischfang in Nazaré im Jahr 1643. Dort, wo sich längs des Hauptstrands ein Großteil des heutigen Stadtgebiets erstreckt, waren früher Sanddünen, die später zum Siedlungsgebiet wurden. Überall in der Stadt findet man Anzeichen dafür, dass das Meer hier eine zentrale Rolle spielt: etliche Standbilder, aber auch Restaurants und die vielen Malereien an den Hauswänden. Am Hauptstrand sind eine Reihe bunter, alter Fischerboote aufgestellt. Noch während des gesamten 20. Jahrhunderts lebten fast alle Bewohner der Stadt von der Fischerei, so gefahrvoll sie auch war. Früher zogen die Fischer ihre Boote bei Wind und Wetter unter großen Anstrengungen selbst vom Strand ins Wasser und wieder zurück an Land. Der in den 1980er-Jahren angelegte Hafen sorgte für deutlich mehr Sicherheit und verminderte die Gefahren für Leib und Leben.

Auch wirtschaftlich war der Hafen eine Notwendigkeit. Ohne ihn war der Fischfang kaum rentabel, viele Fischer zogen in andere Küstenorte, zum Beispiel in das einige Kilometer südlich gelegene Peniche, oder viel weiter weg ins kanadische Neufundland, um dort ihr Glück in der Kabeljaufischerei zu suchen. Für diejenigen, die in Nazaré blieben, war es ein täglicher Kampf ums Auskommen und ums Überleben.

Noch heute zeugt manches von den Gefahren, mit denen die Bewohner von Nazaré lange leben mussten. Einige der älteren Frauen kleiden sich noch immer von Kopf bis Fuß in Schwarz zum Zeichen der Trauer um einen Ehemann oder Sohn, der den Fluten zum Opfer fiel. Und einige der restaurierten Boote am Strand haben eine tragische Geschichte. Die Sol da Vidawurdeder Stadt von der Familie von José Manuel Limpinho Salsinha geschenkt. Der 1946 geborene Salsinha ging in jungen Jahren unter die Kabeljaufischer, bis er sich auf andere Fischarten verlegte und den Beinamen „Zackenbarschkönig“ erwarb. 2011 kam er im Alter von 64 Jahren ums Leben, als er mit einem anderen Schiff, der Bruna, auf hoher See kenterte. Neben der Sol da Vida stehen die Rettungsboote. Das berühmteste ist wohl die 1912 gebaute Nossa Senhora dos Aflitos(dt. „Unsere Liebe Frau der Bedrängten“), die 65 Jahre lang in städtischen Diensten stand. 1914 konnte die Besatzung dieses Rettungsboots von 21 in Seenot geratenen Fischern alle bis auf zwei retten. Direkt vor den Rettungsbooten steht an der Promenade die Statue der Mãe Nazarena, der „Mutter von Nazaré“. Sie trägt ein Kind auf dem Arm, ein zweites schmiegt sich an ihre Seite; auf dem Kopf balanciert die Figur eine reliefartige Darstellung der Felsklippen und der Stadt – sie wacht symbolisch über das Meer und über die Kinder der Stadt.

Zur Fischertracht, die bei festlichen Anlässen noch heute gelegentlich getragen wird, gehören ein kariertes Hemd und eine Hose mit breitem schwarzem Bund. Die traditionelle Kleidung der Frauen besteht aus den erwähnten sieben übereinander getragenen Röcken, wobei der oberste großzügig mit Stickereien verziert ist. Die Nussverkäuferinnen in Sítio oder am Hauptstrand zeigen sich bis heute in dieser Tracht. Über die Entstehung der Sieben-Röcke-Tradition in Nazaré gibt es verschiedene Theorien. Die einen sagen, die Röcke stünden für die Farben des Regenbogens, für die Wochentage oder auch für sieben Wellen, die in Nazaré erst auflaufen müssen, bevor die Wasserfläche sich glättet. Andere behaupten, die Röcke sollten die Frauen warm halten, wenn sie in den kalten Wintern ihren Männern nach dem Fischzug zur Hand gingen, und dienten als schlichte Alltagskleidung für die Zeit, in der die Ehemänner draußen auf See waren.

Fisch ist in Nazaré das Hauptnahrungsmittel. Das ganze Jahr über liegen an sonnigen Tagen vor allem Sardinen und Makrelen auf holzgerahmten Grillrosten zum Trocknen aus. Die traditionelle Delikatesse verströmt einen durchdringenden Geruch und wird meist von älteren einheimischen Frauen feilgeboten – ebenfalls in folkloristischem Gewand. Das Trocknen in der Sonne ist ein Prozess in mehreren Schritten und wird heute am Strand erledigt; früher fand es auf dem nahe gelegenen Fischmarkt statt, der heute ein Museum ist. Die frischen Fische werden ausgenommen, mit Salzwasser abgespült, halbiert und unterschiedlich lange in einer Salzlake gepökelt. Anschließend legt man sie zum Trocknen aus – manche nur für drei Stunden, andere für drei Tage. Diese Konservierungsmethode wurde von Generation zu Generation weitergegeben und war in früheren Zeiten Aufgabe der Frauen. In den vielen Restaurants am Hauptstrand und in den verschlungenen Gassen der Stadt gibt es traditionelle Fischgerichte in allen Variationen. Die gängigsten Kreationen sind wohl der caldeirada, ein Fischeintopf, und eine Fischsuppe mit Nudeln, die massada de peixe heißt. Auf den meisten Speisekarten findet sich außerdem fangfrischer Fisch aus der Region, im Ganzen gegrillt. Auch die Reisgerichte arroz de marisco und arroz de tamboril gehören zum Standard – das eine mit Meeresfrüchten, das andere mit Seeteufel.

Die Zahl der Fischer in Portugal ist rückläufig. 2010 gab es immerhin noch 16 920. 2019 waren es nur noch 14 617. Diese Entwicklung macht sich auch in Nazaré bemerkbar. Einer von denen, die dem Beruf treu geblieben sind, ist Joaquim Zarro. Die Nachbarn links und rechts von seiner Garage Nr. 86 am Hafen sind entweder auch Fischer oder Surfer. Nachdem die Sardinensaison für dieses Jahr vorbei ist, bessert er nun mit seiner Crew, zu der auch sein Adoptivsohn Joshua gehört, die Netze aus, während im Hintergrund das Radio läuft. Die Bilder an den Wänden zeigen Zarros Eltern (der Vater war ebenfalls Fischer), Jesus beim letzten Abendmahl und noch etwas, das Zarro verehrt (als Buße für seine Sünden): die Fußballmannschaft von Benfica Lissabon. Der vor Energie sprudelnde Mann hatte sogar schon einmal einen Auftritt in Gordon Ramsays Fernsehserie Kulinarische Abenteuer, in der er den britischen Starkoch zum Fischen mit aufs Meer nahm und anschließend mit ihm den Fang zubereitete. Zarros beide Boote liegen nur fünfzig Meter von hier im Hafen. Sie heißen Companheiro de Deus(dt. „Gefährte Gottes“) und Deus e Pesca(dt. „Gott und Fischerei“) und passen mit diesen Namen gut zu den anderen Booten im Hafen. Die Namensgebung macht deutlich, dass für die Fischerzunft in Nazaré die Religion einen hohen Stellenwert hat. Dass die Fischer allesamt Katholiken seien, witzelt Zarro, liege daran, dass „sie ja an irgendetwas glauben müssen“, wenn sie Tag für Tag auf das sturmgepeitschte Meer hinausfahren.

Zarros Name ist so portugiesisch wie sein Aussehen, aber er spricht ein nahezu perfektes Englisch mit einem ungewöhnlich starken Bolton-Akzent, der für einen Teil der britischen Grafschaft Lancashire typisch ist. Kein Wunder, betrieb er doch im Nordwesten Englands diverse Pubs. Sein Elexier jedoch ist das Meer. Das liegt in seinen Genen. Sein Urgroßvater, der sein Leben auf See ließ, war Fischer. Zarro selbst arbeitete fünfeinhalb Jahre lang für die Kreuzfahrtreederei Princess Cruises. „Da habe ich alles gemacht – von Klo putzen bis kellnern“, erinnert er sich stolz. In dieser Zeit lernte er auch sein Mädchen kennen, Andrea die „Barfrau aus Bolton“, wie er sie nennt. Sie waren auf Anhieb ein Herz und eine Seele. Nach drei gemeinsam absolvierten Kreuzfahrten beschlossen sie, sich in Portugal niederzulassen und dort eine Kneipe aufzumachen. Als sie damit keinen Erfolg hatten und nicht wussten, wie es weitergehen sollte, fuhr er nach England, in die Gegend von Lancashire, um sich dort umzuschauen. Nach zwei Tagen meldete er sich bei seiner Freundin, dass er wieder nach Hause komme, er verstehe kein Wort. „Die Amerikaner in den Spielfilmen redeten immer klar und deutlich.“ Andrea schärfte ihrer Familie ein: Redet bitte ordentliches Englisch mit Zarro. „Inzwischen spreche ich ebenfalls mit diesem Bolton-Aktzent“, sagt er und lacht.

Letztlich fand Zarro im nordenglischen Pub-Gewerbe einen Job als Problemlöser – für vier Wirtshäuser der Kneipenkette Tetley. Doch der Ruf der Gewässer von Nazaré, der auf so viele eine hypnotische Wirkung ausübt, lockte ihn wieder in die Heimat. Dort machte er mit Andrea eine Kombination aus Kneipe und Restaurant auf. Nahe am Meer zu sein und Essen aus dem Meer zu servieren, war ihm jedoch nicht genug. Ihn reizte die Rückkehr zur Fischerei. „Das liegt mir im Blut, in meiner Familie waren alle Fischer.“ In gespannter Vorfreude besprachen die beiden seine Pläne, ein Boot zu kaufen. Als sie wenige Monate nach ihrer Rückkehr nach Nazaré eines frühen Sonntagmorgens am Hauptstrand der Stadt entlangspazierten, wurde Andrea von einer Monsterwelle ins Meer gespült. Zarro sprang ins Wasser, um sie zu retten. „Sie liebte das Meer und den Sand. An diesem Morgen war die See ungefähr so …“, er zeigt dabei auf den Boden, um deutlich zu machen: Das Wasser war harmlos und flach wie ein Brett. „Die Welle kam aus dem Nichts. Sie türmte sich auf und riss sie mit sich. Eine portugiesische Redensart lautet: Was das Meer will, holt es sich.“ Sein Rettungsversuch war vergeblich. Knapp 25 Kilometer weiter südlich in Richtung Peniche – ebenfalls ein bekannter Surfspot – wurde zehn Tage später ihre Leiche an Land gespült. „Seitdem bin ich ein anderer Mensch“, sagt Zarro. Tränen steigen ihm in die Augen. „Das Restaurant hatten wir gekauft. Ich hatte ein Vermögen investiert und machte durch die Betriebsschließung einen Riesenverlust. Aber das war mir in dieser Situation egal. Wenig später wachte ich eines Morgens auf, ging los und kaufte mir ein Boot.“

Heute beschäftigt er zwölf Mitarbeiter. Der jüngste ist der 21-jährige Joshua, der älteste ist 73, fährt aber nicht mehr mit hinaus. Seitdem er im vergangenen Jahr über Bord ging und dem Tod nur knapp von der Schippe sprang, hat er den seefahrerischen Teil seiner Fischerlaufbahn beendet und arbeitet heute nur noch an Land. Zarro fängt hauptsächlich Sardinen, Makrelen und Sardellen. Die finanzielle Ausbeute wird am Ende jeder Fischfangwoche unter den zwölf aufgeteilt. Er weiß, wie schwer es ist, genug zu fangen, um die Familien seiner Crewmitglieder zu ernähren. Trotz des Drucks und der Gefahren sagt Zarro:

„Es gibt nicht viele, die das sagen, aber ich liebe meine Arbeit. Es geht nicht nur darum, dass ich gerne Käpt’n bin – ich liebe es, auf See zu sein. Bei meinem Sohn ist das genauso. Wenn der sich auf dem Meer ein Haus bauen könnte, würde er das sofort machen! Aber es ist ein hartes Geschäft. Viele Leute sehen den Fisch auf ihrem Teller und ahnen gar nicht, welche Mühen der Fischer dafür auf sich genommen hat. Das gilt für die Wellenreiter genauso. Schau dir diesen McNamara an – ich ziehe meinen Hut vor ihm, denn er hatte als Erster den Mumm. Die Wellen gab es ja schon lange vorher. Und er bleibt am Ball, obwohl einem angst und bange wird. Das verdient Anerkennung. Ich habe keine Angst vor dem Meer, aber sehr wohl Respekt.“

Joe – das war Zarros Spitzname in Bolton – betont, dass Fischer wie er und Surfer wie McNamara gut miteinander können. Oft beschränkt sich ihr Austausch auf ein beiläufiges „Hallo“ oder auf das Ausleihen von Werkzeug für eine eilige Jetskireparatur. Aber was sie eint, ist das Kopfschütteln, dass sie bei vielen ernten, wenn die sehen, was beide, Fischer und Surfer, hier treiben – an einem Ort, der schon so viele Tragödien auf dem Wasser erlebt hat. „Wir alle – ob Surfer oder Fischer – müssen Respekt vor dem Meer haben. Es kann ruhig sein, es kann stürmisch sein, aber das Meer ist das Meer und verlangt immer Respekt. Ich weiß, was das Meer anrichten kann. Die Surfer sind verrückt: Die gehen da raus und spielen mit den Wellen. Sie könnten stürzen und sich den Hals oder das Rückgrat brechen – aber das ist ihnen egal.“ Einmal hat auch Joshua das Fischernetz gegen ein Surfbrett getauscht. Das war allerdings eine einmalige Aktion für eine portugiesische Kaffeereklame. Ob es ihn lockt, sich noch einmal in die Wellen zu stürzen? Die Antwort ist ein entschiedenes Kopfschütteln.

Die Tragödie, die Teil von Zarros Lebensgeschichte ist, ist nur eine von vielen Geschichten, die das Meer von Nazaré zu erzählen hat. Jede Generation hat geliebte Menschen in den grimmigen Fluten verloren – Fischer ebenso wie Sommergäste. Unzählige Familien in der Stadt haben leidvolle Erfahrungen mit dem Meer gemacht.

WIE ALLES BEGANN

Früher surfte bei Monsterwellengang in Nazaré niemand. Die einheimischen Surfer und Bodyboarder wussten, wann das Wellenreiten zum Spiel mit dem Tod wurde. Trotzdem konnten sie es auch an solchen Tagen nicht lassen, die Straße herunter zum Leuchtturm zu gehen und auf die unbändigen Wassermassen zu schauen. Außer den Fischern, die weiter draußen auf See unterwegs waren, begab sich kein Mensch aufs Meer. Schon der Gedanke war abwegig, das Risiko einfach zu groß.

Einige der bekannten Big-Wave-Surfspots gibt es schon lange Zeit. Zu ihnen gehört Mavericks vor der nordkalifornischen Küste, wo die Wellen durch Felsformationen unter der Wasseroberfläche verstärkt werden. Der Name geht auf einen deutschen Schäferhund zurück, der einem Mitbewohner des Surfers Alex Matienzo gehörte, der dort mit seinen Freunden in späten 1960er-Jahren seine Surfversuche unternahm. Größere Bekanntheit erlangte Mavericks 1975, als dort Jeff Clark bis zu 7,5 Meter hohe Wellen surfte. 1994 verunglückte Mark Foo zwei Tage vor Weihnachten in Mavericks tödlich. Seine Leiche wurde zwei Stunden später gefunden. Er hatte eine kleine Kopfverletzung, und man vermutet, dass er ertrunken ist, weil die Leash – die Verbindungsleine, mit der sein Fuß am Board befestigt war – am Riff hängen blieb.

Ein weiterer Surfspot ist Peʻahi an der Nordküste der Insel Maui im US-Bundesstaat Hawaii, in Surferkreisen besser bekannt als Jaws nach Steven Spielbergs Film Der weiße Hai (Originaltitel Jaws), der 1975 in die Kinos kam. Das Tempo, mit dem die Wellen sich dort verändern, erinnerte die Surfer an die Geschwindigkeit einer Haiattacke. In Peʻahi gab es einige der größten und spektakulärsten Wellen der Surfgeschichte zu bewundern. Ebenfalls auf Hawaii liegt Waimea Bay, wo die ersten Riesenwellen schon 1957 gesurft wurden.

Der prominenteste Surfspot auf Tahiti, das zu Französisch-Polynesien gehört, ist Teahupoʻo, das seit den 1960er-Jahren Surfer aus aller Welt anlockt. Wörtlich übersetzt bedeutet Teahupoʻo „Ort der Totenköpfe“. Dieser Name geht angeblich auf den Sohn eines ermordeten polynesischen Königs zurück, der aus Rache das Gehirn des Mörders verspeist haben soll. Teahupoʻo gilt vielen als Ort mit der schwierigste Welle der Welt. Es ist bei den Olympischen Spielen von Paris 2024 Austragungsort für die Surfwettbewerbe, die übrigens erst zum zweiten Mal stattfinden.

Im Vergleich zu den genannten steckt das Big-Wave-Surfen in Nazaré noch in den Kinderschuhen, denn es begann erst 2010 und wurde zunächst von den traditionellen Surfcrews in Kalifornien, Hawaii und Tahiti belächelt. Um anerkannt und akzeptiert zu werden, musste sich die unerfahrene hiesige Surfgemeinschaft in den Anfangsjahren mächtig ins Zeug legen.

Der Erste, der die Monsterwellen von Nazaré surfte, war der Hawaiianer Garrett McNamara. Die in vielen Artikeln verbreitete Kurzfassung der Geschichte lautet so: McNamara bekommt von dem einheimischen Surfer Dino Casimiro, der im Bürgermeisteramt arbeitet, eine E-Mail mit einem angehängten Foto von den Wellen zugeschickt und macht sich sofort auf den Weg nach Nazaré, um dort zu surfen. Später stellt er hier einen neuen Weltrekord auf. Aber wie bei den meisten Geschichten dieser Art war der Weg in Wahrheit viel schwieriger und länger, und es waren deutlich viel mehr Akteure beteiligt. Trotzdem ist und bleibt McNamara der, der als Erster den Mut hatte, unter solchen Bedingungen hinauszugehen. Heute ist er die bekannteste Persönlichkeit in der Stadt. Wer mit ihm auch nur kurz durch die Straßen spaziert, bekommt schnell mit, dass er andauernd angesprochen wird – speziell von älteren Damen. Kein Zweifel: Er ist derjenige, der Nazaré bekannt gemacht hat. Seine frühen Heldentaten trugen maßgeblich dazu bei, dass sich das einst so arme Fischerdorf zu einem ganzjährigen Besuchermagneten entwickelte und wirtschaftlich aufblühte. Allerdings verdanken sowohl McNamara wie auch die Stadt den Umstand, dass sie aus der Folklore des Big-Wave-Surfens nicht mehr wegzudenken sind, nicht zuletzt einer Gruppe portugiesischer Freunde, die Mittel und Wege ersonnen, Nazaré ins Rampenlicht zu rücken und aus der Stadt eine Touristenattraktion zu machen, die weit mehr ist als ein malerisches Urlaubsziel im Sommer.

Die Rede ist von einem kleinen, eingeschworenen Team aus Mitarbeitern der Stadtverwaltung, die das Ziel und einen Plan hatten, wie sie Nazaré und seine Wellen in der Welt bekannt machen wollten. Der damalige Bürgermeister Jorge Barroso gab grünes Licht, solange die Stadtkasse nicht belastet würde. Zu dieser Gruppe gehörten zwei Paulos. Paulo Caldeira, der für eine große Eventagentur in Porto tätig war, brachte viele Ideen mit. Paulo Salvador, von McNamara „Pitbull“ getauft (der Spitzname setzte sich in der Surfercommunity durch), war bei der Stadt für den Bereich Sport zuständig. Er ist bis heute der offizielle Sicherheitsbeauftragte an Big-Wave-Tagen. Der bereits erwähnte Dino Casimiro, der gemeinsam mit Pitbull einen Surfclub am Ort gründete, übernahm die Planung (und Vorbereitung) von Events anhand der Wettervorhersage. Der Vierte im Bunde war Kameramann und Fotograf Jorge Leal, er sorgte für die bewegten und unbewegten Bilder, die die Events für die Ewigkeit festhielten.

Paulo Caldeira hörte schon als junger Bodyboarder von den „fucking crazy waves“ von Nazaré. Als er mit achtzehn Jahren zum ersten Mal zu dem verlassenen Leuchtturm hinausfuhr, war das Wetter an Land und über dem Meer jedoch so stürmisch, dass er gar nicht erst aus dem Auto stieg. Er wagte sich nur an Tagen mit schwächerem Wellengang aufs Wasser. Lange bevor Caldeira und seine Freunde sich zusammentaten, hatte Nazaré bereits in kleinem Maßstab von sich reden gemacht, als dort 2001 ein europäischer Bodyboardingwettkampf ausgetragen wurde. Zwei Jahre später wurden sechs Bodyboarder zu einem Event nach Nazaré eingeladen, das sich Bodyboard Special Edition nannte. 2005, 2007 und 2009 organisierte Calderia Folgeevents unter dem gleichen Namen. Aber das Problem war: Außerhalb der Community, beim breiten Publikum, fand Bodyboarding in Portugal keinen Anklang, sodass es schwierig war, Sponsoren zu gewinnen. Um Nazaré groß herauszubringen, musste ein anderes Konzept her.