Neben wem du erwachst - Gytha Lodge - E-Book
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Gytha Lodge

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Beschreibung

Das bleierne Gefühl des Hangovers ist nicht neu für Louise, im Gegenteil: Sie kennt es. Aber an diesem Morgen ist es böser, der Kopf wummert, der Mund ist trocken, die Erinnerung verwischt. Louise fürchtet, etwas Schlimmes getan zu haben. Sie dreht sich um zu ihrem Mann. Aber neben ihr liegt nicht Niall, sondern ein Fremder. Und er ist tot. Hat sie ihn ermordet? --- Ein brillant gestrickter Fall voll unerwarteter Wendungen: der neue Pageturner von Spiegel-Bestsellerautorin Gytha Lodge!

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Gytha Lodge

Neben wem du erwachst

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Sepp Leeb und Kristian Lutze

Hoffmann und Campe

Für Rufus, den großartigsten und albernsten aller Söhne.

Ich hoffe, du verzeihst mir das Fehlen von Fortnite-Bezügen.

 

Und du bist noch zu jung, um das zu lesen. Sorry.

Prolog

Mich fröstelte. So wie man bei Nachtschweiß fröstelt. Ein langsames Aufwachen in feuchten Laken, die an der Haut klebten. Es war wie damals, als ich dachte, ich hätte ein Lymphom, während es tatsächlich ein Nervenzusammenbruch war. Erinnerst du dich? Ich bin jede Nacht klatschnass und zitternd aufgewacht, nachdem ich so heftig geschwitzt hatte, dass die halbe Matratze durchgeweicht war.

Ich wehrte mich gegen das Aufwachen. Ich war zu müde und mir des Katers, den ich jeden Moment massiv spüren würde, nur allzu bewusst. Ich hasste mich schon, noch bevor ich die Augen aufgeschlagen hatte. Jedenfalls hasste ich die betrunkene Louise. Diese verantwortungslose, miese Version meiner selbst, die offenbar immer alles vermasseln muss, nur damit sie sich amüsieren kann.

Ich war also halb wach und hasste es. Und ich dachte, wenn ich zurück auf deine Seite des Bettes kröche, würde ich vielleicht eine trockene Stelle, womöglich sogar eine Bettdecke finden und wieder einschlafen können.

Aber irgendwie fand ich die Decke nicht, deshalb rutschte ich noch weiter, um mich an dich zu schmiegen. Das war immer der wärmste Platz zum Schlafen, in deinen Armen. Aber mir wurde nicht wärmer. Was sich zuvor nur klamm angefühlt hatte, wurde zu einer Nässe, die mich schaudern ließ. Irgendetwas durchtränkte mein Nachthemd.

Ich weiß noch, wie ich mir zurechtgereimt habe, dass es kein Nachthemd sein konnte, weil sich dünne feste Streifen in meine Schultern gruben und ich mich von Stoff eingezwängt fühlte. Also Kleider. Die betrunkene Louise war in ihren Klamotten eingeschlafen. Und das machte mich ein wenig ängstlich, was sie sonst noch getan haben könnte.

Ich öffnete die Augen zu einem Schlitz und drehte mich auf die Seite. Zuerst nahm ich dich nur als einen Schatten wahr, eine beruhigende, gekrümmte Silhouette. Das Fenster hinter dir war erleuchtet vom orangefarbenen Schein der Laterne ein Stück die Straße hinunter. Es war noch vor Anbruch der Dämmerung.

Dieses Licht verwirrte mich. Ich konnte mich nicht erinnern, dass du je bei offenen Vorhängen geschlafen hast. Kein einziges Mal in fünf Jahren.

Ich weiß noch, dass ich eine Hand auf die Matratze gelegt und sie dann betrachtet habe. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich auf meiner Handfläche einen dunkleren Abdruck erkannte, doch mir kam unvermittelt der Gedanke, dass die Feuchtigkeit Blut sein könnte.

Das schockierte mich noch nicht. Nicht einmal, als ich sah, dass es sich zwischen uns … ausgebreitet hatte. Ein dunkler Kreis, der sich bis fast zu den Kissen und bis zu meinen Knien erstreckte.

Dann stellte sich schleichend das Begreifen ein. Die Erkenntnis, dass du keins der üblichen Schlafgeräusche von dir gabst. Kein Atmen. Nicht das vertraute Fiepen hoch oben in deiner Nase. Kein Gluckern in deinem Bauch, wie es sonst in den frühen Morgenstunden praktisch immer zu vernehmen war.

Ich berührte dich an der Schulter. Und aus irgendeinem dummen Grund flüsterte ich, anstatt normal zu sprechen: »Niall. Niall.« Als könnte ich mich vergewissern, dass mit dir alles in Ordnung war, ohne dich richtig zu wecken.

Zwei Wahrnehmungen trafen mich, und ich weiß nicht, welche zuerst kam. Ich kann mich nicht recht erinnern, ob mir eins wirklich vor dem anderen deutlich wurde.

Das Erste war, dass du kalt warst. Kälter als die Laken. Kälter als die Kleider auf meiner Haut. Eine Kälte, durch die deine Haut sich fremd anfühlte.

Und das Zweite war noch seltsamer. Es war die Erkenntnis, dass du fremd warst. Deine Umrisse waren zu groß, die Schultern breiter als deine, die Hüften vielleicht ein wenig schmaler.

Als ich das Licht anmachte und mir das bleiche weiße Gesicht eines Fremden entgegenblickte, wusste ich es schon.

Du warst es nicht. Du warst es nicht.

1.

Der Anruf erreichte Juliette Hanson um 6:46 Uhr. Durch den Schlitz zwischen den schlecht passenden Vorhängen konnte man noch Sterne sehen. Es war ein eiskalter 1. März, so kalt, dass der über Nacht gefallene Schnee zu leuchtenden, glitzernden Kristallen gefroren war. Außerdem war es Samstag, aber Hanson war jetzt hellwach. Wacher als an irgendeinem anderen Tag dieser Woche.

Nicht identifizierter Mann tot aufgefunden, hatte der DCI gesagt, der schrillste aller möglichen Weckrufe. Sie schwang bereits die Füße aus dem Bett, während er ihr die Adresse vorlas.

Sie hatte noch nie von Saints Close gehört, doch der Chef fügte glücklicherweise hinzu, dass es im Nordosten des Stadtzentrums lag. Wahrscheinlich würde sie vor ihm dort sein.

Sie zog einen frischen Hosenanzug aus dem Kleiderschrank, holte Zahnpasta und Zahnbürste aus dem Bad, nahm alles mit nach unten, schaltete den Wasserkocher ein und zog sich eilig an. Sie gab Instantpulver in ihre Thermoskanne, goss das kochende Wasser und Milch darüber und suchte ihre Schuhe. Dabei fiel ihr auf, dass sie ihre Socken oben vergessen hatte. Es war kein Wetter, um ohne auszukommen, also rannte sie noch einmal hoch und zog das dickste Paar an, das sie finden konnte. Um 6:35 Uhr stand sie vollständig bekleidet an der Haustür, das blonde Haar zu einem unordentlichen Dutt auf dem Kopf verknotet, der für den Moment reichen musste.

Die Hand am Türgriff verharrte sie kurz, um sich mental auf die paar Schritte bis zu ihrem Wagen vorzubereiten. Wenn sie schnell einsteigen wollte, musste sie ihren Schlüssel parat haben. Die Tasche hing im richtigen Winkel über ihrer Schulter. Jede Bewegung vorausgeplant.

Sie war sich ziemlich sicher, dass dort draußen heute niemand lauern würde. Wer sollte an einem eiskalten Morgen vor Anbruch der Dämmerung vor ihrem Haus herumlungern wollen? Trotzdem würde sie auf Nummer sicher gehen.

Sie hatte es sich angewöhnt, die Tür zuzuziehen und das Yale-Schloss einrasten zu lassen, sobald sie über die Schwelle getreten war, ein Bewegungsablauf, der so eingeübt war, dass sie an diesem Morgen nicht einmal darüber nachdenken musste. Auf dem Weg zu ihrem Wagen, den sie rückwärts so nah wie möglich vor der Haustür geparkt hatte, blickte sie nach rechts und links. Keine Fußspuren im Schnee. Keine Anzeichen dafür, dass jemand in der Nähe war.

Sie brauchte fünf Schritte bis zur Fahrertür, beim zweiten hatte sie den Wagen per Fernbedienung aufgeschlossen. Beim dritten Schritt war sie fast überzeugt, dass sie allein war. Trotzdem ging sie zügig weiter und entspannte sich erst, als sie die Wagentüren von innen verriegelt und den Motor angelassen hatte.

Danach saß sie eine Weile lang da und atmete langsam ein und aus. Sie hasste es, sich so zu fühlen. Außerdem hasste sie es, dass es fast noch schlimmer war, wenn er doch nicht im Schatten lauerte.

 

DCI Jonah Sheens platzte vor Neugier, als er mit seinem Mondeo in Saints Close einbog. Er hatte es bedauert, Jojo Magos warmes Bett zu verlassen und ihren einzigen gemeinsamen faulen Vormittag zu verpassen. Außerdem fühlte er sich in dem Hemd und der Hose vom Vortag ein wenig schmuddelig. Aber all diese Bedenken traten angesichts des geweckten Interesses in den Hintergrund. Ein nicht identifizierter Mann vor einem Wohnhaus. Tot. All die Fragen, die das mit sich brachte.

Saints Close erwies sich als eine mäandernde Ansammlung von 60er-Jahre-Häuschen, die von der Belmont Road abging. Klobige freistehende Häuser mit einem angemessen großen Vorgarten. Eine Straße der soliden Einkommen, aber nicht besonders protzig. In den Auffahrten parkten eher Volkswagen als Audis.

Jonah bemerkte, dass jemand ein Apostroph hinter »Saints« geklebt hatte, das viel größer war als die Buchstaben des Straßenschilds. Er musste lächeln. So eine Straße war das also.

Er parkte den Wagen halb auf dem Bürgersteig hinter dem Transporter der Spurensicherung. Insgesamt waren es drei Notfallfahrzeuge, und Hansons blauer Nissan stand ein Stück die Straße hinunter. Die Wagen waren die einzigen in der Straße, die nicht mit Schnee bedeckt waren. Jonah war froh, in seine dick gefütterte Jacke zu schlüpfen und die Skihandschuhe überzustreifen, bevor er ausstieg.

Der Garten vor dem Haus Nummer elf war von Bäumen eingegrenzt. Verschneite Fichten standen zwischen kahlen Ahornästen. Zur Straße verdeckte eine überwucherte Hecke den Blick auf das Erdgeschoss. Der Vorgarten sah aus, als wäre es dort auch bei Tageslicht düster.

Jonah ging auf das Tor zu und versuchte, mehr zu erkennen als die weißen Umrisse des Teams der Spurensicherung und die weiße Schutzwand aus Nylon, die gerade in der Mitte des Gartens aufgestellt wurde.

Eine der Gestalten im Overall kam auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. Linda McCullough, Forensikerin für Southampton und New Forest und unangefochtene Chefin der Spurensicherung. Jonah trat auf die durchsichtige Plastikplane, die von der Haustür bis zum Bürgersteig ausgerollt worden war.

»Berichten Sie«, sagte Jonah.

»Wir sind gerade erst angekommen«, entgegnete McCullough und zog ihre Maske herunter. »Das Opfer ist ein junger Weißer. Die Hausbesitzerin hat die Polizei gerufen. Sie hat uns erklärt, dass sie ihn um kurz nach halb sieben gefunden hat.«

Jonah beobachtete, wie eine der weiß gekleideten Gestalten ein Kabel von der Haustür bis zu zwei tragbaren Scheinwerfern mit breitem Stativ ausrollte. Bis auf den erleuchteten Flur und eine Treppe auf einer Seite konnte er nichts vom Inneren des Hauses erkennen.

»Ist sonst noch jemand im Haus?«

»Ihre Constable ist hier, sonst niemand.«

Die Scheinwerfer erwachten zu grell leuchtendem Leben und fluteten den Vorgarten mit Licht. Jonah blinzelte gegen die plötzliche Helligkeit an und folgte McCullough hinter die mittlerweile fest aufgestellte Schutzwand.

Ein paar Meter dahinter lag ein junger Mann, sein weißes T-Shirt mit Drachenmotiv war von einem großen dunkelroten Fleck gezeichnet. Während McCullough sich um die Ausrichtung der Scheinwerfer kümmerte, kniete Jonah über der Leiche. Als Erstes blickte er in die farblosen Gesichtszüge des Toten, markant, mit hohen Wangenknochen. Es war ein attraktives Gesicht gewesen, dachte er, bis heute.

Er registrierte die kräftigen Schultern, den flachen Bauch und ein in der Nähe liegendes Messer, an dem trocknendes Blut klebte. Dann wanderte sein Blick zu dem Fleck im Schnee unter der Leiche.

»Nicht viel Blut«, murmelte er.

McCullough seufzte vernehmlich, als sie ihre Maske wieder aufsetzte. »Sheens …«

»Schon gut, ich weiß.« Er grinste sie an und richtete sich auf. »Sie machen Ihren Job, und ich geh Kaffee kochen.«

 

Ben Lightman traf als Nächster ein, gerade zurück aus dem Jahresurlaub, unerschüttert und unverändert attraktiv wie ein Filmstar. Er war offensichtlich nicht warm genug angezogen, um sich im Freien aufzuhalten, schien jedoch völlig unbekümmert, als ob Kälte etwas wäre, das nur anderen Menschen etwas anhaben konnte. Regungslos lauschte er den kargen Informationen, die sie bisher hatten.

»Ich hätte gern Zeugenaussagen aus den umliegenden Häusern«, schloss Jonah. »Sie können meine Jacke und Handschuhe haben. Juliette ist bei der Hauseigentümerin. Ich geh mal rein und schau nach ihr.«

Lightman nickte, nahm die angebotene Jacke entgegen und zog sie über. »Und Domnall kann mich vermutlich unterstützen, sobald er eintrifft?«

»Genau«, sagte Jonah. »Geben Sie ihm noch ein paar Minuten.«

Von den vier Mitgliedern ihres Teams wohnte Domnall eigentlich dem Tatort am nächsten. Aber Domnall O’Malley war nie ein Mann gewesen, der zur Eile neigte, außer ihm blieb keine andere Wahl. Trotz seiner vorherigen Laufbahn beim Militär bewältigte er sein Leben eher planlos und aus dem Bauch heraus. Daran war Jonah gewöhnt und ließ Domnall die Dinge gern auf seine eigene Art regeln.

Er betrat das Haus und fand Hanson in einem großen, stilvoll eingerichteten Wohnzimmer, das vom Flur abging. Sie hatte es geschafft, sich halbwegs förmlich zu kleiden; der dunkelblaue Hosenanzug und die cremefarbene Bluse wirkten ziemlich seriös, wenngleich ein bisschen zusammengewürfelt.

Die Frau, die ihr gegenübersaß, wirkte hilflos in dem ganzen Trubel. Sie war Anfang dreißig und trug einen dicken Bademantel über ihrem Schlafanzug. Ihre Füße waren nackt, und um die Augen hatte sie ein paar Make-up-Reste. Ihr sehr dunkles Haar sah feucht aus und war zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengerafft. Sie zitterte unaufhörlich, wahrscheinlich, weil ein Toter in ihrem Garten lag, vielleicht auch wegen der arktischen Luft, die durch die offenen Türen hereinwehte.

»Ah«, sagte Hanson und lächelte ihn an. »Das ist mein DCI. Das ist Louise Reakes, Sir. Sie hat die Leiche gefunden und uns benachrichtigt.«

Hansons Birmingham-Akzent klang heute Morgen ein wenig stärker durch als sonst, mit Absicht, wie Jonah vermutete. Ein regionaler Zungenschlag wirkte immer weniger bedrohlich.

»Vielleicht sollten wir die Tür schließen«, sagte Jonah und stieß die Wohnzimmertür zu. »Damit die Kälte wenigstens nicht hier reinzieht.« Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich der Frau gegenüber. »Das alles tut mir sehr leid.«

»Schon gut«, sagte Louise heiser. »Da kann man nichts machen. Schließlich haben Sie ihn ja nicht da hingelegt …« Ihre Mundwinkel verzogen sich zu dem Anflug eines ironischen Lächelns. Einen Moment lang sah es aus, als wollte sie sich entschuldigen, doch dann senkte sie den Blick auf ihre Hände.

»Kannten Sie das Opfer?«, fragte Jonah behutsam.

Louise schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe ihn noch nie im Leben gesehen. Tut mir leid.«

»Sobald wir seine Identität festgestellt haben, werden wir versuchen, ein paar Bilder aus den sozialen Medien zu bekommen«, sagte Hanson. »Manchmal ist es schwer, jemanden zu erkennen, wenn …« Sie nickte und ließ den Satz unbeendet.

»Okay«, sagte Louise. »Aber ich bin mir ziemlich sicher. Ich meine, er ist groß, oder nicht? Groß und … kräftig. So jemanden kenne ich nicht.« Wieder dieses Zucken der Mundwinkel. »Alle von Nialls Freunden sind Ärzte oder Anwälte mittleren Alters – ein anderer Typus.«

»Ist Niall Ihr Mann?«, fragte Jonah.

»Oh. Ja. Er kommt erst im Laufe des Tages zurück. Eine Konferenz in Genf.«

»Sind Sie auch berufstätig?«, fragte Hanson.

»Gott, ja. Ich könnte nie nur Hausfrau sein. Ich würde verrückt werden.« Louise lachte, ein wenig nervös. Ihr Blick wanderte wieder zu Jonah. »Ich bin Musikerin.«

Hanson grinste. »Das ist toll. Modern oder …?«

»Ich bin Harfenistin.« Louise wies mit dem Kopf Richtung Flur. »Das Musikzimmer ist hinten.«

»Können Sie mir erzählen, wie Sie ihn gefunden haben?«, fragte wieder Jonah.

Louises Gesichtsausdruck veränderte sich deutlich. Sie band ihren Bademantel fester zu, bevor sie antwortete: »Klar.« Es klang angespannt und gepresst. »Ich bin um kurz vor halb sieben aufgewacht, schwer verkatert. Gestern Abend war meine Freundin April zu Besuch, und sie ist eine heftige Trinkerin.« Sie lächelte knapp. »Ein schrecklicher Einfluss. Wenn wir zusammen sind, hab ich hinterher immer einen Kater.«

»Sie ist nicht geblieben?«, fragte Hanson.

»Nein.« Louise schüttelte den Kopf. »Sie fährt meistens nach Hause.«

»Sie waren also allein gestern Nacht«, stellte Hanson fest.

»Ja«, sagte Louise. »Nur ich.« Sie machte eine Pause und fand den Faden wieder. »Also, ich bin früh aufgewacht und hab mich beschissen gefühlt. Ich wollte mir einen Tee machen und dafür die Milch von draußen reinholen. Wir kriegen sie noch richtig vors Haus gebracht. In Flaschen.« Sie schüttelte plötzlich den Kopf. »Entschuldigen Sie.«

»Schon okay«, sagte Hanson. »Kein Grund zur Eile.«

»Da hab ich diesen … Umriss im Vorgarten gesehen. Zuerst konnte ich mir keinen Reim darauf machen. Ich bin näher herangegangen, um zu gucken … und dann hab ich die Polizei angerufen.«

»Und Sie haben draußen niemanden gesehen?«, fragte Jonah. »Niemand war auf der Straße?«

»Nein …« Sie schüttelte den Kopf und sagte dann: »Aber ich dachte … Vielleicht hilft das nicht weiter, aber ich glaube, ich bin in der Nacht von einem lauten Motorgeräusch geweckt worden.«

»Um wie viel Uhr war das?«

»Ich weiß nicht …« Sie blickte zur Seite. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich auf die Uhr geguckt habe. Eine Weile vorher. So gegen vier vielleicht.«

»Aber das Opfer lag noch nicht da, als Ihre Freundin aufgebrochen ist?«

»Nein, definitiv nicht«, sagte sie und wrang die Hände. »Scheiße, ich hätte nie ins Bett gehen können mit …«

»Wie spät war es denn?«

Louise sah ihn vage verwirrt an und sagte dann zögernd: »Ich bin mir nicht … so um Mitternacht, schätze ich.«

»Und sonst gibt es nichts, woran Sie sich erinnern?«

»Nein«, sagte sie. »Tut mir leid.«

Jonah nickte und stand auf. »Wir werden sehen, ob sonst jemand etwas gehört hat. Vielleicht habe ich später noch ein paar Fragen an Sie, aber ich hoffe, wir werden hier nicht allzu lange brauchen.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte Louise.

Hanson stand ebenfalls auf und blickte auf Louises zitternde Gestalt herunter. »Ich mach Ihnen einen Tee, bevor ich gehe.«

»Oh, danke.« Louises Gesichtsausdruck wirkte leicht gequält. »Und Sie wollen nicht, dass ich …? Alles steht an einem bestimmten Platz, wissen Sie.« Mit erkennbar bemühtem Lächeln fügte sie hinzu: »Aber das wäre nett. Wenn Sie sicher sind.«

 

O’Malley war schon immer der Ansicht, dass es Menschen gibt, die die Arbeit der Polizei behindern können, ohne es bewusst darauf anzulegen. Die Frau, die im Saints Close Nummer neun wohnte, war einer dieser Menschen. Eine sture, ein wenig selbstgerechte Person Mitte vierzig namens Pamela. Sie stand auf der Schwelle ihrer Haustür und weigerte sich rundweg, ihren Mann für die Befragung zu wecken, während sie gleichzeitig versuchte, ihnen Informationen über die Ereignisse nebenan zu entlocken.

»Nun, also vermutlich eine Gewalttat?«, fragte sie, als hinter dem Wagen des Notarztes langsam ein Leichenwagen zum Stehen kam.

»Dazu können wir leider wirklich nichts sagen«, erwiderte Lightman zum mindestens dritten Mal geduldig, während O’Malley seine stattliche Gestalt an die Mauer lehnte und das Gefühl hatte, dass seine Lebensgeister schwanden. Er war zu alt für diesen Mist, und es war auch zu kalt dafür. »Sie sagten, Ihr Mann würde nachts häufig wach …?«

»Ja. Deswegen wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie leise sprechen könnten.« Sie spähte in Richtung Straße. »Dann war es Niall? Hat er seine Frau angegriffen?«

»Haben Sie Anlass, das zu vermuten?«

Die Nachbarin – Pamela – fixierte Lightman mit einem defensiven Blick. »Nun, so ist es doch meistens, oder?«

Am Ende ging O’Malley dazwischen. »Hören Sie. Wie Sie sehen, handelt es sich um ein schweres Verbrechen. Wir brauchen Ihre Hilfe. Wenn Ihr Mann etwas gehört hat, müssen wir das wissen. Es würde einen enormen Unterschied machen.«

Seinem langen flehenden Blick gab Pamela schließlich nach. »Also gut.« Sie öffnete die Tür hinter sich weiter. »Aber danach lassen Sie ihn in Ruhe, okay? Phil«, rief sie. »Phil, die Polizei muss dich sprechen. Tut mir leid, Schatz.«

O’Malley war ein wenig enttäuscht von dem stillen, leicht übergewichtigen Mann in dem blau karierten Schlafanzug, der die Treppe herunterkam. Er hatte jemanden Aggressiveres und Einschüchternderes erwartet.

Phils Bericht war ebenfalls ziemlich enttäuschend. Er war irgendwann nach zwei von einer zuknallenden Tür geweckt worden. Er meinte, dass das Geräusch von Louises und Nialls Haus gekommen sei, war sich jedoch nicht sicher. Danach hatte er bis halb sechs wach gelegen, schätzte er, und bis dahin nichts weiter gehört.

»Jede Wette, er hat nicht bis halb sechs wach gelegen«, sagte O’Malley leise zu Lightman, als sie gingen. »Sein Fenster liegt zur Straße. Wenn er wach gewesen wäre, hätte er bestimmt gehört, wie im Garten nebenan jemand ermordet wurde.«

»Es sei denn, es ist sehr leise geschehen«, erwiderte Lightman mit dem Hauch eines Lächelns, »aus Rücksichtnahme auf die Nachbarn.«

 

»Abgewischt«, sagte McCullough. Mit ihren behandschuhten Fingern fuhr sie in der Luft über das Messer, um ihm zu zeigen, dass der gemusterte Griff blutfrei war. Ohne die bräunliche Kruste auf der Klinge wäre es ein wunderschönes Objekt gewesen. Der Griff war schwarz mit kunstvollen silbernen Verzierungen, die lang geschwungene Klinge verjüngte sich zur Spitze.

Mittlerweile beugten sich drei Personen über die Leiche des jungen Mannes. Der Gerichtsmediziner war eingetroffen, und Jonah registrierte befriedigt, dass es Dr. Peter Shaw war. Jonah hatte erst einmal mit dem Mann zusammengearbeitet, doch seine ruhige, gemessene Vorgehensweise war ein entscheidender Faktor dafür gewesen, dass die Täterin wegen Mordes verurteilt worden war. Auch im Zeugenstand hatte er einen guten Eindruck gemacht und sich weniger aus der Ruhe bringen lassen, als Jonah es von einem Mann seines Alters erwartet hatte.

»Also keine Fingerabdrücke«, sagte Jonah und wandte den Blick von der perfekt gearbeiteten Tatwaffe. »Aber sie ist ziemlich unverwechselbar, oder?«

»Das ist sie. Es besteht durchaus die Chance, dass Sie sie zu dem Besitzer zurückverfolgen können«, erwiderte McCullough und wandte sich an Shaw: »Mich interessieren die Schmierspuren. Es sieht aus, als hätte jemand die Fingerabdrücke auf dem Griff abgewischt und die Waffe hier deponiert.«

»Er ist nicht hier erstochen worden«, sagte Jonah.

Es war keine Frage. Das war ihm wegen der fehlenden Blutlache unter der Leiche sofort klar gewesen. Es war nicht das erste Opfer einer Stichverletzung, zu dem er gerufen wurde, und normalerweise fiel einem als Erstes die extreme Ausbreitung des Blutes auf, das alles durchtränkte. Dieser Tatort wirkte auf ihn mehr wie das Ende einer Reise, auf der das Opfer schon unterwegs sehr viel Blut verloren haben musste.

»Nein, wurde er nicht«, antwortete ihm diesmal der Gerichtsmediziner und blickte zum Tor. »Hat Ihr Team die Fußspuren schon markiert?«

»Ja, ist erledigt«, sagte McCullough, als sie vorsichtig zur Straße gingen.

Das Team hatte Bürgersteig und Seitenstreifen abgesperrt, und McCullough führte sie bis zum Rand der Straße.

»Hier«, sagte sie und wies auf mehrere Plastikmarkierungen, die in das verschneite Gras gesteckt worden waren. Daneben prangten Abdrücke, an einigen Stellen schien der Schnee mit Blut befleckt zu sein. »Sie beginnen am Bordstein.«

Jonah drehte sich um und blickte zur Straße. »Und es sind definitiv seine Abdrücke?«

»Dem ersten Anschein nach passen sie zu seinen Schuhen«, antwortete McCullough, »und ich nehme an, es wäre schwer gewesen, ihn zu tragen.«

»Wir sollten nachprüfen, wann es gestern Nacht angefangen hat zu schneien«, sagte Jonah nachdenklich. »Die Abdrücke sind nicht zugeschneit.« Er blickte zur Bordsteinkante. »Sie glauben, er ist mit einem Wagen gekommen?«

»Sieht ganz danach aus«, sagte McCullough. »Ich würde sagen ein Taxi, aber ein Taxifahrer hätte wahrscheinlich gemerkt, dass jemand auf seiner Rückbank verblutet.«

»Also hat jemand anderes ihn abgesetzt«, sagte Jonah. »Und diese Person könnte das Messer in ein Tuch gewickelt bei sich getragen und neben dem Toten abgelegt haben?«

»Nun, im Garten wurde es jedenfalls nicht aus seinem Körper gezogen«, sagte Shaw. Er blickte stirnrunzelnd auf die Fußspuren. »Interessanterweise macht es nicht den Eindruck, als wäre er gerannt oder gestolpert.«

»Die Abdrücke sind ziemlich gerade und gleichmäßig«, stimmte McCullough ihm zu. »Wenn er sich also aus dem Fahrzeug eines Angreifers gerettet hat, ist er allem Anschein nach nicht in Panik getaumelt.«

»Das heißt, er wusste vielleicht nicht, wie schwer verletzt er war?«, fragte Jonah.

»Möglich«, sagte Shaw. »Menschen können nach einem massiven Blutverlust bisweilen eine seltsame Ruhe an den Tag legen.«

Ein Gedanke, der zu deprimierend war, um ihn im Moment weiterzuverfolgen, entschied Jonah. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn ich die Identität des Toten feststellen kann«, sagte er und drehte sich um, um eine kleine Erkundungsrunde durch Saints Close zu machen.

 

Hanson hatte im Kessel Wasser gekocht, in den Schränken einen Becher und Teebeutel gefunden und einen Tee aufgegossen, bevor sie im Kühlschrank nach Milch gesucht hatte. Aber Louise würde sie natürlich nicht mit reingebracht haben. Wahrscheinlich hatte sie die Milch vergessen, als sie die Leiche vor ihrer Haustür entdeckt hatte.

Hanson ging nach draußen, stieg vorsichtig über die Kabel, die in den Vorgarten führten, und sah, dass der Milchkasten neben der Stufe leer war.

Sie beugte sich ins Wohnzimmer und sagte: »Entschuldigung, ich finde die Milch nicht. Haben Sie sie irgendwo abgestellt …?«

»Oh.« Einen Moment lang war Louises Gesicht völlig ausdruckslos, dann sagte sie: »Nein, wie dumm von mir. Samstags kommt keine Milch.« Sie lachte. »Wie idiotisch.«

»Na, gut, dass Sie so idiotisch waren«, sagte Hanson lächelnd. »Sonst hätten Sie ihn nicht so früh entdeckt.«

Louise nickte und sagte: »Ich kann meinen Tee auch schwarz trinken. Das ist okay.« Als Hanson sich gerade wieder abwandte, fragte sie: »Wie lange werden Sie brauchen, um festzustellen, wer er ist?«

»Ich bin sicher, es wird nicht lange dauern«, bemühte Hanson sich, beruhigend und nicht unheilvoll zu klingen.

»Sagen Sie es mir, wenn Sie es wissen?«, fragte Louise mit sehr starrem Blick. »Ich muss es wirklich wissen.«

 

Jonah brauchte nicht lange, um bis zum Ende der kleinen Wohnstraße und zurück zu laufen. Um sich warmzuhalten, ging er weiter bis zur Belmont Road. Es dämmerte langsam, aber die Temperatur lag immer noch deutlich unter dem Gefrierpunkt. In Richtung Holy Hill überzog ein Streifen warmen Oranges den Himmel, der in ein verwaschenes Blau überging. In vielen Häusern brannte Licht, in manchen sah man besorgte Gesichter am Fenster. Eine ganze Straße lag dank des flackernden Blaulichts der Streifenwagen auf der Lauer.

»Hat jemand sie abgemurkst?«

Die Stimme kam aus einem großen weiß gestrichenen Haus mit einem rot geziegelten Dachvorsprung und einer ausladenden Veranda. Eine geschwungene gekieste Auffahrt, gesäumt von zurückgeschnittenen Sträuchern, die größtenteils mit Schnur gebunden waren, führte zur Haustür.

Das Haus war viel älter als alle anderen, wahrscheinlich gut hundert Jahre, und Jonah fragte sich, ob das Land, auf dem die Straße angelegt worden war, früher zu diesem Haus gehört hatte. Mit den hohen Fenstern und dem langgestreckten Dach wirkte es wie ein kleineres Gutshaus.

Die Stimme gehörte einem Mann, der auf der Veranda stand. Er war irgendwas zwischen sechzig und achtzig und trug eine Cordhose, einen Pullover mit V-Ausschnitt über einem karierten Hemd und Schafsfellpantoffeln.

Jonah sah ihn ausdruckslos an. »Verzeihung?«

»Ich habe gefragt, ob jemand sie abgemurkst hat.« Der Pantoffelträger hob einen leicht gekrümmten Finger und wies auf einen Punkt jenseits der Streifenwagen. »Wäre keine so große Überraschung bei der.« Er nickte, anscheinend befriedigt.

»Warum sagen Sie das?« Jonahs Tonfall blieb neutral. So geschmacklos solche Kommentare auch sein mochten, erwiesen sie sich doch häufig als nützlich. In Jonahs Welt musste man jede kleinliche gemeine Bemerkung sammeln, pflegen, in einem Notizbuch festhalten, in die Ermittlung eines Falles einbringen und hoffen, dass sie vielleicht in die richtige Richtung wies.

»Nun, ich habe es irgendwie erwartet«, sagte der ältere Mann. »Wie oft ich sie mitten in der Nacht aus einem Taxi habe stolpern sehen, kaum in der Lage, sich aufrecht zu halten. Die Art Frau, die als Opfer endet, denken Sie nicht?«

Jonah nickte, beinahe zustimmend, aber nicht ganz. »Mrs Reakes geht es zum Glück gut, doch ich wüsste gern, ob Sie gestern Nacht etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört haben.«

»Ich? Nein.« Der Mann in den Pantoffeln schüttelte den Kopf. »Nichts Ungewöhnliches. Das übliche Freitagabendrennen aber das beachte ich gar nicht mehr.«

»Sie meinen illegale Rennen? Mit getunten Fahrzeugen?«

»Ja. Die reizenden Burschen, die gern die Portswood Road runterrasen und dann weiter hinten an der Wohnstraße vorbei.«

»Und die haben Sie gestern Abend gehört? Wann war das ungefähr?«

»Oh, nach Mitternacht«, sagte der Mann und fügte hinzu: »Wenn irgendwas passiert ist, würde ich sagen, dass sie wahrscheinlich daran beteiligt waren.«

»Aber Sie wissen nicht, um wen es sich konkret handelt?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich habe nicht die Angewohnheit, um diese Uhrzeit draußen herumzuschlendern.«

Jonah nickte langsam. Das mochte sein, aber in der Nähe gab es Verkehrsüberwachungskameras. Auch Louise Reakes hatte einen lauten Motor erwähnt, was den Bericht des Mannes interessanter machte. »Sagen Sie uns einfach Bescheid, wenn Ihnen noch etwas einfällt«, sagte er und ging zurück zum Haus Nummer elf.

Shaw hatte seine erste Untersuchung beendet und besprach gerade den Abtransport der Leiche zur Gerichtsmedizin. Lightman und O’Malley lungerten am Tor herum. Wahrscheinlich waren sie mit der Befragung der unmittelbaren Nachbarn fertig.

»Darf ich schauen, ob er einen Ausweis dabeihat?«, fragte Jonah.

»Ja«, antwortete Shaw. »Nur zu.«

McCullough zog ein Paar violette Latexhandschuhe aus der Tasche und gab sie Jonah. Als er sie überstreifte, stieg ihm sofort ihr Geruch in die Nase. Der Geruch von Sex und Tod, wie McCullough es einmal ausgedrückt hatte. Jonah hatte gelacht, aber als er das nächste Mal die Folienverpackung eines Kondoms aufgerissen hatte, war ihm ein wenig übel geworden.

O’Malley kauerte neben Jonah, als der die Brieftasche aus der Gesäßtasche des Opfers fischte, sie vorsichtig öffnete und bemüht, sie möglichst wenig anzufassen, eine Kreditkarte herauszog.

»A. Plaskitt«, sagte er und suchte weiter, bis er die Mitgliedskarte eines Sportstudios fand. »Alex. Alex Plaskitt.«

McCullough hielt einen Plastikbeutel auf, in den Jonah die Brieftasche fallen ließ. Dann verlagerte er seine Position, um in die rechte Hosentasche des Mannes zu greifen, in der allem Anschein nach ein Handy steckte. Das ließ sich jedoch nur mit sehr viel Mühe herausziehen, weil die Beine des Opfers angewinkelt waren, sodass das Telefon gegen seine Lende gepresst wurde. Jonah drückte von außen gegen die Tasche und schob das Handy so heraus.

Ein iPhone. Ziemlich neu, dachte er, in einer Plastikhülle mit kunstvollem Drachenmuster, das beinahe dem auf dem T-Shirt des Opfers entsprach.

Jonah drückte auf den Home-Button, das Telefon leuchtete auf und zeigte mehrere Nachrichten von einer »Sex Kitten Issa« an.

Wahrscheinlich Alex’ Freundin, dachte er, als er sie überflog.

Die letzte war eine halbe Stunde alt und lautete:

 

Wo bist du verdammt?

2.

Es gibt so viel, was ich dir erzählen muss, Niall. Eine hässliche Geschichte, die den Morgen prägt und umrahmt, an dem ich neben einem Fremden aufgewacht und so panisch reagiert habe wie nie zuvor in meinem Leben.

Ich weiß, dass es womöglich längst zu spät ist für all das. Ich sitze hier ohne dich und weiß nicht einmal genau, ob ich möchte, dass du zurückkommst. Aber ich glaube, nach so vielen dummen Geheimnissen ist es Zeit, alles offenzulegen.

Und wahrscheinlich sollte ich an dieser Stelle sagen, dass mir mein Part in alldem wirklich leidtut. Ich bedaure den Schlamassel, zu dem sich das Ganze entwickelt hat, und alles, was ich dazu beigetragen habe, damit wir an diesem Punkt landen.

Aber eine Entschuldigung ist keine Erklärung, wie du mir einmal vorgehalten hast. Hier also ist die ganze Geschichte, und sie fängt sehr viel früher an, als du vielleicht denkst. An dem Abend, an dem wir uns kennengelernt haben, was natürlich auch der Abend war, an dem ich April zum ersten Mal begegnet bin. Aber genau genommen habe ich an diesem Abend drei Personen kennengelernt, die mein Leben auf eine Weise beherrscht haben, die ich niemals hätte voraussehen können.

So gern du vielleicht glauben möchtest, dass du den Anfang unserer Geschichte gemacht hast, ist es für mich mehr als klar, dass es April Dumont war, die sie initiiert hat. Nicht einmal du kannst die Macht bestreiten, die sie hat. Alle haben sie auf dieser Hochzeit beobachtet, von dem Moment an, in dem sie zu spät hereingestürmt kam, in einem Kleid, das ihre Taille frei ließ und, für den Fall, dass das nicht reichte, auch noch einen Teil ihrer Brüste. Alle haben auf ihre Tattoos gestarrt. Und auf ihre hochhackigen Cowboystiefel, die das scheiß Coolste waren, das ich je gesehen hatte.

Ich wette, gerade hast du das Gesicht verzogen, oder? Ich wette, wenn du dies in meiner Gegenwart lesen würdest, würdest du die Augen verdrehen und mich fragen, ob solche Ausdrücke wirklich nötig seien.

Nun, ich fürchte, das sind sie. Denn dies ist von Anfang bis Ende eine Scheißgeschichte, obwohl ich mich ehrlich bemühen will, dich zu schonen, wo ich kann. Ich möchte, dass du weiterliest, Niall. Wirklich.

Also zurück zu der Hochzeit, als ich noch eine kleinlaute, ängstliche, quälend schüchterne Person war. Ich habe mich oft gefragt, wie ich mich entwickelt hätte, wenn meine Mum ein wenig länger gelebt hätte. Wenn ich meine Teenagerjahre mit ihr statt mit einem zunehmend neurotischen und hemmungslos trauernden Vater verbracht hätte. Wenn ich jemanden gehabt hätte, der mir erklärt, wie toll ich bin. Vielleicht hätte ich eine selbstbewusste und gesprächige junge Frau werden können. Ich hätte sexy werden können.

Aber im Grunde ist es zwecklos, darüber zu grübeln. Ich war nicht selbstbewusst, gesprächig oder sexy. Ich war schüchtern, verlegen und hatte Angst vor Aufmerksamkeit.

Zumindest war ich das vor April. Bevor mein Leben aufgelesen und zum Leuchten gebracht wurde von dem Mädchen in den Cowboystiefeln, das geräuschvoll durch den Mittelgang der Kirche gestampft war, alle anderen freien Plätze ignoriert und sich direkt neben mich gesetzt hatte. Neben mich verhuschtes kleines Mäuschen.

Mir zugewandt verdrehte sie die Augen, als die Brautjungfer ein wirklich furchtbares Gedicht vortrug. Mir zeigte sie ihr gedrucktes Programm, auf dem sie im Namen irgendeines armen alten Komponisten namens Peacock das Wort »cock« umkringelt hatte. Ich war diejenige, die so laut lachte, dass sich alle zu uns umdrehten, womit wir zu Komplizinnen wurden. Und ich stellte überrascht fest, dass ich in dem Moment nichts dagegen hatte, angestarrt werden. Nicht, wenn April in meinem Team war.

»Gott sei Dank, dass das vorbei ist«, sagte sie, als der Gottesdienst endete, und wenn ich nicht sowieso schon in sie verliebt gewesen wäre, hätte ihr schwungvoller Tennessee-Singsang den Ausschlag gegeben. Ich habe nicht alles mitbekommen, was sie im Laufe des weiteren Abends zu mir gesagt hat, wie du dir bestimmt vorstellen kannst. Ihr unglaublicher Redefluss, ihre Lautstärke. Die unvermittelt leisen Nebenbemerkungen. Aber es spielte eigentlich auch keine Rolle.

Sie ging mit mir zu dem Empfang und erzählte mir von ihrer kleinen Schwester zu Hause, der ich auf ein Haar gleichen würde. Dee, sagte sie. Dolores, aber von allen nur Dee genannt. Diese Ähnlichkeit schien ihr etwas zu bedeuten.

Brennend neugierig fragte ich sie, wie sie in Southampton gelandet war. Sie wirkte einfach so exotisch und fehl am Platz.

»Du würdest es nicht glauben, aber ich hab früher wie der Bräutigam für große Pharmakonzerne gearbeitet«, sagte sie und grinste mich an. »Mein erster Mann und ich haben hier beide Jobs gekriegt, und dann sind wir uns gegenseitig leid geworden. Er ist nach Hause zurückgekehrt; ich bin geblieben, habe allerdings zugesehen, dass ich schleunigst aus dem Job rauskomme.«

»Was machst du jetzt?«

Sie blickte mich von der Seite an. »Ich mache immer noch ein bisschen Consulting für einige der Pharmafirmen. Freiberuflich. Damit ich ihnen sagen kann, wohin sie es sich stecken können, wenn ich will. Aber hauptsächlich gebe ich das Geld meines dritten Mannes aus. Es ist harte Arbeit, aber irgendjemand muss es machen.«

Ich musste lachen. Im nächsten Moment wäre ich beinahe über meine Absätze gestolpert. Ich hielt mich an einem Gartenzaun fest, um die Balance zu wahren, worüber ich aus irgendeinem Grund noch mehr lachte.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie und hakte sich bei mir unter. »Es ist so seltsam. Du bist genau wie Dee! Wenn du noch den Akzent hättest … könntet ihr fast Zwillinge sein.«

»Ich arbeite dran«, sagte ich.

Und soweit ich weiß, entschied sie damals vom Fleck weg, dass wir beide für immer beste Freundinnen sein würden.

Sobald wir bei der Party eintrafen, legte sie einen Arm um mich und blickte sich um, bis sie einen Kellner mit einem Tablett Champagner entdeckte. »Gott sei Dank«, sagte sie und nahm zwei Gläser.

Ich wollte ihr nicht sagen, dass ich keinen Alkohol trank. Es ist schwer, das gegenüber jemandem zuzugeben, für den Alkohol offensichtlich ein Schmiermittel im Kontakt mit Menschen ist. Deswegen habe ich es auch dir nie erzählt, Niall. Ich habe die Tatsache bewusst verschwiegen, dass ich bis zu dieser Hochzeit eigentlich abstinent lebte.

In Wahrheit fürchtete ich mich davor, betrunken zu sein. Und noch mehr davor, mich selbst zum Narren zu machen, meine Schlüssel, mein Handy oder, ich weiß nicht, irgendeinen Teil von mir selbst zu verlieren. Das Gefühl von Kontrolle vielleicht. Die Vorstellung, nicht alles im Griff zu haben, fand ich beängstigend.

Aber da war April, reichte mir ein Glas und leerte ihres in einem Zug, bevor ich auch nur an meinem genippt hatte. Ich wollte unbedingt, dass sie mich weiter mochte. Also trank ich. Schnell. Ich genoss Aprils Anerkennung, als sie die leeren Gläser abstellte und sich sofort zwei neue schnappte. Noch mehr liebte ich die Art, wie sie den Kellner mit einem Blick anlächelte, der Dank und irgendein Versprechen andeutete. Und ich beschloss, dass ich wie April sein würde, was immer dafür nötig war.

Als der Alkohol zu wirken begann, spürte ich nichts von der erwarteten Benommenheit. Stattdessen war da eine Wärme, das Gefühl, dass plötzlich alles nicht mehr so wichtig war. Es wurde leichter, mich zu benehmen wie meine neue Freundin. Zu lachen und sogar zum ersten Mal überhaupt zu flirten.

April stellte mich allen Verwandten des Bräutigams vor, die mich tatsächlich zu mögen schienen, woraus ich schloss, dass ich das Richtige tat. Ich wehrte mich nicht, wenn April mich zur Bar schleifte oder zu den Toiletten, um meinen Lidschatten aufzufrischen und mein Haar neu zu stylen. Nach und nach gelang es ihr, die Louise, die ich gewesen war, auszuradieren und durch eine glänzendere Version zu ersetzen. Eine bessere.

Und als Reaktion darauf wollte plötzlich anscheinend jeder mit mir reden. Der DJ. Dieser heißblütige italienische Freund von April. Der Trauzeuge, der definitiv verheiratet war. Sie wollten tatsächlich mit mir flirten und angeflirtet werden. Mit achtundzwanzig fühlte ich mich endlich begehrenswert.

Irgendwann im Laufe des Abends begann ich mir vorzustellen, dass ich wirklich ein neuer Mensch war. Eine quirligere Louise, sexier, eine bessere. Ich hatte das Gefühl, dass ich dieser besseren Person dabei zusah, wie sie mit anderen kommunizierte, und der Kontrollverlust war nicht wie erwartet beängstigend. Er war befreiend.

Kurzum, Niall, es war die Geburt der betrunkenen Louise. Sie ist nicht aus irgendeiner schrecklichen Tiefe gekrochen, wie du vielleicht denkst; sie ist wie ein Schmetterling aus dem welken tristen Kokon meines vorherigen Lebens geschlüpft. Und Gott, habe ich sie geliebt.

Du hast mir erzählt, dass du dich wie magnetisch angezogen gefühlt hast, als du mich zum ersten Mal gesehen hast. Nun, als du zu mir herübergeblickt und immer wieder hingeguckt hast, war es diese neue glänzende Version meiner selbst, die du gesehen hast.

Ich erinnere mich an deinen Gesichtsausdruck. Du schienst ein wenig geblendet zu sein. Und als du darum batest, mir vorgestellt zu werden, war ich nicht so überrascht, wie ich es vielleicht früher gewesen wäre. Natürlich mochtest du diese neue Louise. Man hatte so viel Spaß mit ihr.

Die betrunkene Louise wusste irgendwie, was sie tat, als sie dich neckisch ansah und fragte, ob du jemand Wichtiges seiest.

Ich mochte dein Lachen. Und ich mochte es noch mehr, als du sagtest: »Ich bin die zweitwichtigste Person im Raum.«

»Ich bitte dich, allenfalls die drittwichtigste«, erwiderte ich. »Erst ich und April … du kannst Dritter sein.« So etwas hatte ich noch nie zu jemandem gesagt. Aber mein neues Ich wusste irgendwie, dass es sich das erlauben konnte.

»Mit Dritter kann ich leben«, sagtest du, und ich spürte unvermittelt eine große Wärme für dich. Das wurde noch intensiver, nachdem wir eine Weile geblödelt hatten und du mich fragtest: »Sollen wir ein bisschen beschissen tanzen?«

Du hattest nicht gelogen. Es war wirklich schrecklich. Ich weiß noch, wie ich in gespielter Enttäuschung den Kopf geschüttelt habe und dabei nicht aufhören konnte zu grinsen.

Mittendrin wurde ich zu meinem Auftritt gerufen. Ich hatte keinem von euch erzählt, dass Hannah mich gebeten hatte, bei der Feier ein Stück auf der Harfe zu spielen. Und ich sah, dass du mich ein wenig mehr mochtest, weil ich auch Musikerin war.

Ich war auf dem besten Weg, sehr betrunken zu sein, als ich mich auf den harten Stuhl setzte und mich in das Bach-Stück versenkte. Aber wie ich seit damals weiß, gibt es einen idealen Punkt, den man mit Alkohol erreichen kann; man wird so locker, dass man das Gefühl hat, ein Teil des Instruments zu werden. Wenn das Ich beiseitetritt und etwas anderes übernimmt. Jemand anderes. Sie.

Und da war noch dieses andere Gefühl. Wie deine Blicke bei jeder Berührung der Saiten auf mir ruhten. In diesem Moment kam ich mir sehr schön vor. Wahrhaftig schön.

 

Als du später an die Bar gegangen warst, erzählte April mir alles über dich und Dina. Wie sie die Ehe mit dir zwei Monate durchgehalten hatte, bevor sie sich für ein Upgrade entschieden hatte. April zeigte mir die glamouröse, unerbittliche Dina und ihren neuen Mann. Das tat sie allerdings so laut, dass Dina zu uns herüberblickte und ich mich innerlich wand. Aber April war es natürlich egal. »Hey, Dina! Gut siehst du aus«, rief sie einfach und steuerte uns beide in eine andere Richtung.

Die Geschichte über Dina weckte mein Mitgefühl für dich. Außerdem bewunderte ich deinen Mut, zu der Hochzeit gekommen zu sein, obwohl du wusstest, dass deine Ex-Frau mit ihrem reichen neuen Freund ebenfalls dort sein würde. Es muss alles noch so unverarbeitet gewesen sein. Und ich konnte beobachten, dass dein Blick zu ihr wanderte, sobald du eine Zeit lang allein warst. Und du wirktest jedes Mal aufgewühlt. Verwirrt, vielleicht.

Seltsam, dass ich schon damals einen Schub von Eifersucht spürte. Oder zumindest seltsam, wie schnell sie in ihr ausbrach. Sie erfüllte die betrunkene Louise mit brennender Wut und dem Verlangen zu gewinnen. Sie mochte es nicht, nicht beachtet zu werden, Niall. Sie mochte es überhaupt nicht.

Ich fragte April, ob sie glaubte, dass du eine gute Wahl seiest. Ich hatte beinahe Angst davor, was sie sagen würde. Ich hatte bereits angefangen, mich dich als jemanden in meinem Leben vorzustellen, und ich spürte trotz des Alkohols, wie meine Nervosität wuchs, als sie mit ihrer Antwort zögerte.

Aber am Ende sagte sie: »Also, ich glaube, er ist eine tolle Wahl. Er ist ein gütiger Mensch. Manchmal zu gütig, weißt du? So, dass ich denke, er ist in seinem Leben schon ausgenutzt worden, weil ihm Menschen am Herzen liegen.« Sie verzog das Gesicht. »Und wahrscheinlich ist er ein bisschen besessen davon, welche Uhr er trägt und welchen Wagen er fährt, aber ich glaube ehrlich gesagt, dass viel davon von Dina kam. Ich denke, das könnte er überwinden.«

»Er ist nicht immer noch in sie verliebt?«, fragte ich. Darüber dachte April eine Weile nach. »Nein, das glaube ich nicht. Ich meine, ich mache mir schon Sorgen, dass es vielleicht noch zu früh für ihn ist, etwas Neues zu beginnen, aber ich glaube, du wärst tatsächlich das Beste, was ihm passieren könnte. Jemand mit einer guten Seele, der ihn erkennen lässt, wie seicht seine Beziehung mit Dina war.«

Ich wusste nicht genau, was ich zu ihrem erstaunlichen Vertrauen in mich sagen sollte. Aber ich merkte es mir gut, und wie dumme Menschen überall auf der Welt entschied ich, dass ich dich retten könnte.

 

Es war schon spät, als jene andere Sache passierte. Die Sache, bei der ich mich immer gefragt hatte, ob ich ihr mehr Aufmerksamkeit hätte schenken sollen. Es war ein Streit zwischen dir und meiner neuen besten Freundin. Ein Streit, den ich wahrscheinlich nicht hätte mithören sollen und den ich vielleicht nie richtig verstanden habe.

Ihr beide wart draußen, April, weil sie eine rauchen wollte. Ich hatte mich mit Verspätung endlich daran erinnert, der Braut zu gratulieren, nachdem mir klar geworden war, dass ich den ganzen Tag noch nicht mit ihr gesprochen hatte. Zu dem Zeitpunkt schwankte und torkelte Hannah schon, umarmte mich eine Weile, küsste mich auf den Kopf und erklärte mir, wie froh sie sei, mich zu kennen. Nachdem ich ihr schließlich entkommen war, machte ich mich auf die Suche nach einem von euch beiden, ohne zu erwarten, euch zusammen anzutreffen.

April stand etwas erhöht auf der kleinen gekiesten Terrasse auf der Rückseite des Hauses und blickte in die Gärten. Ich weiß nicht, ob du dich so genau daran erinnerst wie ich. Es war ein wunderschöner Ort. Teil einer Nacht, die universell schön zu sein schien.

Im Dunkeln konnte man nicht sehr viel sehen. Nur ein paar auf dem Gelände verteilte Solarleuchten. Trotzdem blickte April mit geschürzter Unterlippe in die Anlage und atmete Rauch aus.

Und ich bin mir sicher, dass du zu ihr gesagt hast: »Was immer du planst, ich will, dass du sie da raushältst.«

»Oh, bitte«, sagte April abschätzig. »Ich habe das Recht zu reden, mit wem ich will.«

Ich weiß noch, dass du frustriert geschnaubt und gesagt hast: »Was ist mit den Rechten aller anderen? Zählen die nicht?«

Einen Moment lang rauchte April bloß und sagte dann: »Nein, eigentlich nicht.«

»Bitte«, sagtest du in einem, wie ich heute weiß, für dich sehr ungewöhnlichen Tonfall. »Bitte nicht.«

Und April wandte sich dir zu und sagte sehr langsam und deutlich, als ob ihr rollender Singsang den ganzen Abend lang nur aufgesetzt gewesen wäre: »Ich werde genau das tun, was ich tun will.«

Sie wandte sich ab, um ins Haus zu gehen. Und in dem Bruchteil einer Sekunde, den ich dort stand – bevor ich so tat, als wäre ich gerade erst gekommen, und euch mit falschem Enthusiasmus begrüßte – konnte ich deinen Gesichtsausdruck erkennen. Du sahst verzweifelt aus. Wie ein Mann, der gerade etwas verloren hatte.

3.

Das Team hielt vor dem Vorgarten des Hauses Nummer elf eine kurze Lagebesprechung ab. In der bitteren Kälte bildete ihr Atem kleine Dunstwölkchen, und Jonah fasste sich um seinetwillen wie um ihretwillen so kurz wie möglich.

»Ich fahre mit Juliette zu Alex’ Freundin«, erklärte er O’Malley und Lightman. »Domnall, Sie nehmen Louise Reakes mit zur Polizeistation, um ihre Aussage aufzunehmen. Und achten Sie darauf, dass sie in dem Protokoll das Motorengeräusch erwähnt. Ben, ich möchte, dass Sie diese Freundin von Louise darüber befragen, ob sie beim Verlassen des Hauses etwas Merkwürdiges gesehen hat. Louise glaubt, dass das so gegen Mitternacht war. Und Domnall, können Sie herausfinden, wann es gestern Nacht geschneit hat? Wir haben Abdrücke, die wahrscheinlich von dem Opfer stammen und entstanden sind, als es bereits aufgehört hatte zu schneien. Das engt unser Zeitfenster hoffentlich ein, bevor wir die Überwachungskameras auswerten. Im Augenblick betrachten wir die Zeit zwischen zwölf und vier, und wir haben bisher zwei Aussagen über laute Motorengeräusche in der Nacht.«

Lightman nickte. »Der Nachbar in Nummer neun meint außerdem, dass er von einer zuknallenden Tür geweckt wurde. Er glaubt, es wäre das Haus der Reakes gewesen, aber ich würde nicht ausschließen, dass es sich um eine Wagentür gehandelt hat.«

»Laut Louises bisheriger Aussage hat niemand mehr nach Mitternacht ihr Haus verlassen oder betreten«, sagte Jonah. »Das könnte also durchaus interessant sein.«

Sie gingen zu ihren Wagen. Jonah startete den Mondeo und beobachtete, wie seine beiden Sergeants ihre Autos aus der Wohnstraße manövrierten, bevor er selbst vor Hanson langsam auf die Straße rollte. Polizeiarbeit war, wie Jojo ihm gern und häufig erklärte, ein sehr CO2-intensiver Job.

 

Als sie vor Alex Plaskitts Haus ankamen, wurde der morgendliche Verkehr gerade dichter. Das Haus lag in der Alma Road, kaum eine Meile von der Stelle entfernt, wo Alex’ Leiche gefunden worden war.

Jonah fand es immer schwierig, sich in diesem Teil der Stadt zu orientieren. Genau wie im Viertel The Polygon auf der anderen Seite von Southampton sah es im Grunde überall gleich aus, mit identischen, dicht an den Straßen stehenden Doppelhäusern aus rotem Backstein mit kleinen weißen Verzierungen.

Diese Gegend lag definitiv eine Sprosse tiefer auf der Wohlstandsleiter als Saints Close, doch Jonah mochte diese älteren, bescheideneren Gebäude deutlich lieber. Viele der Bewohner auf dieser Straßenseite hatten bunte Gartenmöbel und Pflanzentöpfe in ihre winzigen, von Mauern umgebenen Vorgärten gestellt, die unter der feinen Schneeschicht an diesem Morgen etwas von einer Weihnachtskartenidylle hatten.

Hanson folgte ihm zur Haustür und wirkte weniger nervös, als er erwartet hätte. Dies war erst das zweite Mal, dass seine Detective Constable eine Todesnachricht überbringen sollte. Vorausgesetzt natürlich, dass Alex’ Freundin tatsächlich hier wohnte, wie die Mitteilungen auf seinem Handy nahelegten.

Die schlimmste aller möglichen Nachrichten überbringen zu müssen, war zermürbend und hörte nie auf, zermürbend zu sein. Man fand bloß Wege, damit umzugehen.

Offenbar hatte Hanson einige davon schnell gelernt. Gezielt betrachtete sie jedes Detail des Hauses und der Straße, als ob sie sich alles genau einprägen und sich so von dem Bevorstehenden ablenken wollte.

Jonah drückte auf die altmodische Klingel und hörte sofort eilige Schritte aus dem Haus. Die Tür ging nur mühsam auf; sie schrammte über den Boden, verklemmte sich, und wer immer dahinterstand, entschuldigte sich.

Als sie sich schließlich ganz öffnete, gab sie den Blick frei auf einen relativ kleinen, schmächtigen Mann von etwa dreißig Jahren, der gerade einen Autoschlüssel auf den Tisch im Flur legte. Für einen so frühen Samstagmorgen war er recht förmlich gekleidet, offenes weißes Hemd mit feinen Streifen und stonewashed Jeans. Dunkle müde Augen. Schwarzes hochgegeltes Haar, bronzefarbener Teint.

Er legte eine Hand an den Türrahmen, und Jonah bemerkte den Ehering.

Issa, dachte er und wusste nicht genau, wieso er angenommen hatte, dass Alex’ Partner eine Frau sein würde.

Der Blick aus den dunklen Augen zuckte zwischen ihm und Hanson hin und her, und Jonah sagte leise: »Ich glaube, dies ist das Haus von Alex Plaskitt.«

Er registrierte die Beinahe-Nichtreaktion, an die er inzwischen gewöhnt war. Die Reglosigkeit von Issas Körper, das minimale Aufflackern seines Blicks.

»Sind Sie vielleicht Issa?«, versuchte es Jonah neu.

»Ja. Was ist denn?«

»Dürfen wir reinkommen?«, fragte Jonah.

Wie fast jeder in dieser Situation, wusste Issa schon, was Jonah sagen würde. Jonah erkannte es daran, wie Issas Körper am Türrahmen zusammensackte und wie unkoordiniert er sie in das bunte Wohnzimmer führte.

Jeder Zweifel daran, dass sie die richtige Person angetroffen hatten, zerstreute sich, als Jonah auf dem mit Kissen beladenen Futon Platz nahm. Ein Foto mit Chromrahmen auf dem Tisch neben ihm zeigte Issa und ihr Opfer in Hochzeitskleidung. Sie grinsten in die Kamera. Alex’ Kopf, gut fünfzehn Zentimeter über Issas. Er hatte einen Arm um die Schulter des kleineren Mannes gelegt und wirkte auch etwa doppelt so breit wie sein Gatte.

Jonah konzentrierte sich auf Issa und holte Luft. »Es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Alex in den frühen Morgenstunden tot aufgefunden wurde.«

Issa runzelte die Stirn und schlug eine Hand vor den Mund.

»Wie es aussieht, wurde er überfallen«, sagte Jonah vorsichtig. »Er wurde vor einem Wohnhaus gefunden.«

Issa warf ihm einen seltsam stechenden Blick zu. »Vor welchem Wohnhaus?«

»Einem Haus in Saints Close«, sagte Hanson beruhigend. »Kennen Sie die Straße?«

Issa schüttelte sofort den Kopf, stand auf und ging abrupt zu einem Schreibtisch. Mit heftig zitternder Hand nahm er ein Handy.

»Er sollte nach Hause kommen«, sagte er. »Ich habe versucht, ihn anzurufen.«

Und dann fing er an zu weinen.

 

»Bitte nehmen Sie hier Platz«, erklärte O’Malley Louise Reakes, die mittlerweile mit einem Jerseykleid und einem mit Fell gefütterten Parka bekleidet in dem Vernehmungsraum saß. Er stellte einen großen Becher Tee vor ihr auf den Tisch. »Wir nehmen Ihre Aussage auf, sobald Sergeant Lightman zurück ist.«

»Danke«, sagte Louise. Sie streckte die Hand nach dem Becher aus, ließ sie dann aber wieder sinken und starrte reglos auf den Dampf.

»Wann kommt Ihr Mann zurück?«, fragte O’Malley, als er daran dachte, dass sie vielleicht allein nach Hause zurückkehren und an der Stelle vorbeigehen musste, an der ein junger Mann gestorben war. Sie könnte Unterstützung gebrauchen.

Sie hob langsam den Blick und sagte: »Ich weiß nicht genau. Irgendwann am Nachmittag, glaube ich.«

»Wo ist er?«

»In Genf.«

»Ah, also ziemlich weit weg«, sagte O’Malley leise. »Er macht sich bestimmt Sorgen um Sie.«

Einen Moment lang starrte Louise ihn in offenkundigem Unverständnis an und sagte dann: »Er wird sich keine Sorgen machen. Ich habe es ihm noch nicht erzählt.«

O’Malley ertappte sich dabei, ihren Blick mit einem ähnlichen Gesichtsausdruck zu erwidern. »Sie haben ihm keine Nachricht geschickt oder irgendwas?«

Louise schüttelte den Kopf, blickte auf das Handy, das sie vor sich auf den Tisch gelegt hatte, und verschränkte hektisch die Arme vor der Brust. »Nein. Ich wusste nicht genau, ob ich das tun sollte.«

»Also, ich würde es machen«, sagte O’Malley leise. »Sie werden sich besser fühlen, nachdem Sie darüber gesprochen haben.«

 

Lightman hatte ein paarmal erfolglos versucht, Louises Freundin April zu erreichen. Am Ende beschloss er, zu ihrer Wohnung am Admiral’s Quay zu fahren. Sie lag im neuen Ocean-Village-Quartier an den Docks, einem Neubauprojekt, in dem die Wohnungen deutlich über seiner Preisklasse lagen, wie er wusste, weil er einmal gelangweilt in einem Prospekt geblättert hatte.

Das Erdgeschoss erinnerte an ein Hotel. Es gab eine Bar, einen Portier und einen Aufzug, für dessen Betrieb man einen besonderen Schlüssel brauchte. Lightman überredete den Portier, April Dumont zu wecken und ihm Zutritt zu dem Fahrstuhl zu gewähren. Der ergraute Mann lehnte sich durch die Tür und drückte auf den Knopf für die oberste Etage, bevor er den Kopf neigte und sich abwandte. Die ganze Prozedur machte Lightman verlegen.

Wie sich herausstellte, nahm Aprils Wohnung das komplette Dachgeschoss ein. Er trat aus dem Aufzug in einen Flur mit nur einer Tür. Der Raum war goldfarben beleuchtet und musterhausmäßig möbliert, fand Lightman. Es gab kaum Anzeichen dafür, dass hier tatsächlich jemand wohnte. Es war eine vollkommen andere Welt als Louise Reakes’ solides Einfamilienhaus, und Lightman fragte sich, womit April ihren Lebensunterhalt verdiente.

Die Tür wurde geöffnet, bevor er sie erreichte, und eine blonde Frau mit strubbeligem Haar in einer Seidenrobe, die sie über ein sehr kurzes Negligé gestreift hatte, fragte heiser: »Was ist los?«

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie geweckt habe«, sagte Lightman und blieb ein Stück vor ihr stehen. Er empfand das unvermeidliche Unbehagen, das einen beschlich, wenn man einer äußerst spärlich bekleideten Frau gegenüberstand. Also tat er, was er meistens tat, und blendete alles aus, was nicht dazu diente, sein Gegenüber einzuordnen. Er bemerkte ihren Akzent, der den rollenden Singsang einer Amerikanerin aus dem tiefen Süden oder dem Mittleren Westen hatte. Er bemerkte das unter ihren Augen verschmierte Make-up. Den glasigen Blick. Das Tattoo knapp über dem Ausschnitt ihres Negligés. »Ich muss Ihnen nur zwei oder drei kurze Fragen zu gestern Abend stellen.«

»Gestern Abend?«, fragte April.

»Heute Morgen wurde im Vorgarten eines Hauses in Saints Close ein junger Mann tot aufgefunden«, erklärte Lightman ihr. »Soweit ich weiß, waren Sie gestern Abend dort.«

»Was zum Teufel …?«, fragte April. Sie machte einen Schritt zurück und sagte unvermittelt: »Okay, kommen Sie einen Moment rein. Ich bin allein …«

Er folgte ihr in einen riesigen hellen Wohnzimmerbereich mit modernen blockartigen Stühlen, bodentiefen Fenstern und Hafenblick auf zwei Seiten. Genau wie der Flur sah der Raum beinahe unbewohnt aus. Nur zwei benutzte Gläser, eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug auf dem Couchtisch störten den Musterhauseffekt.

April warf sich mit einem sehr leisen Stöhnen auf eins der Sofas.

»Okay. Schon besser.« Sie strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Entschuldigen Sie. Womöglich habe ich es gestern mit dem Tequila übertrieben. Bitte sprechen Sie langsam.«

»Selbstverständlich«, sagte Lightman. »Es sollte nicht lange dauern. Wir möchten lediglich klären, um welche Uhrzeit Sie das Haus verlassen haben und ob Sie etwas Merkwürdiges gesehen oder gehört haben.«

Während sie überlegte, nestelte April weiter an ihrem Haar. »Das Taxi muss so gegen viertel nach elf gekommen sein. Ich habe es um kurz vor elf bestellt und musste ein bisschen warten.«

»War zu diesem Zeitpunkt irgendjemand vor dem Haus?«

»Ich habe niemanden gesehen«, sagte April und fokussierte ihren Blick auf ihn. »Hey, ist mit Louise alles in Ordnung? Sie sagten, man hätte vor ihrem Haus einen Toten gefunden? Im Garten?«

»Ja, Louise geht es offenbar so weit gut, aber den Toten zu finden, war natürlich ein Schock.«

»Meine Güte.« Aprils Miene verfinsterte sich. »Ich schick ihr eine Nachricht.«

»Haben Sie jemanden herumfahren hören?«, fuhr Lightman fort. »Irgendwelche seltsamen Geräusche?«

Nach einer weiteren Pause schüttelte April den Kopf. »Nein. Das Taxi hat mit Standlicht und ausgeschaltetem Motor vor dem Haus gewartet, man sollte meinen, wir hätten etwas bemerkt, wenn … Erinnert Louise sich daran, etwas gehört zu haben?«

»Nichts Konkretes«, antwortete Lightman.

April nickte sehr langsam. »Scheiße«, sagte sie. »Das ist das verdammt Letzte, was Louise braucht. Das Letzte.«

4.

So. Jetzt weißt du, wie die betrunkene Louise das Licht der Welt erblickt hat. Es mag dich überraschen, dass ich ihr am nächsten Tag um ein Haar gleich wieder den Rücken gekehrt hätte. Ich hatte noch nie einen Kater gehabt, und dieser war so heftig, dass ich ernsthaft glaubte, ich hätte mich irreparabel beschädigt. Mir war den ganzen Tag bis vier Uhr übel, und in all der erbärmlichen Zeit konnte ich nur mit angewiderter Reue auf alles zurückblicken, was ich getan hatte.

Aber dann meldete April sich, um ein Kaffeetrinken zu verabreden, und erklärte mir, dass sie mich in ihrem Leben bräuchte. Und später hast du mir wie versprochen eine Nachricht geschickt und gesagt, wie viel Spaß du mit mir hattest und dass du mich gern wiedersehen würdest.

Das waren plötzlich zwei Punkte, die für die betrunkene Louise sprachen, und als die milde Alkoholvergiftung abklang, stellte ich mir vor, dass ich vielleicht doch wieder trinken könnte, wenn ich vorsichtiger sein würde.

Was die Sache der betrunkenen Louise weiter stützte, war der Umstand, dass ich Angst hatte, dich nüchtern zu treffen. Ich hatte keine Ahnung, wie man ohne ihre Hilfe flirtete. Nachdem ich ein Date verabredet hatte, beschloss ich deshalb, mir ein paar Gläschen zu gönnen, bevor wir uns trafen.

Es war so eine Erleichterung, als es wieder passierte. Zu spüren, wie sie das Kommando übernahm. Es war, als würde man einen superwarmen Mantel anziehen. Wenn du dir einen warmen Mantel vorstellen kannst, der mich irgendwie auch echt heiß aussehen ließ.

Ich hätte es trotzdem unter Kontrolle halten können, glaube ich, selbst damals noch. Die meiste Zeit neigte ich nicht dazu, Alkohol zu trinken. Es waren bloß ein paar Drinks, wenn ich mit April abhing, was ab da etwa zwei Mal pro Woche passierte. Aber es waren in der Regel mehr als ein paar Drinks, wenn ich dich getroffen habe.

Ich denke, dafür musst du verspätet auch ein wenig Verantwortung übernehmen, Niall. Die betrunkene Louise ist nicht ohne Hilfe häufiger und mächtiger geworden. Sie erblühte ebenso sehr unter deiner Ermutigung wie unter meiner.

Ich möchte, dass du dich an diese ersten Treffen erinnerst. Dass du dich ehrlich daran erinnerst und dich fragst, wie es für mich gewesen ist, jedes Mal, wenn du mir von Dina und der rohen Wut erzähltest, die du ihr gegenüber empfunden hast. Von deiner Verletzung.

Es ist natürlich nicht das Einzige, woran ich mich erinnere. Ich erinnere mich, bei diesen Dates vieles über dich erfahren zu haben. Deine Verachtung für ABBA. Deine Liebe zu Miles Davis und Nat King Cole. Deine heimliche Star-Wars-Besessenheit, von der niemand bei der Arbeit etwas erfahren durfte. Deine Liebe für gutes Essen bei gleichzeitiger Entschlossenheit, dich gesund zu ernähren.

Ich bin mir auch des Einflusses bewusst, den du auf mich hattest. Durch dich begann ich erst, viele Gerichte zu würdigen. Außer Pizza, meine ich, die ich schon immer mit Leib und Seele genossen habe. Es war eine Offenbarung, als du mir zum ersten Mal ein Beef Wellington zubereitet hast. Ich fand es außergewöhnlich, dass du etwas so Gutes in einer normalen Küche zustande bringen konntest.

Du hast mich ausgelacht, als ich mich vollgestopft und drei Mal nachgenommen habe.

»Es kommt noch ein ganzer weiterer Gang, weißt du«, hast du gesagt.

Dann müsse ich mir einfach von irgendwoher einen Bauch leihen, habe ich erwidert, und du hast mich breit angelächelt und mir erklärt, wie sehr du dich freuen würdest, dass ich das Essen zu schätzen wüsste.

»Es war so frustrierend, mit jemandem zusammen zu sein, der permanent auf Diät war«, hast du gesagt. »Dina hat Essen zu ihrem Feind erklärt.«

Ich wusste ehrlich gesagt nicht genau, ob ich mich deswegen gut oder schrecklich fühlen sollte, deshalb spülte ich alle Gedanken mit einem weiteren Glas Médoc herunter.

In jenen frühen Tagen habe ich auch gelernt, dass du sehr viel impulsiver bist, als ich es je war. Auch viel eher geneigt, alles auf morgen zu verschieben. Ich weiß noch, dass ich fasziniert und entsetzt war, als du sagtest, du würdest den Abwasch bis zum nächsten Morgen stehen lassen. Wie es mich juckte, es selbst zu machen, weil ich wusste, dass ich wach liegen und mir deswegen Sorgen machen würde. Aber nachdem wir uns eine Stunde ausgiebig geliebt hatten, habe ich geschlafen wie ein Baby. Es war eine Offenbarung.

Du hast dich in deiner Haut auch viel wohler gefühlt als ich mich in meiner. Wenn ich dir dabei zusah, wie du freundlich und sorglos mit Kellnerinnen und Kellnern geplaudert hast, fühlte ich mich aus irgendeinem Grund sicher. Und zu erleben, wie du gelacht hast, wenn du etwas fallen lassen oder vermasselt hattest, ließ mich staunen. Wo war die spontane Selbstverachtung, die mich jedes Mal quälte? Und warum wurdest du auch nicht wütend, wenn ich irgendeinen Mist gebaut habe?

Mir ging ehrlich zum ersten Mal in meinem Leben auf, dass ich wirklich nicht so streng mit mir sein musste. Dass ich eine Wahl hatte. Und jedes Mal, wenn ich ein Glas oder dergleichen zerbrochen oder etwas verloren hatte und du meinen Arm gestreichelt und mir geholfen hast, es in Ordnung zu bringen, ließ ich ein wenig von der Abneigung los, die ich so lange gegen mich selbst gehegt hatte.

Wirklich, Niall, wenn Dina nicht gewesen wäre, hättest du einfach nur gut für mich sein können.

5.