Wer auf dich wartet - Gytha Lodge - E-Book
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Gytha Lodge

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Beschreibung

DU HAST ES GESEHEN. DU HAST NICHTS GETAN. WER WIRD DIR NOCH TRAUEN? Ein Mord vor laufender Kamera. Doch der Mörder bleibt im Dunkeln … Abends, kurz vor elf. Aidan loggt sich ein, um mit seiner Freundin Zoe zu skypen. Doch als die Verbindung steht, sieht er nur ihr leeres Zimmer. Dann einen Schatten. Ist Zoe etwa nicht allein? Hilflos muss Aidan mitanhören, wie im Hintergrund gekämpft wird. Bis schließlich Stille herrscht... Als DCI Jonah Sheens und sein Team von der Kriminalpolizei Southampton Stunden später Zoes Wohnung betreten, finden sie die Leiche der jungen Frau. Was hat Aidan dazu gebracht, so lange zu zögern, bis er die Polizei gerufen hat? Und warum kannte er die Adresse seiner Freundin nicht? Niemand aus Zoes großem Freundeskreis weiß etwas Schlechtes zu sagen über die hilfsbereite junge Künstlerin. Tatsächlich scheinen sehr viele Menschen auf Zoes Unterstützung angewiesen gewesen zu sein. Schon bald stoßen die Ermittler auf ein Geflecht aus Abhängigkeiten, dunklen Geheimnissen und Missgunst. Verdächtige gibt es genug – doch wessen Motiv ist mörderisch genug?

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Seitenzahl: 496

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Gytha Lodge

Wer auf dich wartet

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Kristian Lutze

Hoffmann und Campe

Dieses Buch ist zwei Pauls gewidmet. Herrn Paul Brooke, dem leidenschaftlichen, inspirierenden Englischlehrer. Sie haben so vielen Ihrer Schüler beigebracht, Bücher zu lieben, und sie so zu Schriftstellern gemacht. Grazie. Und Herrn Dr. Paul Worth alias der sexy Neurologe. Ich bin äußerst dankbar, einen so unermüdlich unterstützenden, intelligenten, freundlichen und unglaublich albernen Menschen an meiner Seite zu haben. Dir gilt all meine Liebe und mein Dank.

Prolog

Ein Klicken im Haus ließ ihn erstarren. Mit rasendem Herzen blickte er zu der geschlossenen Tür. War das die Haustür? War jemand hereingekommen?

Aidan wandte den Kopf und lauschte angestrengt. Ein Schritt, raschelnde Bewegungen.

Aber da war nichts. Bloß das Knarren von Holz, das sich irgendwo zusammenzog, die normalen Geräusche des Hauses.

Er versuchte, gegen seine Anspannung anzuatmen. Die ganze Woche hatte er sich auf diesen Abend gefreut. Er hatte ausnahmsweise einmal keine Verpflichtungen und hatte sich ausgemalt, ungestört Zeit mit Zoe zu verbringen. Aber so war es natürlich nicht gekommen. Vielleicht hatte er Zeit, aber Zoe hatte ihre eigenen Pläne. Er wartete wieder einmal auf elf Uhr. Ein normaler frustrierender Donnerstag.

Anstatt es sich mit einem Film auf dem Sofa bequem zu machen, hatte er vor seinem Rechner gehockt und Zoes Skype-Icon beobachtet, um den Moment nicht zu verpassen, in dem sie ihren Rechner einschaltete. Aber es war hartnäckig rot geblieben, und er hatte Stunden damit vergeudet, sich durch Nachrichtenseiten zu scrollen und Artikel zu lesen.

Wie viele Abende hatte er schon so verbracht, nur darauf wartend, dass Zoe endlich online ging? Jedes zweite Mal war sie zu spät. Anfangs hatte er deswegen geschmollt, bis er begriffen hatte, dass sein Schmollen sie rebellisch machte. Sie musste sich frei fühlen.

Er hatte ihre Bedingungen wohl oder übel zu akzeptieren gelernt. Er war eben nicht der Einzige, der ein geschäftiges Leben führte, um das herum geplant werden musste.

Um Viertel nach zehn wurde Zoes Icon grün. Er brauchte nicht länger als eine Sekunde, um die Verbindung herzustellen.

Sein Anruf wurde sofort angenommen, und er lächelte schon erwartungsvoll, bevor das Bild erschien. Aber dann sah er, dass Zoes Stuhl leer war. Sie war nicht in Sichtweite der Kamera, ein sich bewegender Schatten an der Wand der einzige Beweis für ihre Anwesenheit. Was machte sie?

Er stellte die Lautstärke höher und hörte im Hintergrund Wasser laufen. Wollte sie ein Bad nehmen? Jetzt? Es musste sich um eine Art Spiel handeln. Wie wenn sie sich für ihn auszog, ihr Blick distanziert, ihr Mund nur ganz leicht geöffnet. Es hatte ihn wahnsinnig gemacht.

Aber was brachte es, wenn er sie nicht sehen konnte? Frustriert passte er seinen eigenen Bildschirm an, aber das änderte natürlich nichts an dem Bildausschnitt des Raumes, den die Kamera erfasste. Er sah nur den leeren Stuhl und dahinter die Wand mit einem Stück Vorhang an einem und den Türangeln der Haustür am anderen Rand.

Das Geräusch des laufenden Wassers verstummte, und man hörte Bewegungen und das Quietschen nasser Haut auf der Kunststoffbeschichtung der Wanne. Aidan seufzte. Sie nahm tatsächlich ein Bad, während er hier saß und wartete.

Er überlegte, aus Protest aufzulegen. Aber dann würde er womöglich verpassen, sie nackt und tropfnass zu sehen. Oder ihre Brüste nur knapp von einem Handtuch gehalten, während sie sich zur Kamera beugte.

Er vernahm ein weiteres Geräusch in seinem eigenen Haus, und obwohl es aus dem ersten Stock kam, hielt er inne und lauschte, den Blick starr auf die Wand gerichtet. Als nichts weiter zu hören war, entspannte er sich wieder. Warum war er heute Abend bloß so nervös?

Und dann hörte er ein Klicken. Er sah die Bewegung auf dem Bildschirm und begriff, dass es die Tür von Zoes Wohnung war. Sie bewegte sich, schwang nach innen, wie der kleine Ausschnitt verriet, der in seinem Blickfeld lag.

Im selben Moment erfasste ihn nackte Angst. Hatte sie einen anderen Mann eingeladen? Erlaubte sie jemandem, sie beim Baden zu betrachten, sie womöglich zu berühren, während er zum Zusehen gezwungen war?

Er wartete, dass der Ankömmling einen Gruß rufen würde, doch die Tür wurde fast lautlos wieder geschlossen, und auch sonst blieb es still. Er drehte seinen Lautsprecher noch ein wenig lauter. Er hörte ein leises Summen und dahinter das Geplätscher von Wasser, als Zoe sich in der Badewanne bewegte. Wenn er sich sehr konzentrierte, konnte er leise Schritte vernehmen. Wer immer hereingekommen war, ging durch das Zimmer.

Kurz darauf hörte man eine plötzliche Bewegung aus dem Bad und Zoes überrascht erhobene Stimme.

»Was … mein Gott. Was soll das denn?« Und dann etwas, das beinahe klang wie ein Lachen, aber ein ängstliches Lachen. »Also, ich … es … es tut mir wirklich leid …«

Es klickte zweimal kurz hintereinander, und das Geplätscher wurde leiser. Wer immer hereingekommen war, hatte die Badezimmertür zugemacht und abgeschlossen.

Sein Herz schlug wieder wie wild. Wer war ins Badezimmer gegangen? Wer zum Teufel schloss sich dort mit ihr ein?

Und dann waren andere Geräusche zu hören. Geräusche, die eindeutig auf einen Kampf hindeuteten. Zoes gedämpfte Stimme klang heiser und verzweifelt.

Dann trat abrupt Stille ein. Absolute Stille.

Seine Angst war jetzt anders. Irgendetwas war bei Zoe ganz und gar nicht in Ordnung.

Er musste etwas unternehmen. Er musste ihr helfen. O Gott, was, wenn er zu spät kam?

Er wühlte hektisch auf seinem Schreibtisch herum, bis er das Telefon fand, und hatte bereits begonnen, dreimal die Neun zu wählen, als ihm klar wurde, was das für ihn bedeuten würde. Er zögerte. Er sah es vor sich: den Anruf, die Folgen, man würde ihn auffordern, eine Aussage bei der Polizei zu machen. Alles würde schließlich ans Licht kommen, und sein Leben wäre zerstört.

Und dann hörte er es erneut zweimal klicken, als die Badezimmertür wieder geöffnet wurde. Dieselben leisen, gemessenen Schritte und dann eine Pause. Ein Schlurfen, das er nicht zu deuten wusste. Er versuchte, den Eindringling mit schierer Willenskraft dazu zu bewegen, ins Bild zu treten und sein Gesicht zu zeigen. Aber nach einer Weile gingen die Schritte weiter, und die Tür schwang auf. Die Gestalt, die er nie gesehen hatte, verließ die Wohnung, und die Tür fiel wieder ins Schloss.

1.

Jonah hätte die Angelegenheit beinahe unter den Tisch fallenlassen. Den Anruf. Die Meldung wäre ihm beinahe durchgerutscht.

Später fragte er sich, welchen Unterschied das gemacht hätte. Wie man es eben tat, wenn man einen Fall abschloss. Man suchte nach Fehlern und dem Gegenteil, nach dem, was man gut gemacht hatte. Man fragte sich, wie das die Ermittlung beeinflusst hatte, und in diesem Fall schwebte das größte Fragezeichen über der Meldung eines Mordes, die ihm beinahe durchgerutscht wäre. Er fragte sich, ob die Dinge anders gelaufen wären, wenn er früher gehandelt hätte, und wie sie sich entwickelt hätten, wenn er gar nicht reagiert hätte.

Es war durchaus möglich, dass weder das eine noch das andere irgendetwas bewirkt hätte. Vielleicht wären die Ereignisse trotzdem unerbittlich auf dieses Ende zugesteuert. Aber vielleicht wäre auch alles ganz anders gekommen.

Zum ersten Mal war ihm der Anruf am Ende einer quälenden freitagmorgendlichen Dienstbesprechung untergekommen. Die Abwesenheit von Detective Chief Inspector Wilkinson hatte das Ganze noch schlimmer gemacht. Ohne sein gnadenloses Pochen auf die Tagesordnung war das Meeting in Diskussionen über jedes Detail ausgeufert, eine deprimierend langwierige Veranstaltung.

Zuletzt hatten sie sich noch dazu durchgerungen, die anstehenden Fälle zu verteilen, und Yvonne Heerden, seine engagierte Amtskollegin bei der uniformierten Polizei, hatte ohne Wenn und Aber drei Diebstähle und einen Verkehrsunfall übernommen.

Dann sagte sie: »Wir haben von der Zentrale eine unbestätigte Meldung über einen Mord weitergereicht bekommen. Ich habe Ihnen eine Kopie zukommen lassen«, fuhr sie an Jonah gewandt fort, »aber ich glaube nicht, dass sich daraus irgendwas ergibt, deshalb können wir die Sache auch übernehmen. Der Anrufer behauptet, seine Freundin sei ermordet worden, während er mit ihr geskypt hat. Den Mörder hat er allerdings nicht gesehen. Als die Zentrale nach seinem Namen und weiteren Details gefragt hat, hat er aufgelegt. Die Kollegen haben versucht, das zu überprüfen, konnten jedoch im Netz keine Spur einer Frau dieses Namens finden.«

Jonah überflog den Bericht, bis er auf den Namen des Mädchens stieß: Zoe Swardedeen.

Ich muss … Meine Freundin ist ermordet worden … las er.

Heerden hatte wahrscheinlich recht. Vermutlich ging es nur um simple Schreibtischarbeit. Eine Anfrage bei der Vermisstenstelle. Ein paar alternative Schreibweisen des Namens abfragen.

»Okay?«, fragte Heerden, während er weiterlas.

Irgendetwas an den Formulierungen des Anrufers ließ Jonah zögern. Irgendetwas beunruhigte ihn.

Aber Heerden wartete auf eine Antwort, und schließlich vertraute er darauf, dass sie und ihr Team die Sache richtig einschätzten. Seine eigenen Leute steckten bis zum Hals in einem komplizierten Erpressungsfall und hatten keine Zeit für Fleißarbeit.

»Klar«, sagte er. »Halten Sie mich auf dem Laufenden, falls sich etwas ergibt.« Als Nächstes stand ein Verkehrsunfall mit mehreren Todesopfern auf der Tagesordnung, der vermutlich von einem Lkw-Fahrer verursacht worden war, der auf sein Handy geguckt hatte. Jonah war froh, dass er sich damit nicht beschäftigen musste. Solche Fälle hinterließen Narben. Fälle, bei denen man sich schnell vergewisserte, dass es seinen Liebsten gut ging. Fälle, die das Leben flüchtig und die Welt wie einen willkürlichen, gleichgültigen Ort erscheinen ließen.

Und während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, wurde sein Unbehagen über die seltsame anonyme Meldung eines Mordes in den Hintergrund gedrängt.

Eigentlich hatte Aidan viel zu tun. Drei Studenten hatten ihre Essays geschickt, und er hatte einen Haufen Verwaltungskram für die Fakultät zu erledigen, doch er hatte es nicht geschafft, auch nur eine einzige Zeile zu lesen. Er hatte E-Mail um E-Mail geöffnet, ohne dass er bei dem lauten Herzklopfen und Rauschen in seinen Ohren irgendetwas verstanden hätte. Er nahm die Worte gar nicht wahr; er sah nur die sich öffnende und wieder schließende Tür, in Endlosschleife.

Die Ungewissheit war das Schlimmste. Erst hatte er sich einzureden versucht, dass das Ganze ein Missverständnis oder ein Traum gewesen sein müsse, bevor er sich daran erinnerte, dass Zoe nicht mehr aus dem Badezimmer gekommen war, solange er den Bildschirm beobachtet hatte. Tief im Innern wusste er, dass sie dringend Hilfe gebraucht und sie vermutlich nicht erhalten hatte.

Direkt nach dem Aufstehen hatte er die Nachrichten und sozialen Netzwerke auf Hinweise durchkämmt, eine Suche, die er seitdem in regelmäßigen Abständen wiederholt hatte. Aber nirgendwo fand er eine Meldung über einen Mord oder ein Gewaltverbrechen in Southampton. Nichts über einen Angriff auf eine junge Frau. Ein absolut schwarzes Loch.

Es gab natürlich einen Weg, es herauszufinden, so er denn wollte. Er könnte noch einmal bei der Polizei anrufen, und wenn man ihn diesmal nach seinem Namen und seiner Adresse fragte, könnte er sie nennen.

Gestern Abend war er kurz davor gewesen. Die Zentrale hatte ihn zu einer Polizistin durchgestellt, die alles, was er gesagt hatte, mitgetippt und in Daten verwandelt hatte. Sie hatte auch weitergetippt, als er gestanden hatte, dass er die Nummer des Einweg-Handys nicht wusste, von dem aus er anrief, weil es ein Ersatztelefon war, das er aus einer Schreibtischschublade gekramt hatte. Und sie hatte mitgeschrieben, als er ihr erklärte, weshalb er glaubte, dass seine Freundin ermordet worden war.

Ganz zum Schluss hatte die Polizistin ihn nach seinem Namen gefragt, und während des langen, aufgeladenen Schweigens, das folgte, hatte er ihm schon auf der Zunge gelegen. Dann hatte er gehört, wie irgendwo draußen eine Wagentür zugeschlagen wurde.

Er hatte aufgelegt und krank vor Anspannung auf weitere Geräusche gelauscht. Er versuchte, sich einzureden, dass er nichts zu befürchten hatte, doch er wusste, dass das nicht stimme. Er hatte allen Grund, sich zu ängstigen. Weil Zoe vor seinen Augen ermordet worden war. Weil die ganze Wahrheit ans Licht kommen könnte.

Das durfte er nicht zulassen. Für ihn stand alles auf dem Spiel. Alles.

Er hatte überlegt, dass Skype-Fenster zu schließen, um die Szene auszublenden. Aber es war seine einzige Möglichkeit, nach Zoe zu schauen. Zu sehen, ob die Polizei bei ihr eintraf.

Mitternacht war gekommen und gegangen.

Es war jetzt elf Stunden her, dass er gesehen hatte, wie die Tür zu Zoes Wohnung aufgeschwungen war. Elf Stunden und kein Zeichen, keine Nachricht. Sollte er noch einmal bei der Polizei anrufen? Alles noch einmal durchgehen und sich zu erkennen geben?

Aber allein der Gedanke ließ ihn jedes Mal in kalten Schweiß ausbrechen. Das konnte er nicht riskieren, er spürte es geradezu körperlich, im Magen und in den Lenden. Und es machte das Stillsitzen unerträglich.

Zoe, dachte er, als könnte er sie mit schierer Willenskraft dazu bringen, sich zu melden. Zoe, bitte. Ruf an, verdammt noch mal.

Jonah ging zu Domnall O’Malley, dem einzigen Mitglied seines Teams, das er auf seinem Weg durch die modernen, hell erleuchteten Räumlichkeiten des CID entdeckte.

»Sind Sie ernsthaft der Erste am Arbeitsplatz?«, fragte er ungläubig.

»Himmel, nein«, antwortete O’Malley und lehnte sich mit dem ganzen Gewicht seines massigen Körpers auf dem Stuhl zurück. »Ich bin vor fünf Minuten gekommen. Juliette ist schon seit vor acht hier. Aber Lightman kommt ein wenig später, hat er gesagt.«

»Lightman hat gesagt, er würde zu spät kommen?«

»Ich weiß«, sagte O’Malley. »Hat mich auch überrascht. Vielleicht hat er sich endlich eine Freundin zugelegt und nicht gut geschlafen.«

»Aber wir reden von Ben Lightman«, entgegnete Jonah. »Er braucht keinen Schlaf.«

»Ja, da haben Sie auch wieder recht. Nun, was auch immer, ich habe jedenfalls vor, ihn damit gnadenlos aufzuziehen.«

Grinsend ging Jonah in sein Büro und ließ die Tür offen. Er zog kurz sein Handy aus der Tasche und fragte sich, ob Jojo ihm heute schreiben würde oder ob sie sich wieder an irgendeinem entlegenen Ort ohne Funknetz aufhielt.

Ihr Nachrichtenaustausch war fraglos einer der Lichtblicke seiner Tage. Ihre Neckereien und ihr Humor konnten seine Stimmung nachhaltig heben, sie war wirklich erfrischend. So viele Monate hatte er Michelle hinterhergeweint, seiner jüngsten Exfreundin. Er hatte schon gedacht, dass er vielleicht den Rest seines Lebens damit verbringen würde, sie zu vermissen.

Aber all das hatte sich geändert, seit Jojo, in die er schon als Teenager verknallt gewesen war, wieder in seinem Leben aufgetaucht war. Sie hatten sich darauf verständigt, dass die Ermittlung, in die sie verwickelt gewesen war, erst abgeschlossen werden musste, bevor sie sich treffen konnten. Und dann hatte Jojo beschlossen, auf Reisen zu gehen, während ihr Haus repariert wurde. Nachdem ihr Freundeskreis ebenfalls von der Mordermittlung erschüttert worden war, war ihr Bedürfnis nach Abstand nur allzu verständlich. Trotzdem hatte Jonah einen Stich gespürt, als sie ihm von ihren Plänen erzählt hatte.

Jetzt war sie in Namibia auf einer Tour zu spektakulären Klettersteigen, die alle meilenweit entfernt von der Zivilisation lagen. Der Gedanke, dass sie sich allein dort draußen in der Wildnis herumtrieb, hätte Jonah eigentlich nervös machen sollen, doch das war er aus irgendeinem Grund nicht. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass Jojo sich schon immer zu helfen gewusst hatte und gerade einen Mordanschlag überlebt hatte. Keine Nachricht von ihr. Er legte das Handy beiseite und loggte sich in seinen Computer ein. Einige weitere Dateien zu der Erpressungsermittlung waren zur Akte hinzugefügt worden, doch er überflog sie nur flüchtig. Aus irgendeinem Grund gingen ihm die Worte im Kopf herum: Bitte helfen Sie ihr. Vielleicht lebt sie noch.

Wie auf Autopilot machte Juliette Hanson sich einen Kaffee, den sie heute Morgen eigentlich gar nicht gebraucht hätte. Sie stand ganz kurz vor einem Durchbruch, das spürte sie bis ins Mark. Sie war schon vor sechs aufgewacht, und durch ihren Kopf schwirrten eine Reihe von Zahlungen auf verschiedene Konten, die mit Sicherheit etwas mit ihrem Fall zu tun hatten. Sie war in ihrem Element.

Seltsam, dass sie den finanziellen Aspekt des Falles beinahe gemieden hätte. Normalerweise wäre das eher ein Job nach Ben Lightmans Geschmack gewesen. Lightman war in ihrem Team der Penibelste und Akribischste und hatte das beste Gedächtnis. Aber er steckte mitten in etwas anderem, und sie hatte das Gefühl gehabt, einspringen zu müssen.

Sie war überrascht, dass Lightmans Schreibtisch noch unbesetzt war. In den vier Monaten, die sie jetzt zu dem Team gehörte, war es noch nie vorgekommen, dass er sich verspätet hatte, und man konnte sich nur schwer vorstellen, dass ihn unvorhersehbare Ereignisse von der Arbeit abhielten. Doch als sie gerade O’Malley nach Lightman fragen wollte, kam er durch die Tür des CID, unerschüttert wie eh und je.

»Lightman, alter Junge«, sagte O’Malley mit einem breiten Grinsen. »Was ist passiert? Hast du verschlafen?«

Lightman lächelte knapp und warf seine Wagenschlüssel auf den Schreibtisch. »Ich hatte noch etwas zu tun.«

»Aah«, erwiderte O’Malley mit einem wissenden Nicken. »Also eine Frau? Die dich den Schlaf gekostet und nicht aus dem Haus gelassen hat?«

Lightman schüttelte lachend den Kopf, sagte jedoch nichts, während er seinen Mantel auszog und sich auf seinem Stuhl niederließ.

Statt seine Tutorien vorzubereiten, ertappte Aidan sich dabei, die Polizei von Southampton zu googeln. Southampton, las er, gehörte zur Hampshire Constabulary, die eine eigene Website hatte. Er klickte sie an, obwohl unklar war, was er dort suchte. Er bezweifelte, dass sie Einzelheiten von Fällen oder Berichte über Einsätze zur Rettung verletzter Frauen veröffentlichten.

Natürlich gab es nichts dergleichen. Nur eine Reihe von Kästen mit großen Überschriften, die dem Besucher diverse Optionen anboten. Er entschied sich für Hilfe und Ratschläge. Aber dort gab es nichts Relevantes.

Zurück auf der Homepage fiel sein Blick auf ein Formular, mit dessen Hilfe sich Verbrechen online melden ließen. Wenn die Polizei von Southampton seinen Anruf nicht ernst genommen hatte, könnte er es vielleicht auf diesem Weg noch einmal versuchen.

Als Erstes wurde er nach der Postleitzahl des Tatorts gefragt, worauf er am liebsten die Stirn auf die Tischplatte geschlagen hätte. Es gab kein Kästchen, in das man schreiben konnte: »Ich weiß die Scheißpostleitzahl nicht!« Immerhin konnte er Southampton eingeben und weiter klicken.

Nachdem er Einzelheiten des Verbrechens geschildert hatte, wurde er nach seiner E-Mail-Adresse oder Telefonnummer gefragt. Er gab Zoes E-Mail-Adresse an, weil er das Gefühl hatte, dass er damit keinen Verrat mehr beging, und hoffte, die Polizei würden keine Zeit damit verschwenden, diese erst zu überprüfen, bevor sie etwas unternahm.

Aber als er das Formular abgeschickt hatte, empfand er keine Erleichterung. Er spürte gar nichts, während Zoe womöglich im Sterben lag. Oder vielleicht schon tot war.

Daran durfte er nicht denken, und das Leugnen machte es noch schlimmer. Immerhin hatte er etwas getan. Er hatte etwas getan und sie nicht einfach dort liegen gelassen.

Als Jonah am späten Nachmittag seinen Bericht über den Erpressungsfall geschrieben hatte, wanderten seine Gedanken zurück zu der Lagebesprechung am Vormittag. Ob Heerdens Team herausgefunden hatte, was hinter der Mordmeldung steckte?

Er fand den Fall in der Datenbank und las, dass ein Constable aus Heerdens Team versucht hatte, die Identität des mutmaßlichen Opfers zu ermitteln. Aber in ganz Großbritannien gab es keine Zoe Swardedeen, und eine Vermisstenmeldung lag auch nicht vor. Der Constable hatte vorgeschlagen, den Fall zu schließen.

Jonah seufzte unzufrieden und fragte sich, wieso der Constable es nicht mit anderen Schreibweisen des Namens versucht hatte. Warum beschäftigte ihn dieser Anruf bloß so?

Bitte helfen Sie ihr. Vielleicht lebt sie noch …

Er stellte sich den verzweifelten Klang der Stimme vor und entschied, sich die Originalaufnahme anzuhören. Sie war nur eine Minute lang. Die Stimme der Beamtin in der Zentrale dröhnte so laut, dass Jonah die Lautstärke hastig leiser drehte, um sie ebenso rasch wieder lauter zu stellen, als der Anrufer zu sprechen begann. Er flüsterte kaum hörbar.

Jonah spürte, wie er beim Zuhören eine Gänsehaut am Hals und an den Armen bekam. Er hatte schon öfter Anrufe dieser Art gehört, meistens als Beweismittel vor Gericht. Die ängstlich gesenkte, angespannte Stimme ließ ihn an Opfer häuslicher Gewalt denken, die sich vor ihrem Partner versteckten.

Die Stimme ging ihm unter die Haut, vor allem weil der Anrufer den Zwischenfall offenbar nur über eine Webcam verfolgt hatte.

»Wir waren zusammen online. Ich konnte nicht sehen, was passiert ist, aber ich habe es gehört. Jemand hat ihre Wohnung betreten …«

Als der Anrufer kurz darauf nach seinem Namen gefragt wurde, beendete er das Gespräch. Jonah lauschte den gedämpften Geräuschen, bevor die Verbindung unterbrochen wurde, und starrte dann auf den Bildschirm.

So saß er noch da, als ein fröhliches Zwitschern des Computers vermeldete, dass der Akte eine neue Datei hinzugefügt worden war. Es handelte sich um ein Verbrechen, das am Vormittag über die Homepage gemeldet worden war und nach Ansicht der Zentrale mit diesem Fall zu tun haben könnte.

Jonah öffnete sie eilig und las eine praktisch gleichlautende Schilderung. Diesmal wurde der Name des Mädchens Zoe Swardadine geschrieben.

Er gab die neue Schreibweise in die Suchmaschine ein und fand das Bild einer jungen Frau mit dunkelbrauner Haut und dunklen Locken. Als er es anklickte, landete er auf ihrer Website, eine schlichte WordPress-Seite über eine in Southampton lebende Künstlerin, die stilisierte Figuren auf bedrohlich dunklen Hintergründen malte. Ganz unten auf der Seite war eine Telefonnummer angegeben, was ihm ein wenig vertrauensselig vorkam. Aber vielleicht stolperten nicht allzu viele Menschen über Zoes Seite.

Er rief die Festnetznummer an. Es klingelte achtmal, bevor der Anrufbeantworter ihn informierte, dass der Teilnehmer nicht erreichbar war, und ihn aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen.

Er gab seine Nummer auf dem Kommissariat und seine Handynummer an und bat um Rückruf. Dann legte er mit einem Gefühl zunehmender Dringlichkeit auf. Zoes Vater im Netz zu finden war nicht schwer. Martin Swardadine war Investmentbanker bei einem Unternehmen namens Knight and Maynooth. Oben auf der Seite prangte ein einschüchterndes Schwarz-Weiß-Porträt, das aus einem Winkel aufgenommen war, der Martins kantiges Kinn betonte. Darunter fand sich eine Biographie des Mannes. Im letzten Absatz erfuhr Jonah, dass Martin mit einer Ärztin verheiratet war und seine Tochter angehende Künstlerin war.

Martin nahm seinen Anruf mit einem forschen Gruß entgegen, der signalisierte, dass das Telefonat ihm Zeit für sehr wichtige andere Angelegenheiten raubte, wichtige und vergnügliche Angelegenheiten, die eine Menge reicher Leute noch reicher machen würden.

»Hier ist DCI Jonah Sheens von der Hampshire Constabulary. Wir möchten uns vergewissern, dass es Ihrer Tochter gut geht. Ein Freund von ihr hat sich Sorgen gemacht.«

»Vergewissern, dass mit … Zoe alles in Ordnung ist?« Sein selbstbewusster Ton wurde ein wenig brüchig.

»Ja«, bestätigte Jonah. »Haben Sie zum Beispiel heute schon mit ihr gesprochen oder von ihr gehört?«

»Ich … Nein, heute noch nicht«, sagte ihr Vater. »Aber ich habe mit ihr zu Mittag gegessen am … Anfang der Woche. Wahrscheinlich hat sie mir inzwischen eine SMS geschickt. Warten Sie.«

In der Leitung war ein Rascheln und Kratzen zu hören, während Martin vermutlich seine Nachrichten abrief.

»Sie hat mir gestern Abend eine SMS geschickt.«

»Danke«, sagte Jonah. »Um wie viel Uhr war das?«

»20:12 Uhr, steht hier.« Es entstand eine kurze Pause, und als er weitersprach, klang seine Stimme verändert.

»Gibt es Anlass, sich Sorgen zu machen?«

»Ein Freund hat vergeblich versucht, sie zu erreichen«, erklärte Jonah. »Es könnte sich auch als gegenstandslos erweisen. Das ist häufig so. Aber könnten Sie vielleicht bei Zoes Freundinnen nachfragen? Oder bei ihrer Mutter?«

»Okay. Ich … höre mich um.«

Jonah gab ihm die Nummer der Zentrale und legte auf. Er las die zweite Meldung noch einmal sorgfältig durch. Der Absender hatte keine Kontaktdaten angegeben. Die E-Mail-Adresse lautete »[email protected]«, was beunruhigend war. Als Adresse des Tatorts wurde lediglich Southampton genannt.

Sieben Minuten später rief Martin Swardadine zurück, um mitzuteilen, dass seit gestern Abend niemand von Zoe gehört hatte. Weitere zehn Minuten später hatte Jonah das Kommissariat verlassen und raste zu Zoes Wohnung.

Angeline konnte nicht aufhören zu zittern. Das hatte mit dem Polizeiauto angefangen. Bis dahin hatte sie sich eigentlich keine Sorgen gemacht. Das Ganze schien ihr vor allem lästig, aufs Rad zu steigen und im kalten Gegenwind dorthin zu radeln, während sie eigentlich müde und mit ihren Abgabeterminen im Verzug war. Außerdem hatte sie kein geladenes Fahrradlicht gefunden, und es war um halb drei schon so trüb, dass es früh dämmern würde.

Aber der Streifenwagen hatte das irgendwie geändert. Sie hatte sich den Detective, mit dem sie gesprochen hatte, als normale Person vorgestellt, nicht als jemanden in Uniform. Er hatte so gelassen geklungen. Er hatte sie gebeten, einigen Polizisten Zoes Wohnung aufzuschließen. Er würde selbst in Kürze eintreffen und sich vergewissern, dass alles in Ordnung war.

Er hatte so ruhig geklungen, dass sie sich gar nichts dabei gedacht hatte. Aber als sie sich jetzt einem Streifenwagen und einem Polizisten und einer Polizistin in Uniform gegenübersah, wurde ihr fast übel vor Angst.

Sie nickte ihnen zu, lehnte ihr Fahrrad an die Mauer neben der Haustür. Sie brauchte drei Anläufe, um es abzuschließen, so heftig zitterten ihre Hände.

»Sind Sie Angeline?«, frage der große stämmige Polizist. Die schwarze Uniform stand ihm nicht, dachte sie. Die gefütterte Weste mit den vorstehenden Taschen ließ ihn noch fülliger wirken, als er ohnehin war.

»Ja«, antwortete sie und fragte dann ängstlich: »Sie waren doch nicht schon drinnen, oder?«

»Nein, wir haben geklingelt, aber niemand hat aufgemacht. Wir warten nur auf Sie und den Schlüssel«, sagte er mit einem angedeuteten Lächeln. »Wenn Sie uns hereinlassen, sehen wir nach Zoe.«

Angeline nickte mit einem Schauder und kramte den schweren Schlüsselbund aus ihrem Beutel. Nach einer Weile gelang es ihr, den kleinen Ring mit dem klobigen Sicherheitsschlüssel und dem kleineren für die Wohnung zu lösen, den Zoe ihr gegeben hatte.

Sie schloss auf und ließ die Beamten in den Hausflur, der gut zwei Jahre nach dem Erstbezug immer noch nach neuen Teppichen roch. Dabei hätte sie die Tür beinahe versehentlich zufallen lassen, bevor der Polizist eingetreten war. Sie entschuldigte sich, doch er wirkte unbekümmert.

»Ganz nette Adresse für eine Studentenbude«, sagte er locker. Sie merkte, dass er versuchte, sie zu beruhigen.

Das machte es nur noch schlimmer. Ihr war eiskalt, als sie vor den beiden Polizisten die Treppe hinaufging.

Im zweiten Stock führte sie sie durch die lackierte Feuerschutztür in den Flur. Die Tür war ihr sonst immer schwer vorgekommen, doch heute schien sie nichts zu wiegen. Diesmal dachte sie immerhin daran, die Tür hinter sich aufzuhalten.

Der Flur war leer. Zoes Tür war die in der Mitte mit der Nummer sechzehn in großen silbernen Ziffern. Angeline blieb davor stehen und betrachtete ihr Spiegelbild in der Sechs.

»Soll ich …?«, fragte sie und zeigte auf die Tür. Die Polizistin nickte, und sie klopfte. Ihre Knöchel erzeugten fast keinen Laut auf dem Holz. Der stämmige Beamte beugte sich vor und klopfte noch einmal lauter.

»Zoe?«, rief er und senkte den Kopf, als könnte er so besser hören. »Zoe, machen Sie bitte die Tür auf?«

Danach war es still bis auf einen sehr leisen Bass-Beat, der aus einem anderen Stockwerk zu ihnen drang.

»Okay«, sagte der Polizist. »Wenn Sie bitte aufschließen könnten …«

Angeline schaffte es irgendwie, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und ihn umzudrehen. Sie trat einen Schritt zurück, sobald sich die Tür einen Spalt geöffnet hatte.

»Können Sie …?« Sie war unfähig, ihre schreckliche Furcht, die Wohnung zu betreten, in Worte zu fassen, aber die Beamten verstanden sie offenbar auch so.

»Wir sind gleich wieder da«, sagte der Polizist, sah seine Kollegin an, und sie betraten hintereinander die Wohnung.

Angeline schlang die Arme um den Körper, um das Zittern und das wilde Pochen ihres Herzens zu lindern. Noch nie hatte sie sich so sehr gefürchtet. Es fühlte sich an, als könnte sie vor Angst sterben, und je mehr sie daran dachte, desto benommener wurde sie. Als ob ihr Herz schon beschädigt sein könnte.

In der Wohnung blieb es lange still. Dann wurde klickend eine Tür geöffnet, eine Stimme sagte leise etwas, eine zweite antwortete.

Sie hörte leise Schritte, dann tauchte die Polizistin wieder an der Tür auf.

»Geht es ihr gut?«, fragte Angeline, bevor die Frau etwas sagen konnte.

»Es sieht so aus, als hätte sie einen Unfall gehabt«, antwortete die Polizistin sanft. Im Hintergrund hörte Angeline ihren stämmigen Kollegen reden. Wahrscheinlich sprach er in ein Telefon oder Funkgerät. »… Krankenwagen und Spurensicherung.«

Angeline spürte eine furchtbare Kälte im ganzen Körper. Sie sagte nichts, sondern stürzte nur vorwärts und drängte sich an der Polizistin vorbei, die sie scharf aufforderte, stehen zu bleiben. Beinahe wäre Angeline gegen ihren Kollegen geprallt, der der von Knistern und Knacken begleiteten Antwort aus seinem Walkie-Talkie lauschte. Seine stämmige Gestalt versperrte die Lücke zwischen Schreibtisch und Tür. Sie wollte an ihm vorbei, doch die Polizistin fasste unvermittelt ihren Oberarm.

»Es tut mir leid, aber das ist keine gute Idee«, sagte sie.

Angeline entwand sich dem Griff und rannte zum Schlafzimmer und der offenen Tür zum Bad, das direkt davon abging.

Dann wurde sie von zwei Händepaaren gepackt und entschlossen weggezerrt.

»Kommen Sie, Angeline«, sagte der stämmige Mann. »Sie können da nicht reingehen. Es tut mir leid.«

»Ich muss sie sehen! Bitte lassen sie mich zu ihr.«

Aber dann war ihre Widerstandskraft mit einem Schlag verpufft, und die Polizisten mussten sie stützen. Sie führten sie hinaus in den Flur und setzten sie auf die breite niedrige Fensterbank an dessen Ende.

»Wir besorgen Ihnen ein Glas Wasser«, sagte der stämmige Polizist sanft. »Oder einen Tee. Wie wär’s mit einer Tasse Tee?«

Sie nickte, obwohl sie ihm eigentlich ins Gesicht schreien wollte, dass Tee gar nichts besser machen würde.

»Zoe ist tot, oder?«, fragte sie. Keiner der beiden antwortete.

2.März – zwanzig Monate vorher

Es war sechs nach zwölf, als Zoe mit ihrem Augen-Make-up fertig war. Noch vierzehn Minuten, um das Haus zu verlassen und in ein Taxi zu steigen, damit sie rechtzeitig zu der Hochzeit kamen. Reichlich Zeit.

Sie steckte die Pinsel weg, rollte das Schminktäschchen aus Nylon zusammen und zog ein Fach ihrer Schmuckkassette auf. Ihre neuen silbernen Spiralohrringe funkelten, als sie sie zur Hand nahm, die perfekte Ergänzung zu ihren silbern bestäubten Lidern.

Eine Etage tiefer im ersten Stock ging die Badezimmertür auf. »Wie weit bist du, Maeve?«, rief Zoe, während sie die Ohrringe in ihr Ohrläppchen steckte.

»Fast fertig!«, antwortete Maeve, und in ihrem nordirischen Akzent schwang die leicht gehetzte Fröhlichkeit der chronisch Verspäteten mit.

»Hast du deine Kleider tatsächlich schon an?«

»Überwiegend!«, lautete die Antwort, und dann hörte man eilige Schritte, die Maeves Schlafzimmer ansteuerten.

Zoe musste lachen. Maeves Problem war, dass sie ständig versuchte, zu viele Dinge in einen Tag zu packen. Für Zoe hatte ein Taxi um zwanzig nach zwölf bedeutet, dass sie nach dem Frühstück nur eine Stunde gearbeitet und sich dann zwei Stunden genommen hatte, um sich fertig zu machen. Für Maeve hatte es bedeutet, sich erst mit einer Freundin zum Kaffee zu treffen, dann joggen zu gehen, anschließend auf der Suche nach ihren Kleidern zwanzig Minuten lang panisch ihr Zimmer auf den Kopf zu stellen und schließlich unter die Dusche zu stürzen.

»Hast du eine Strumpfhose für mich, Zoe?«, rief Maeve wenig später.

»Ja«, rief sie zurück. Sie betrachtete sich kurz im Frisierspiegel und zog dann die obere linke Schublade ihrer großen Eichenkommode auf. »Was für eine?«

»Vielleicht … hautfarben?« Maeves Stimme wurde lauter, als sie an den Treppenabsatz kam. »Oder schwarz?«

»Ich hab nur schwarze«, antwortete Zoe, weil sie dachte, dass es vielleicht nicht der beste Zeitpunkt für ein Gespräch darüber war, dass »hautfarbene« Strumpfhosen nutzlos waren, wenn man Halbkenianerin war. Sie zog drei Strumpfhosen aus der Packung, nahm ihre Schultertasche und stöckelte vorsichtig die Stufen hinab. Die Louboutins waren vielleicht die hübschesten Schuhe, die sie je besessen hatte, aber ganz bestimmt nicht ideal für Treppen. Oder unebenen Boden. Oder für längere Strecken. Zoe war sich nicht siher, ob sie im Laufe des Tages nicht doch irgendwann in ihre flachen Ballerinas wechseln musste, die sie in ihre Tasche gepackt hatte, doch sie war entschlossen, es zu versuchen.

Als Zoe die Treppe bewältigt hatte, war Maeve immerhin schon angezogen. In dem engen knappen Top und dem hochtaillierten ausgestellten Rock sah sie aus wie eine Schönheit aus den fünfziger Jahren, obwohl ihr nasses, auf ihre Schultern tropfendes Haar dem Gesamteindruck abträglich war. Ebenso wie der Mascarafleck, der beim Schminken auf ihrer Wange gelandet war.

Zoe erkannte, dass die hastigen Bewegungen ihrer Freundin nur noch größeres Chaos anrichten würden. Augen-Make-up gelang nie richtig, wenn man in Eile war.

Sie warf die Strumpfhosen aufs Bett. »Lass mich das machen«, sagte sie und streckte die Hand nach der Wimperntusche aus. »Du kannst dir dabei die Haare föhnen. Multi-Tasking.«

»Danke!«, sagte Maeve. »Eyeliner brauche ich auch noch.«

Zoe wartete, bis sie den Föhn eingeschaltet hatte, bevor sie sich mit einem Wattebausch und Make-up-Entferner an die Arbeit machte. Das Mascara ließ sich leicht auftragen, obwohl Maeve jedes Mal blinzelte, wenn sie mit dem Pinsel in die Nähe der Augen kam.

Zoe warf einen Blick auf die Leuchtanzeige des Weckers neben dem Bett, bevor sie mit dem Eyeliner begann. Sieben Minuten. Zeit genug für ein vernünftiges Styling. Maeve konnte sich die Strumpfhose anziehen, während Zoe schon zum Taxi hinunterging.

Einen Moment lang betrachtete Zoe nachdenklich Maeves hellblaue Augen, um zu entscheiden, wie sie sie am besten zur Geltung brachte. Keinen Unterstrich, dachte sie.

»Hör auf, mich so anzugucken«, sagte Maeve laut über den Föhn hinweg. »Du siehst aus, als wolltest du jeden Moment auf die Knie fallen und mir einen Heiratsantrag machen.«

»Und wenn?«, fragte Zoe grinsend. »Okay, jetzt musst du eine Weile stillhalten.« Sie arbeitete schnell und nahm zuletzt ein Haarnetz mit Glitzersteinen, um Maeves immer noch feuchte braune Locken zu bändigen.

Maeve betrachtete sich im Spiegel und lächelte ihr schmales, leicht widerwilliges Lächeln.

»Na gut. Besser als das präraffaelitische Chaos, das ich geplant hatte.«

Zoes Handy klingelte. »Das Taxi«, sagte sie, ohne aufs Display zu blicken.

»Scheiße, ich muss noch meine Schuhe finden«, sagte Maeve.

»Weiß deine Mami, dass du fluchst?«, fragte Zoe grinsend, als sie wieder in ihre Pumps schlüpfte.

»Sie hat mir all die Wörter beigebracht«, erwiderte Maeve, tauchte beinahe vollständig in ihren Kleiderschrank und zog eine Reihe nicht zueinanderpassender Schuhe heraus. »Ich bin sofort so weit, wirklich. Geh schon vor.«

Etwa elf Minuten später stürmte Maeve aus der Haustür. Trotz ihrer geröteten Wangen und des Gürtels ihrer Jacke, der über den Boden schleifte, sah sie kein bisschen weniger hinreißend aus, dachte Zoe.

Man hätte sich einen entspannteren Auftritt bei einer Hochzeit gewünscht. Der Taxifahrer hatte aus einem unerfindlichen Grund die Route durch die Innenstadt gewählt, was sie eine weitere Viertelstunde gekostet hatte, in der sie die von zahllosen samstäglichen Einkaufsbummlern bevölkerte The Mall im Schritttempo hinunter gekrochen waren. Maeve hatte sich in einem fort bei Zoe entschuldigt, bis diese nachdrücklich erklärt hatte, dass es nicht Maeves Schuld sei, und dann entschlossen das Thema gewechselt hatte, indem sie Maeve aufforderte, ihr von ihrem Date am Abend zuvor zu erzählen.

»Oh, es ist ganz gut gelaufen, würde ich sagen.« Maeve wandte den Blick ab und betrachtete die Fußgänger, an denen das Taxi quälend langsam vorbeirollte. »Ich meine, er war nett. Ein bisschen altmodisch. Man konnte sich gut mit ihm unterhalten.«

Zoe lachte spöttisch. »Was soll bei einem von der Kirche arrangierten Date auch sonst passieren? Da ist ein altmodischer netter Typ quasi garantiert.«

Maeve schnaubte abschätzig. »Gut die Hälfte von denen ist kein bisschen so, sag ich dir. Es gibt da genauso viele sexistische Flachwichser wie nette Typen.«

Zoe lächelte. »Klingt genau wie bei nichtchristlichen Dates.«

»Stimmt«, pflichtete Maeve ihr bei und seufzte dann. »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass ich ihn noch mal treffe. Er war einfach nicht … interessant genug.«

Das bedeutete, er war nicht wie Isaac. Zoe wünschte sich wieder, dass Maeve diese Schwärmerei endlich überwinden und jemanden finden würde, der sie wirklich wollte. Jemanden, der sie als Mensch schätzte und nicht nur sein Ego von ihr streicheln ließ.

»Man kann es nicht erzwingen«, sagte Zoe nur leichthin.

»Ah, ich komme auch allein zurecht«, erklärte Maeve mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ich fühle mich mit mir selbst wohl, daran muss ich mich erinnern.«

»Ja«, stimmte Zoe ihr zu. »Immerhin bist du irgendwie interessant. Manchmal.«

»Hau ab«, sagte Maeve lächelnd.

Während der übrigen Fahrt versiegte ihr Gespräch. Sie versanken in angespanntes Schweigen, während immer offensichtlicher wurde, dass sie zu spät kommen würden. Um 12:58 Uhr, zwei Minuten vor dem offiziellen Beginn der Zeremonie, traf das Taxi schließlich bei der Vinery ein und hielt ein Stück hinter einem silbernen Rolls-Royce, der gerade eine Gruppe in weiße und lavendelfarbene Spitze gehüllte Gestalten vor den Eingangsstufen abgesetzt hatte.

Zoe hastete auf ihren hohen Absätzen unbeholfen über den Gehsteig.

»Sorry«, sagte sie grinsend zu Gina, die in ihrem hochgeschlossenen figurbetonten Brautkleid mit Schleppe gegenüber ihrer praktischen Alltagserscheinung wie verwandelt aussah.

»Zoe!«, stieß sie hervor und lachte dann rau. »Wir wollten gerade reingehen!«

»Maeves Schuld«, keuchte Zoe. Im selben Moment tauchte Maeve hinter ihr auf und bestätigte: »Ja, es lag an mir! Tut mir schrecklich leid!«

Sie liefen über die Marmorfliesen in das große Gewächshaus, in dem mit Pfingstrosen geschmückte Bänke aufgestellt waren. Die Hälfte der Anwesenden drehte sich um, weil sie trotz fehlender Einzugsmusik die Braut erwarteten. Zoe versuchte, ein Lachen zu unterdrücken, als sie Angelines aufgerissene Augen sah. Sie saß mit Victor in der Mitte und hatte zu Zoes Erleichterung zwei Plätze für sie frei gehalten.

Angeline rutschte kopfschüttelnd in der Bank auf, um Zoe und Maeve hereinzulassen.

»Wir dachten schon, ihr hättet einen Unfall gehabt!«, flüsterte sie ziemlich laut. »Wir sind schon seit einer Ewigkeit hier.«

Zoe grinste nur und drehte sich um, als Streicherklänge vom Band den Einzug der Braut verkündeten. Es war schwer, nicht ein wenig sentimental zu werden, als Gina hereinkam.

Zoe kannte niemanden, der so hart arbeitete wie Gina, ihre Chefin. Der Erfolg ihres phantastischen kleinen Cafés war ebenso sehr der allumfassenden Herzlichkeit seiner Besitzerin wie den Speisen und Getränken zu verdanken. Und selbst wenn Michael, der Typ, den sie heiratete, ein bisschen langweilig wirkte, war er der Mann, der für sie da sein und sie mit Liebe überschütten würde. Zoe fand, dass Gina genau das verdient hatte.

3.

Der Anruf erreichte Jonah im Auto, als sie noch etwa zehn Minuten von Zoes Wohnung entfernt waren, und als er hörte, wie der Sergeant »Sir« sagte, wusste Jonah Bescheid. Sie ermittelten jetzt in einem Todesfall, und er war froh, dass O’Malley bereitgestanden hatte, ihn zu begleiten. Von seinen drei Teammitgliedern war er am meisten abgehärtet, und sie mussten sich nun auf den Tatort eines Gewaltverbrechens einstellen.

Bis Lightman und Hanson ankämen, würde es schon leichter sein. Die Kriminaltechniker würden bereits vor Ort sein mit ihren Post-its, Pfeilen und Etiketten, Utensilien, die einen sterilisierenden Effekt hatten. Es würde aussehen wie ein Labyrinth von Indizien und darüber fast vergessen lassen, dass dort ein Mensch gelitten hatte und gestorben war.

Er parkte den Mondeo in der Latterworth Road, einer vorstädtisch anmutenden Wohnstraße, die an der A35 Richtung Norden endete. Er und O’Malley waren an einer Reihe identischer Häuser aus den dreißiger Jahren vorbeigefahren: flache Erkerfenster, die obere Haushälfte weiß gestrichen, rechteckige Vorgärten. Zoes Apartmentblock war das einzige Gebäude, das aus der Reihe tanzte. Es sah aus, als wäre es auf der Fläche von zwei Doppelhäusern ohne erkennbare Rücksicht auf die ansehnliche Nachbarschaft errichtet worden. Ein ultramoderner Bau mit einer abgestuften rechteckigen Fassade, die beinahe aggressiv wirkte.

Sie wurden von einem Police Constable durchgewunken, der an der Tür stand. Eine unglaublich dünne Frau, bei der es sich um Angeline Judd handeln musste, saß mit einer Polizistin auf einer Fensterbank und hielt einen Becher Tee mit beiden Händen an die Brust gedrückt, neben sich eine Reihe zerknüllter Papiertaschentücher. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet.

Die Polizistin nickte ihm zu, während Angeline ihn ängstlich musterte wie ein gefährliches Raubtier.

»Ich bin DCI Sheens«, sagte er und blieb vor ihr stehen. »Ich leite die Ermittlung und will herausfinden, was Zoe zugestoßen ist. Ich möchte Ihnen einige Fragen stellen, in Ordnung?«

Angeline starrte ihn an und antwortete dann: »Ja. Ja, das ist okay.«

Wenn man sie in ihrer zu großen grauen Strickjacke und den grünen Leggings betrachtete, konnte man kaum übersehen, wie hager sie war. Die Arme und Beine schienen beinahe skelettartig, und ihr unglaublich dürrer Körper ließ ihr Gesicht übergroß wirken, die riesigen Augen wie die einer Puppe, ihr kurzes flaumiges Haar kraftlos.

Jonah fragte sich, ob sie vielleicht krank war. Sie wirkte fast kindlich, was seinen Beschützerinstinkt weckte.

Er bedankte sich sanft für ihre Hilfe und sprach ihr sein Beileid aus. Schließlich erklärte sie, dass sie bereit sei, einige Fragen zu beantworten. Aber ihre Antworten bestanden hauptsächlich aus Kopfschütteln zu allem, was er auch andeutete, und dabei kullerten Tränen über ihre Wangen.

Ihres Wissens hatte Zoe keine Feinde gehabt. Keine Geldsorgen. Keinen Streit in letzter Zeit. Kein sonderbares Verhalten gezeigt.

»Sie war – so liebenswürdig«, sagte Angeline am Ende mit belegter Stimme.

Sie musste ein paarmal schlucken, bevor sie weitersprechen und Jonah erzählen konnte, dass sie Zoe von der Uni kannte.

»Studieren Sie auch Kunst?«, fragte er lächelnd.

»Oh. Nein. Ich mache … Tanz, ein Aufbaustudium fürs Lehramt.«

Ihre Antworten fielen, egal was Jonah fragte, mehr oder weniger gleich aus. Schließlich sagte er, dass er mit Zoes Freund sprechen müsse. Angelines Blick wurde klar, und sie sah ihn scharf an.

»Sie hatte … Meinen Sie Aidan?«

»Vielleicht müssen Sie uns das erklären«, sagte Jonah behutsam, während er den Namen notierte. »Zoes Freund hat uns alarmiert und gebeten, nach ihr zu sehen, aber wir wissen nicht, wie wir ihn erreichen können.«

»Ich habe seine Nummer«, sagte Angeline, zog ihr Handy aus der Tasche und las sie vor. Jonah schrieb sie in sein Notizbuch. »Ich dachte mir schon, dass sie vielleicht wieder zusammen sind«, fügte sie hinzu, und es klang, als verletzte sie das persönlich.

»Sie hatten sich getrennt?«

»Ja, schon ein paarmal.«

»Sie haben nicht zusammen gewohnt?«

Angeline schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat allein gelebt. Früher hat sie mit einer Freundin zusammengewohnt, aber dann ist sie hierhergezogen.«

»Wann war das?«

»Im Juni … glaube ich.«

Jonah nickte langsam. »Es wäre großartig, wenn Sie in den nächsten Tagen aufs Kommissariat kommen könnten«, sagte er. »Aber fürs Erste gehen Sie am besten nach Hause und geben gut auf sich acht. Können Sie irgendjemanden anrufen …?«

Angeline nickte und brach unvermittelt wieder in Tränen aus. »Ich muss wohl meine Mum anrufen. Normalerweise – normalerweise rufe ich immer Zoe an.«

Zoes Wohnung wirkte genauso modern und unversöhnlich wie die Fassade des Gebäudes. Sie war karg möbliert, und in zwei Ecken des Wohnbereichs standen Umzugskartons. Die in Schwarz gehaltene Küche wies Spuren von Benutzung auf. Verschmierte Abdrücke auf dem Backofen. Krümel auf der Arbeitsplatte, mehrere Gläser mit Rotweinresten.

»Vielleicht hatte sie gestern Abend Besuch«, sagte Jonah leise zu O’Malley.

In der Ecke der Küche stand ein Napf mit Katzenfutter und eine Schale mit Wasser, die Katze selbst war nirgends zu sehen. Vielleicht hatte sie sich aus Angst vor der Polizei verkrochen.

Rechts neben der Tür stand ein Schreibtisch, der von einem Desktop-Computer dominiert wurde. In der unteren Ecke des Bildschirms blinkte langsam ein orangefarbenes Licht: im Ruhezustand, aber nicht ausgeschaltet. Unter dem Bildschirm lag ein Handy. Es juckte Jonah in den Fingern, doch er ließ es für die Techniker liegen.

Auf der anderen Seite des Raumes blickte ein Sofa ins Leere. Kein Fernseher. Keine Gemälde. Jenseits davon nur zwei Umzugskartons, auf einen war mit Edding »Skulpturen« geschrieben.

Das Ganze kam ihm seelenlos vor. Kahl. Ganz anders, als er sich die Wohnung einer Künstlerin vorgestellt hätte. Sie hatte seit Juni hier gelebt, hatte Angeline gesagt. Aber in diesen fünf Monaten hatte sie nicht einmal die Kisten fertig ausgepackt, geschweige denn sich eingerichtet.

Er ging zu der gegenüberliegenden Tür, die ins Schlafzimmer führte. Sie befand sich im Bad, hatten die uniformierten Kollegen berichtet. Die Tür zur Linken.

Er zwängte sich durch die offene Tür, ohne sie zu berühren, und sah Zoe in der Wanne liegen. An einem Ende ragten nur Schultern, Kopf und Oberarme aus dem Wasser, in der Mitte bildeten ihre Knie zwei winzige Inseln. Wenn ihr Verletzungen zugefügt worden waren, wurden sie von dem tiefroten Wasser verdeckt.

Eine nadeldünne Spur dunklen Bluts verlief von einem Messer mit rotem Griff auf dem Wannenrand bis ins Wasser. Ein Teppichmesser, dachte er, das Werkzeug eines Künstlers.

Sein Blick wanderte flüchtig über ihr zu einem Dutt gebundenes Haar und ihr Gesicht. Die Züge waren schlaff, die Haut war bronzefarben mit einem lila Schimmer. Die Augen waren geschlossen, doch sie sah nicht aus, als würde sie schlafen. Ihr Antlitz hatte die unverkennbare Leere des Todes.

Er spürte O’Malley hinter sich, der wartete, bis er an der Reihe war, Jonahs Platz einzunehmen.

Jonah trat einen Schritt zurück und wollte, dass O’Malley seine Gedanken in Worte fasste und sagte, auf den ersten Blick sehe es aus wie ein Selbstmord. Absolut eindeutig. Der einzige Grund, etwas anderes zu vermuten, waren zwei Meldungen, bei denen er sich nicht sicher war, ob er ihnen traute.

Sein Telefon klingelte, und er seufzte, als er die Nummer auf dem Display sah.

»Zoes Vater«, sagte er zu O’Malley. »Sehen Sie sich um, während ich mit ihm spreche.«

Er wurde nie leichter, dieses erste Gespräch mit der Familie. Zoes Vater hatte unter erstickten Tränen kaum ein Wort herausgebracht und das Telefon an seine Frau weitergereicht, die Jonah nur immer wieder gefragt hatte, warum es passiert war. Natürlich hatte er keine Antwort für sie. Das hatte er bei diesem ersten Anruf selten.

Er hatte sein Möglichstes getan, sie zu beruhigen, und ihnen versichert, dass der Tod wahrscheinlich schnell und schmerzlos eingetreten sei. Er hatte überlegt, ihnen zu erklären, dass das warme Badewasser den Prozess des Verblutens beschleunigt hatte, doch das waren Details, mit denen er sie noch nicht belasten wollte. Im Moment hatten sie genug zu verkraften.

»Bitte sagen Sie mir die Wahrheit«, hatte Zoes Mutter irgendwann verlangt. »Es ist doch kein … Sie hat sich das nicht selbst angetan, oder?«

Jonah hatte vernehmlich ausgeatmet. »Das wissen wir leider erst, wenn wir den Tatort genauer untersucht und ihre letzten Tage rekonstruiert haben.«

Er hatte sie gefragt, ob sie nach Southampton kommen wollten. Dabei hatte er an die formelle Identifizierung und all die Dinge gedacht, die er ihnen persönlich sagen musste.

»Es ist nicht notwendig, sofort herzukommen«, fügte er hinzu. »Häufig wird die Identifikation auch per Video-Link vorgenommen.« Er sagte nicht, weil es nicht so qualvoll ist.

»Nein«, hatte Zoes Mutter erklärt. »Wir wollen kommen. Sofort. So bald wie möglich.«

Während er auf die Spurensicherung wartete, überlegte Jonah, um welche praktischen Fragen er sich kümmern musste. Heute würde wahrscheinlich ein sehr langer Tag werden. Er schlug im Geist seinen Kalender auf, dankbar dafür, dass er freitagsabends nur selten Termine hatte. An Samstagen versuchte er normalerweise, seine Mutter zu besuchen, aber die war zum ersten Mal seit acht Jahren nicht da.

Es hatte ihn komplett überrascht, dass seine vom katholischen Glauben abgefallene Mutter von der örtlichen anglikanischen Gemeinde adoptiert worden war. Die Mitglieder hatten entschieden, dass sie Hilfe brauchte, was Jonah schlecht bestreiten konnte, und hatten einen Turnus von Aktivitäten und Besuchen organisiert, der die Zeit, die sie allein mit dem Alkohol verbrachte, drastisch reduziert hatte. Das Ganze war eine Riesenerleichterung für Jonah gewesen, ungeachtet der leicht vorwurfsvollen Blicke, die ihm die Kirchendamen zuzuwerfen pflegten, wenn sich ihre Wege kreuzten. Er wartete allerdings immer noch darauf, dass seine Mutter sie alle zu hassen begann. Oder dass sie sie so wüst beschimpfte, dass man ihr nicht verzeihen konnte. Sie hatte die Angewohnheit, alle Bemühungen, ihr zu helfen, zunichtezumachen. Samstag konnte er also problemlos den ganzen Tag arbeiten. Vielleicht würde er die Einladung zum Polterabend seines Radfahrerkumpels Roy am Samstagabend absagen müssen. Selbst wenn er sein Tagespensum rechtzeitig erledigte, wollte er danach vermutlich nicht mehr ausgehen. Mordermittlungen und trinkselige Abende passten in der Regel nicht gut zusammen.

Seine Leute hatten wahrscheinlich eigene Pläne. Pläne, die sie weniger begeistert aufgeben würden. Es wurde Zeit, Lightman und Hanson über die neuesten Entwicklungen zu informieren.

Juliette Hanson war vollkommen in ihre finanzielle Schnitzeljagd vertieft, als der Chef anrief. Sie ließ das Telefon mindestens viermal klingeln, während sie noch rasch das Zwischenergebnis notierte, und versuchte, nicht allzu verärgert zu klingen, als sie abnahm.

»Chef?«

»Ist Lightman in der Nähe? Dann kann ich Sie beide gleichzeitig auf Stand bringen.«

»Ja, er ist hier«, sagte Hanson, als ihr Blick Lightmans traf. »Ich stelle den Anruf in ein Besprechungszimmer durch.«

Nachdem sie den Anruf wieder aufgenommen hatten, lauschten beide schweigend, während Sheens schilderte, wie man Zoe gefunden hatte.

»Alles sieht nach Selbstmord aus«, sagte der Chef. »Nur dass man uns erzählt hat, sie sei angegriffen worden. Deshalb ist der erste Punkt auf meiner Liste, ihren Freund aufzuspüren. Außerdem brauche ich einen von Ihnen am Tatort, und ich fürchte, für denjenigen wird es ein langer Abend werden. Die Spurensicherung ist gerade eingetroffen, die Familie ist unterwegs, und ich werde eine Obduktion beantragen.«

»Tut mir leid, Sir. Ich kann nicht«, sagte Lightman, und Hanson sah ihn überrascht an. »Ich muss heute um vier Uhr los.«

Hanson hätte beinahe eingewandt, dass er unmöglich etwas vorhaben konnte. Es war Freitag. Pub-Abend. Freitags gingen sie immer zusammen in den Pub. Zumindest hatten sie das in den letzten vier Monaten getan. Wenn sie nicht völlig in irgendeinem Fall versunken waren, gingen sie die Straße runter zum Anchor und blieben bis acht oder neun. Lightman trank nie mehr als zwei Bier und redete selten viel, aber er kam immer mit.

»Kein Problem«, sagte Sheens. »Juliette?«

»Ich kann kommen«, sagte sie und notierte sich die Adresse, die er ihr nannte.

Als sie den Anruf beendeten, ertappte sie sich dabei, Lightman genau zu mustern. Er schrieb noch etwas auf und erhob sich, so schwer zu durchschauen wie immer. Dabei war sie extrem neugierig zu erfahren, was los war.

»Typisch«, sagte sie und stand ebenfalls auf. »Ich habe drei Wochen gebraucht, um mich in die Erpressungssache einzuarbeiten, und jetzt, wo ich endlich Fortschritte mache, werde ich zu einem anderen Fall abberufen.«

»Ah, tut mir leid«, sagte Lightman mit einem Grinsen. »Meine Schuld. Du hast einen gut bei mir.«

Und damit verließ er das Besprechungszimmer ohne ein weiteres Wort. Hanson sah ihm schlechtgelaunt nach. Eine Erklärung hätte nicht wehgetan, dachte sie.

Aber vielleicht brauchte sie auch gar keine Erklärung. Es war Freitagabend, und Lightman hatte offenbar keine Probleme, weibliche Aufmerksamkeit anzuziehen. Irgendeine Frau, die versuchte, ihn anzumachen, gehörte zum festen Programm ihrer Pub-Abende. Und sie wusste, dass er schon mit Frauen ausgegangen war.

Gut, dachte sie. Soll er zu irgendeinem Date gehen, während ich die harte Arbeit erledige.

4.März – zwanzig Monate vorher

Die Hochzeitsparty war in vollem Gange und hatte sich in zwei Gruppen geteilt: Die eine drängte sich lautstark und erhitzt an der langen schmalen Bar des Hotels, die andere war eine dezent beleuchtete Plauderrunde in dem größeren Speisesaal auf der anderen Seite der Lobby, wo immer noch sieben oder acht Tische besetzt waren.

Zoe hatte sich auf den Weg zur Bar gemacht, jedoch irgendwann den Versuch aufgegeben, einen Drink zu bestellen. Das Problem mit kostenlosen Getränken war, dass alle zu viel bestellten, weshalb alle lange warten mussten und die Situation weiter verschlimmerten, indem sie, wenn sie endlich an der Reihe waren, Getränke auf Vorrat orderten. Deshalb kehrte Zoe mit leeren Händen in den Speisesaal zurück, wo Angeline in ein ernstes Gespräch mit Maeve vertieft war.

Vorhersehbarerweise hielt Maeve Angeline einen leidenschaftlichen Vortrag über positives Denken.

»Hör zu, also, ich meine, ich weiß, dass ich dauernd darüber rede, aber es geht nicht nur darum, sich zu ermahnen, dass man sich selbst aufmuntern muss. Es geht darum, sich zu entscheiden, glücklich zu sein. Sich innerlich und auch laut zu sagen, dass man ein wertvoller Mensch ist.« Maeve hielt sich eine offene Hand vors Gesicht. »Ich sage es mir vor dem Spiegel. Ich sage: ›Ich bin stark, und ich bin schön, und ich bin liebenswert.‹ Und es hilft.«

Zoe musste lächeln. Maeve glaubte so entschieden an die Kraft positiven Denkens, wie sie an Gott glaubte, und sie wiederholte entschlossen ihre persönlichen Mantras darüber, wie sehr sie sich und all jene liebte, die sie verschmähten. Das Problem war nur, dass Maeve von Natur aus alles andere als ein geduldiger und optimistischer Mensch war, und egal wie oft sie sich all diese Dinge einredete, schimmerte manchmal eine ehrlichere Version ihrer selbst durch. Eine, die die Nase von allem voll hatte und andere Menschen bedürftig und nervig fand.

Victor, der rechts neben Maeve saß, spielte mit den Glückssteinen, die auf dem Tisch liegen geblieben waren. Eigentlich sollte man eine Botschaft darauf schreiben und sie in einen Krug legen, doch Victor ignorierte die Stifte und schob die Steine zu einem Haufen zusammen. Er sah aus, als wäre er schlechtgelaunt. Was kaum überraschend war. Offenbar hatte er bis vier Uhr morgens Videospiele gespielt, außerdem fühlte er sich selbst ausgeruht bei gesellschaftlichen Anlässen wie diesem nie sehr wohl.

Zoe ließ sich auf den Stuhl neben ihm sinken und fragte sich, wie sie ihn aus seiner Stimmung herausreißen konnte. Zum Tanzen konnte sie ihn nicht bewegen, obwohl die Band an der Stirnseite des Saales sich als halbwegs brauchbar erwies.

Sie fühlte sich erschöpft. Während des Abendessens hatte es einige angespannte Momente gegeben. Ginas Cousin, ein lauter, wichtigtuerischer Mann um die fünfzig, hatte beobachtet, wie Angeline »zu rosa« gemurmelt und einen Teller mit Räucherlachs weggeschoben hatte. »Komm schon! Hau rein!«, hatte er zu ihr gesagt. »Niemand mag dürre Mädchen!«

Die Wirkung war unmittelbar und verheerend gewesen. Angeline war aschfahl geworden, aufgesprungen und aus dem Saal gestürzt. Maeve hatte Zoe mit hilfloser Miene kopfschüttelnd angesehen, und Zoe war Angeline nachgeeilt. Sie hatte sie weinend in einer Kabine der Damentoilette gefunden und zwanzig Minuten gebraucht, um sie zur Rückkehr an den Tisch zu überreden. Bis dahin waren die Vorspeisen abgeräumt und das aufgetischte Beef Wellington fast kalt.

Während des weiteren Essens hatte es zehn ruhige Minuten gegeben, bis Maeve aufgestanden war, um sich mit der Braut zu unterhalten, stolperte und eine schlanke Frau Mitte vierzig in einem elfenbeinfarbenen Seidenkostüm mit Rotwein bekleckerte. Natürlich hatte es eine Sauerei gegeben, doch das Opfer war trotz Maeves ausgiebiger Entschuldigung boshaft und zickig geblieben, hatte jede Hilfe beim Aufwischen abgelehnt und erklärt, dass ihr Kostüm ruiniert sei und ersetzt werden müsse.

Schließlich hatte Maeve die Frau laut angefaucht: »Sie haben Wein auf Ihre Kleider bekommen, na und? Deswegen müssen Sie sich nicht benehmen wie ein Arschloch. Sie sind erwachsen und sollten langsam wissen, dass nicht immer alles nach Ihren Wünschen läuft, okay?«

Zoe hätte ihre Freundin liebend gern abgeklatscht, aber weil der gesamte Tisch des Brautpaars herübergestarrt hatte, musste sie ihre Schadenfreude unterdrücken. Aber sie hatte Ginas Blick aufgefangen und ihr zugezwinkert.

Victor hatte sich während des gesamten Essens benommen und es sogar geschafft, Ginas anderen Cousin in eine politische Diskussion zu verwickeln, die freundlich geblieben war. Er hatte sich höflich die Reden der anderen angehört, und Zoe war unendlich dankbar gewesen, dass er seinen Jähzorn im Zaum hielt.

Aber jetzt hatte sie ein flaues Gefühl im Magen. Sie erkannte die Anzeichen. Er versank in schlechter Laune, und meistens konnte nur Zoe ihn wieder herausreißen. Aber selbst sie war nicht immer erfolgreich, und das Bemühen, ihn irgendwie zu bändigen, konnte erschöpfend sein.

Sie versuchte es mit einem naheliegenden Thema. »Guck dir mal die verdammte Torte an«, sagte sie und stand auf.

Victor erhob sich nicht mit ihr, deshalb näherte sie sich allein der Kreation in Pink und Weiß und zückte ihr Handy, um ein Foto zu machen. Sie wusste, dass Gina die Torte selbst gemacht hatte. Gott, sie war wirklich gut.

Sie wartete, dass Victor sich noch zu ihr gesellen würde, aber er blieb sitzen, und es war Felix, der irgendwann an ihrer Seite auftauchte. Der Silberfuchs, wie die anderen Kellnerinnen ihn nannten. Er war ein Stammgast des Cafés, immer elegant gekleidet und der attraktivste Mann über fünfzig, den Zoe kannte. Wie die anderen weiblichen Baristas flirtete auch Zoe gern locker mit ihm und tauschte Komplimente aus; die Galanterie, mit der er darauf einging, war immer ein Höhepunkt des Tages.

Als sie ihn jetzt sah, in seinem hellgrauen Anzug und der azurblauen Krawatte noch weltmännischer als üblich, musste sie lächeln. »Todschick!«

»Das wollte ich gerade sagen«, erwiderte er und beugte sich vor, um Zoe flüchtig zu umarmen. »Sie sollten ernsthaft erwägen, dieses Outfit zur Arbeit zu tragen«, fügte er lächelnd hinzu.

»Ha, es wäre binnen Minuten ruiniert«, entgegnete sie. »Sie haben ja keine Ahnung, wie viele Flecken ein schwarzes T-Shirt verbirgt.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Schön, dass Sie hier sind. Ich habe Sie bei der Trauung gar nicht gesehen.«

»Ich war zu spät«, sagte er mit einem angedeuteten Seufzer. »Meine Mieterin hatte sich ausgesperrt, und dann hat sich herausgestellt, dass sie den Schlüssel in Wahrheit seit Wochen nicht mehr gesehen und die Tür seitdem einfach angelehnt hatte. Ich musste also ein neues Schloss besorgen und anbringen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich überlege, im Fragebogen für meine potenziellen Mieter abzufragen, wie organisiert jemand ist. Und vielleicht um einen Prokrastinationstest.«

»Oh, ich helfe Ihnen!«, bot Zoe an. »Ich habe neulich eine Dokumentation darüber gesehen, wie man erkennt, ob jemand lügt.«

»Sie sind engagiert«, sagte er. »Dafür kriegen Sie zehn Prozent von meinem Stück von der Hochzeitstorte.«

»Hey! Ich will mindestens die Hälfte.«

»Ich sag Ihnen was, wie wär’s wenn ich Ihnen einen Gin spendiere, und Sie dürfen den ganzen Kuchen behalten?«

»Wenn Sie sicher sind, dass Sie sich bis zur Bar durchschlagen können«, sagte Zoe und zog eine Augenbraue hoch.

Felix legte einen Arm um ihre Schulter. »Deswegen müssen Sie mitkommen und mich beschützen.«

Und dann war auf einmal Victor neben ihnen und sagte leise und unfreundlich: »Verzeihung. Haben Sie sie gefragt, ob Sie sie anfassen dürfen?«

Felix ließ den Arm sinken und sah Victor erstaunt an.

»Alles in Ordnung, Victor«, sagte Zoe bemüht locker. »Ich wollte ihm bloß helfen, sich an die Bar vorzukämpfen.«

Victor machte einen Schritt auf Felix zu. »Sie ist nicht bei der Arbeit. Sie können gehen, sich Ihren Drink holen und sie in Ruhe Spaß haben lassen.«

»Victor«, sagte Zoe und spürte die Hitze in ihrem Gesicht.

»Schon okay«, sagte Felix ruhig und nickte Victor zu. »Ich verstehe, dass Sie auf Ihre Freunde aufpassen. An Orten, wo der Alkohol in Strömen fließt, können Menschen verwundbar sein. Besser, man gibt aufeinander acht.«

Es folgte ein langes angespanntes Schweigen, Victor starrte Felix an. Und Victor konnte wirklich starren. Sie hatte gesehen, wie jüngere, kräftigere Männer vor ihm zurückgewichen waren. Aber Felix wirkte nicht im Geringsten eingeschüchtert.

Das Blickduell wurde unterbrochen, als die Band auf der anderen Seite des Raumes die Mikrophone testete. Felix lächelte. »Ich steuere die Bar an. Ihr jungen Leute solltet tanzen.«

Zoe fasste Victors Arm und spürte die angespannten Muskeln in seinem Unterarm, während er Felix nachsah. Sie versuchte zu lachen. »Wir sind junge Leute. Das bedeutet, wir müssen tanzen.«

»Auf keinen Fall«, sagte Victor, dessen Blick immer noch an Felix’ sich entfernender Gestalt klebte.

»Im Ernst«, sagte Zoe, »mach dir seinetwegen keine Gedanken. Er ist eine alte Tunte, die gern flirtet, und wäre beschämt, denken zu müssen, dass er sich danebenbenommen hat.«

»Er ist schwul?«, fragte Victor.

»Ja, alle Mädchen glauben das«, sagte Zoe überzeugter, als sie war. In Wahrheit hatte sie keine Ahnung von Felix’ sexueller Orientierung, und es war auch vollkommen belanglos. Er war so alt wie ihr Vater, Herrgott noch mal.

Angelockt von der Musik, strömten zahlreiche Gäste zurück in den Speisesaal. Zoe fragte sich, ob Gina und Michael den Tanz eröffnen würden, doch die Musik, die gespielt wurde, war eher lebhaft. Offensichtlich wollte man die anderen Gäste zum Tanzen animieren.

»Die Bar leert sich«, sagte Zoe. »Geh und rette Angeline vor dem Lebensphilosophie-Vortrag, und ich besorg uns Jägerbombs.«

Victor sah sie skeptisch an, setzte sich jedoch in Bewegung, als sie ihm einen Stups gab.

Lächelnd ließ sie ihn zurück, doch als sie sich einen Weg durch die tanzende Menge bahnte, fühlte sie sich noch erschöpfter als zuvor. Die Sorge um Victor und seinen Jähzorn war wie ein zusätzliches Gewicht, das sie mit sich schleppte.