Nerds - Annekathrin Kohout - E-Book

Nerds E-Book

Annekathrin Kohout

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Beschreibung

Nerds – das sind ungepflegte junge Männer in Holzfällerhemd, Hochwasserhose und Hornbrille, die sich für Computer interessieren und bei Frauen nicht sonderlich beliebt sind. Oder? Annekathrin Kohout zeichnet in ihrem Buch eine viel facettenreichere Geschichte nach. Sie führt vom spießigen Streber über den genialen Computerfreak bis hin zum Alten Weißen Mann. Dadurch gelingt ihr ein rasanter Ritt durch die Populärkultur und das Zeitalter der Informationsgesellschaft. Als das Informationszeitalter in den 1980er Jahren in seinen Anfängen steckte, galten Nerds als misanthropische Freaks und kauzige Streber. Während sie ihre Freizeit im heimischen Keller an komplizierte Geräte vergeudeten und sich von Tiefkühlpizza ernährten, genossen die High-School-Schönlinge ihre gesellschaftlichen Privilegien in vollen Zügen. Doch der Erfolg neuer Informationstechnologien läutete einen ungeahnten Siegeszug der Nerdfigur ein. Nerds, damit verbanden sich nun Namen wie Bill Gates und Steve Jobs. Aus den einstigen Außenseitern wurden charismatische Insider: «Nerdig» wurde das neue «cool». Doch seit den 1990er Jahren wird die männliche, weiße, privilegierte Nerdfigur hinterfragt und politisiert. Gerät der smarte Silicon Valley-Nerd im Licht dieser neuen Diskurse gar zum Alten Weißen Mann? Ist die große Zeit dieser für ein paar Jahrzehnte so wichtigen Sozialfigur schon wieder vorbei? In ihrem Buch zeigt die Kulturwissenschaftlerin und Bloggerin Annekathrin Kohout die wechselvolle Geschichte des Nerds, die zugleich eine Geschichte der Populärkultur und der Informationsgesellschaft ist.

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Annekathrin Kohout

NERDS

Eine Popkulturgeschichte

C.H.Beck

ÜBER DAS BUCH

Als das Informationszeitalter in den 1980er Jahren in seinen Anfängen steckte, galten Nerds als misanthropische Freaks und kauzige Streber. Während sie ihre Freizeit im heimischen Keller an komplizierte Geräte vergeudeten und sich von Tiefkühlpizza ernährten, genossen die High-School-Schönlinge ihre gesellschaftlichen Privilegien in vollen Zügen. Doch der Erfolg neuer Informationstechnologien läutete einen ungeahnten Siegeszug der Nerdfigur ein. Nerds, damit verbanden sich nun Namen wie Bill Gates und Steve Jobs. Aus den einstigen Außenseitern wurden charismatische Insider: «Nerdig» wurde das neue «cool». Doch seit den 1990er Jahren wird die männliche, weiße, privilegierte Nerdfigur hinterfragt und politisiert. Gerät der smarte Silicon Valley-Nerd im Licht dieser neuen Diskurse gar zum Alten Weißen Mann? Ist die große Zeit dieser für ein paar Jahrzehnte so wichtigen Sozialfigur schon wieder vorbei? In ihrem Buch zeigt die Kulturwissenschaftlerin und Bloggerin Annekathrin Kohout die wechselvolle Geschichte des Nerds, die zugleich eine Geschichte der Populärkultur und der Informationsgesellschaft ist.

ÜBER DIE AUTORIN

Annekathrin Kohout ist Kulturwissenschaftlerin, Bloggerin (sofrischsogut.com) und Redakteurin der Zeitschrift «Pop. Kultur und Kritik» sowie Mitherausgeberin der Buchreihe «Digitale Bildkulturen». Von ihr erschien zuletzt das Buch «Netzfeminismus» (2019).

Twitter: @kohout_a

Instagram: @kohout

INHALT

ONLINE GEHEN: PROLOG

TEIL 1

JEDER MENSCH IST EIN NERD – EINFÜHRUNG

DIE SOZIALFIGUR «NERD» – WIE ANSCHAUUNGEN VERKÖRPERT WERDEN

DER BÜRGERLICHE SPIESSER – WIE DER NERD AUS DEM SQUARE HERVORGING

KEIN COOLHUNTER – DIE ANFÄNGE DES NERDS IM TEEN MOVIE

FOUR EYES UND PIZZA FACE – «WIR NENNEN UNS NICHT SO, ANDERE MACHEN DAS!»

DIE UNBELIEBTHEIT DES VERSTANDS – DER NERD ALS MOTIV DES ANTI-INTELLEKTUALISMUS

DIE RACHE DES NERDS – VOM AUSSENSEITER ZUM ÜBERFLIEGER

DER COMPUTER-NERD – DAS MECHANISCHE GENIE

EIN COMPUTER IST AUCH NUR EIN MENSCH – NERDS, HACKER UND GAMER ZWISCHEN MASCHINENKRITIK UND TECHNIKOPTIMISMUS

TEIL 2

NERDS UND POPKULTUR – EINE BESONDERE GELEHRTHEIT

DER SILICON-VALLEY-NERD – HARMLOSER WELTVERBESSERER ODER HARTHERZIGER NEOLIBERALER?

DER PRIVILEGIERTE NERD – MÄNNLICH, WEISS, HETEROSEXUELL

«BLERDS» UND «BLACK GIRL NERDS» – ANEIGNUNG ODER ANPASSUNG?

«IT’S THE COMPUTER AGE, NERDS ARE ‹IN›!» – VOM ÜBERFLIEGER ZUM MASSENPHÄNOMEN

DER PENSIONIERTE NERD – EIN ALTER WEISSER MANN?

FILMVERZEICHNIS

REGISTER

ANMERKUNGEN

ONLINE GEHEN: PROLOG

JEDER MENSCH IST EIN NERD

DIE SOZIALFIGUR «NERD»

DER BÜRGERLICHE SPIESSER

KEIN COOLHUNTER

FOUR EYES UND PIZZA FACE

DER NERD ALS MOTIV DES ANTI-INTELLEKTUALISMUS

DIE RACHE DES NERDS

DER COMPUTER-NERD

EIN COMPUTER IST AUCH NUR EIN MENSCH

NERDS UND POPKULTUR

DER SILICON-VALLEY-NERD

DER PRIVILEGIERTE NERD

BLERDS

«IT’S THE COMPUTER AGE, NERDS ARE ‹IN›!»

DER PENSIONIERTE NERD

ONLINE GEHEN: PROLOG

In meiner Kindheit war es beliebt, davon zu sprechen, ins Internet würde man «abtauchen», so als begebe man sich in eine tiefe, bedrohliche, unerforschte Finsternis. Dazu passt, dass der erste Computer in meinem Elternhaus Mitte der 1990er im halbdunklen Keller stand.

Die Zeiten, in denen meine Schwester und ich das Internet benutzen durften, wurden streng festgelegt. Es gab Zeitspannen von höchstens einer Stunde pro Kind, denn das Netz war nicht nur teuer, sondern – man kann es sich gar nicht mehr vorstellen! – es blockierte zudem das Telefon. Folgte man der Medienberichterstattung, gingen entweder Kinder online, um sich Klingeltöne herunterzuladen und fiktive Profile auf den ersten sozialen Plattformen anzulegen, oder Männer mittleren Alters, die man sich überwiegend hässlich, hellhäutig und pädophil vorstellte.

Online und Offline, das waren zu dieser Zeit zwei Welten, die nichts miteinander zu tun hatten und auch nichts miteinander zu tun haben mussten. Für mich war «Online» ein paradiesischer Ort, an dem ich sein konnte, wer ich gerne gewesen wäre, hätte ich es mir aussuchen können. Ich konnte mein Aussehen fingieren, wie es mir als Ideal vorschwebte, ich konnte mir einen Namen geben, den ich selbst schön fand, und vor allem konnte ich schreiben, was ich wollte, ohne dass es auf meine echte, bürgerliche Identität Einfluss genommen hätte. Ich machte erste Erfahrungen mit einer intellektuellen und visuellen Selbstbestimmung, der man sich mittlerweile wieder eigens ermächtigen muss.

«Uboot» war bezeichnenderweise meine Lieblingsplattform. Uboot war in neongrün und pechschwarz gestaltet. Das passte nicht nur zum Image des Internets, das als dunkel und gefährlich galt – sondern auch zum Keller, in dem ich meist ganz allein saß. Ja, mit dem Uboot tauchte man in die Tiefen des Internets der 1990er Jahre ein, und zwar anonym, da die Aufforderung zur Preisgabe von persönlichen Daten für viele noch neu und deshalb mit Hemmungen verbunden war. Im Internet war damals alles erlaubt, dort nahm man vieles noch nicht so genau wie in der realen Welt. Die Onlinewelt war eine Parallelwelt mit maximalen Freiheiten. Sie war kein öffentlicher Raum, in dem Konventionen oder gar Regeln herrschten. In der Onlinewelt wurde alles von den Nutzern selbst gestaltet.

Sosehr die meisten im Internet einen gefährlichen Ort vorzufinden glaubten, war er also umgekehrt für all jene, die nicht immer eingeladen waren, am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren, ein – wie man heute sagen würde – Safe Space. Ja, soziale Plattformen im Internet (besonders Chatrooms) waren geschützte Räume für Ausgegrenzte oder solche, die sich so fühlten. Sie wurden zur Heimat für alle, die sich lieber – oder zumindest besser – verbal als mimisch oder gestisch ausdrückten. Wer ins Internet ging, dem unterstellte man sogar, sich verstecken zu wollen.

Doch die Einstellungen der Onlinewelt gegenüber haben sich stark verändert. Die meisten Menschen stehen den Entwicklungen im digitalen Bereich nicht mehr so kritisch gegenüber wie noch in den 1980er und 1990er Jahren. Das liegt nicht nur an der Notwendigkeit, entsprechende Dienste zu nutzen und der damit verbundenen Unmöglichkeit, sich ihnen zu verweigern. Sondern auch daran, dass sich an der Befürwortung und Nutzung digitaler Technologien kein Generationenkonflikt mehr entspinnt.

Die Internetkultur ist mittlerweile so alt, dass sie eigene Traditionen hervorgebracht hat und bereits an vielen Orten historisiert wurde: sei es in Wissenschaft und Forschung, Literatur und Kunst oder innerhalb verschiedener Retrophänomene in der Netzkultur selbst. Diese Entwicklung hat die Entstehung eines digitalen Bildungsbürgertums ermöglicht, das mit dem Wissen über die Netzkultur ähnlich verfährt wie ehedem beispielsweise mit kanonisierter Literatur. So können ältere Digital Natives sich nun wiederum von jüngeren absetzen, auf ihre eigenen Traditionen verweisen und sich daran erinnern.

Nicht nur als Digital Native, sondern vor allem als Kulturwissenschaftlerin hat mich diese Entwicklung interessiert. Wie und mit welchen Mitteln sollte ich sie aber untersuchen? Welcher Untersuchungsgegenstand war geeignet, um die von mir zunächst nur so empfundenen Veränderungen zu veranschaulichen und damit auch zu verifizieren? Es musste sich um einen Gegenstand handeln, von dessen jeweils neu gestalteten Verwendungsweisen auf Anschauungen, Funktionen, Zeitgeschehnisse und vielleicht ja noch viel mehr geschlossen werden kann. Ein Gegenstand, der es den Menschen ermöglicht, sich und andere zu positionieren und zu bewerten und speziell ihren Umgang mit Computer- und Internet-Technologie zu beschreiben. Ich fand diesen Gegenstand in der Figur des Nerds.[1]

TEIL 1

JEDER MENSCH IST EIN NERD

EINFÜHRUNG

Als ich angefangen habe, Freunden und Kollegen davon zu erzählen, dass ich ein Buch über Nerds schreibe, hat sich eine seltsam einhellige Reaktion eingestellt. Immer wieder wurde ich gefragt, ob ich mich denn selbst für einen Nerd hielte. Das überraschte mich. Nicht nur, weil es mir fragwürdig erschien, dass offenbar gemeinhin angenommen wird, man identifiziere sich als Kulturwissenschaftlerin zwangsläufig mit dem eigenen Untersuchungsgegenstand, sondern vor allem, weil ich nun wirklich nicht gerade dem Bild entspreche, was man sich lange Zeit von einem Nerd machte: jemandem, der Hornbrille trägt, unsozial und misanthropisch ist, im Keller haust und sich von Tiefkühlpizza ernährt, Allergien hat und unbeliebt ist. Stellt man sich unter einem Nerd nicht jemanden vor, der sich in besonderem Maße für Technik und Computer oder für Comics und Spiele interessiert?

Die Nachfragen waren ein Zeichen dafür, dass sich das Bild des Nerds offentbar verändert, erweitert, differenziert hat. Dass sogar eine Frau mittleren Alters, die sich um gesunde Ernährung bemüht und für Mode interessiert, ohne überdurchschnittlich technikaffin zu sein, als nerdig durchgehen kann. Scheinbar assoziiert man mit dem Nerd nicht mehr nur das Stereotyp vom pickeligen Brillenträger, sondern vielmehr einen Habitus: Man ist nicht mehr ein Nerd, sondern agiert auf irgendeine Weise nerdig. Mir wurde schlagartig klar: Der witzige Meme-Slogan aus dem Internet – «nerd is the new cool» – ist ernst gemeint. Er belegt zudem, dass «nerdig» gegenwärtig auch als Bewertungsinstrument für ästhetische Urteile zum Einsatz kommt und als Werkzeug der Distinktion dienen kann, wenngleich er als solches jetzt schon kaum noch geeignet scheint, weil der Begriff Teil der Massenkultur geworden ist. Mittlerweile gibt es kaum einen Film oder eine Serie, die ohne Nerds auskommt – und immer häufiger werden ihnen die Hauptrollen eingeräumt. Aus der Nerdfigur ist zudem ein über den technischen Bereich hinausgehendes Konsumphänomen geworden. Ihr äußeres Erscheinungsbild wurde als begehrenswerter Stil entdeckt und von zahlreichen Modekollektionen der letzten Jahrzehnte adaptiert. Der Begriff wird vielfach in Werbung und in der Markenbildung eingesetzt.

Als einer der Ersten in Deutschland hat Max Goldt den Nerd in einer Titanic-Kolumne von 1997 pointiert beschrieben: «Seit ich zurückdenken kann, gibt es junge Männer, die sich abends statt auszugehen daheim einem Steckenpferd widmen, sich von Mirácoli ernähren, keine Freundin haben, darunter nicht groß zu leiden scheinen und hellblaue Oberhemden und Hosen mit Gürtelschleifen, aber ohne Gürtel, tragen. Vor einem Jahr hörte ich erstmals das Wort ‹Nerd›. […] Er, der Außenseiter ohne Pein. […] ‹Nerds› haben sehr große Schlüsselbünde und sehr kleine Kaffeemaschinen.»[1] Dieses stereotype Bild vom Nerd hat Vorläufer, es gibt Überschneidungen mit anderen Figuren – dem Streber, dem Eierkopf, dem Hacker, dem Freak, dem Geek, dem Boffin, dem Otaku und einigen mehr. Gemein ist diesen Begriffen, so viel vorab, dass sie für die Kehrseite des Schönen und Gefälligen, des Zugänglichen und Verständlichen stehen. Nerdig zu sein bedeutet abzuweichen, aber nicht absichtlich oder gar programmatisch. Nerdig ist man, wenn einem die Abweichung unterläuft. Wenn einem egal ist, wie man sich kleidet, ernährt, in einer Gesellschaft verhält. Der Nerd hat deshalb viel mit Authentizität zu tun. Auch wenn er nicht gemocht wird – glaubwürdig erscheint er allemal. Nerdig zu sein ist keine Attitüde – glaubte man zumindest bisher.

Wie keine andere Figur steht der Nerd für das Informationszeitalter, ist mit Computertechnologie ebenso assoziiert wie mit der Gamekultur und wird auf eine Weise mit der Idee von Innovation verbunden wie ehedem die künstlerische Avantgarde. Eine beliebte Erzählung lautet, dass Nerds ungefähr in den 1980er und 1990er Jahren einen Imagewandel erlebten: Als die Technikskepsis noch Common Sense war, wurde der Nerd deutlich häufiger als sozial inkompetenter, unhygienischer Eigenbrötler beschrieben; heute nimmt man ihn überwiegend als charismatischen Insider wahr, als Eingeweihten, der alle Codes knackt und daher nicht nur die technische, sondern auch die gesellschaftliche Gegenwart mehr als die meisten anderen prägen kann. Das stimmt zum Teil, es wird aber deutlich werden, wie vielschichtig und verzweigt diese Entwicklung vonstattenging.

In kulturellen Debatten und gesellschaftlichen Diskursen nimmt der Nerd eine Schlüsselstellung ein. Widmet man sich seiner Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, wird deutlich, wie sich unsere Erwartungen und Wünsche in Bezug auf den technischen Fortschritt und Innovation verändert haben. Es geht in meinem Buch also nicht zuletzt um das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die entsprechende Werte, Sichtweisen und Interessen in die Figur des Nerds projiziert. Seine Geschichte mit all ihren Charakterisierungen und Umdeutungen ist zugleich eine Geschichte unseres Verhältnisses zur Technik- und Internetkultur, zu Freizeit und Arbeit, zu Konformismus und Nonkonformismus, zum Populären und Unpopulären, zum Schönen und Hässlichen, wie auch zu Fragen der Identität – der geschlechtlichen und ethnischen Zugehörigkeit.

Der Nerd ist eine Sozialfigur und als solche zeittypisch. Für ihr Entstehen gibt es gesellschaftliche, kulturelle, politische Gründe, und sie dient umgekehrt dazu, unsere Gegenwart zu beschreiben, zu analysieren und nicht zuletzt mitzugestalten. Eine Sozialfigur hat kaum feste Merkmale oder Eigenschaften. Nur so viele wie nötig, um wiedererkennbar zu sein, aber zugleich so wenige wie möglich, um allseits anschlussfähig zu bleiben.

Ob Mark Zuckerberg oder Daniel Düsentrieb, Harry Potter oder Michel Houellebecq: Auf alle trifft die Bezeichnung «Nerd» unter ganz bestimmten Voraussetzungen zu, sie alle lassen sich in irgendeiner Weise als Nerd beschreiben, andererseits aber auch wieder nicht – entscheidend bei solchen Zuordnungen ist, wie sinnvoll oder gar notwendig die Bezeichnung als Nerd jeweils ist. Die Tatsache, dass der Nerd in Relation zu so unterschiedlichen Figuren, aber auch Phänomenen gesetzt werden kann, zeigt – und das werde ich noch genauer ausführen –, wie stark diese Sozialfigur wirkt.

Inzwischen sind wir alle irgendwie zu Nerds geworden: Internet-Nerds, Fashion-Nerds, Food-Nerds, Sport-Nerds, neulich stieß ich sogar auf einen Instagram Account, der sich «Disney-Nerds» nannte – auf dem Profilbild sah man eine schrullige Arielle mit schwarzer Hornbrille. Und weil nun alles und jeder als nerdig oder Nerd bezeichnet werden kann, wird man sich nicht mehr lange selbst als Nerd inszenieren wollen. Die Figur überrascht kaum noch, erschöpft sich so langsam und wird sich deshalb womöglich in andere Richtungen weiterentwickeln.

Dass die Nerdfigur an Relevanz verliert, merkt man aber nicht nur an ihrer Bedeutungsvielfalt, die eine Verwendung willkürlich erscheinen lässt, sondern auch daran, dass ihre einstmals negativen Konnotationen unter neuen gesellschaftlichen Vorzeichen zurückkehren: Seit einiger Zeit wird aus den Reihen des Feminismus etwa kritisiert, dass Nerds das Patriarchat unbemerkt in der Gegenwart fortführten. Warum sonst gebe es keine massenmedial etablierte weibliche Form der Bezeichnung «Nerd» – oder warum seien Nerds überwiegend männlich? Lebe im Computergenie nicht die fragwürdige Idee weiter, Männer seien intelligenter als Frauen? Verhindere die Nerdfigur als weiße, männliche Figur für People of Color und Frauen nicht sogar den Zugang zu Wissenschaft und Technik? Andere mutmaßten bereits, die Nerdfigur werde im Netz mittlerweile kulturell, ideologisch und personell derart von Trollen und Neuen Rechten okkupiert, dass sie über kurz oder lang nur noch mit unschönen Rassismen besetzt sein werde, was eine positive Ausdeutung nicht mehr zulasse – ähnlich wie im Fall des Internetmemes Pepe der Frosch. Tatsächlich scheint die bisher eher als unpolitisch bis links gedachte Nerdkultur anschlussfähig zu sein für rechte Ideologien. Sei es wegen des impliziten Überlegenheitsgefühls, das durch das Spezialwissen der Nerds gegenüber der übrigen Gesellschaft vermittelt wird, oder der Selbstmystifizierung, in der mithilfe einer Opfer- sowie Heldenerzählung auch gedankenloses, unsensibles oder ignorantes Verhalten gerechtfertigt wird.

Bis in die 1990er Jahre hinein begegnet einem der Nerd fast ausschließlich in populärkulturellen Produktionen und Debatten in den USA. Ein wirkliches Pendant im deutschsprachigen Raum hatte die in der amerikanischen Popkultur entstandene Figur zunächst nicht. Einzig der Streber wäre zu nennen, der sich allerdings in vielerlei Hinsicht vom Nerd unterscheidet. Zwar sind die meisten Pop-Phänomene nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland kulturelle Importe aus den USA oder Großbritannien gewesen, daher erscheint diese Übertragung auch nicht überraschend. Allerdings trat die Nerdfigur erst erstaunlich spät außerhalb Nordamerikas auf den Plan. Man hatte hierzulande offenbar lange Zeit keine Verwendung für sie. Erst im Zuge von Netzdebatten in den 2000er Jahren etablierte sich der Nerd als eigenständige Figur unter dieser Bezeichnung im deutschsprachigen Raum. Hierfür waren nicht zuletzt die Berichterstattung über die sich damals formierende Piratenpartei und deren Wahlerfolge im Jahr 2009 ausschlaggebend. Im selben Jahr wurde die Nerd-Serie «The Big Bang Theory» erstmalig in Deutschland ausgestrahlt. Schon in den 1990er Jahren, als die Nerdfigur in den USA bereits zur Modeerscheinung geworden war, kamen freilich subtil immer wieder Aspekte der Figur durch Trends wie den sogenannten «Nerd Chic» oder «Geek Chic» auch nach Deutschland. Der Nerd fand vereinzelt Erwähnung, allerdings ohne im größeren Stil thematisiert oder reflektiert zu werden. In der Alltagssprache wurde er ebenfalls lange nicht verwendet. Später ist der Nerd im Kern eine Figur der westlichen Welt geblieben, wenn es auch verwandte Figuren wie den japanischen Otaku im ostasiatischen Raum gibt.[2] Die Otaku-Figur und die damit verbundene Kultur (Mangas, Comics, Animes, Idols uvm.) haben zwar im Zuge der Globalisierung und des damit verbundenen interkulturellen Austauschs durchaus Einfluss auf die westliche Nerdkultur genommen – und tut dies weiterhin. Allerdings gibt es große Unterschiede aufgrund kultureller Eigenheiten. Zudem blieb der Nerd auch von den mit der Otaku-Kultur verbundenen ostasiatischen Diskursen weitgehend unberührt. Ich behandle den Nerd deshalb vor allem als eine US-amerikanische Figur.

Die Geschichte des Nerds wird vor allem innerhalb der Popkultur erzählt, in Serien, Filmen, Zeitungsartikeln, Alltagstexten, populären Sachbüchern oder Bestsellern. Es mag als experimentelle Quellengrundlage erscheinen, wenn im Folgenden Serienfiguren die gleiche Aufmerksamkeit erfahren wie ehedem Figuren aus der Hochliteratur, Steve Urkel genauso ernst und genau genommen wird wie bisher nur jemand wie Goethes Faust. Doch für die Evolution des Nerds spielten und spielen nicht die schöne oder gelehrte, die philosophische oder wissenschaftliche Literatur eine führende Rolle, sondern vor allem populäre und oftmals visuelle Medien.

Es handelt sich deshalb um eine Popkulturgeschichte. Und diese Popkulturgeschichte des Nerds birgt eine Reihe überraschender Entwicklungen und Wendungen. Zwar hat sie keinen eindeutigen Startpunkt, sondern sogar diverse Vorläufer, doch die Etablierung der Figur fällt in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts. Dafür waren vor allem Teen Pics verantwortlich, in denen der Nerd zunächst als Spießer und Streber dem rebellischen Außenseiter-Helden gegenüberstand. Erst in den 1960er Jahren gewinnt er in Teenager-Komödien selbst einen außenseiterischen Status. Während in Filmen und Serien der Sportler als anti-intellektuell imprägnierter Vertreter für eine weniger rebellische als vielmehr konventionelle jugendliche Mainstream-Männlichkeit steht, gerät der Nerd zum verspotteten, zerstreuten, aber durch spezialisierte Interessen auch versierten Eigenbrötler – und knüpft damit an die Tradition von Sonderlingsfiguren wie dem verrückten Professor oder dem sogenannten «Eierkopf» an. Seine Karriere – und damit verbunden die positive Umdeutung – beginnt gleichzeitig mit jener der Computerpioniere in den 1980ern. Das wirkmächtige narrative Schema der Rache des Nerds setzt sich in fast allen Beschreibungen der Figur in Filmen, Serien und Zeitschriftenartikeln durch. In den Biografien von Bill Gates, Steve Wozniak oder Steve Jobs findet es seine mythisch überhöhte Entsprechung, der Nerd wird zum Helden, zum Wunsch- und Vorbild für immer mehr Menschen.

Als alternative Galionsfigur der Computerwelt entwickelt sich aus dem Nerd der als Genie gefeierte wie gefürchtete Hacker sowie der popkulturenthusiastische Gamer, der mit den vorherrschenden linksalternativen Jugendkulturen so gar nichts mehr gemein hatte und damit erfrischend neu erschien. Daneben formierte sich ein spezifischer Silicon-Valley-Nerd, der anfänglich zwar als hippiesker Weltverbesserer beschrieben wurde, dem es um Freiheit und Gleichheit, ja um die Demokratisierung des Internets geht, der sich dann aber eher als hartherziger Neoliberaler herausstellte, der nach Erfolg, Geld und Macht strebt.

Da die Eigenschaften und Attribute des Nerdtums mittlerweile marktfähig geworden sind, differenziert sich die Nerdfigur seit einigen Jahren immer weiter aus. Angesichts der aufflammenden Kritik stellt sich vielleicht sogar die zugegeben polemische Frage: Muss der Nerd nun als alter weißer Mann in Pension geschickt werden?

DIE SOZIALFIGUR «NERD»

WIE ANSCHAUUNGEN VERKÖRPERT WERDEN

Die etymologische Herkunft des Begriffes «Nerd» lässt sich nicht eindeutig rekonstruieren.[1] Sicher ist: Bevor er im heutigen Sinnzusammenhang aufkam, gab es bereits verschiedene Versuche, den Typus, den er benennt, anderweitig zu beschreiben. In Deutschland wird beispielsweise zunächst und je nach Kontext von «Streber», «Eierkopf», «Computerkid» oder «Computerfreak» gesprochen, bis dafür kurzerhand der Begriff «Nerd» aus dem Amerikanischen importiert wurde. Doch bei «Nerd» handelt es sich nicht nur um ein Wort oder einen Begriff. Mit ihm sind auch eine mal mehr und mal weniger konkrete menschliche Gestalt sowie damit einhergehende Eigenschaften verbunden.

Unzählige Texte und Bücher zum Nerd haben deshalb die gleiche Neigung: Sie analysieren den Nerd immer auch als «Menschentyp» oder «Sorte Männer», als Summe von Charaktereigenschaften. Mir geht es hingegen um den Nerd als «Figur». Unabhängig davon, ob etwas eine rhetorische Figur, eine literarische Figur, eine Sozialfigur oder sogar eine geometrische Figur ist:[2] In dem Oberbegriff drückt sich bereits das Gestaltete aus, er verweist darauf, dass ein Stoff künstlich in Form gebracht wurde. Zugleich beinhaltet er aber auch das Modellhafte. Auch eine Sozialfigur wie der Nerd ist folglich immer konstruiert und schematisch, basiert zwar auf den Eigenschaften, Merkmalen oder Verhaltensweisen tatsächlich existierender Menschen, spitzt diese aber typologisch zu. Das heißt: Die Nerdfigur dient dazu, existierende individuelle eigenbrötlerische junge Männer zu beschreiben und zu einem kollektiven begreifbaren Typus mit ganz spezifischen Eigenschaften und einer relativ eindeutigen Optik zusammenzufassen. Dadurch ist die auf diese Weise entstandene Konstruktion «Nerd» dann so abgrenzbar und evident, dass man sich mit ihr identifizieren oder sie parodieren kann. Dass man auf die Idee kommen kann: Ich möchte ein Nerd sein – oder alles, bloß das nicht. Wenn sich aber kaum noch jemand mit dem Nerd identifizieren kann, bedeutet das im Umkehrschluss, dass er aufhört, weiter als Figur zu existieren. Insofern ist eine Figur wie der Nerd angewiesen auf Anerkennung von Rezipienten.

Sozialfiguren sind ein Werkzeug, «um denjenigen Fragen nachzugehen, die den Menschen der Gegenwartsgesellschaft ‹unter den Nägeln brennen›», heißt es in einem der wenigen grundlegenden Aufsätze zum Thema.[3] Sie dienen dazu, sich zu artikulieren, und sind in diesem Sinne durchaus vergleichbar mit Begriffen. Sie besitzen zudem eine eigene Geschichte und Herkunft, haben Vorläuferfiguren, die Aspekte ihrer Bedeutung bereits teilten und nur noch nicht so benannt waren.

Umso erstaunlicher, dass die Erforschung von Sozialfiguren in der soziologischen Zeitdiagnostik zwar seit einigen Jahren als eigenständiges Feld begriffen wird, es aber weder eine «Theorie der Sozialfigur» gibt noch eine Historisierung und Versuche benachbarter Disziplinen, die Konturierung von Sozialfiguren auch für kulturelle Analysen fruchtbar zu machen.

In einem Sammelband über «Sozialfiguren der Gegenwart» grenzen die Herausgeber Stephan Moebius und Markus Schroer Sozialfiguren explizit von gesellschaftlichen Rollen ab. Letztere ließen sich «meist einer bestimmten Sphäre des Sozialen zuordnen», etwa «Wähler im politischen, Väter im familiären» Bereich verorten etc.[4] Sozialfiguren – und das trifft auch auf den Nerd zu – zeichnen sich demgegenüber dadurch aus, «dass sie zwar aus verschiedenen Feldern stammen, ihre Tätigkeiten sich aber mehr und mehr verselbstständigen.»[5] So tritt der Nerd längst nicht mehr nur in seinen Herkunftsbereichen (Schule, Computer und Technik, Comics und Spiele) in Erscheinung. Das wird deutlich, wenn Naturliebhaber «Nature Nerds» genannt werden. Sogar im Sportbereich ist etwa von «Basketball Nerds» die Rede. Dass die Verwendung des Begriffs mittlerweile sogar gerade dann besonders effektvoll ist, wenn er mit seiner ursprünglichen Bedeutung bricht, zeigt zwar, wie evident der Nerd als Sozialfigur ist. Gleichzeitig verliert eine Sozialfigur aber auch ihre sozialdiagnostische Relevanz, wenn sie immer inflationärer verwendet wird.

Um als Ausdrucks- und Reflexionsform anwendbar und wirksam werden zu können, müssen Sozialfiguren eine gewisse Popularität ausgebildet haben. In diesem Sinne ist auch der Nerd durch wenige einprägsame Merkmale – seien es optische, wie die Brille, oder habituelle, wie Tollpatschigkeit – schnell und einfach zu erfassen, egal ob er jeweils als Held oder Anti-Held auftritt. Durch sein karikaturartiges Erscheinungsbild lässt er sich mit wenig Aufwand nachzeichnen, kopieren, wiederholen und damit verbreiten. Er tritt (deshalb meistens in klischeehaft vereinfachter Form) überwiegend in Filmen und Fernsehserien, Comics, Zeitgeistartikeln, Werbung und Internetphänomenen (z.B. Memes) in Erscheinung. Außerdem ist der Begriff «Nerd» Bestandteil der Alltagskommunikation.

Sozialfiguren verdichten und verhandeln den Zeitgeist. In ihnen kommen, so die Soziologen Sebastian J. Moser und Tobias Schlechtriemen, stets «krisenhafte Erfahrungen» zum Ausdruck, «auf die es noch keine klaren oder gar institutionalisierten Antworten gibt».[6] Sie vermitteln «Tendenzen […], zu denen sich die Zeitgenossen (noch) nicht klar positionieren können». Neue Sozialfiguren tauchen also meist dort auf, wo sich struktureller Wandel andeutet oder in Ansätzen bereits vollzieht. Sie gelangen «in Zwischenzeiten» an die Oberfläche und stehen «in enger Verbindung zu einer spezifisch historisch-sozialen Konstellation».[7] Der Nerd wurde durch die Entstehung und Etablierung der Computertechnologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts populär, steht also für den Übergang ins Informationszeitalter, bis er sogar zur stilgebenden Figur eines neuen Technikoptimismus avancierte. Aber er steht ebenso für den Übergang zu einer insgesamt weitaus kulturoptimistischeren Betrachtungsweise, einer Abnahme des Anti-Intellektualismus und eines (intellektuellen) Lobs und schließlich selbstverständlichen positiven Umgangs mit Populärkultur.

Jede Zwischenzeit hat einen Anfang und ein Ende: «Sobald innerhalb der sich wandelnden Verhältnisse neue normative Verhaltensstandards elaboriert werden konnten, verschwindet die Sozialfigur bzw. das ausgeprägte Interesse an ihr. Sie wird unattraktiv und gerät in Vergessenheit.»[8] Auch Gerd Stein hat bereits darauf verwiesen, dass es sich bei Kulturfiguren und Sozialcharakteren um «zeitgebundene beziehungsweise historische Gestalten» handle, die irgendwann aus dem Gebrauch verschwinden und in Alltag und Popkultur keine Verwendung mehr finden.[9] Doch auch wenn der Begriff ausgedient hat, bleiben verschiedene Eigenschaften oder Lebensweisen, die der Figur nachgesagt werden, erhalten. Sie gehen dann in anderen, neuen Figuren auf.[10] Daher stellen sich folgende Fragen, die ich auch beantworten möchte: Welche Figuren sind dem Nerd vorausgegangen? Welche begleiten ihn? Welche werden ihm folgen?

DER BÜRGERLICHE SPIESSER

WIE DER NERD AUS DEM SQUARE HERVORGING

Am 8. Oktober 1951 erschien im US-amerikanischen Nachrichtenmagazin «Newsweek» ein ausführlicher Artikel über die damals aktuelle Jugendsprache, zugleich ein lustig-ironisches Glossar der neuen Trendbegriffe und -sprüche. Mit «a double bubble» bezeichnete man zum Beispiel ein besonders attraktives «Girl», «hook» nannte man einen Verliebten, als «flookies» beleidigte man Idioten, zu einem fleißigen Burschen sagte man «book gooks» und von «nerd» sprach man neuerdings anstelle von «drip oder square».[1] «Drip» lässt sich mit «Null» übersetzen. Interessanter und etwas vielschichtiger ist hingegen der Begriff «Square», auch weil er heute noch synonym manchmal zu «Nerd» verwendet wird.[2]

In den 1950er Jahren spielte der Square als Typus für die Beat-Literatur eine wichtige Rolle, und zwar deshalb, weil er eine biedere Gegenfigur zum Selbstentwurf einiger damaliger Autoren als aufregende Beatniks darstellen sollte. Schon dem Namen nach meint der Square – nicht zufällig ein Begriff aus der Geometrie – eine Person, die konventionell und geradlinig ist, die für mathematisches Denken steht, aber auch den «Quadratschädel», der starrsinnig an seinen Werten festhält und nur schwer von etwas anderem zu überzeugen ist. Ein Quadrat ist keine originelle, keine freie Form, seine vier Seiten sind gleich lang und leicht zu berechnen. Es ist kein dynamisches oder gar kreatives Polygon, vor allem aber kommt es als Naturform im strengeren Sinne nicht vor, ist nicht natürlich, sondern gemacht oder konstruiert. Dem Square, dem Angestellten, dem spießigen Durchschnitts- oder Büromenschen stand der unkonventionelle, spontane, chaotische, kreative, irgendwie authentische Beatnik, ja die gesamte Beat-Generation als Jugend- und Subkultur gegenüber. Der Square verhielt sich zum Beatnik wie die Ameise zur Heuschrecke in der Fabel von Äsop: Hatte sich die Heuschrecke den ganzen Sommer über auf dem Feld amüsiert, sammelte die fleißige Ameise für den Winter Getreide. Als der Winter dann kam, musste die hungernde Heuschrecke betteln gehen, während die Ameise als Profiteurin hervorging.

In seinem Manifest «This is the beat generation», das 1952 in der Sunday New York Times veröffentlicht wurde, setzte John Clellon Holmes «square» in Anführungszeichen, um zu zeigen, dass er mit der Slang-Sprache der Beatniks vertraut war: «Im wildesten Hipster, der aus Bop, Drogen und dem Nachtleben ein eigenes Mysterium macht, […] gibt es nicht den Wunsch, die ‹square›-Gesellschaft, in der er lebt, zu zerschlagen, sondern nur, sich ihr zu entziehen.»[3] Der quadratisch-praktischen Elterngeneration wollten die Beatniks entkommen, aus der prüden, konformistischen, bürokratischen Nachkriegsgesellschaft mit ihren Hemden, Kühlschränken, Fernsehern und Automobilen aussteigen – denn durch sie werde man, wie es in einer berühmten Passage von Jack Kerouac heißt, eingekerkert in das «System von arbeiten, produzieren, konsumieren, arbeiten, produzieren, konsumieren.»[4] Dagegen führten die Beatniks das ungebundene, intensive Leben ins Feld, die «echten» Momente und authentischen Gefühle. Kreativität wird nicht durch Disziplin «erarbeitet», sondern ereignet sich geradezu, expressive Gesten werden durch spontane Inspiration oder ekstatische, erweiterte Bewusstseinszustände hervorgebracht.[5]

Sie kommen «mit Bärten und Sandalen» daher, schreibt Lawrence Lipton 1959 im Vorwort zu seinem Roman «The Holy Barbarians», der als Reiseführer in die Welt der Beat-Generation bezeichnet wurde.[6] Die Beatniks lassen sich den Bart wachsen und tragen ihre Hemden offen zu Jeans oder anderen Freizeithosen aus einem Second-Hand-Geschäft. Auf den Schlips verzichten sie natürlich, verkörpert er in ihren Augen doch die Einengung durch das bürgerlich-spießige Leben.[7] Während die Squares Normalos sind, die – wie Lipton abfällig-ironisch anmerkt – morgens oder nachmittags arbeiten oder heiraten, sind die Beatniks Nachtmenschen.[8] Formlosigkeit, Ungezwungenheit, Ungebundenheit und Authentizität gehören fortan zu den festen Wesensmerkmalen von Sub- und Jugendkulturen.

Aus heutiger Sicht hat dieser biedere Büro-Square nur wenig mit dem Nerd gemein. Doch dass sich die Bezeichnung «Square» seit den frühen 1950er Jahren mit der des «Nerds» deckt, verdeutlicht ihre ursprüngliche Verortung außerhalb hipper Sub- und Jugendkulturen. Der Nerd erhielt damit eine Funktion, die er teilweise noch heute besitzt: Von Nerds bzw. Squares konnten sich die coolen Angehörigen von Subkulturen positiv abgrenzen.

Besonders süffisant wird dieses banale Mittel der Distinktion vom Satiremagazin MAD 1960 hervorgehoben, als die Beatniks bereits überaus populär waren. Die September-Ausgabe zeigte die parodistische Werbung «RENT A ‹SQUARE› FOR YOUR NEXT BEATNIK PARTY».[9] Darauf abgebildet ist ein typischer wohlhabender bürgerlicher mittelalter Mann mit seiner «steifen Puppe». Interessanterweise wird dem Square, wie später auch dem Nerd, hier bereits die Fähigkeit aberkannt, eine «echte» Frau zu «erobern» – es reicht nur für eine leblose «Puppe» (beim Nerd ist es dann tatsächlich eine Puppe).

Mit der Unterschrift «ADD A NEW WILD KICK TO YOUR EVENING» amüsieren sich die Macher von MAD über die einsetzende Homogenisierung der Beatnik-Kultur, die in kürzester Zeit eigene Normen und Konventionen etabliert hatte.[10] Bei dieser fiktiven Werbung handelte es sich nämlich um eine Parodie auf ein echtes Unternehmen namens «Rent-A-Beatnik», das 1959 von Fred W. McDarrah in New York gegründet wurde. Bei McDarrah, der zu diesem Zeitpunkt hunderte von Beatniks kannte, mieteten gutbetuchte Bildungsbürger die verruchten Autoren, um sie auf ihren Partys Gedichte lesen zu lassen. Dabei sollten sie sich zwar ein bisschen rebellisch gerieren, aber natürlich auch nicht allzu «schmutzig» wirken. Aber auch in Square-Kreisen wurde der Beatnik instrumentalisiert. Die Squares nutzten ihre vermeintlich avantgardistischen Gäste, um sich selbst einen hippen Anstrich zu verleihen. MAD verspottete mit seiner Werbung die Heuchelei der Beatniks, die derartige Geschäfte sonst offen ablehnten.[11]

Die Kommunikationswissenschaftlerin Christine Quail hat diese spezielle Figurenkonstellation die «Hip/Square-Dialektik» genannt und verortet die Nerdfigur ebenfalls in die Tradition früher Square-Figuren.[12] Eine der ersten amerikanischen Fernsehshows, in der die beiden gegensätzlichen Figuren als Paar popularisiert wurden, war die von Max Shulman kreierte Sitcom «The Many Loves of Dobie Gillis» (1959–​63), in der die Hauptfigur Dobie (gespielt von Dwayne Hickman) den Square darstellt und sein Freund Maynard (gespielt von Bob Denver) den Beatnik. Während Dobie nach Erfolg, Geld und der Aufmerksamkeit schöner und unerreichbarer Mädchen strebt, allerdings selbst keine dieser Qualitäten im Überfluss besitzt, ist Maynard ein gesellschaftlicher Aussteiger, der sich keinesfalls von Frauen, wohl aber von Autoritätspersonen und Arbeit fernhält (er kreischt jedes Mal, wenn er das Wort «Arbeit» hört). Als begeisterter Fan von Jazzmusik spielt er Bongos und sammelt versteinerte Frösche. Er spricht immer in der Umgangssprache und dem Slang der Beatniks, die er bewundert, und neigt dabei zu Malapropismen.

Der (künstliche) Konflikt zwischen Beatniks und Squares ist wiederum eine kulturgeschichtliche Fortsetzung der älteren europäischen Unterscheidung zwischen Poeten und Philistern.[13] Auch sie waren einander unentbehrlich: Wie der Square als Negativfolie für den Beatnik fungierte, stellten auch die Poeten der Romantik ihre Philisterfeindlichkeit regelrecht aus. Ein Beispiel: 1811 teilte Achim von Arnim den Brüdern Grimm die Gründungsidee zu einer «deutschen Freßgesellschaft» mit, später ausgearbeitet zum «Vorschlag zu einer deutschen Tischgesellschaft».[14] Darin wurden, wie so oft, die spießigen Philister programmatisch aus dem künftigen Gesprächskreis verbannt.

Allerdings glich die Arnim’sche Tischgesellschaft selbst einem detailreich ausgearbeiteten Regelwerk, in dem haargenau festgelegt wurde, wann was zu welchem Preis konsumiert wurde, in welchen Abständen die Treffen stattfinden sollten, welcher Tagesordnung zu folgen war, wer kommen durfte – und vor allem: wer nicht. Neben den Philistern waren das Frauen und Juden. Die kokette Philisterkritik war folglich sehr gut mit Ressentiments verschiedener Art zu vereinbaren.[15] Eine spießigere, angestrengtere Tischrunde hätte man sich wohl kaum vorstellen können.

Während sich der Square als Sozialfigur kaum über einen längeren Zeitraum etablieren konnte, hat der hier erwähnte Philister eine lange Tradition, die vom 18. bis ins beginnende 20. Jahrhundert reicht.[16] Von ihm handelt auch der Text «Der Kleinstadtphilister» von Kurt Tucholsky, den dieser im Oktober 1920 unter dem Pseudonym «Ignaz Wrobel» in der Volkszeitung für die östlichen Grenzlande veröffentlichte. Darin kommt zu der üblichen Charakterisierung des Philisters ein Element hinzu, das erstaunlich gut die spätere Nerdfigur beschreibt: «Nun besteht das Wesen des Philisters vor allem darin», schreibt Tucholsky, «dass er sich einbildet, sein eingelernter Kram von Fortschritten der Technik, Geschichtsdaten, Zeitungsnotizen und geschäftlichen Handgriffen sei etwas Rechtes. Diese Gattung hat vor allem immer in Deutschland geblüht, wo unter Wilhelm der handgreifliche Erfolg alles und das Herz nichts war. Der Philister der modernen kleinen Stadt ist unduldsam und hartköpfig. Was da allabendlich in […] diese unpersönlich eingerichteten Stammtischzimmer rollt, will nichts von der fremden Welt wissen und weiß nichts von ihr.»[17] Er trage einen «weißen hohen Kragen» und wird von allen mit «Herr Kalkulator» angesprochen. Philister «haben zu Feld, Wald und Wiese kein Verhältnis mehr, so wie sie zu den Frauen und zum lieben Gott keines mehr haben.»[18]

Tauscht man «Stammtischzimmer» mit «Lan-Partys» aus und «Herr Kalkulator» mit «Herr Informatiker», könnte man sich unter dieser Beschreibung zweifellos auch einen Nerd vorstellen. Übrigens zeichnet Tucholsky in Anspielung auf die Figuren von Carl Spitzweg einen Philister, der einzig auf bestimmte Bereiche (und zwar solche, die mit Technik und Daten zu tun haben) fokussiert ist und dabei seine Gefühle («Herz») und sein Verhältnis zur Natur verliert. Solche autistischen Züge wurden später auch dem Nerd attestiert. Mit der früheren Bedeutung der Sozialfigur war Tucholskys technikskeptische Volte in den 1920er Jahren indessen nicht mehr in Einklang zu bringen, wurde der Philister doch bislang vor allem als bürgerlich, träge, antiquiert und gerade nicht als fokussiert oder technisch versiert dargestellt. Im Zeitalter der Romantik galt der Philister noch relativ einheitlich als stumpfsinniger, geistloser Spießer, der Bildungsphilister als jemand, der seine vermeintliche kulturelle Bildung bloß vorgibt: Im Zeitalter der Nervosität, in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, musste er für jede vermeintliche Fehlentwicklung in der Gesellschaft herhalten. Indem er, wie Gerd Stein in seinem Buch «Kulturfiguren und Sozialcharaktere» ausführt, «Positionen, die sich nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner bringen [ließen], geltend machen mußte», büßte er allmählich seine Aussagekraft ein.[19] Er wurde derart mit Bedeutungen überfrachtet, dass er als relevante Sozialfigur verschwand – ein Schicksal, das im 21. Jahrhundert auch dem Nerd drohen könnte.