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Nestwärme, die Flügel verleiht – Die Beziehung stärken - Ein Buch für alle Eltern, die sich wünschen, dass ihre Kinder zu starken und glücklichen Persönlichkeiten heranwachsen. - Vom Kleinkindalter bis in die Pubertät: Wie Eltern die Balance zwischen Bindung und Loslassen finden. Wie sie ihren Kindern gleichzeitig Wurzeln und Halt geben und Flügel und Freiheit schenken können. - Das Konzept vom "inneren Kind" angewendet auf die Erziehung – von den zwei erfahrenen Psychologinnen Stefanie Stahl (Das Kind in dir muss Heimat finden, Jeder ist beziehungsfähig) und Julia Tomuschat. Erziehen, ohne zu erziehen – so lässt sich ein wichtiges Anliegen von Nestwärme, die Flügel verleiht auf den Punkt bringen. Weil Eltern heute ohnehin schon unheimlich vielen Pflichten und Ansprüchen genügen müssen, will dieses Buch ihnen nicht noch mehr Erziehungsratschläge aufhalsen, sondern es will sie entlasten. Entlasten, indem es sie dazu bewegt, die Beziehung zu ihren Kindern und sich selbst zu reflektieren. Sich selbst besser verstehen – für die Kinder Da es heute kaum noch Großfamilien gibt und sich auch nicht ein ganzes Dorf um ein Kind kümmert, sind Eltern und Kinder in der Kleinfamilie stärker auf sich gestellt, und die Kinder sind den Ecken und Kanten ihrer Eltern oder Bezugspersonen mehr denn je ausgeliefert. Umso wichtiger ist es, als Vater oder Mutter mit sich im Reinen zu sein und sich der eigenen Prägungen und Glaubenssätze bewusst zu werden. So können Eltern ihre Kinder nicht nur durch die Brille der eigenen Ansprüche und Bedürfnisse sehen, sondern sie können erkennen, was ihre Kinder tatsächlich brauchen. Das Buch hilft mit konkreten Fragestellungen und Reflektionen dabei, den Blick auf sich selbst und die Eltern-Kind-Beziehung zu werfen. Je besser Eltern sich selbst im Auge haben, desto leichter können sie durchatmen und ihren Kindern gute, authentische und liebevolle Eltern sein. Es geht weniger darum, etwas zu TUN, als vielmehr bewusster zu SEIN.
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Seitenzahl: 305
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© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2018
© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2018
Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.
Projektleitung: Monika Rolle
Lektorat: Carola Kleinschmidt, Anna Cavelius
Covergestaltung: independent Medien-Design, Horst Moser, München
eBook-Herstellung: Lena-Maria Stahl
ISBN 978-3-8338-6787-3
1. Auflage 2018
Bildnachweis
Coverabbildung: Stocksy
Fotos: Stocksy, iStockphoto, Roswitha Kaster, Gaby Gerster
Syndication: www.seasons.agency
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Für unsere Eltern Mona und Walter Stahl – Heide und Christian Tomuschat
Alle Eltern wollen, dass ihre Kinder glücklich sind und später einmal lebenstüchtige Erwachsene werden. Sie wollen ihren Kindern eine innere Heimat geben, die ein Leben lang trägt – eine Nestwärme, die Flügel verleiht. Doch obwohl die meisten Eltern eine klare Zielvorstellung haben, scheint der Weg dorthin manchmal ungewiss, kurvig und voller Stolpersteine.
Was können wir tun, damit wir von unseren Erziehungsaufgaben nicht genervt sind? Wie können wir unser Kind lieben – auch wenn es sich anders verhält oder anders ist, als wir es uns wünschen? Kann man ein Kind zu viel lieben? Wie sollen wir Grenzen setzen? Wann müssen wir loslassen? Wodurch werden unsere Kinder als Erwachsene beziehungsfähig? Was sind die schlimmsten Fehler in der Eltern-Kind-Beziehung? Und wie vermeide ich sie? Wie schaffe ich es, dass mein Kind möglichst glücklich wird? Wie kann ich begangene Fehler wiedergutmachen? Wie kann ich mich selbst als Vater oder Mutter besser im Griff haben?
Das sind einige der Fragen, die uns in unseren Workshops von engagierten, manchmal auch bekümmerten, Müttern und Vätern gestellt werden.
Auf den ersten Blick möchte man meinen, dass all die verschiedenen Fragen auch nach recht unterschiedlichen Antworten verlangen. Tatsächlich ist es jedoch einfacher. Denn wir finden alleAntworten auf diese Fragen und Lösungen für diese Probleme, wenn wir die drei existenziellen psychologischen Grundbedürfnisse des Menschen betrachten.
Unser Bedürfnis nach Bindung. Wir benötigen zwischenmenschliche Beziehungen, einen Anschluss an andere Menschen und die Gemeinschaft, um überleben zu können. Das gilt für Kinder ebenso wie für Erwachsene. Die Fähigkeit, die wir entwickeln müssen, damit dies gelingt, ist Anpassungsfähigkeit.
Unser Bedürfnis nach Autonomie. Neben der Anpassungsfähigkeit benötigen wir auch autonome Fähigkeiten, damit wir selbstständig leben und unseren eigenen Weg gehen können. Damit dies gelingt, ist Abgrenzungsfähigkeit am wichtigsten.
Unser Bedürfnis nach Selbstwert. Jeder Mensch hat ein tiefes Bedürfnis, sich wertvoll und angenommen zu fühlen. Ein gutes Selbstwertgefühl gibt uns Kraft und innere Sicherheit. Unser Selbstwertgefühl hat weitreichende Folgen für unsere Lebenszufriedenheit.
Bindung, Autonomie und der Selbstwert sind sozusagen die »Bausteine unserer Psyche«. So wie jedes Haus aus einem Fundament, Wänden und einem Dach besteht, ist die menschliche Psyche auf diesen drei Grundbedürfnissen aufgebaut. Dabei ist dies kein statisches Geschehen, sondern eher ein Prozess. Und alle drei Grundbedürfnisse wirken in einem engen Wechselspiel: Unser gesamtes Leben lang sind wir damit beschäftigt, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen zu pflegen (Bindung) und gleichzeitig unsere eigenen Interessen und Wünsche durchzusetzen (Autonomie). Gelingt uns beides, so hat das eine positive Auswirkung auf unseren Selbstwert. Damit haben die psychologischen Grundbedürfnisse eine ungeheuer weitreichende Auswirkung auf unsere Persönlichkeit, auf unsere Beziehungen und nicht zuletzt auf das gesamte Weltgeschehen. Weltgeschehen – das ist nicht zu weit gegriffen. Denn Menschen, denen im Leben eine gute Balance zwischen Beziehung und Autonomie gelingt, müssen beispielsweise andere nicht abwerten oder ausgrenzen, um sich selbst besser zu fühlen. Das Miteinander von solchen »reifen« Persönlichkeiten gestaltet sich automatisch freundlicher und zugleich freier.
Mit diesem Wissen können wir uns selbst besser verstehen und zugleich die Beziehung zu unseren Kindern auf feste Füße stellen. Wer die drei psychologischen Grundprinzipien versteht und beherzigt, weiß, was eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung und damit auch eine gute Erziehung ausmacht. Dann kann man viele Zweifel und Fragen rund um die »richtige« Erziehung hinter sich lassen und mit gutem Gefühl seinen Kindern alles mitgeben, was sie für ihr Leben brauchen: Nestwärme, die Flügel verleiht. Vor dem Hintergrund dieser drei Prinzipien wird vieles in der Kindererziehung leichter werden. Denn in allen Bereichen des Lebens lassen sich scheinbar komplexe Strukturen letztlich auf die Bedürfnisse nach Bindung, Autonomie und Selbstwert zurückführen. Kennt und versteht man diese Elemente, so kann man eine neue Sicht auf die Dinge gewinnen, die sowohl vertieft als auch vereinfacht ist.
Bevor es jedoch weitergeht, wollen wir Autorinnen uns erst einmal vorstellen. Wir sind Stefanie Stahl und Julia Tomuschat und haben uns vor dreißig Jahren am Kaffeeautomaten vor einem Hörsaal an der Uni Trier kennengelernt. Seit damals sind wir miteinander befreundet. Wir haben zusammen das Psychologiestudium absolviert und auch später immer den Kontakt gehalten, obwohl es uns in unterschiedliche Regionen Deutschlands verschlagen hat. Seit zirka acht Jahren helfen wir den Teilnehmer/innen unserer Workshops und unseren Klienten dabei, beziehungsfähiger zu werden. Als Beziehungsexpertinnen wollen wir unser Wissen und unsere Erfahrungen endlich auch auf die Elternschaft und Erziehungsfragen übertragen, und das nicht nur, weil Julia inzwischen zwei halbwüchsige Kinder hat, sondern vor allem, weil Mütter und Väter uns immer wieder darum gebeten haben.
Noch eine Anmerkung: Eine Freundin von uns sagte einmal: »Bücher, in denen ich geduzt werde, lese ich nicht.« Sie findet, zwischen Autor und Leser sollte eine gewisse Distanz bestehen bleiben. Da sind wir allerdings anderer Meinung. Wir wollen gerne eine Brücke zu unserer Leserschaft bauen. Zudem haben wir festgestellt, dass sich die meisten Eltern sowieso duzen, egal ob sie sich auf dem Spielplatz oder beim Elternabend begegnen. Es scheint hier die natürliche Form der Ansprache zu sein. Da würden wir uns gerne anschließen, deshalb wählen wir auf den folgenden Seiten die Du-Form.
Einen besonderen Dank wollen wir an dieser Stelle auch unserer Freundin, der Psychotherapeutin Helena Muser, aussprechen. Sie stand unserem Manuskript mit ihrem Expertenwissen über Kinderpsychologie beratend beiseite. Auch bei unserer Lektorin Carola Kleinschmidt bedanken wir uns für ihre hervorragende Arbeit.
Mit diesem Buch wollen wir eine Einladung aussprechen. Eine Einladung an dich, ein bisschen Abstand von deiner Elternrolle einzunehmen und ganz entspannt, vielleicht bei einem Cappuccino, über eine deiner wichtigsten Beziehungen nachzudenken: über die Beziehung zu deinem Kind beziehungsweise zu deinen Kindern. Eine Beziehung, die auch für dich sicherlich höchstes Glück, tiefste Sorge und manchmal extreme Anstrengung mit sich bringt. Du liest also gerade keinen Erziehungsratgeber, sondern einen Beziehungsratgeber, und zwar einen Beziehungsratgeber für die Eltern-Kind-Beziehung. Da es sich nicht um einen typischen Erziehungsratgeber handelt, werden wir dich auch nicht mit diesbezüglichen Ratschlägen belästigen. Wir sind der Meinung, dass Mütter und Väter heutzutage sowieso schon Außerordentliches leisten. Es nutzt weder den Kindern noch den Eltern, wenn man ständig den »Richtigmachdruck« erhöht und Letzteren ein schlechtes Gewissen einimpft. Perfekte Eltern gibt es ebenso wenig wie perfekte Kinder. »Erziehen, ohne zu erziehen« bedeutet zuallererst, die Beziehung zu unseren Kindern und zu uns selbst zu reflektieren. Das ist leichter, als du denkst, extrem interessant und macht sogar Spaß. Wir können dir viele Aha-Erlebnisse in diesem Buch versprechen und dazu null erhobenen Zeigefinger. Letztlich geht es in einer guten Eltern-Kind-Beziehung darum, WENIGER zu TUN, dafür aber BEWUSSTER zu SEIN. Hierdurch können wir genauer erkennen, was unsere Töchter und Söhne tatsächlich benötigen. Und oft ist es dann ganz leicht, ihnen genau dies zu geben.
Auf den Punkt gebracht, wird es vor allem um »Halt geben und Freiheit schenken« gehen. Denn genau das sind die Fähigkeiten, die wir für die Erziehung unserer Kinder brauchen, damit wir ihnen Liebe schenken können, die ihnen Flügel verleiht und sie stark und mutig für ihr Leben macht.
Alle Eltern wünschen sich natürlich, dass sie ihr Kind vom allerersten Tag an von Herzen lieb haben und dass sich dann alles andere irgendwie von alleine ergibt. Sie wünschen sich, dass ihr Kind zu einem glücklichen und beziehungsfähigen Erwachsenen heranwächst. Und tatsächlich ist die Fähigkeit der Eltern, ihr Kind so anzunehmen und lieb zu haben, wie es ist, eine Grundvoraussetzung dafür, dass Kinder ihre ureigene Persönlichkeit entwickeln, innerlich stark und zufrieden werden. Leider stellt sich das in der Theorie einfache »Wir haben uns lieb« in der Praxis so manches Mal als große Herausforderung dar. Ohne es zu wollen, folgen wir häufig in der Erziehung nicht unseren eigenen Vorstellungen, sondern geben wie fremdgesteuert die Erfahrung weiter, die wir selbst als Kinder gemacht haben.
Fast jeder von uns kennt das: Man wollte nie so sein wie die eigenen Eltern. Doch plötzlich steht man im Flur oder im Wohnzimmer und schreit die gleichen Worte heraus wie einst der Vater oder die Mutter.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Susanne sitzt mit ihrer achtjährigen Tochter Marie am Küchentisch und übt mit ihr das kleine Einmaleins. Die Mutter ist unterschwellig unruhig, weil sie noch ein wichtiges berufliches Telefonat führen müsste. Und als Marie zum fünften Mal hintereinander nicht weiß, dass sieben mal acht sechsundfünfzig ergibt, sagt Susanne genervt zu ihrem Kind: »Du bist zu dumm, um ein Loch in den Schnee zu pinkeln.« Kaum hat sie das gesagt, erschreckt sie sich sehr. Genau mit diesem Spruch hatte ihr Vater sie immer wieder verletzt.
Wie kann es dazu kommen, dass wir, wie auf Autopilot gestellt, genau die gleichen Sätze sagen wie früher der Vater oder die Mutter? Was hier wirkt, sind »transgenerationale Übertragungsphänomene« oder alltagssprachlich: Wir sind in einem alten Film gefangen. Wir machen das Verhalten unserer Eltern nach. Sie waren unser Vorbild für Elternschaft, und das hat uns so tief geprägt, dass wir – obwohl wir uns fest vorgenommen hatten, nie so zu werden wie sie – in Abwandlung genau das Gleiche tun. Vielfach haben wir uns sogar ein Gegenideal entworfen und achten akribisch darauf, alles richtig zu machen. Doch vor allem, wenn es stressig wird, schnappt die Prägungsfalle zu und wir behandeln unsere Kinder so, wie wir es nie wollten. Wir torpedieren unser Erziehungsideal und schreien beispielsweise die Kinder an, obwohl wir sie keinesfalls anschreien wollten. Es scheint so zu sein, als wäre unser Wille, anders zu handeln, nicht ausreichend. Und mit diesem Gefühl liegen wir auch richtig. Ein gutes Modell, um die Begrenztheit des Willens zu verstehen, ist der Elefantenreiter. Der Reiter, unser Wille, sitzt zwar oben und hat auch die Zügel in der Hand. Aber wenn der fünftausend Kilo schwere Elefant nicht will, hat der Reiter keine Chance, sich durchzusetzen. Der Elefant steht für unsere emotionalen und teilweise unbewussten inneren Vorgänge, welche ihrerseits stark durch die Erfahrungen beeinflusst sind, die wir in der Kindheit gemacht haben.
Unsere Erfahrungen mit unseren Eltern sind durch eine Art doppeltes Erleben geprägt. Wir lernen sozusagen die zwei Seiten einer Medaille gleichzeitig kennen: Einerseits sind wir »Opfer« oder, neutraler ausgedrückt, »Empfänger« der Erziehungsbemühungen unserer Eltern. Andererseits lernen wir auch, wie es ist, »Täter« beziehungsweise »Erziehungsausübender« zu sein, weil die Eltern automatisch auch unser Vorbild sind, wenn wir selbst einmal Kinder haben. Wir spüren beispielsweise als Kind, wie schlimm es ist, von den Eltern beschimpft zu werden, wenn sie uns richtig anmeckern. Trotzdem lernen wir in dieser Situation beiläufig, am Vorbild unserer Eltern, »die Kunst« der Beschimpfung. Beides ist in uns abgespeichert. Unbewusst lernen wir also in einer Doppelstruktur. Auf der einen Seite sind wir als Kind Empfänger der Erziehungsbotschaft unserer Eltern und auf der anderen Seite lernen wir von ihnen zugleich, wie die Elternrolle auszufüllen ist. Als Kinder können wir uns gegen diese doppelte Botschaft nicht wehren. Unsere Eltern sind unser Kosmos, unser erster Einfluss und unsere große Liebe. Und sogar, wenn wir ganz bewusst entscheiden: »Ich mache es NIEMALS wie meine Eltern«, klappt das häufig nur für eine gewisse Zeit. Unter Druck oder in besonders stressigen Situationen verfallen wir in die gelernten Muster. Denn auch wenn wir noch so sehr in den Widerstand gehen, ist diese Doppelprägung in uns verankert und blitzt immer wieder durch. Es kann aber auch passieren, dass wir, im festen Vorsatz, es niemals zu machen wie unsere Eltern, in ein extremes Gegenteil verfallen und hierdurch vielleicht »zu viel des Guten« tun. Fühlten wir uns möglicherweise daheim vernachlässigt, neigen wir in diesem Fall zur Überbehütung unserer Kinder.
Genau aus diesem Grund ermöglicht uns erst ein tieferes Durchdringen der eigenen Geschichte, freier zu sein und die Weitergabe unglücklicher Familienmuster nachhaltig zu durchbrechen.
Dabei muss die Kindheit gar nicht schlecht gewesen sein: Die meisten Menschen haben auch viel Schönes mit ihren Eltern erlebt, das sie gern an ihre Kinder weitergeben. Aber jeder hat auch ein kleines oder sogar größeres Päckchen von negativen Prägungen aus der Kindheit zu tragen. Es gibt nämlich keine perfekten Eltern. Und wenn sie perfekt wären, wäre es vielleicht auch nicht so toll. Wer will schon perfekte Eltern haben?
Jeder von uns weist auch Kindheitsprägungen auf, die nicht so günstig sind. Und je bewusster wir uns dieser problematischen Prägungen sind, desto weniger laufen wir Gefahr, diese an unsere Kinder weiterzugeben. Dies sehen wir immer wieder bei unseren Klienten, die so mutig sind, sich mit ihren eigenen Geschichten zu konfrontieren, und so den Weg dafür ebnen, dass ihre Kinder bessere Erfahrungen machen dürfen als sie selbst. Zudem ist dein Kind anders, als du es warst. Es braucht vielleicht etwas ganz anderes, als für dich selbst in deiner Kindheit wichtig war. Vielleicht mehr Zuwendung, vielleicht mehr Freiheit, vielleicht mehr Grenzen. Die Fähigkeit, dies zu sehen, dein Kind in seiner Persönlichkeit zu akzeptieren und darauf einzugehen, erlangst du nur, wenn du den Autopiloten und die Prägungen deiner Herkunftsfamilie erkennst und durchbrichst.
Ob du es willst oder nicht, ob du es so gewählt hast oder nicht, ob du es dir zutraust oder nicht – mit dem Tag der Zeugung deines Kindes, spätestens mit dem Tag der Geburt, bist du eine Beziehung eingegangen. Sobald das Baby auf der Welt ist, hast du die Erziehungsverantwortung für ein kleines Menschenkind. Als Mutter oder Vater müssen wir keinen Erziehungsführerschein machen. Kein Mensch prüft, ob wir für die Aufgabe »Kindergroßziehen« geeignet sind. Man macht es eben, so gut wie man kann und vielfach auch wirklich gut.
Dennoch ist es genau dieses intuitive Tun, welches auch unseren unbewussten Programmen und Verhaltensmustern Tür und Tor öffnet. Man kann gar nicht überschätzen, wie sehr unsere Lebenserfahrungen unsere Sicht auf die Wirklichkeit – und somit auch auf unsere Kinder – beeinflussen. Beispielsweise wirken unsere frühen Beziehungserfahrungen mit unseren Eltern wie eine Blaupause für alle weiteren Beziehungen in unserem Leben. Mit allen guten und weniger guten Facetten. Meist geschieht dies völlig unbewusst. Wenn wir als Kinder zum Beispiel gelernt haben, immer vorsichtig zu sein, weil uns sonst etwas passieren könnte, werden wir höchstwahrscheinlich diese latente Lebensangst auch an unsere Kinder weitergeben. Je genauer wir erkennen, was uns geprägt hat, desto besser können wir als Erwachsene frei darüber entscheiden, was wir als richtig und falsch empfinden. Wir sind dann sozusagen nicht mehr die Sklaven unserer unbewusst erlernten Verhaltensmuster und Einstellungen, sondern können frei wählen.
Wir gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass wir intuitiv wissen sollten, wie man einen kleinen Menschen großzieht, und sprechen dann gern vom elterlichen Bauchgefühl.
Um selbstbestimmter, gezielter und entspannter erziehen zu können, wollen wir uns die tragenden Säulen der Beziehungsfähigkeit einmal genauer anschauen. Die zwei wichtigsten Grundbedürfnisse in unserem Leben sind:
das nach Zugehörigkeit-Bindung auf der einen Seite
und das nach Autonomie-Selbstständigkeit auf der anderen.
Wie gut wir diese Bedürfnisse leben können, hängt zu Beginn unseres Lebens vor allem von unseren nächsten Bezugspersonen ab – meist sind dies unsere Eltern.
Die Art und Weise, wie unsere Eltern mit uns umgehen, hinterlässt tiefe Spuren in unserem Gehirn. Wir Menschen kommen nämlich mit einem unfertigen Gehirn auf die Welt. In den ersten sechs Jahren unseres Lebens entwickelt es sich ganz gewaltig. Diese Entwicklung verläuft in einem engen Wechselspiel mit unserer Umwelt. Alles, was wir in dieser Zeit lernen, hinterlässt tiefe Spuren in unserem Gehirn. Unsere Nervenzellen verknüpfen sich zu riesigen Datenautobahnen, grundlegende Verhaltens-, Fühl- und Denkmuster werden geprägt. Die ersten Beziehungserfahrungen mit unseren Eltern programmieren unser Gehirn in Sachen Beziehungen. Aus diesem Grund sind die ersten Lebensjahre so besonders prägend für unser gesamtes Dasein. So erwerben wir auch in den ersten zwei Lebensjahren das sogenannte Urvertrauen. Menschen mit Urvertrauen können in sich selbst vertrauen und zudem ein grundsätzliches Vertrauen in andere Menschen aufbringen. Sie haben in der Beziehung zu ihren ersten Bezugspersonen gelernt, dass Bindung und Autonomie gut nebeneinanderstehen können. Diese Gewissheit ist in ihrem Gehirn tief verankert und schenkt ihnen ein Gefühl von innerer Sicherheit und Selbstvertrauen.
Wir Menschen brauchen zum Überleben sowohl Bindung als auch Eigenständigkeit. Das gilt für Väter, Mütter und Kinder gleichermaßen.
In unseren ersten zwei Lebensjahren ist die Beziehung zu unseren Eltern sehr körpernah. Hier geht es ums Wickeln, Getragenwerden, Baden, Anziehen, Füttern und Schmusen. Wir erleben also mit und durch unseren ganzen Körper, ob wir angenommen und geliebt werden. Deswegen speichert sich das Urvertrauen nicht nur im Gehirn, sondern auch als eine tiefe körperliche Empfindung ab, als ein Gefühl, das man mit: »Ich bin okay! Ich bin willkommen!« beschreiben könnte.
Am Anfang unserer Entwicklung steht die Bindung absolut im Vordergrund. Im Mutterleib sind wir völlig gebunden und verfügen über null Autonomie. Dann kommen wir auf die Welt und werden entbunden. Finden wir in dieser neuen Welt keine Bindungsperson, die sich unserer erbarmt, dann sterben wir.
Aber wir kommen nicht nur mit einem angeborenen Bindungswunsch auf die Welt, sondern auch mit einem angeborenen Erkundungsdrang. Wir wollen uns zu selbstständigen Menschen entwickeln. Kleine Kinder sind unheimlich stolz, wenn sie etwas ohne die Hilfe von Mama und Papa hinkriegen. Der Ausruf »Selber machen!« gehört bei vielen kleinen Kindern zum frühen Wortschatz.
Das Bedürfnis nach Bindung ist ein existenzielles psychisches Grundbedürfnis, das genetisch tief in uns verankert ist.
Unsere ganze Entwicklung richtet sich also darauf aus, dass wir einerseits immer mehr Fähigkeiten erwerben, um uns binden zu können, und andererseits immer selbstständiger und autonomer werden. So ist der Säugling am Anfang völlig davon abhängig, dass er versorgt wird, und die einzige autonome Handlung, über die er verfügt, ist Schreien. Man kann sich vorstellen, welche tiefe Erfahrung von Ohnmacht und abgrundtiefer Verlassenheit ein Säugling macht, wenn auf sein Schreien selten oder mit Wut reagiert wird.
In seiner weiteren Entwicklung erwirbt das kleine Kind immer mehr Autonomie: Es lernt Krabbeln, Laufen, Sprechen und seine Fähigkeiten bauen sich immer mehr aus, sodass es, wenn alles gut läuft, als junger Erwachsener ohne seine Eltern klarkommt. Entsprechend erweitert sich auch seine Bindungsfähigkeit: Am Anfang haben Säuglinge eine symbiotische Beziehung zu den Eltern, insbesondere zur Mutter. Dann rücken die Geschwister und andere Verwandte ins Blickfeld. Mit dem Kindergarten und der Schule erweitert sich der Bezugsrahmen des Kindes immer mehr und es lernt nach und nach, verschiedene Arten von Beziehungen zu gestalten. In der Pubertät werden dann zumeist die ersten Liebesversuche gestartet.
Durch Vernachlässigung und Aggression können sich im Gehirn des Säuglings bereits in den ersten Wochen traumatische Erlebnisse von Verlassenheit, Angst und Ohnmacht eingraben.
Bindung und Autonomie sind eng ineinander verschränkt und stellen zwei Seiten einer Medaille dar. Wenn ein Kind beispielsweise vernachlässigt wird und deshalb keine sichere Bindung zu seinen Eltern entwickelt, dann wird es auch in seiner autonomen Entwicklung gestört. Es kann sein, dass es übermäßig anhänglich wird, weil es immer Angst um die Bindung hat. Manche Kinder, die keine sichere Bindung erfahren haben, können bei ihren autonomen Bestrebungen Gefahren nicht richtig einschätzen. Sie gefährden sich selbst und verunfallen sogar. Normalerweise schaut ein kleines Kind noch einmal kurz zu seinen Eltern, bevor es sich wegbewegt. Es fragt mit seinem Blick: »Ist alles okay?« Greift die Bezugsperson nicht ein, weiß es: »Dann kann es losgehen.« Vernachlässigten Kindern fehlt diese Rückendeckung, infolgedessen können sie auch im späteren Leben Risiken weniger gut einschätzen. Die Bindung ist das Fundament von allem – und wenn dieses wackelt, dann wackelt auch alles, was auf ihm aufbaut. So wird das vernachlässigte Kind also nicht nur ein Defizit an Bindung haben, sondern kann auch keine gesunde autonome Entwicklung vollziehen. Es kann sich also zu einem Menschen entwickeln, der zu autonom ist, der also möglichst keinem vertraut und großen Wert darauf legt, allein zurechtzukommen. Oder es entwickelt sich zu einem Menschen, der zu wenig autonom ist, also einem Menschen, der immer andere benötigt, die ihm Entscheidungen abnehmen und ihn bildlich gesprochen »an die Hand nehmen und durchs Leben führen«.
Wir möchten in unserem Buch das fragile Gleichgewicht von Bindung und Autonomie, das wir in diesem Kapitel angerissen haben, durchleuchten und zu einem tieferen Verständnis für dieses existenzielle Wechselspiel führen. Außerdem möchten wir dir zeigen, wie du eine gute Balance zwischen Bindung und Autonomie in all deinen Beziehungen leben und gestalten kannst, damit deine Kinder diese ebenfalls erwerben.
Man kann sich leicht vorstellen, dass in der langen Zeit des Aufwachsens einiges in der Interaktion zwischen Eltern und Kind schiefgehen kann. Manche Eltern sind überfordert und können dem Kind nicht die Zuneigung und Fürsorge gewähren, die es benötigt. Sie können also den Bindungswunsch ihres Kindes nicht wirklich befriedigen. In diesem Fall wird sich das Kind bemühen, seinen Eltern zu gefallen, damit die Eltern es annehmen oder es wenigstens nicht bestrafen. Kinder sind abhängig von ihren Eltern und tun alles dafür, um von ihnen geliebt zu werden.
Sind Eltern – aus welchen Gründen auch immer – damit überfordert, ihrem Kind ein sicheres Bindungsgefühl zu vermitteln, dann übernimmt dieses die Verantwortung für eine gelingende Beziehung zu seinen Eltern.
Dieser Prozess kann schon sehr früh in der Entwicklung eines Kindes einsetzen. So konnte man im Rahmen einer bewegenden Studie schon bei eineinhalb Monate alten Säuglingen feststellen, dass sie bemüht waren, es ihren Müttern recht zu machen. Für diese Untersuchung filmte man das Zusammensein bindungsgestörter Mütter mit ihren Säuglingen. In der Videoauswertung konnte man beobachten, dass Säuglinge ihre Mütter anlächelten, wenn sie zu ihnen schauten. Blickten die Mütter hingegen in eine andere Richtung, dann bekamen die Säuglinge einen verlorenen, eingefroren wirkenden Gesichtsausdruck. Das heißt, sie wussten auf einer tiefen, intuitiven Ebene: »Ich muss die Mama bei Laune halten, sonst geht das hier schief.« Sie spürten offensichtlich, dass es für sie um Leben und Tod ging. Ein sechs Wochen alter Säugling hatte also bereits die Verantwortung dafür übernommen, dass seine Beziehung zur Mutter gelingt.
Manchen Eltern gelingt es dagegen sehr gut, die Bindungsbedürfnisse ihres Kindes zu erfüllen, aber es fällt ihnen schwer, das Kind loszulassen. Sie fühlen sich am wohlsten, wenn das Kind in ihrer Nähe ist. Einige tun dies auch aus der Sorge heraus, dass ihm etwas zustoßen könnte. Sie überbehüten es und binden es zu eng an sich.
Es kann auch vorkommen, dass die Eltern Probleme haben, sodass sie keine Bindung aufbauen können. Das ist beispielsweise der Fall, wenn Mutter oder Vater an einem großen Kummer leiden, vielleicht sogar an einer Depression. Das Kind spürt dies sehr genau und kein Kind möchte seine Mama traurig erleben. Deswegen übernehmen Kinder auch in solchen Fällen die Verantwortung für die Mutter oder den Vater und bleiben beispielsweise öfter daheim, um das Elternteil glücklich zu machen, anstatt mit anderen Kindern zu spielen. Das Kind opfert also einen Teil seiner Autonomie, um den Kummer der Mutter oder des Vaters zu lindern.
Nehmen wir einmal an, eine Mutter – wir nennen sie Sabine – hat einen gravierenden Mangel an Zuneigung in ihrer Kindheit erlitten. Sie hat sich also einen leichten »Bindungsschaden« zugezogen. Dann benötigt Sabine möglicherweise ihren kleinen Sohn Leon, um diesen Mangel zu kompensieren. Es ist ihr vermutlich nicht bewusst, aber ihre große Zuneigung und ihr Wunsch nach Nähe zu ihrem Kind hat letztlich damit zu tun, dass Leon für sie die Funktion hat, ihre Sehnsucht nach Liebe und Nähe zu stillen. Am liebsten würde Sabine ihren süßen Sohn ständig im Arm halten und knuddeln. Leon will aber nicht ständig beschmust werden. Da er nun aber sehr klein ist, kann er sich gar nicht gegen die Schmuseattacken seiner Mutter wehren, sondern muss sie über sich ergehen lassen. Für Leon bedeutet dies, dass er seine Autonomie, also seinen Wunsch nach etwas Luft und Freiraum, opfern muss, um die Nähebedürfnisse seiner Mutter auszuhalten. Vor allem, wenn Sabine ihr Verhalten beibehält und sie immer mehr Nähe haben will als ihr Sohn, dann wird Leon dies als tiefe Prägung mit in sein Erwachsenenalter übernehmen. Sein Gehirn wird Liebe und Bindung immer mit Näheüberflutung und Gefangensein assoziieren. Als Erwachsener wird er Schwierigkeiten haben, sich auf eine nahe Liebesbeziehung einlassen zu können, weil er bei seiner Mutter nicht gelernt hat, dass er sich in gesunder Weise abgrenzen kann. Hat Sabine also in der Beziehung zu ihrer Mutter einen »Bindungsschaden« durch ein Zuwenig an Zuwendung erlitten, so erleidet Leon einen durch ein Zuviel an Zuwendung.
Hier sieht man, wie Kinder und Eltern sich in ihren Bedürfnissen miteinander verweben – und wie die Bedürfnisse der Eltern sich mit denen der Kinder vermischen können.
Übrigens könnte Sabine den »Bindungsschaden« für ihren Sohn vermeiden, wenn sie einfühlsamer auf dessen Signale achten würde. So hat Leon bereits als Baby beispielsweise öfter sein Köpfchen weggedreht, wenn Sabine nach ihm greifen wollte. Hierdurch hat er im Rahmen seiner bescheidenen Fähigkeiten signalisiert, dass er seine Ruhe haben möchte. Leider hat Sabine jedoch seine Signale damals zu oft übersehen. Sie müsste in einem ersten Schritt erkennen, dass sie selbst es ist, die die Nähe braucht – und nicht Leon. Dann könnte sie üben, die Distanzsignale ihres Kindes zu bemerken und ihren eigenen Nähewunsch für diesen Moment zurückzustellen. Man sieht schon: Es braucht eine gewisse Selbstreflexion, um sich selbst auf die Schliche zu kommen. Doch die Mühe lohnt: Zahlreiche Studien haben ergeben, dass das elterliche Einfühlungsvermögen das Königskriterium für Erziehungskompetenz ist. Hierauf werden wir in späteren Abschnitten noch ausführlich eingehen.
Wann fängt die Bindung zwischen Eltern und Kind an? Mit dem Tag der Zeugung? Während der Schwangerschaft? Mit dem Tag der Geburt? Zumindest werden wir mit der Geburt unseres ersten Kindes definitiv als Eltern angesehen und von der Gesellschaft als Vater und Mutter definiert. Von außen betrachtet, beginnt hier die Eltern-Kind-Beziehung. Faktisch sind wir schon vom ersten Tag an ein Teil der Eltern-Kind-Beziehung – und damit Teil einer Verbindung, die im Regelfall ein Leben lang bestehen bleibt.
Doch Beziehung ist nicht gleich Bindung. Lieben wir unser Kind automatisch? Sind wir an unser Kind gebunden? Nein. Wir können zwar die biologische Beziehung zu unserem Kind nicht abbrechen, aber es kann durchaus passieren, dass Eltern keine emotionale Bindung zu ihrem Kind aufbauen. Bindung ist ein aktiver Prozess auf beiden Seiten: auf der Seite des Kindes wie auf der Seite der Eltern. Der Säugling ist ganz auf Bindung ausgerichtet. So wendet er zum Beispiel seinen Kopf spontan dahin, wo es nach Mama riecht.1 Die Mutter ist durch ihre Schwangerschaft, die Geburt und das Stillen, ebenso wie das Kind, biologisch auf Bindung vorbereitet. Sie erkennt zum Beispiel ebenfalls treffsicher den Strampler ihres Kindes am Geruch. Man könnte es auch so ausdrücken: Mütter haben gegenüber Vätern einen Bindungsvorsprung. Trotzdem müssen sich beide erst einmal an die Elternschaft gewöhnen. Damit sich eine echte Bindung zwischen Eltern und Kind aufbaut, braucht es eine Entscheidung. Die Entscheidung: »Ja, ich will Mutter sein« beziehungsweise »Ja, ich will Vater sein«. Dies bedeutet, dass die Eltern sich voll und ganz dazu bereit erklären, Verantwortung für den kleinen Menschen zu übernehmen und innerlich zu sagen: »Du gehörst zu mir. Ich nehme dich an, so wie du bist.«
Durch die stärkere körperliche Nähe zum Kind haben Mütter es meist etwas leichter, die Bindung anzunehmen.
Der Vater bleibt dann manchmal außen vor. Er muss sich unter Umständen mehr anstrengen, um das Kind innerlich anzunehmen. »Ich habe darauf gewartet, dass die große Vaterliebe über mich kommt«, berichtet uns ein Vater und resümiert etwas enttäuscht: »aber vergebens.« Manche schämen sich auch, weil sie sich eben (noch) nicht an das Kind gebunden haben und nicht die gleiche Vernarrtheit spüren, die die Mutter erfasst zu haben scheint. Und manchmal werden Väter sogar von Neid und Eifersucht geplagt. Sie neiden der Mutter (und dem Kind) den innigen Kontakt miteinander. Die Väter, die sich ihre Gefühle eingestehen, können sich oft besser dem Kind zuwenden, weil sie dann niemandem etwas vormachen müssen, weder sich selbst noch der Partnerin. Sie bleiben authentisch, wodurch auch eine echte Vater-Kind-Begegnung möglich wird. Denn auf der Basis von Heuchelei kann sich keine tiefe Liebe zum Kind entwickeln. Die Ehrlichkeit mit sich selbst gibt dem Vater die Möglichkeit, seine eigene Art von Bindung aufzubauen. Vielleicht ist sie am Ende wirklich etwas lockerer als die mütterliche. Doch das Kind wird spüren, dass es angenommen und geliebt ist.
Väter, die grundsätzlich die Entscheidung getroffen haben, ihr Kind anzunehmen, entwickeln hingegen schnell eine innige Bindung zu ihm. Zum einen ist es gerade beim Säugling die körperliche Nähe, die Bindung vermittelt. Zum anderen zeigen Studien: Wenn Väter ihr Kind ganz selbstverständlich versorgen – es herumtragen, mit ihm schmusen, es anziehen und windeln –, dann wird bei ihnen das gleiche Bindungshormon freigesetzt wie bei den Müttern.
Zugewandte, liebende Väter haben genauso gute Chancen, eine sehr enge Beziehung zu ihrem Kind zu entwickeln wie liebende Mütter (siehe auch Exkurs: Mütter und Väter – die Stärken der beiden Elternteile ab >).
Du siehst: Bindung ist die Basis für jede Beziehungsfähigkeit. Sie ist das Fundament unserer Psyche. Doch sie ergibt sich nicht von allein. Sie entsteht immer im Wechselspiel zwischen Säugling oder Kind mit seiner Mutter und seinem Vater.
Vielleicht hast du dich schon gefragt, warum überwiegend von dir und deinem Kind die Rede ist, also von der Mutter-Kind- oder der Vater-Kind-Beziehung. Warum sprechen wir die Eltern nicht als Team an? Die meisten Eltern erziehen ihre Kinder ja zu zweit. Dennoch baut das Kind zu jedem Elternteil eigenständig eine Beziehung auf. Und deshalb sprechen wir jeden als Einzelperson an. Heutzutage existieren zudem die unterschiedlichsten Familienkonstellationen: Vater-Mutter-Kind oder in sogenannten Regenbogenfamilien auch Vater-Vater-Kind oder Mutter-Mutter-Kind. Die Alleinerziehenden machen inzwischen gut ein Fünftel aller Familien aus2 – meistens haben die Kinder auch in dieser Familiensituation Kontakt zu dem Elternteil, der nicht (mehr) im gemeinsamen Haushalt lebt. In Patchworkfamilien erweitert sich die Familie und für die Kinder gesellen sich Bonuseltern und manchmal Geschwister hinzu. Es gibt auch Co-Parenting-Familien, in denen die Eltern keine Partnerschaft haben und oftmals sogar in getrennten Haushalten leben. Die Beziehung dient hier vor allem dem Zweck, ein gemeinsames Kind großzuziehen. Es ist klar, dass das Familiensystem große Auswirkungen darauf hat, wie sich die Beziehung zwischen einem selbst und seinem Kind entwickelt. Eltern- und Paarebene sind auf komplexe Weise miteinander verwoben.
Wie stark Eltern- und Paarsein zusammenhängen, wird oft erst spürbar, wenn es Probleme gibt. Eltern mit Streit auf der Paarebene, vielleicht weil ein Partner fremdgegangen ist, kooperieren in der Regel auch als Väter und Mütter schlechter. Sie können sich dann eventuell nicht einigen, wer das Kind vom Kindergarten abholt. Aber die Schwierigkeit liegt letztlich nicht darin, dass dies ein unlösbares Problem ist, sondern das Paar trägt rund um das Abholen einen Konflikt aus, der eigentlich auf der Paarebene entstanden ist. Genauso wirkt sich die Elternebene auf die Paarebene aus: Erleben Eltern ihr Elternsein als sehr problematisch oder stressig, entstehen oftmals auch Probleme auf der Paarebene. Manchmal droht die Paarbeziehung unter dem Druck sogar zu zerbrechen. Unsere Rollen als Eltern können uns sogar so stark vereinnahmen, dass die Paarebene gar nicht mehr gelebt wird. Wir sind dann nicht mehr Frau und Mann, sondern »nur« noch Mutti und Vati.
Wenn alles gut läuft, ist uns dieses Zusammenspiel allerdings kaum bewusst. Dann erziehen wir einfach gemeinsam.
Kinder wünschen sich, dass sich ihre Eltern im Großen und Ganzen einig sind. Wenn die Eltern hin und wieder unterschiedlicher Meinung sind oder über Alltagsthemen miteinander streiten, können sie das allerdings gut wegstecken. Doch insgesamt sollten sich – aus Kinderaugen betrachtet – die Eltern vertragen. Sie sollten – wie man in der Fachsprache sagt – eine gute Elternallianz bilden. Dies erfordert, dass sie miteinander kooperieren und sich abstimmen.
Damit dies gelingt, sind einige Grundvoraussetzungen günstig. Viele Paare machen sich jedoch über diese Grundpfeiler einer guten Beziehung keine Gedanken. Es ist vielleicht auch nicht nötig, wenn man frisch verliebt ist und sich einfach nur super findet. Aber spätestens mit einem gemeinsamen Kind trägt man auch eine gemeinsame Verantwortung – und dann wird jede Schieflage in der elterlichen Beziehung sichtbar. Wir möchten an dieser Stelle nur einige typische Stolperfallen nennen.
Auf das Wesentliche reduziert, kann man den Wunsch von Kindern an die Paarbeziehung ihrer Eltern so beschreiben: Kinder möchten, dass Mama und Papa sich lieb haben.
Falls du erkennst, dass deine Beziehung in einer typischen Konfliktsituation steckt, wäre es wichtig, dass du dieses Thema anpackst. Denn wenn die Eltern nicht fähig sind, gut zu kooperieren, hat dein Kind automatisch ein Problem. Und auch wenn du dann als Einzelperson eine tolle Beziehung zu deinem Kind aufbaust, wird dieses Problem bestehen bleiben. Denn Kinder lieben nun einmal beide Elternteile.
Typische Konflikte mit dem Potenzial, das Elternsein sehr zu erschweren, sind folgende:
Du bist in deiner Partnerschaft unglücklich. Aber du verbirgst dies, um die Familie nicht zu zerstören. Was kannst du tun? Im ersten Schritt wäre es wichtig, dass du für dich herausfindest, was genau dich so unglücklich macht. Im zweiten Schritt könntest du mehr für dich und deine Bedürfnisse einstehen. Das klingt schwierig und eventuell brauchst du tatsächlich Unterstützung von einer Beratungsstelle. Aber der Aufwand lohnt sich, denn wenn du ständig weiter verbirgst, was dich bedrückt, und dich zurückhältst, unterhöhlst du eure Beziehung immer weiter und schwächst alle Beteiligten.
Du und dein Partner – ihr habt völlig unterschiedliche Erziehungsvorstellungen. Häufig zeigen sich unterschiedliche Werte in einer Partnerschaft erst, wenn das erste Kind zur Welt kommt. Dann wird zum Beispiel deutlich, dass der eine Partner vielleicht sehr viel Wert auf Sicherheit legt – und am liebsten jeden Schritt des Kindes kontrollieren möchte. Der andere findet dagegen, dass Selbstständigkeit der wichtigste Wert in der Erziehung ist, und reagiert mit großem Unverständnis auf das ständige Kümmern des anderen Partners. Auch Unzuverlässigkeit oder sehr unterschiedliche Vorstellungen im Umgang mit Geld und der Frage, wofür man es ausgibt, können große Konfliktthemen sein. Was kannst du tun? In so einem Fall ist es wichtig, sich überhaupt darüber im Klaren zu sein, welche Werte man im Leben wichtig findet – und was man dementsprechend an seine Kinder weitergeben möchte.
Wenn du und dein Partner/deine Partnerin euch noch einmal grundlegend Gedanken darüber machen wollt, welche Werte ihr in der Erziehung wichtig findet, empfehlen wir euch den Abschnitt Wofür stehen wir? – Werte in der Familie ab >.
Ihr seid beide permanent überlastet