Jein! - Stefanie Stahl - E-Book
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Stefanie Stahl

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  • Herausgeber: Kailash
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Eine glückliche Beziehung wünschen sich fast alle Menschen – aber bei sehr vielen klappt es einfach nicht. Manche verlieben sich anscheinend immer in die Falschen. Bei anderen zerbricht die Beziehung immer genau dann, wenn sie enger wird. Andere leben in einer Beziehung und fühlen sich trotzdem einsam und allein. Was läuft da schief? »Hinter sehr vielen Beziehungsproblemen stecken letztlich Bindungsängste«, weiß die Psychotherapeutin Stefanie Stahl. In lebendigen Fallbeispielen zeigt sie die vielen Gesichter der Bindungsangst. Sie erklärt die typischen Verhaltensmuster von Beziehungsängstlichen, erläutert, warum Beziehungsangst eine echte Angst ist und verrät, wie man die Furcht vor Nähe und Intimität endlich bewältigen kann.
Von der Autorin von »Das Kind in dir muss Heimat finden«. Dieses Buch ist unter demselben Titel bereits im Verlag Ellert&Richter erschienen.

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Seitenzahl: 445

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Zum Buch

Eine glückliche Beziehung wünschen sich fast alle Menschen – aber bei sehr vielen klappt es einfach nicht. Manche verlieben sich anscheinend immer in den Falschen. Bei anderen zerbricht die Beziehung immer genau dann, wenn sie enger wird. Andere leben in einer Partnerschaft und fühlen sich trotzdem einsam und allein. Was läuft da schief? »Hinter sehr vielen Beziehungsproblemen stecken letztlich Bindungsängste«, weiß die Psychotherapeutin Stefanie Stahl. In lebendigen Fallbeispielen zeigt sie die vielen Gesichter der Bindungsangst. Sie erklärt die typischen Verhaltensmuster von Beziehungsängstlichen, erläutert, warum Beziehungsangst eine echte Angst ist und verrät, wie man die Furcht vor Nähe und Intimität endlich bewältigen kann.

Von der Autorin von »Das Kind in dir muss Heimat finden«.

Dieses Buch ist unter demselben Titel bereits im Verlag Ellert&Richter erschienen.

Zu den Autoren

Stefanie Stahl, Diplom-Psychologin und Buchautorin in freier Praxis in Trier, ist Deutschlands bekannteste Psychotherapeutin. Sie hält regelmäßig Vorträge und Seminare zu ihren Spezialgebieten Bindungsangst, Liebe und Selbstwertgefühl. Mit dem Modell vom Sonnen- und Schattenkind hat sie eine besonders bildhafte und praxisnahe Methode zur Arbeit mit dem inneren Kind erschaffen, die über die Grenzen Deutschlands hinaus auf große Resonanz stößt. Stefanie Stahls Bücher wie „Das Kind in dir muss Heimat finden“ oder „Jeder ist beziehungsfähig“ stehen seit Jahren auf den Top-Rängen der Bestsellerlisten und haben sich millionenfach verkauft.

Die Autorin ist eine begehrte Keynote Speakerin und wird regelmäßig als Expertin für Presse und Talkshows angefragt.

Weitere Informationen unter https://www.stefaniestahl.de

Stefanie Stahl

Jein!

Bindungsängste erkennen und bewältigen

Hilfe für Betroffene und deren Partner

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Neuausgabe © 2020 Kailash Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Zuerst erschienen im Ellert & Richter Verlag GmbH, Hamburg 2008

Lektorat: Petra Kunze

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

Umschlaggestaltung: Daniela Hofner, ki 36 Editorial Design, München

Fotos der Autorin: Roswitha Kaster

ISBN 978-3-641-26117-7V003

www.kailash-verlag.de

Before I fall in love

I’m preparing to leave her.

Robbie Williams

Inhalt

Die vielen Gesichter der Bindungsangst

Warum so viele Geschichten traurig enden

Ich bin sooo verliebt!

Ein Plädoyer für die Wahlfreiheit

Bindungsängste spielen gern Versteck: der Jäger, die Prinzessin, der Maurer

Der Jäger: Ich will dich unbedingt – solange ich dich noch nicht habe!

Die Prinzessin – keiner ist gut genug für mich!

Der Maurer – ich bestimme über Nähe und Distanz zwischen uns!

Jäger, Prinzessinnen und Maurer – die Gemeinsamkeiten der Beziehungsängstlichen

Heirat und Dauerbeziehungen

Flucht, Angriff, Totstellreflex: die Abwehrstrategien

Flucht als Abwehrstrategie

Angriff als Abwehrstrategie

Totstellreflex als Abwehrstrategie

Die drei Phasen einer Beziehung mit einem beziehungsängstlichen Menschen

Nebenwirkungen der Bindungsangst – Schwierigkeiten im Alltagsleben

Ursachen der Bindungsangst

Die Rolle der Mutter

Die Rolle des Vaters

Sicher oder unsicher – die verschiedenen Bindungsstile

Die sichere Bindung: »Ich bin okay, du bist okay!«

Die unsichere Bindung

Die anklammernde Bindung: »Ich bin nicht okay, aber du bist okay!«

Die ängstlich-vermeidende Bindung: »Ich bin nicht okay, und du bist nicht okay!«

Exkurs: Ein ungutes Paar: Bindungsangst und Narzissmus

Die gleichgültig-vermeidende Bindung – »Ich bin mir egal, und du bist mir egal!«

Spezialfall gleichgültiger Vermeider: Leise Narzissten und einsame Cowboys

Ohne Bindung kein Einfühlungsvermögen

Führt Bindungsangst zu einem schlechten Charakter?

Der kleine Unterschied: Bindungsängste bei Frauen und Männern

Bindungsangst und Aggression: ohne Bindung kein guter Umgang mit Aggression, Wut und Konflikten

Von der Unterwerfung als Kind zur passiven Aggression im Erwachsenenalter

Streit als Ersatz für Nähe

Erziehung, Enttäuschung und Gesellschaft: Ursachen, die im späteren Leben Beziehungsängste begünstigen

Ein Kind muss sich zu sehr anpassen

Die Mutter wollte zu viel Nähe

Die Ehe der Eltern war katastrophal

Die Eltern trennen sich

Ungünstige Vorbilder

Enttäuschungen in früheren Liebesbeziehungen

Produziert unsere Gesellschaft Bindungsphobiker?

Auswege aus der Bindungsangst für Betroffene

Warum sich der Weg lohnt

Acht Schritte aus der Bindungsangst – ein Wegweiser zu Selbsterkenntnis und Veränderung

1. Stellen Sie sich Ihrer Angst vor Abhängigkeit

2. Beschäftigen Sie sich mit Ihrer Angst vor Erwartungen

3. Erforschen Sie Ihre Angst vor Ablehnung

4. Steigen Sie aus der Opferrolle aus!

5. Kümmern Sie sich um Ihre Angst vor Hingabe und Nähe

Exkurs: Focusing – so finden Sie den Zugang zu Ihren Gefühlen

6. Nehmen Sie Ihre Schuldgefühle ernst

7. Unterlassen Sie es, den Partner auf die Probe zu stellen

8. Achten Sie auf Ihre Sprache – und hören Sie auf zu lügen

Die Partner von Bindungsängstlichen. Auswege aus der Abhängigkeit

Ohnmächtige Copiloten – die Partner der Bindungsphobiker

Emotionaler Kontrollverlust – der Verstand sagt: »Mach Schluss!«, aber das Herz sagt: »Bleib!«

Jeden kann der Wahnsinn treffen

Emotionaler Kontrollverlust und seine Folgen für den Partner

So erkennen Sie emotionalen Kontrollverlust

Acht Symptome und Wirkmechanismen der Partner von Bindungsängstlichen

1. »Alle meine Gedanken kreisen nur um dich« – Zwanghafte Beschäftigung mit Gedanken rund um die Beziehung und den Partner

2.»Unsere Beziehung ist eine Achterbahnfahrt!« – Emotionale Instabilität

3. »Ich war noch nie so verliebt!« – Empfinden von großer Liebe und Leidenschaft

4. »Ich will alles für dich tun!« – Starkes Bemühen, die eigene Attraktivität zu steigern

5. »Bist du mir treu?« – Eifersucht

6. »Sprich mit mir und leg dich fest, verdammt!« – Fragen, anklagen, jammern

7. »Was mache ich bloß falsch?« – Selbstentwertung

8. »Das macht mich fertig« – Vernachlässigen eigener Interessen und selbstschädigendes Verhalten

Verheiratet mit einem Beziehungsphobiker – die Resignierten und die Träumer

Aufgerieben in der Beziehung – der Absturz in Angst und Depression

Negative Verstärkung – die Beziehung ist wie eine Sucht

Auswege aus dem Kontrollverlust – finden Sie wieder zu sich selbst

Verlustangst kann sich wie Liebe anfühlen

Erste Hilfe für Partner – das Gespräch mit dem inneren Kind

Auswege aus der Abhängigkeit: neun Hilfen, die den erwachsenen Anteil in Ihnen stärken

1. Schaffen Sie Gegengewichte zum Thema »Beziehung«

2. Treten Sie klar für Ihre Rechte ein

3. Lassen Sie sich nicht in seine Probleme verstricken

4. Akzeptieren Sie Ihre Niederlage

5. Verbannen Sie Ihre verletzte Eitelkeit

6. Gestehen Sie sich die Realität Ihrer Beziehung ein

Exkurs: Warum gerate ich immer an die Falschen? Bindungswunsch und Bindungszwang

7. Begraben Sie Ihre Hoffnung

8. Doch noch ein Hoffnungsschimmer

9. Schluss machen

Abschied von meinen Leserinnen und Lesern

Ein Nachwort für die PsychotherapeutInnen unter den Lesern

Danksagung

Anhang

Ratgeber

Fachliteratur

Belletristik

Musik

Adresse

Register

Die vielen Gesichter der Bindungsangst

Warum so viele Geschichten traurig enden

Oh bitte, lass diese Geschichte nicht traurig enden. So heißt es in einem Liebesroman vonMartin Suter. Aber sie endet traurig. Und doch auch hoffnungsvoll, da die Liebesbeziehung zwar scheitert, der Protagonist aber an ihr reift. Der Roman endet damit, dass der Protagonist beginnt, einen Roman über seine traurige Liebe zu schreiben.

Im Leben enden viele Liebesgeschichten traurig, ohne dass die Protagonisten an ihnen reifen. Stattdessen begeben sie sich in die nächste Geschichte mit neuer Besetzung und kleinen Variationen in der Handlung. Der Plot jedoch, also der Aufbau der Geschichte, verändert sich nicht. Und sie endet wieder traurig. Dieses Buch möchte seine Leserinnen und Leser unterstützen, die eigenen Handlungen umzugestalten und neue Geschichten zu erleben, die ein Happy End wahrscheinlicher machen.

Es gibt sehr viele Beziehungsratgeber, eigentlich, so möchte man meinen, braucht die Welt keinen weiteren. Die meisten geben Ratschläge für Paare, die in ihrer Beziehung festgefahren sind. Paare, die nicht mehr miteinander reden können, ohne zu streiten. Oder Paare, die gar nicht streiten, deren Beziehung aber starr und öde geworden ist. Es werden hilfreiche Anregungen gegeben, wie man anders und besser miteinander reden kann, wie man wieder Respekt für den Partner entwickelt und wie man die Leidenschaft neu entfacht. Weiter gibt es Ratgeber, die die naturgegebenen Unterschiede zwischen Männern und Frauen betrachten und erklären, wie man es trotz dieser Unterschiede miteinander aushalten kann.

All diese Bücher bauen auf einer gemeinsamen Grundvoraussetzung auf: dass sich zwei Menschen zusammengefunden haben, die sowohl fähig als auch gewillt sind, in einer Paarbeziehung zu leben. Sie wenden sich also an jene Menschen, die grundsätzlich in der Lage sind, in einer Partnerschaft zu existieren. Auf diesem Fundament stehen alle weiteren Überlegungen zu den möglichen Ursachen von Partnerschaftsproblemen und deren Lösung.

Genau in diesem Punkt unterscheidet sich dieses Buch. Es setzt einen Schritt früher an: Es beleuchtet jene tief liegenden und zumeist unbewussten Ängste, die nahe und vertrauensvolle Liebesbeziehungen von Anfang an zum Scheitern verurteilen. Was nicht bedeutet, dass die Betroffenen Beziehungen nicht anfangen – das tun sie zumeist. Dann aber sorgen sie dafür, teils bewusst, teils unbewusst, dass die Beziehung in die Brüche geht. Dieses Buch soll jene zerstörerischen Mechanismen ans Tageslicht bringen, die immer dann zum Zuge kommen, wenn ein Mensch sich eigentlich nach Nähe sehnt, aber mit der Nähe einer Beziehung gar nicht leben kann. Diesen Menschen und ihren Partnern ist nicht geholfen, wenn man ihnen goldene Regeln an die Hand gibt, wie man ein konstruktives Gespräch führt oder wie man sich die Hausarbeit und Kindererziehung am besten teilt. Ihre Probleme wurzeln auch nicht in den biologischen Unterschieden der Geschlechter. Das Scheitern ihrer Beziehungen findet auf einer tieferen Etage statt. Es sind die »Kellergeister« in der Psyche dieser Menschen, die aus diversen Ängsten dafür sorgen, dass echte Nähe nicht entstehen kann und jede Beziehung zerbricht.

Bindungsangst – ein viel zitiertes und scheinbar bekanntes Phänomen. Kurioserweise fühlen sich die Betroffenen davon zumeist nicht angesprochen. Das habe ich oft beobachtet: Der Bindungsängstliche weist es in der Regel weit von sich, bindungsängstlich zu sein. Die betroffenen Partner waten durch ein Gewirr von Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten im Verhalten des Begehrten (oder der Begehrten) und können das Phänomen auch nicht beim Namen nennen. Ebenso ergeht es denjenigen, die (unbedingt!) einen bindungsängstlichen Menschen zum Partner haben wollen, aber ihn irgendwie nicht einfangen, ihn nicht fest an sich binden können. Deshalb kennen wir zwar das treffliche Wort Bindungsangst, aber nur wenige Betroffene. Tatsächlich gibt es derer aber viele. Es wird jedoch selten die richtige »Diagnose« gestellt. Und dies liegt meines Erachtens an der Vielfalt der Gesichter, hinter denen sich Bindungsängste verstecken können. Deswegen möchte ich Ihnen die zahlreichen Gesichter der Bindungsangst vorstellen und die psychologischen Ursachen erklären. Denn nur durch das Erkennen und Verstehen ihrer Angst können Betroffene etwas für sich verändern. Auch die Partner oder Würde-gern-Partner von bindungsängstlichen Menschen können nur etwas an ihrem eigenen Verhalten ändern, wenn sie die Ursachen des Phänomens verstehen und damit auch ein Verständnis dafür gewinnen, was diese Menschen für sie so anziehend macht.

Weiterhin werde ich konkrete Schritte beschreiben, wie man seine Bindungsängste bewältigen oder zumindest besser handhaben kann. Auch den Partnern möchte ich im letzten Abschnitt dieses Buches Hilfestellung für die Beziehung mit einem bindungsängstlichen Menschen geben. Letztlich soll dieses Buch dem Leser und der Leserin auch einen Kompass an die Hand geben, der zeigt, wie man Bindungsvermeider frühzeitig erkennt, möglichst bevor man sich hoffnungslos in sie verliebt und damit fast zwangsläufig in sein Unglück rennt.

Dieses Buch wendet sich an Laien und an Fachleute. Die Laien habe ich ganz bewusst vorangestellt, da mir sehr daran liegt, psychologisches Wissen so zu vermitteln, dass jeder davon profitieren kann.

Ich bin sooo verliebt!

Ganz gleich, ob bindungsängstliche oder bindungsfähige Menschen eine Beziehung beginnen, am Anfang steht meist das aufregende Gefühl des Verliebtseins. Deshalb möchte auch ich dieses Buch mit dem Phänomen des Verliebtseins beginnen. Die meisten Menschen haben dieses Gefühl schon mindestens einmal, zumeist mehrmals erlebt. Ich sage sehr wohl die meisten, nicht alle. Es ist ein alter Hut, dass die romantische Liebeshochzeit eine Erfindung des letzten Jahrhunderts ist und früher die Vernunftehe vorherrschte. In muslimischen Ländern sagt man noch heute:

»Die Liebe kommt nach zehn Jahren.« Das ist eigentlich sehr klug, da Liebe und Partnerschaft in erster Linie gegenseitige Verantwortung bedeuten, füreinander da sein »in guten wie in schlechten Zeiten«. Ein tiefes Gefühl der Zuneigung stellt sich dann ein, wenn man gemeinsam durchs Leben geht, sich aufeinander verlassen kann und die Fürsorge und die Zuwendung des anderen spürt. Für dieses Gefühl ist es nicht unbedingt notwendig, dass man am Anfang der Beziehung verliebt war. Dieses Gefühl resultiert aus realen Erfahrungen mit dem Partner, die man über Jahre hinweg gemacht hat. In der ersten Verliebtheit projizieren wir dagegen vor allem unsere eigenen Sehnsüchte und Träume in den Partner. Wir sehen in ihm denjenigen, der all unsere Wünsche erfüllen wird. Mit Liebe hat dieser rauschhafte Zustand am Anfang vieler Beziehungen allerdings wenig zu tun. In unserer westlichen Welt ist es so, dass man sich zunächst verliebt und dann mit diesem Menschen, sofern die Liebe erwidert wird, eine Beziehung versucht. Wenn man Glück hat, geht die Verliebtheit in jene Liebe über, die über die Jahre, manchmal bis zum Tod trägt. Ob sich diese Liebe wirklich entwickelt, kann einem allerdings niemand vorher garantieren.

Ich stelle hier die möglicherweise provozierende Behauptung auf, dass viele Liebesbeziehungen vermutlich besser verliefen, wenndie Eltern oder gute Freunde den Partner oder die Partnerin aussuchen würden. Die guten Freunde oder auch die Eltern (sofern sie vernünftige Menschen sind) würden die Sache mit Vernunft und angemessenem Abstand angehen, und somit bestünde eine gute Chance, einen Partner zu finden, der wirklich zu einem passt. Denn die Verliebtheit ist nicht unbedingt der beste Ratgeber bei der Partnerwahl. Gerade im Zustand des Verliebtseins neigen wir dazu, unsere Angebeteten nicht nur in ein rosarotes, sondern häufig in ein gänzlich verzerrtes Licht zu tauchen. Und uns selbst übrigens auch. Denn die inneren Erfahrungen und Muster, die letztlich mitbestimmen, in wen wir uns verlieben und in wen nicht, sind uns normalerweise nicht bewusst. Somit bleibt das Sichverlieben ein reines Glücksspiel, bei dem wir blind oder mindestens verblendet alles auf eine Karte setzen.

Das Verliebtsein an sich ist ja ohnehin eine merkwürdige Angelegenheit. Ein guter Freund von mir vertritt hierzu die nicht sehr oft anzutreffende Auffassung, dass er diesen Zustand entsetzlich findet und ihn nie mehr im Leben erleiden möchte. Er ist verheiratet, sogar recht glücklich, soweit ich das beurteilen kann, und gehört somit nicht zu den bindungsängstlichen Naturen, von denen noch ausführlich die Rede sein wird. (Wobei allerdings kurz angemerkt sein soll, dass sich auch Bindungsphobiker zuweilen zu einer Heirat hinreißen lassen!) Dieser Freund sagt über den Zustand der Verliebtheit Folgendes: »Es ist ein furchtbares Gefühl, einem dreht sich ständig der Magen um, man verliert den Appetit, alle Gedanken kreisen nur noch um die eine Frau, man verblödet quasi. Man gerät außer sich und zittert. Wie kann man sich so einen Zustand nur wünschen?« Er hat recht. Denn Verliebtsein fühlt sich innerlich genauso an wie Prüfungsangst, und die will normalerweise auch kein Mensch haben. Wenn Sie sich vorstellen, Sie stünden mit allen Symptomen der Verliebtheit kurz vor einer Prüfung – sozusagen auf dem Flur, und die Tür wird sich gleich öffnen und Sie werden zur Prüfung gebeten –, dann werden Sie feststellen, dass sich Verliebtheit und Prüfungsangst verblüffend ähnlich anfühlen: Man hat feuchte Hände, Kribbeln in der Bauchgegend, man kann an nichts anderes mehr denken und so weiter. Vor der Tür zum Prüfungszimmer würden Sie richtigerweise denken: »Ich habe Prüfungsangst« und nicht »Ich bin verliebt«. Warum empfindet der Körper zwei scheinbar so unterschiedliche Situationen so gleich? Weil er schlau ist: Denn Verliebtheit ist wie Prüfungsangst! Vergleichbar mit Lampenfieber, das auch nur eine Spielart der Prüfungsangst ist. Die Gedanken beim Verliebtsein drehen sich nämlich nur scheinbar um das begehrte Liebesobjekt. Tatsächlich drehen sie sich – wie so häufig – um sich selbst: Bin ich attraktiv genug? Findet er oder sie mich toll? Bin ich interessant? Bin ich sein oder ihr Typ? Wenn die Beziehung schon im ersten Stadium angelangt ist, kommen neue Variationen hinzu: Bin ich toll genug, damit du immer bei mir bleibst? Wenn du mich morgens ungeschminkt siehst, läufst du dann davon? Wenn du erst einmal merkst, wie ich wirklich bin, verlierst du dann das Interesse? Oder wie die von mir sehr geschätzte Autorin und Psychologin Elisabeth Lukas es treffend formuliert: »Man zittert um sein kleines bisschen Ich.« Dasselbe gilt übrigens, wenn man verlassen wird. Man fragt sich: Was habe ich falsch gemacht? War ich nicht schön/intelligent/nett/verständnisvoll (die Aufzählung kann man beliebig fortsetzen) genug? Hier zittert man zwar nicht mehr, aber man weint um sein »kleines bisschen Ich«. Das innere Drama spitzt sich zu, wenn man wegen eines oder einer anderen verlassen wird: Was ist an ihm oder ihr so viel besser als an mir? Ich fühle mich total wertlos und bin zutiefst gekränkt, dass da jemand toller sein soll als ich.

Die Fragen »Krieg ich dich?« und »Bleibst du bei mir?« sind eng mit dem eigenen Selbstwertgefühl verflochten. Sie werden wie eine Prüfung empfunden. Und zwar als existenzielle Prüfung schlechthin mit dem Prüfungsstoff: Bin ich ein liebenswertes Geschöpf? Bekomme ich im Leben das, was ich haben will? Kann ich im Leben auf das Einfluss nehmen, was mir ganz wichtig ist, nämlich diesen einen Partner zu bekommen und ihn bei mir zu halten? Deswegen bricht für viele Menschen auch die Welt zusammen, wenn sie verlassen werden – zumindest, wenn ihnen die Beziehung sehr wichtig war. Wenn man sich wirklich »eingelassen« hat, wie man heute sagt. Dabei, so möchte ich behaupten, weint man, wenn man Liebeskummer hat, zu 90 Prozent um sich selbst. Liebe und Beziehung haben eine stark Selbstwert erhaltende und somit selbsterhaltende und somit im subjektiven Empfinden »lebenserhaltende« Funktion. Deshalb entstanden auch Redewendungen wie »Du bist wie ein Teil vonmir« oder »Ich kann ohne dich nicht leben« und »Den oder die Geliebte(n) zu verlieren ist wie sterben«. Zu der Bedeutung für den Selbstwert, die eine Beziehung für uns hat, kommt die existenzielle Bedeutung vonBindungen hinzu. Wir Menschen sind genetisch darauf ausgelegt, in Bindungen, in Sippen zu leben. Somit hat der Verlust einer Bindung auf einer tiefen, existenziellen Ebene auch immer etwas sehr Bedrohliches.

Während es nun »normale« Menschen in Kauf nehmen, dass sie, wenn sie eine Beziehung wagen, auch verlassen werden können beziehungsweise eine Beziehung auch immer das Risiko des Scheiterns in sich birgt, lässt der Bindungsängstliche es gar nicht so weit kommen. Der Bindungsängstliche hält immer einen gewissen Sicherheitsabstand ein, er lässt sich nicht wirklich auf einen Partner oder eine Partnerin ein oder vermeidet Beziehungen ganz. Sein Beziehungsmodus lautet »jein« oder »nein«, aber niemals »ja«. Ein wesentlicher Grund hierfür ist das tiefe und zumeist unbewusste Empfinden eines beziehungsängstlichen Menschen, dass er es tatsächlich nicht überleben würde, verlassen zu werden. Im tiefsten Inneren ist er davon überzeugt, dass dies sein Tod wäre. Diejenigen hingegen, die echte Nähe riskieren, haben die innere Überzeugung, dass sie zwar furchtbar traurig wären, wenn es nicht klappt, aber im innersten Kern sind sie sich sicher: Ich werde es überleben. Und: Irgendwann wird wieder ein anderer oder eine andere kommen, mit dem oder der es klappen kann. Dieses innere Selbstvertrauen ist die Voraussetzung, um jemand anderem vertrauen zu können. Man kann es auf eine einfache Formel bringen: ohne Selbstvertrauen kein Fremdvertrauen. Allerdings ist die Angst zu scheitern, die das Epizentrum ihrer Bindungsangst ist, den Bindungsängstlichen normalerweise nicht bewusst. Stattdessen fühlen sie sich bei dem Gedanken an eine feste Bindung oder gar Ehe einfach nur eingeengt, so als ob sie in eine Falle geraten würden. Auf der bewussten Ebene herrscht zumeist ein starker Wunsch nach Freiheit vor, die sie durch eine Beziehung stark gefährdet sehen. Dieser Wunsch taucht vor allem immer dann auf, wenn sie in eine feste Beziehung geraten sind oder eine lockere Beziehung zu fest zu werden droht. Solange sie nicht fest gebunden sind, können sie durchaus einer tiefen Sehnsucht nach Liebe und Beziehung Raum geben. Deswegen rennen einige von ihnen auch von Beziehung zu Beziehung, immer auf der Suche nach dem oder der »Richtigen«. Andere leben zwar scheinbar in einer festen Beziehung oder sind sogar verheiratet, schaffen es jedoch durch zahlreiche Manöver, so viel Distanz zum Partner zu bewahren, dass sie ihren Fluchtimpuls in Schach halten können. Wieder andere sind notorische Junggesellen oder Junggesellinnen, die sich gar nicht auf feste Beziehungen einlassen und sich mit ihrem Alleinleben mehr oder minder gut arrangiert haben. Bindungsängste haben viele Gesichter. Sie können sich hinter den unterschiedlichsten Beziehungsformen verbergen und sich in ganz unterschiedlichen Verhaltensweisen der Betroffenen äußern. Die zugrunde liegenden Ängste weisen jedoch einen gemeinsamen roten Faden auf.

Ein Plädoyer für die Wahlfreiheit

Nun kann man die völlig berechtigte Frage stellen: Muss man denn unbedingt in einer festen Beziehung leben? Es gibt doch so viele interessante Dinge, Themen und Menschen, denen man sich widmen kann, ohne sein Glück in einer festen Beziehung, Ehe oder Familie zu suchen. Dieser Auffassung stimme ich uneingeschränkt zu. Man kann ein sehr erfülltes Leben – oder zumindest Lebensabschnitte – verbringen, ohne in einer Partnerschaft zu leben. Allein zu leben ist in jedem Fall erfüllender, als in einer unglücklichen oder gar krank machenden Beziehung zu verharren. Wofür ich jedoch mit meiner ganzen Überzeugung eintrete, ist, dass man die innere Wahlfreiheit haben sollte.

Dies gilt sowohl für jene bindungsängstlichen Naturen, die selbst sehr unter ihrem Problem leiden, als auch für jene, die selbst wenig Leidensdruck verspüren, ihre Partner dafür umso mehr. Im Übrigen gilt dies auch für all jene, die eher vom Gegenteil der Bindungsangst betroffen sind, also jene, die sich an Beziehungen festklammern, selbst wenn sie krank machen, weil sie der Überzeugung sind, dass sie ohne einen Partner nicht leben können.

Einige Bindungsängstliche machen gern aus der Not eine Tugend, indem sie ihren Beziehungsstil oder ihr zumeist durch Affären unterbrochenes Singledasein zur Lebenskunst erheben. Andere wurschteln beziehungsmäßig vor sich hin, ohne sich viele Gedanken zu machen. Wieder andere machen sich viele Gedanken, aber kommen ihrem Problem nicht auf die Schliche oder scheitern am Versuch, etwas zu verändern.

In jedem Fall fügen bindungsängstliche Menschen ihren Partnern oder jenen, die es gern wären, viel Leid zu. Die Bindungsangst ist also nicht allein ihr Problem – sondern auch zwangsläufig das ihrer Mitspieler. Nun ziehen sich viele auf den bequemen Standpunkt zurück, dass der andere ja jederzeit gehen kann, es also seine Verantwortung ist, wenn er das Theater mitmacht beziehungsweise an der Beziehung festhält. Dieser Standpunkt ist zwar nicht völlig falsch, aber er blendet die eigene Verantwortung zu weit aus und verlagert sie zu stark auf das Gegenüber. Denn der Bindungsängstliche trägt selbst oft nicht unwesentlich dazu bei, dass es der anderen Person schwerfällt, ihn endgültig zu verlassen. Allerdings sollte auch der betroffene Partner sich einige weitreichende Fragen über seine inneren Beweggründe stellen, warum er den Näheflüchter nicht in die Wüste schickt.

Ich halte es für die unbedingte Entwicklungsaufgabe eines jeden – egal ob er nun Bindungsängste aufweist oder nicht –, daran zu arbeiten, sich seiner inneren Motive, Ängste, Überzeugungen und Bedürfnisse bewusst zu werden. Jeder Mensch sollte sich deshalb um Reflexion bemühen. »Reflexion« und »reflektieren« sind die Lieblingswörter von Psychologen – und das hat seinen Grund. Sie bedeuten, dass man sich seine inneren Gedanken, Gefühle und Motive bewusstmacht, oder umgekehrt formuliert: dass man sich nichts vormacht. Jemand, der reflektiert handelt, handelt bedächtig, er hat sein Tun also bedacht, durchdacht. Jemand, der reflektiert handelt, hat sein Tun aber nicht nur durchdacht, sondern auch durchfühlt, das heißt, er hat einen guten Kontakt zu seinen Gefühlen und vermag deshalb eine psychologische Verbindung zwischen seinen Gefühlen, Gedanken und Taten herzustellen. Nun ist es aber nicht leicht, sich selbst auf die Schliche zu kommen, denn hierfür ist es notwendig, auch jene Emotionen und versteckten inneren Überzeugungen aufzuspüren, die dem Bewusstsein nicht unmittelbar zugänglich sind. In der Computersprache könnte man auch sagen: Man sollte das Betriebssystem hinter der Benutzeroberfläche erkennen. In der Psychologie benutzen wir auch gern die Metapher des Eisbergs. Bei einem Eisberg ragt nur die Spitze sichtbar aus dem Meer heraus. Unter der Meeresoberfläche verbirgt sich jedoch ein gigantischer Rumpf. Die Spitze des Eisbergs ist unser Bewusstsein – der Rumpf steht für das Unbewusste. Unser Handeln, Fühlen und Denken wird weitgehend unbewusst gesteuert, und darin liegt eine enorme potenzielle Fehlerquelle. Anders als das Tier, das in der Regel keine unbewussten Konflikte kennt und deshalb instinktiv richtig handelt, handelt der Mensch häufig instinktiv falsch. Das heißt, wir können uns im Unterschied zu Tieren nicht unbedingt auf unseren Instinkt – unser Unbewusstes – verlassen. Denn jeder von uns hat aufgrund seiner Vergangenheit eine teils bewusste, teils unbewusste Prägung erfahren, die bei keinem Menschen ausschließlich positiv und gesund ist. Die unbewussten, verdrängten Wesensanteile in uns, die ich auch gern als die Kellergeister der Psyche bezeichne, haben sehr viel Macht. Sie geben sich jedoch nicht zu erkennen, bleiben häufig unentdeckt im Untergrund und steuern von dort aus das Geschehen, ohne dass es dem »Wirt«, also dem betroffenen Menschen, bewusst ist.

Den Kellergeistern der Psyche und der Macht des Unbewussten könnte man ein eigenes Buch widmen, und es gibt zu diesem Thema auch unzählige Bücher. Ich möchte mich deswegen an dieser Stelle kurzfassen: Im vorherigen Abschnitt hatte ich bereits erwähnt, dass den Bindungsphobikern ihre Ängste zumeist nicht bewusst sind und sie stattdessen eher einen diffusen Freiheitsdrang verspüren, der sie zu zahlreichen Ausweichmanövern veranlasst. Einige von ihnen pflegen auch bestimmte Ideologien, um ihrem Problem nicht ins Auge zu sehen. Dies kann eine individuell geschusterte Privatideologie sein, beispielsweise die innere Überzeugung: »Ich bin ein ganz besonderes Wesen, und solange ich nicht jemandem begegne, der wirklich perfekt zu mir passt, gehe ich keinerlei Kompromiss ein«, oder auch ganz schlicht lauten: »Ich stehe über diesen Liebesangelegenheiten.« Andere greifen auf bereits existierende Weltanschauungen, Philosophien, Religionen oder esoterische Haltungen zurück und nutzen sie, um ihre Bindungsängste zu verschleiern. So bietet beispielsweise das angestrebte Ideal der Buddhisten, sich vonallen Bindungen zu lösen, ein maßgeschneidertes philosophisches Versteck für Bindungsphobiker. Auf diese Weise kann man dann aus der Not, frei von Reflexion und unbelästigt von tieferen Einsichten, eine Tugend machen. Nur der Form halber halte ich fest, dass dies sicherlich nicht in der Absicht Buddhas lag, dem ich positiv unterstelle, dass er eine reflektierte Person war und mit Beziehungen zu anderen Menschen wertschätzend und überlegt umgegangen ist.

Bindungsängste verursachen viel Leid. Außer jenen Bindungsphobikern, die sich tatsächlich konsequent aus Beziehungen heraushalten (und das sind die wenigsten), oder jenen, die einen Mitspieler finden, der die Bedingungen ohne Leid akzeptieren kann (was sehr selten vorkommt), sind Beziehungen mit Bindungsphobikern (also die meisten) vonLeid und Unglück geprägt. Mit einem Bindungsphobiker eine Beziehung einzugehen oder ihm hinterherzulaufen ist geradezu die Garantie zum Unglücklichsein.

Gerade weil Bindungsängste so viel Schmerz und Leid verursachen, schreibe ich dieses Plädoyer für die Wahlfreiheit: Man kann mit und ohne Liebesbeziehung zufrieden sein. Für beide Daseinsformen gibt es viele gute Gründe. Ebenso gibt es sehr viele unterschiedliche Beziehungsmodelle, auch hier kann man frei wählen, solange alle Beteiligten einverstanden sind. Aber jeder Mensch sollte die Verantwortung für sein Handeln übernehmen – auch und gerade in Beziehungen – und sich irgendwann entscheiden, statt sich auf Kosten des Partners oder der ständig wechselnden Partner und Affären in einem ewigen Jein einzurichten. Auch für die Partner wäre es sehr wichtig, sich selbst auf die Schliche zu kommen und zu ergründen, warum sie so viel Leid akzeptieren und sich nicht vonder Beziehung lösen können.

Um jedoch überhaupt etwas verändern zu können, muss man sowohl als Betroffener, aber auch als Partner erst einmal das Problem der Bindungsangst als solches erkennen – was ja oft gar nicht so leicht ist. Deswegen werde ich im nächsten Abschnitt auf die vielen Gesichter der Bindungsangst eingehen und in späteren Kapiteln auch auf die Problematik jener Menschen, die sich aus bindungsängstlichen Beziehungen nicht lösen können. Natürlich werde ich mich nicht nur auf die Beschreibung und die Ursachen dieser Probleme beschränken, sondern auch Lösungen und Hilfe anbieten.

Bindungsängste spielen gern Versteck: der Jäger, die Prinzessin, der Maurer

Ich möchte Ihnen jetzt einige Varianten der Bindungsangst vorstellen, indem ich ein paar typische Verläufe von Beziehungen skizziere, bei denen mindestens einer der Partner unter Bindungsangst leidet. Es gibt unter Fachleuten auch die Ansicht, dass der Partner eines Bindungsängstlichen zwangsläufig ebenfalls Bindungsängste aufweise, weil er sich ansonsten diesen Partner nicht ausgesucht hätte. Diese Auffassung vertrete ich nicht – aber dazu mehr im Kapitel »Die Partner von Bindungsängstlichen. Auswege aus der Abhängigkeit«. Da die Bindungsangst sich hinter vielen Gewändern verbirgt, sind die folgenden drei Beispiele nur eine kleine Auswahl, die Ihnen jedoch ein Gespür für die grundlegende Problematik vermitteln soll.

Der Jäger: Ich will dich unbedingt – solange ich dich noch nicht habe!

Eigentlich war Peter gar nicht Sonjas Typ. Sie hatte ihn bei einer Party kennengelernt. Sie hatten sich gut unterhalten, aber er interessierte sie nicht näher. Zwei Tage später rief er sie an und fragte, ob sie nicht Lust habe, mit ihm zu einer Kneipeneröffnung zu gehen, zu der er eingeladen sei. Sonja fand die Einladung sehr reizvoll, zumal es sich um eine Szenekneipe handelte, in der sie bestimmt auch viele andere Bekannte treffen würde, und sagte spontan zu. Es wurde ein amüsanter Abend. Es war deutlich, dass Peter an ihr Interesse hatte, wobei er sie jedoch nicht bedrängte. So hing er nicht an ihrem Rockzipfel, sondern drehte zwischendurch seine Runden und unterhielt sich mit diesem und jenem. Er war gut gelaunt und unkompliziert. Wieder ein paar Tage später lud er sie in ein schickes Restaurant zum Essen ein. Sonja hatte eigentlich schon ein bisschen Bauchschmerzen, als sie ihm zusagte, weil sie ihm keine falsche Hoffnung machen wollte. Andererseits reizte sie die Einladung, also sagte sie zu. Peter flirtete wieder mit ihr, und sie machte vorsichtige Andeutungen, dass sie sein Interesse eher nur auf »freundschaftlicher« Ebene erwidern könne. Dies schien Peter jedoch gar nicht zu irritieren – er blieb bei seiner guten Laune und flirtete weiter. In der folgenden Zeit meldete sich Peter häufiger bei Sonja, um sich mit ihr zu verabreden. Wobei er immer attraktive Unternehmungen vorschlug. Peter war nämlich Küchenchef eines Sternerestaurants, kannte viele Leute und wurde häufig zu Weinproben und anderen kulinarischen Events eingeladen. Aufgrund seines Wissens über Speisen und Weine machte es viel Spaß, mit ihm essen zu gehen. Die Treffen mit Peter hatten immer einen besonderen Glanz, wenn sie auch aufgrund seiner Arbeitszeiten nicht so leicht zu arrangieren waren. Was Sonja besonders imponierte, war, dass Peter nie beleidigt war, wenn sie einmal keine Zeit hatte, und auch nie gekränkt reagierte, wenn sie seine Annäherungsversuche zurückwies. Das fand sie sehr souverän und irgendwie cool. Kurz und gut, eines Abends sagte Sonja nicht mehr Nein. Nachdem sie noch ein Glas Wein in ihrer Wohnung getrunken hatten, verbrachte Sonja die Nacht mit Peter. Es wurde eine schöne Nacht. Den ganzen nächsten Tag hatte Sonja so ein beschwingtes und warmes Gefühl – sie hatte sich ein bisschen verliebt. Die folgenden Wochen sahen sie sich häufiger, wenn auch nicht täglich. Sonja haderte immer noch, ob das so das Richtige für sie sein könnte. Denn in einigen Hinsichten entsprach Peter gar nicht ihren Vorstellungen, und sie hatte Zweifel, ob das langfristig gut gehen könnte. Deswegen machte sie auch keinerlei Aussagen über eine mögliche gemeinsame Zukunft. Peter schien das nicht zu stören, er nagelte sie in keiner Weise fest. Dann fuhren sie das erste Mal für ein gemeinsames Wochenende in ein kleines romantisches Städtchen. Es war eine wunderbare Zeit, und Sonja warf ihre restlichen Zweifel über Bord. Nach diesem Wochenende war ihr klar, dass sie sich richtig in Peter verliebt hatte und sie sich eine längere Beziehung mit ihm vorstellen könnte. Nun war es auch Sonja, die sich bei Peter meldete, sie hatte nun häufiger Sehnsucht nach ihm und wollte ihn öfter als bisher sehen. Peter hatte jedoch zunehmend seltener Zeit: Im Moment sei viel los im Restaurant, Hochzeitsgesellschaft, Firmenfeier – nein, an seinem freien Abend müsse er zu einer Weinprobe, die leider in reiner Herrenrunde stattfinde, es tue ihm leid – »ich melde mich morgen bei dir«. Kurzum, Peter fing an, sich rarzumachen, und er wurde auch unzuverlässig, was er vorher nie gewesen war. Sonja litt. Sie hatte Sehnsucht, sie war verliebt. Was war nur los? Mit ihren Freundinnen beredete sie das Problem eingehend: Da hat er das gesagt, da hat er dies gemacht … da hab ich dies gesagt, da hab ich das gemacht … Was meinst du, der ist doch verliebt – oder etwa doch nicht? Wie würdest du die folgende Situation deuten, also … usw. Es nagten Zweifel an ihr, und eines Abends, als Peter dann doch mal wieder Zeit hatte, stellte sie ihn zur Rede, was er von ihr wolle und wie er ihre Beziehung in der Zukunft sehe. Peter versuchte sich herauszureden: »Das Restaurant beansprucht mich im Moment total … Ich bin irgendwie noch nicht so weit … Die Zeit mit dir ist immer wunderschön, ich denk auch oft an dich, auch wenn ich nicht anrufe … Lass mir etwas mehr Zeit … Lass uns das doch weiter locker sehen …« Nach diesem Gespräch ging Sonja sehr verwirrt nach Hause – was hatte er eigentlich genau gesagt? Sie zerbrach sich den Kopf, um seine Aussagen auf einen Nenner zu bringen und zu verstehen, was in ihm vorging.

Was ist passiert? Peter gehört zu jenen Bindungsvermeidern, die ich als die klassischen »Jäger« bezeichne, wobei ausdrücklich gesagt sein soll, dass es sich hierbei nicht um ein ausschließlich männliches Phänomen handelt. Ihr Leben ist durchzogen von vielen Beziehungen und/oder Affären. Manche haben auch schon eine oder sogar mehrere Ehen hinter sich gebracht. Der Jäger ist vor allem an der Jagd als solcher interessiert. Auf den ersten zehn Metern einer Eroberung oder einer Beziehung ist er zumeist unschlagbar. Typische Kennzeichen sind Charme, Umgänglichkeit und eine sehr geringe Kränkbarkeit. Das gefiel auch Sonja an Peter so gut: Peter reagierte nie beleidigt auf Zurückweisungen. Zurückweisungen machen Jägern normalerweise nicht viel aus, solange sie noch die Chance auf einen späteren Erfolg sehen. Im Gegenteil, die Abfuhr, solange sie nicht zu endgültig ist, steigert ihren Jagdtrieb. Aber auch ein endgültiger Korb trifft sie nicht allzu tief, denn: »Auch andere Mütter haben schöne Söhne oder Töchter – neues Spiel, neues Glück.« Jäger können auch einen erstaunlich langen Atem haben, was die Verfolgung ihrer Ziele betrifft. Dadurch entsteht fälschlicherweise beim Gegenüber der Eindruck: Er oder sie muss es ja wirklich ernst meinen. Dabei sehen die Umworbenen meist nicht, dass der Jäger häufig nicht nur ein »Wild« im Visier hat, weil Jäger meist gute Spieler sind und geschickt vorgehen. Der Verlauf der Beziehungsgeschichte von Sonja und Peter ist typisch: Der Jäger verliert immer genau dann sein Interesse, wenn die Jagd beendet ist. Das ist normalerweise in dem Moment der Fall, wenn der Jäger spürt, dass der oder die Gejagte anfängt, ernsthaft Interesse an einer Beziehung zu haben, und der Jäger das Gefühl hat: »Ich habe dich jetzt sicher.« Insofern kann dieses Spiel auch über Jahre gehen, zum Beispiel wenn die umworbene Person selbst bindungsängstlich ist.

Die Prinzessin – keiner ist gut genug für mich!

Rita und Thomas verliebten sich auf den ersten Blick ineinander. Sie begegneten sich das erste Mal in einem Supermarkt – ihre Blicke brannten sich förmlich ineinander. Als Rita Thomas an der Kasse warten sah, ging sie mit wild klopfendem Herzen auf ihn zu und überreichte ihm ihre Telefonnummer. Am nächsten Abend waren sie das erste Mal verabredet und wurden sofort ein Paar. Rita war rasend verliebt. Sie fand, die Begegnung mit Thomas war »schicksalhaft«, und sie war sich absolut sicher, endlich den Richtigen gefunden zu haben. Thomas ging es genauso, und sie verbrachten stürmische Monate miteinander. Als jedoch das erste Gefühl der Verliebtheit bei Rita abzuflauen begann, störten sie immer mehr Dinge an Thomas. Oft fand sie, dass seine Kleidung nicht zusammenpasste. Und er erzählte so langatmig, als wenn ihm die Intelligenz fehlen würde, um das Wesentliche zusammenzufassen. Außerdem nervte es sie total, wie sehr er von dem Lob seines Chefs abhängig war. Sie fand immer mehr, dass Thomas zu verkrampft war, es ihm an Lässigkeit fehlte. Nun gehörte Rita nicht zu den Menschen, die ein Blatt vor den Mund nehmen, sie ersparte Thomas keine Kritik. Denn nur so, dachte sie, hätte er auch die Chance, sich zu verändern. Thomas wehrte sich wenig und gab Rita in vielen Punkten recht. Auch das ging ihr irgendwie auf die Nerven. Insgeheim wünschte sie sich, er würde ihr ein paar mehr Grenzen setzen, das wäre männlicher. Stattdessen oft dieser hündisch-verliebte Blick von ihm, unerträglich. Natürlich hatte Rita auch Schuldgefühle, schließlich hatte Thomas ihr eigentlich nichts getan, aber sie fand, er müsste einfach ein bisschen mehr an sich arbeiten. Schließlich kam Rita zu dem Ergebnis, dass Thomas doch nicht der Richtige sei, sie bräuchte einen etwas souveräneren Mann, der mehr mit beiden Beinen im Leben stünde. Rita machte Schluss und fühlte sich danach wie befreit. Für Thomas brach die Welt zusammen, was hatte er nur falsch gemacht?

Hier hat Rita ein Bindungsproblem. Nun können Sie einwenden, das kann ja schließlich jedem mal passieren, dass er sich in der Auswahl vertut. Deswegen ist Rita doch nicht zwangsläufig eine Bindungsvermeiderin! Der Einwand ist richtig. Wie bei allen Bindungsängstlichen (und auch anderen Menschen) ist der Blick in die Vergangenheit entscheidend. Rita passierte das immer wieder: Auf eine heftige Phase der Verliebtheit und Idealisierung des Partners erfolgt in der zweiten Runde die Abwertung und Demontage. Dieser Typus des Bindungsängstlichen hat stark narzisstische Züge (mehr dazu finden Sie im Exkurs »Ein ungutes Paar. Bindungsangst und Narzissmus«). Ich möchte Rita als die »Prinzessin« (die entsprechenden Männer als »Prinzen«) bezeichnen. Rita kann sich richtig heftig verlieben und gerne auch auf den ersten Blick. Sie schwebt dann auf einer Wolke aus diesem Gefühl des Verliebtseins und ist berauscht. Was sie weniger kann, ist, den Alltag mit einem Partner zu leben und seine Schwächen auszuhalten. Das »kickt« sie nicht so, das fühlt sich irgendwann langweilig und festgefahren an. Sie möchte das Leben dagegen in vollen Zügen genießen, es muss aufregend bleiben, bloß kein Stillstand. Stillstand fühlt sich für Menschen wie Rita wie »Tod« an. Und feste Beziehungen auch. Das ist Rita aber nicht bewusst, sie sehnt sich ständig danach, den Richtigen zu finden, der ihr ein aufregendes, spannungsreiches Leben bietet. Außerdem möchte sie einen gewissen »Glanz« an ihrer Seite. Ihr Partner muss nicht nur ihr gefallen, er soll auch zu ihrer Selbstaufwertung dienen, etwas Besonderes sein. Die ganz »normalen« Typen haben sie deswegen nie gereizt. Immer wieder fragt sie sich, warum alle anderen Glück in der Liebe haben und nur sie immer wieder an die Falschen gerät. Anders als Peter in unserem ersten Beispiel, der einfach abtaucht und dem Konflikt lieber aus dem Weg geht, schafft Rita Distanz durch Abwertung des Partners. Sie nörgelt und kritisiert an ihm herum, um ihn doch noch zu ihrem Mister Perfect zu modellieren. Gerade weil Thomas sich aber wenig zur Wehr setzt, verliert sie zunehmend die Achtung vor ihm. Enttäuscht wendet sie sich von ihrem vermeintlichen Traumprinzen ab und hält nach der nächsten schicksalhaften Begegnung Ausschau.

Der Maurer – ich bestimme über Nähe und Distanz zwischen uns!

Ira und Lukas leben seit sechs Jahren zusammen. Lukas ist selbstständiger Grafiker, Ira ist bei einer Bank tätig. Ira hätte eigentlich gern Kinder, aber Lukas sagt, er fühle sich noch nicht so weit, zunächst müsse er seinen Laden auf sicheren finanziellen Boden stellen – sie hätten ja auch noch etwas Zeit. Auch an den Wochenenden muss Lukas häufig ins Büro. Arbeit und Freizeit sind bei ihm kaum voneinander getrennt. Ira hingegen hat die Wochenenden immer frei und kommt auch in der Woche meistens gegen 18 Uhr nach Hause, während es bei Lukas nicht selten nach 21 Uhr wird. Ira würde gern mehr Zeit mit Lukas verbringen. Was sie besonders wurmt, ist, dass Lukas, wenn er mal nicht arbeitet, viel Zeit auf dem Sportplatz verbringt und danach mit seinen Kumpels gerne noch einen trinken geht. Ein weiteres Hobby von Lukas ist Zeitschriften lesen. An den Wochenenden, sofern er nicht im Büro ist, liest er stundenlang die Tageszeitung, politische Magazine und Computerfachzeitschriften. Ira hat das Gefühl, dass es ihr viel wichtiger ist als ihm, gemeinsam Zeit zu verbringen. Sie fühlt sich oft allein. Denn auch wenn Lukas körperlich anwesend ist, scheint er trotzdem oft innerlich weit weg von ihr zu sein. Deswegen fühlt sie sich auch öfter einsam, selbst wenn er im Raum ist. Dabei ist sie sich sicher, dass er keine andere hat und dass er die Beziehung mit ihr auch will. Das sagt er auch immer, wenn sie ihn darauf anspricht. Er fühle sich wohl in der Beziehung, aber er brauche eben seine Freiräume. Ira hat auch die Erfahrung gemacht, dass es nichts bringt, ihn zu zwingen, mal einen Abend mit ihr auszugehen, wenn er keine Lust dazu hat. Dann sitzt er da wie »abgeschaltet«, er redet zwar mit ihr, aber sie hat den ganzen Abend das Gefühl, dass er am liebsten woanders wäre. Dann gibt es aber auch wieder Abende oder Tage, an denen er »voll da« ist. In diesen Momenten hat sie das Gefühl, dass er ihr ganz nah ist, dann fühlt sie, dass er sie liebt, woran sie ansonsten öfter zweifelt. Jedes Mal nimmt sie sich dann vor, locker zu bleiben und auf die Beziehung zu vertrauen, wenn er das nächste Mal auf Distanz geht. Aber meistens gelingt ihr das doch nicht. Lukas ist dann nämlich derartig »abgeschaltet«, dass sie immer wieder in ein »einsames Loch« fällt.

Auch Lukas ist ein typischer Vertreter eines Bindungsvermeiders. Das notorische Jein, in dem diese Menschen ihre Beziehungen gestalten, zeigt sich auch in Lukas’ Verhalten ganz deutlich. Scheinbar hat er sich zwar auf eine feste Bindung mit Ira eingelassen, aber er sorgt auf vielfältige Weise dafür, immer wieder Distanz herzustellen. Lukas »mauert«, deswegen könnte man diesem Typus auch den Beinamen »Maurer« verleihen. Hierbei bedient er sich bei Bindungsvermeidern allseits beliebter Strategien: Arbeit und leidenschaftlich gepflegte Hobbys. Ein weiteres bezeichnendes Merkmal ist Lukas’ diffuse Zeitplanung. Bindungsvermeider legen sich nämlich ganz allgemein ungern fest. Das gilt nicht nur für Beziehungen, sondern in der Regel für alle Lebensbereiche: Sie brauchen jederzeit das Gefühl, sich neu und frei entscheiden zu können. Deswegen landen sie auch nicht selten in der Selbstständigkeit, da ihnen hier wenig äußere Strukturen aufgezwungen werden. Die Selbstständigkeit bietet auch oft den optimalen Vorwand, hinter der Arbeit zu verschwinden. Ein weiteres Phänomen zeigt sich in der Beziehung von Ira und Lukas sehr deutlich: Der Bindungsvermeider hat die Macht. Lukas ist der Alleinherrscher über Nähe und Distanz in der Beziehung. Er bestimmt, wann er Ira nah sein will und wann nicht. Er kann sich nicht ihr zuliebe nähern, auch wenn sie ihn bittet, bleibt er auf Distanz. Nähe stellt er nur dann her, wenn er es will. Die Einsamkeit, die Ira immer wieder spürt, ist gleichzeitig auch ein Gefühl der Ohnmacht, da das Miteinander in jeder Hinsicht zu kurz kommt. So kann sie keinerlei Einfluss nehmen auf ihren Wunsch, ihm nahe zu sein. Während in gesunden Beziehungen ein Geben und Nehmen und Kompromisse an der Tagesordnung sind, sind in bindungsphobischen Beziehungen die Machtverhältnisse einseitig geklärt. Der Bindungsängstliche steckt die Grenzen ab, und der Partner kann zusehen, wie er damit klarkommt.

Jäger, Prinzessinnen und Maurer – die Gemeinsamkeiten der Beziehungsängstlichen

Was der »Maurer« Lukas recht drastisch tut, ist letztlich für alle Bindungsphobiker typisch: Der Bindungsängstliche steckt die Grenzen der Beziehung ab. Sei es, dass er wie Lukas bestimmt, ob er gerade Lust auf eine Unterhaltung hat oder sich lieber hinter der Zeitung oder in seiner Arbeit verkriecht. Oder dass er – wie der Jäger Peter – letztlich bestimmt, ob man sich sehr häufig oder gar nicht trifft. Auch die Prinzessin regelt die Machtverhältnisse einseitig, indem sie festlegt, ob ihr Gegenüber »richtig« oder »falsch« ist und sie sich jede Kritik bis hin zum Beenden der Beziehung erlaubt, weil der Partner nicht ihren Vorstellungen entspricht.

Auch vermischen sich in der Realität die typischen Verhaltensweisen von Jäger, Prinzessin und Maurer bei Menschen mit Beziehungsängsten. Wäre Thomas, der Partner der Prinzessin Rita, beispielsweise unabhängig geblieben und hätte er weiter sein »eigenes Ding« gemacht und so seinerseits immer wieder Distanz hergestellt, hätte er mit großer Wahrscheinlichkeit Ritas Jagdinstinkt geweckt. Sie hätte vermutlich gar nichts mehr zu meckern gehabt und sich ganz darauf konzentriert, ihren »Traumprinzen« Thomas zu erobern und einzufangen. Nach dem Motto: »Er sieht weder besonders gut aus, noch haben wir viele Gemeinsamkeiten, außerdem hat er wirklich ein paar blöde Angewohnheiten. Aber ich bin verrückt nach ihm!« Wie oft hat man schon sinngemäß solche Aussagen gehört? Oder wie oft hat man schon bei sich gedacht: Warum macht er oder sie sich bloß so mürbe wegen dieses Typen oder dieser Frau? »Ich liebe den, den ich nicht kriegen kann«, lautet das unbewusste Motto vieler Bindungsvermeider. Die Partner, die man hingegen »sicher hat«, verlieren schnell an Farbe.

Sehr typisch für Bindungsvermeider jeder Ausprägung ist auch das Gespräch zwischen dem Jäger Peter und seiner umworbenen Sonja über ihre zukünftige Beziehung. Der Satz »Ich bin noch nicht so weit« wird meiner Meinung nach von allen Bindungsängstlichen weltweit in allen Sprachen dieser Welt ausgesprochen. Bindungsvermeider legen sich nicht fest! Sie halten sich Optionen offen und halten ihre Partner damit hin. Der Satz »Ich bin noch nicht so weit« ist »traumhaft«, denn er beinhaltet zwei Aussagen: Ich bin JETZT noch nicht so weit, ABER (vielleicht) werde ich irgendwann so weit sein?! Der Adressat kann sich dann aussuchen, was er hören MÖCHTE: Will er die Botschaft hören »Ich will keine feste Beziehung« (was sehr klug wäre), oder pickt er sich die Botschaft heraus – was die meisten tun – »Es kann ja noch etwas werden« und fängt an zu kämpfen. Der innere Zwiespalt der Bindungsphobiker, der sich zwischen dem Wunsch nach Nähe und Beziehung und der gleichzeitigen Angst davor abspielt, spiegelt sich somit auch sehr deutlich in ihrer Sprache wider: Es ist dieses notorische Jein, das die (potenziellen) Partner oft in den Wahnsinn treibt.

Die besondere Gefahr, die dabei von Jägern ausgeht, ist grundsätzlich die, dass sie in ihrem Kampf um die Eroberung schwer von Bindungsfähigen zu unterscheiden sind. Gerade ihre Hartnäckigkeit kann leicht als Ernsthaftigkeit fehlgedeutet werden. Und dies hat auch häufig darin seinen Grund, dass sie es ja auch tatsächlich erst einmal ernst meinen. Wie ich schon im Eingangskapitel erwähnt habe, weisen die meisten Bindungsphobiker es weit vonsich, Bindungsängste aufzuweisen. Das heißt, sie glauben häufig bei ihrem neuen Schwarm, diesmal wirklich »den Richtigen oder die Richtige« gefunden zu haben.

Doch sobald der Jäger das Gefühl hat, dass der oder die ihn wirklich will, wird ihm ganz mulmig zumute. Denn ab diesem Moment fühlt er nicht mehr nur, dass er selbst etwas will, sondern auch, dass sein Gegenüber etwas von ihm will. Plötzlich sieht der Jäger sich vor Erwartungen gestellt. Und Erwartungen sind für jeden Bindungsphobiker tödliches Gift. Erwartungen bedeuten für sie so viel wie Einengung, Freiheitsentzug und Gängelei. Vor allem bedeuten sie aber – und das ist den meisten nicht bewusst – die Möglichkeit, den anderen Menschen zu enttäuschen. Hierauf werde ich noch im dritten Kapitel »Auswege aus der Bindungsangst für Betroffene« unter dem Stichwort »Angst vor Erwartungen« tiefer eingehen.

Heirat und Dauerbeziehungen

Auch wenn in den obigen Beispielen keines der Paare verheiratet war oder gemeinsame Kinder hatte, darf man nicht vergessen, dass weder Kinder noch Heirat ein Ausschlusskriterium für Bindungsängste darstellen. Besonders schwierig sind Bindungsängste zu durchschauen, wenn die Betroffenen selbst an Partner mit Bindungsproblemen geraten. Beispielsweise wenn ein Jäger an eine Frau gerät, die sich ihm immer wieder entzieht. Ein Klient von mir war 15 Jahre verheiratet und schilderte die Ehe zusammenfassend so, dass er an seine Frau nie richtig herangekommen sei. Er habe 15 Jahre um ihre Liebe gekämpft. Er denke auch, dass seine Frau ihn nur geheiratet habe, weil sie damals mit dem ersten Sohn schwanger geworden sei und sich eine »Versorgungsbasis« habe sichern wollen. Nach der Trennung (seine Frau hat ihn schließlich verlassen) lernte er seine jetzige Freundin kennen, und hier war es nun genau umgekehrt: Sie wollte mehr von ihm, als er zu geben bereit war. Eine tiefer gehende Analyse seiner früheren Beziehungen, seiner Ehe und seiner aktuellen Beziehung brachte ans Licht, dass der Klient eigentlich immer nur dann Liebe und Leidenschaft empfinden kann, wenn diese nicht oder nur sehr ungenügend erwidert wird. Sobald er jemanden »sicher hat«, verliert er das Interesse. Ein ähnliches Muster also wie bei Peter (dem »Jäger«) und Rita (der »Prinzessin«). Weil dieser Klient jedoch eine Familie gegründet hat und immerhin 15 Jahre verheiratet war, waren die zugrunde liegenden Bindungsängste nur sehr schwer zu durchschauen.

Ebenso ist es durchaus denkbar, dass Ira und der »Maurer« Lukas noch Jahre zusammenbleiben, Ira irgendwann schwanger wird und Lukas sie dann (wenn auch widerwillig) heiratet. Somit entsteht rein äußerlich der Eindruck einer funktionierenden Beziehung, die aber im Binnenraum ausgeprägte bindungsphobische Strukturen aufweist. Es ist auch möglich, dass Ira ihrerseits unter Bindungsängsten leidet und an Lukas nur so interessiert ist, weil er sich nie wirklich auf sie einlässt. Dann wäre sie in einer ähnlichen Position wie der Klient, der 15 Jahre verheiratet war.

Hilfe für Betroffene: Der erste und wichtigste Schritt für Betroffene ist die Selbsterkenntnis. Zum einen die Erkenntnis, dass man große Angst vor einer Beziehung hat – und sie deshalb mit allen Mitteln selbst verhindert. Zum anderen die weitere Erkenntnis, dass diese Angst vor Beziehung und Nähe zu einem anderen Menschen in Wahrheit eine große Angst vor Abhängigkeit ist, die meist in der frühen Kindheit ihre Wurzeln hat. Wer sich diese Zusammenhänge bewusstmacht, kann anfangen, sein Verhalten auf der bewussten Ebene zu durchschauen – und legt damit den Grundstein für Veränderung. In welchen konkreten Schritten diese Selbsterkenntnis und ein Wandel vom beziehungsängstlichen Menschen zum beziehungsfähigen Menschen funktionieren können, erfahren Sie im dritten Kapitel »Auswege aus der Bindungsangst für Betroffene«. In acht Schritten können Sie die Ursachen Ihrer Beziehungsangst ergründen, einen Zugang zu Ihren verschütteten Gefühlen finden und praktische Anregungen für einen neuen Umgang mit Nähe, Beziehungen und Partnerschaft erhalten.Hilfe für Partner: Auch wenn es paradox klingt: Gerade Partner von Menschen mit Beziehungsphobien müssen lernen, sich ein gehöriges Maß unabhängiger von ihrem Partner zu machen. Denn häufig sitzen die Partner von beziehungsängstlichen Menschen einem Irrtum auf, den man nur aus der Ferne erkennt: Sie empfinden die Größe der Verlustangst als Indiz für die Größe ihrer Liebe. Weil die Beziehung so dramatisch ist, von Aufs und Abs lebt und nie zur Ruhe kommt, kommen die Partner häufig zu dem falschen Schluss, dass diese Beziehung und dieser Mensch etwas ganz Besonderes und einmalig wären. Nur wer innerlich einen Schritt zurücktritt, sich auf sich selbst und seine Gefühle konzentriert statt auf das Beziehungsdrama, wird die Mechanismen und Trugbilder der Beziehung mit einem Bindungsphobiker durchschauen – und mit der neu gewonnenen Klarheit wieder handlungsfähig sein. Im vierten Kapitel unter der Überschrift »Auswege aus der Abhängigkeit: neun Hilfen, die den erwachsenen Anteil in Ihnen stärken« finden Sie hilfreiche Anregungen, wie Sie als Partner in einer bindungsgestörten Beziehung zu sich selbst, zu mehr Klarheit in Ihrer Beziehung und zu praktischen Konsequenzen finden.

Flucht,Angriff, Totstellreflex: die Abwehrstrategien

Machen Sie sich bitte bewusst, dass Bindungsangst tatsächlich eine Angst ist. Und dass deshalb auch das Verhalten der Betroffenen auf eine »drohende« Bindung die typische Reaktion ist, die alle Menschen zeigen, wenn sie Angst haben und sich einer Bedrohung ausgesetzt sehen: Man reagiert mit Angriff, Flucht oder Totstellen. Unser Gehirn kennt grundsätzlich nur diese drei Wege, um auf eine starke Bedrohung zu reagieren. Je nach Ausprägung kann sich die Angstreaktion durch Herzklopfen, Magen-Darm-Beschwerden, Erstickungsgefühle, Schweißausbrüche und so weiter äußern. Nicht selten ist es aber auch so, dass der Bindungsängstliche die Angst nicht klar wahrnimmt, stattdessen ein diffuses Unwohlsein, einen Freiheitsdrang, ein »Irgendetwas« fühlt, das ihn die Beziehung als unangenehm empfinden lässt.

Bindungsängste entstehen in vielen Fällen (nicht in allen) in einem sehr frühen Stadium der kindlichen Entwicklung, etwa in der Zeit zwischen der Geburt des Säuglings und dem zweiten Lebensjahr. Also in einer Zeit, in der das Kind existenziell abhängig ist von der Versorgung und Zuwendung seiner Bezugspersonen. Wenn in dieser Zeit keine gute Bindung zu den wichtigsten Bezugspersonen wie Mutter und Vater entsteht, wenn es beispielsweise an Versorgung oder Zuwendung mangelt, entwickelt der Säugling statt Vertrauen in Bindungen Angst vor Bindungen. Auf einer sehr tiefen und meist unbewussten Ebene ist die Bindungsangst also eine existenzielle Angst, die ihren Ursprung in der sehr frühen Kindheit hat. Für den Betroffenen geht es subjektiv tatsächlich um Leben und Tod. Ich werde im zweiten Kapitel »Ursachen der Bindungsangst« noch sehr genau auf die Ursachen von Bindungsängsten eingehen. Zunächst sollen auf den folgenden Seiten die Strategien beschrieben werden, die bindungsängstliche Menschen anwenden, um ihre Angst zu bewältigen. Wobei die meisten Betroffenen mindestens zwei Strategien zur Verfügung haben. Wenn Sie einige der Strategien bei Ihrem Partner oder bei Ihrer Affäre wiedererkennen, können Sie davon ausgehen, dass Sie es mit einem Bindungsphobiker zu tun haben. Wenn Sie die eine oder andere Strategie von sich selbst kennen, gehören Sie wohl auch selbst zu den Menschen, denen es schwerfällt, eine feste Bindung einzugehen. Für Sie lohnt es sich besonders, in diesem Buch weiterzulesen.

Flucht als Abwehrstrategie

Die häufigste und von allen Bindungsphobikern angewendete Strategie ist die Flucht. Die Flucht der Bindungsphobiker kennt schier unendliche Aus-Wege. Der krasseste Fluchtweg ist, erst gar keine Beziehung mit einem potenziellen Partner anzufangen – es bleibt bei einer Affäre, einem Flirt oder noch extremer: bei der Anbetung aus der Ferne. Der andere extreme Fluchtweg ist, die Beziehung für die Partner abrupt und unvorhersehbar zu beenden. Zwischen diesen Extremen liegen zahlreiche kleinere und größere Fluchtwege.

1. Flucht, bevor es anfängt

»Jedes Mal, wenn ich Joe sehe, flirtet er aufs Heftigste mit mir. Aber er fragt mich nie nach einer Verabredung. Als ich ihn neulich fragte, ob er Lust hätte, mit mir einen bestimmten Film gucken zu gehen, über den wir uns sogar noch unterhalten hatten, ist er mir ausgewichen – er könne im Moment so schlecht planen, weil er total viel um die Ohren habe.« (Sabrina, 27 Jahre)