Neun - Zach Hines - E-Book
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Zach Hines

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Beschreibung

Neun Leben zu haben statt einem einzigen ist eine riesige Chance. Vor allem, wenn man durch jede Wiedergeburt ein bisschen schöner, klüger und besser wird. Julians Freunde können es gar nicht erwarten, die Schwelle zu ihrem jeweils nächsten Leben zu überschreiten. Doch Julian hat Angst. Seine eigene Mutter wurde in ihrem neunten Leben sehr merkwürdig und verschwand schließlich. Was, wenn einem in Wahrheit mit jedem Tod ein Stückchen vom alten Leben weggenommen wird? Als Julian doch den Sprung ins zweite Leben wagt, sieht er, dass er mit seinen Zweifeln nur allzu recht hat: Er kommt einer riesigen Verschwörung auf die Spur. Einer Verschwörung, die selbst für Menschen mit neun Leben tödlich ist …

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Seitenzahl: 410

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Das Buch

»Julian hielt den Atem an und beugte sich vor. Sein Körper wurde schwerelos, und als der Wind gegen sein Gesicht schlug und ihn zwang, die Augen zu schließen, dachte er an gar nichts mehr. Er spürte, wie seine Füße über seinem Kopf zusammenschlugen und hörte nichts mehr außer dem pfeifenden Geräusch, das seinen Sturz begleitete.«

Nach einer Sonneneruption wird das Unglaubliche wahr: Die Menschen haben plötzlich neun Leben. Mit jedem neuen Leben steigen sie in der gesellschaftlichen Hierarchie auf. Nur Julian weigert sich, in sein zweites Leben zu springen. Als er es dann doch tut, bewahrheiten sich seine schlimmsten Befürchtungen. Und er kommt einer riesigen Verschwörung auf die Spur…

Der Autor

Zach Hines kommt ursprünglich aus West Virginia. Er verbrachte über zehn Jahre in Hong Kong, wo er als Journalist arbeitete. Dem Schreiben ist er treu geblieben und lebt heute als erfolgreicher Drehbuchautor in Los Angeles. »Neun« ist sein Debütroman.

Zach Hines

Neun

Roman

Aus dem Amerikanischen von Kristof Kurz

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel Nine bei Harper Teen, HarperCollins Publishers, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2018 by Zach Hines

Copyright © 2019 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten. Printed in Germany

Redaktion: Christine Schlitt

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, nach einem Originalentwurf von © Craig Shields

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24370-8V001

Für alle, die schon viele Leben gelassen haben und doch noch leben.

Im Sommer des Jahres 1808 kam es in einer Welt wie der unseren zu einer Sonneneruption. Dann färbte sich der Himmel orange, und Wolken zogen auf. Es folgte monatelanger sintflutartiger Regen. Dieser »Sommer der Stürme« veränderte die Gesellschaft für immer.

Die Menschen entdeckten, dass sie nun nicht mehr nur ein, sondern neun Leben hatten. Um Überbevölkerung und Hungersnöte zu verhindern, führten die Regierungen der Welt ein Eliminierungssystem ein, das jeden belohnte, der seine zusätzlichen Leben aufgab. Eines nach dem anderen …

… bis nur noch eines übrig war.

TEIL 1

KAPITEL 1

Julian hatte keine Vorstellung davon, wie sich der Tod anfühlte.

Natürlich nicht. Woher auch?

Und doch war er mitgekommen.

Molly hatte ihn zu dieser Party überredet. Die Feier fand in einer schönen, auf einer Anhöhe gelegenen Villa statt, die Gloria Merriweathers Eltern gehörte. Da sich diese jedoch in ihrem Erstwohnsitz in Magnolia Crescent aufhielten, hatten die Jugendlichen das Haus an diesem Abend ganz für sich.

Es war der perfekte Ort zum Sterben. Abgelegen. Ein Pool. Eine leichte Brise. Man konnte die Sterne sehen.

Die Party war bereits seit ein paar Stunden im Gange, und alle außer Julian hatten schon mehrere Drinks intus – immerhin mussten sie sich Mut für die Hauptattraktion des Abends antrinken. Die Auslöscher – wie immer ganz in Weiß gekleidet – wiesen den Anwesenden ihre Plätze zu. Einer von ihnen, ein mondgesichtiger Junge mit weißem Blazer und roter Strähne im pechschwarzen Haar, teilte Molly der Gruppe zu, die am Kamin Kuss oder Schluss spielte.

»Letzte Chance«, sagte Molly zu Julian. »Willst du wirklich nicht mitmachen?«

Molly war Julians beste Freundin – und mehr oder weniger seine einzige. Er betrachtete die auf ihren Hals tätowierte Zwei und berührte dabei unbewusst die Eins an seinem eigenen. Die Vorstellung, ohne sie auf der Party zu sein, gefiel ihm nicht, aber er würde auf keinen Fall Kuss oder Schluss mit ihr spielen. Das unverhohlene, geradezu perverse Entzücken in den Augen der Auslöscher bekräftigte ihn nur noch in seinem Entschluss.

»Ja, ganz sicher«, sagte Julian. »Ich weiß nicht, warum ich überhaupt mitgekommen bin. Ich will dir den Abend nicht verderben.«

»Kein Problem«, sagte Molly.

Molly würde ihn nicht drängen. Sie hatte Verständnis dafür. Und sie verstand ihn –das glaubte er zumindest. Trotzdem schämte er sich ein bisschen, sie einfach so zurückzulassen.

»Holst du mich dann ab? Wie versprochen?«, sagte Molly.

»Klar«, sagte Julian. Der Junge mit der roten Haarsträhne führte Molly zum Kamin. Julian wartete einen Moment, dann folgte er den beiden in einigem Abstand. Er stellte sich ganz hinten in die Ecke, während sich Molly zu einer Gruppe von sechs oder sieben Teenagern am Kamin gesellte. Sie saßen auf einer dünnen, auf dem weißen Teppichboden ausgebreiteten Plastikplane.

Die Auslöscherin – Constance, ein äußerst attraktives Mädchen in einem schicken weißen Blazer – musterte Molly eingehend. »Du kommst gerade rechtzeitig zur nächsten Runde.« Constance zündete ein Räucherstäbchen an, schaltete die Stereoanlage ein und legte elektronische Entspannungsmusik auf. Dann strich sie ihr langes schwarzes Haar mit einer unnötig theatralischen Geste nach hinten und wies Molly einen Platz unter ihren Jüngern zu.

»Mein Kreis, meine Regeln«, erklärte Constance. »Zum Glück habe ich aber nur eine: keine Hemmungen. Egal, wie dunkel eure geheimsten Wünsche sind – ich will, dass ihr euch ihnen stellt und sie annehmt. So läuft Kuss oder Schluss bei mir.« Ihre roten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

Constances Mitspieler saßen wie zum Flaschendrehen in einem Kreis. Aber statt einer Flasche lag eine 9-mm-Pistole in ihrer Mitte. Constance holte ein volles Magazin aus ihrer Handtasche, lud mit einer geübten, selbstsicheren Bewegung einmal durch und entsicherte die Waffe. Dann reichte sie sie an Molly weiter. »Du bist dran.«

Julian beobachtete, wie Molly die Pistole behutsam vor sich auf den Boden legte und in Drehung versetzte. Als sie zum Stillstand kam, zeigte der Lauf auf Constance, deren Gesicht sich zu einem verschlagenen Lächeln verzog.

»So, so«, sagte Constance. Alle im Kreis unterdrückten ein nervöses Kichern. »Du forderst mich also gleich in deiner ersten Runde heraus. Also …« – sie sah Molly tief in die Augen – »… Kuss oder Schluss?«

Molly nahm die Waffe und drückte den Lauf gegen Constances Stirn. Julian sah, wie seine beste Freundin die Augen schloss und schluckte. Wie immer, wenn sie nervös war, zuckten ihre Mundwinkel.

Molly, dachte er, du willst sie doch küssen. Was ist denn los mit dir?

Verwundert stellte Julian fest, dass Molly anscheinend plötzlich Geschmack daran gefunden hatte, im Mittelpunkt zu stehen.

Molly biss sich auf die Lippe und lief rot an. Die Hand, in der sie die Pistole hielt, zitterte.

Julian hielt den Atem an und verließ den Raum. Er wollte nicht mit ansehen, was als Nächstes geschah.

Im Badezimmer am anderen Ende des Flures stieß er auf Clayton Maxwell, den er aus dem Matheunterricht kannte. Clayton saß mit Bademütze und Schwimmbrille in der vollen Wanne und trank sein eigenes Badewasser mit einem langen Strohhalm.

»Keine Sorge«, sagte er. »Das ist Wodka. Ich trinke, bis ich dran ersaufe! Lust auf einen Shot?« Clayton lachte und nahm einen kräftigen Schluck.

»Nein, danke.« Julian verließ hastig den Raum.

Was für eine Zeitverschwendung. Was für eine Verschwendung von Leben.

Natürlich wusste Julian, dass es bei einer Auslöschungsparty ja genau darum ging, sein Leben auf möglichst dämliche Art zu verlieren. Aber wie er es auch drehte und wendete, er verstand einfach nicht, was daran Spaß machen sollte. Wo war der Witz, wenn am Ende der Nacht niemand mehr da war, um darüber zu lachen?

Ich sollte gehen, dachte er. Die Party war ja noch schlimmer als gedacht.

Julian stellte den Kragen auf, um die Eins an seinem Hals zu verdecken, und drängte sich durch die ausgelassenen Teenager. Sie waren betrunken oder high und konnten es gar nicht erwarten, etwas unglaublich Dummes zu tun. Ein Schüler mit weißem T-Shirt und im Auslöscherstil schwarz gefärbten Haaren taumelte ins Wohnzimmer und zeigte allen stolz die Machete, die in seinem Bauch steckte. Jubel. Seine Kumpels klatschten ihn ab, zwei Mädchen in extrakurzen Shorts griffen nach der Klinge, woraufhin er ihnen spielerisch auf die Finger schlug. Sein Blick war irr, die Pupillen in seinen aufgerissenen Augen geweitet.

»Vorsicht«, sagte er. »Wenn sie herausfällt, verblute ich. Sie ging unheimlich leicht rein, wie durch … Butter.« Blut färbte das weiße T-Shirt um die Stichwunde herum dunkel. Der Junge zwinkerte den kichernden Mädchen zu. Dann wurde sein Gesicht bleich, und auf seinem Körper bildete sich ein dünner Schweißfilm. Die starke Betäubung, unter der er offenbar gestanden hatte, ließ nach.

Julian verzog das Gesicht und drängte dann weiter durch die Menge zum Ausgang.

An der Tür zur Veranda fing ihn ein Junge namens Logan ab. Er hatte irgendein Amphetamin eingeworfen und textete Julian völlig euphorisch mit seinem Plan voll, einen Heißluftballon zu mieten und von diesem aus in den See zu springen. Er hörte gar nicht mehr auf zu reden. »Aus. Über. Tausend. Meter. Höhe!«, schrie er und riss die Augen hinter den dicken Brillengläsern vor lauter Entzücken über die eigene Schlauheit weit auf.

»Cool«, erwiderte Julian ohne die geringste Begeisterung. »Viel Erfolg.« Dann verdrückte er sich, während Logan den nächsten mit seinem genialen Plan nervte.

Julian wollte zu seinem in der Auffahrt geparkten Auto hinübergehen, blieb dann aber einen Moment lang beim Pool im Garten stehen. Über dem Wasser baumelten Dutzende Toaster, Mixer und andere elektronische Geräte an Verlängerungskabeln.

Mehrere Jungs in Badeshorts und Mädchen im Bikini standen auf dem Dach und machten sich bereit zum Sprung. Die kalte Nachtluft brachte sie zum Zittern. Sie hielten ein langes Kabel in den Händen, an dem die elektrischen Geräte fixiert waren, die hoch über dem Wasser hingen.

In der Mitte stand Nicholas Hawksley, der Anführer der Gruppe. Er würde das Signal zum Sprung geben. Er hatte sein pechschwarzes Haar zu einem akkuraten Seitenscheitel gegelt, sein Nummerntattoo – eine Fünf – zeichnete sich scharf auf der blassen Haut ab.

Julian lief es kalt den Rücken herunter. Was manche Leute alles für einen Post auf DeadLinks taten …

Auf dem Dach wurden Shots verteilt. Die Jugendlichen waren mittlerweile stark betrunken – und das würden sie auch sein müssen. Ihre Blicke waren wie gebannt auf Nicholas gerichtet. Selbst als sie die Köpfe zurücklegten, um die Drinks zu kippen, ließen sie ihn keine Sekunde aus den Augen. Er schritt mit einem – mal engelsgleichen, mal furchteinflößenden – Lächeln vor ihnen auf und ab. Sein Blazer flatterte steif im Wind. Alle warteten andächtig auf sein Kommando.

Eigentlich hatte Julian so schnell wie möglich zwischen den Hecken verschwinden und zu seinem Auto laufen wollen. Weg von hier. Aber irgendetwas an Nicholas fesselte seine Aufmerksamkeit.

Nicholas’ Stimme war so laut, dass ihn jeder, ob drinnen oder draußen, hören konnte.

»Nun kommen wir endlich zum eigentlichen Ziel der Nacht der lästigen Zweien! Als Zweien seid ihr nun ja keine Todesjungfrauen mehr. Den Anfang habt ihr also schon mal gemacht. Gratuliere!«

Hurrarufe.

»Aber die Drei ist der wahre Meilenstein«, sagte er. »Erst mit der Drei seid ihr würdig, selbst Auslöscher zu werden. Und das Erste, was ihr dafür lernen müsst, ist … euch mit Stil auszulöschen.«

Peng!

Im Haus fiel ein Schuss. Alle zuckten zusammen. Julian dachte an Molly und verzog das Gesicht. Nicholas ließ den Knall verhallen, bevor er weitersprach.

»Wir nehmen den Tod an. Und wir zeigen allen, wie lächerlich er ist«, sagte er. »Der Tod? Er ist ein Witz!« Die Jugendlichen pflichteten ihm mit lauten Rufen bei.

Nicholas hob die Hand, und alle verstummten.

»Auf mein Kommando«, sagte er und musterte sein Publikum eingehend. Dann ballte er die Faust und sah dabei nacheinander in jedes nervöse Gesicht, bevor er den Arm sinken ließ. »Banzai!«

Die Jugendlichen schrien ebenfalls »Banzai!« und sprangen in den Pool. Die elektronischen Geräte fielen mit ihnen ins Wasser, über das im nächsten Moment elektrische Entladungen wie blaue Skelettfinger tanzten.

Schreckensschreie, Schmerzenslaute, ein tödliches Zischen. Julian sah mit rasendem Herzen und trockenem Mund aus dem Schatten der Hecke heraus zu.

Peng, peng, peng, peng, peng!

Aus dem Haus drang nun ein Stakkato von Schüssen, sie klangen wie Feuerwerk. Julian hielt sich die Ohren zu. Es folgte eine Pause und schließlich noch ein einzelnes, letztes Peng.

Dann herrschte Stille. Gerade eben war hier noch alles voller Leben gewesen, voller Aktivität, voller dummer Kids. Jetzt bewegte sich nichts mehr.

Dann hörte Julian ein Stöhnen hinter dem Pool.

Er wagte sich aus seinem Versteck und näherte sich dem Schwimmbecken. Die Körper der toten Jugendlichen trieben auf dem Wasser. Ein Junge in Surfershorts – Jeffrey aus seiner Geschichtsklasse – war auf dem Betonstreifen neben dem Pool gelandet und hatte sich den Schädel aufgeschlagen. Nun lag er da wie eine verdrehte Puppe. Julian sah kurz einen schleimigen Schimmer, ein Anblick, auf den er gut hätte verzichten können. Schnell wandte er sich ab. Jeffrey stöhnte erstickt, kämpfte um ein paar letzte Worte. Wollte er seiner Reue oder einer düsteren, unaussprechlichen Ekstase Ausdruck verleihen? Julian verstand nicht, was Jeffrey zu sagen versuchte, und er wollte es auch nicht wissen.

Der metallische Geruch des Bluts verursachte Julian Übelkeit, aber es gelang ihm, seinen Brechreiz zu unterdrücken.

Molly.

Vielleicht hatte sie abgebrochen? Vielleicht hatte sie sich doch eines Besseren besonnen und sich gesagt: Julian hat recht, sich auszulöschen ist bescheuert. Vielleicht wartete sie ja darauf, dass er zurückkehrte und sie mitnahm.

Julian rannte zurück ins Haus und dann ins Wohnzimmer. Eine Wolke aus Räucherwerk und Schießpulver schlug ihm entgegen, als er die Tür öffnete. Alle Mitspieler von Kuss oder Schluss lagen nebeneinander auf dem Boden. Manchen fehlte der Hinterkopf. Julian bemühte sich, nicht hinzusehen, aber er konnte die dunklen Blutlachen auf der Plastikplane nicht ignorieren. Die seltsame Entspannungsmusik lief immer noch.

Er stieg vorsichtig über die Körper. Constance lag in der Mitte des Kreises mit weit geöffneten Augen auf dem Rücken. Der Schuss hatte ihre Schläfe durchschlagen, das Blut war fächerförmig auf der anderen Seite herausgespritzt. Die Pistole hielt sie immer noch fest umklammert.

Julian wandte sich von ihr ab, sah Molly halb auf einem Sitzsack liegen und drehte sich schnell weg.

Er konnte sich nicht überwinden, sie noch einmal anzuschauen. Also schloss er die Augen und stand einen Moment lang einfach nur da. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. »Molly?«, sagte er, ohne die Augen zu öffnen. Keine Antwort.

Ich muss es mit eigenen Augen sehen, dachte er.

Weshalb bin ich denn sonst überhaupt noch hier?

Schau einfach hin.

Er öffnete die Augen.

Mitten auf Mollys Stirn war ein roter Punkt, aus dem ein dünner Blutfaden rann. Julian atmete auf. Es hätte viel schlimmer sein können. Zum Glück war ihr Hinterkopf nicht zu sehen.

Er schaltete die Musik aus und setzte sich neben Mollys Leichnam. Vor dem Haus verhallten die letzten Todesröchler, dann herrschte absolute Stille.

Nun gab es niemanden mehr, der über irgendetwas hätte lachen können.

Die Party hatte ein jähes Ende gefunden.

KAPITEL 2

Einen fantastischen Moment lang spürte Molly Terra weißglühende, absolute Glückseligkeit. Sie trieb in einer weichen, gallertartigen Substanz, losgelöst und frei von der Person, die sie einmal gewesen war. Ekstase erfasste sie in Wellen. Dann öffneten sich plötzlich ihre Augen und füllten sich mit Wasser. Im gleichen Moment wurde das Glücksgefühl von einer anderen, weitaus primitiveren Empfindung verdrängt: Todesangst.

Molly trat um sich. Ihr Mund öffnete sich reflexhaft zu einem Schrei, sie schluckte Wasser und spürte, wie es ihre Lunge füllte. Sie würgte und geriet in Panik, dann wurde ihr klar, wo sie sich befand: Sie war im See.

Beruhige dich, befahl sie sich, du weißt, was du zu tun hast. Du hast es schon einmal getan.

Molly begann zu paddeln, kämpfte sich nach oben. Schließlich erreichte sie die Oberfläche, spuckte Wasser und sog die Luft mit tiefen Atemzügen in ihre Lunge. Sie strampelte mit den Beinen, bis sie einigermaßen die Fassung wiedererlangt hatte. Das Glücksgefühl, das sie gerade noch empfunden hatte, war einer seltsamen Leere gewichen. Molly rieb sich die Augen und sah sich um.

Ein gespenstischer Nebel lag über dem See. In einiger Entfernung leuchtete ein helles Licht zweimal auf, gefolgt von einem dröhnenden, an ein Nebelhorn erinnernden Alarmton. Folge dem Licht, folge dem Signalton. Ihr Kopf war mittlerweile wieder einigermaßen klar. Sie versuchte, sich das tragische Ereignis in Erinnerung zu rufen, das sie hierhergeführt hatte, aber da war nichts. Sie wusste nur noch, dass Julian sie zu einer Party abgeholt hatte. Was war passiert? Wie war sie von dort hierhergekommen?

Diese Erinnerungslücke machte ihr Angst, bis ihr die Symptome des Wiedergeburtssyndroms einfielen. Nur wenige erinnerten sich an die Ereignisse kurz vor ihrem Ableben. Und der tatsächliche Moment des Sterbens blieb für immer in Nebel gehüllt.

Aber das spielte jetzt ja auch keine Rolle mehr.

Wichtig war, dass sie im See wiedergeboren worden war. So wie beim ersten Mal und so, wie es auch beim nächsten Mal sein würde. Schwerfällig und desorientiert schwamm sie durch das lauwarme Wasser zum Ufer, unaufhaltsam einer höheren Lebensnummer und damit der Zukunft entgegen.

Molly wurde erwachsen.

Kurze Zeit später spürte sie den seidenweichen Schlamm des Seegrundes unter ihren Füßen. Bald reichte ihr das Wasser nur noch bis zu den Schultern. Je näher sie dem Ufer kam, desto weiter tauchte ihr nackter Körper aus dem flacher werdenden Wasser auf. Anfangs versuchte sie noch, ihre Blöße mit den Händen zu bedecken, doch dann gab sie auf. Es war völlig in Ordnung, nackt zu sein. Immerhin war das eine Wiedergeburt.

Andere Personen tauchten im Nebel um sie herum auf. Molly erkannte Constance und sah zu ihr hinüber, aber Constance wandte sich ab. Molly spürte, wie Scham in ihr aufstieg. Hatte sie etwas falsch gemacht? Sie errötete, stapfte aber tapfer weiter Richtung Ufer.

Am Ufer wurde sie von den Wächtern in der unverwechselbaren taubenblauen Tracht in Empfang genommen. Die ganze Prozedur lief professionell und unpersönlich ab. Wortlos reichte eine Wächterin Molly ein Handtuch und ein Krankenhaushemd aus Papier.

»Ist viel los?«, fragte Molly und wischte sich das Gesicht ab. Ohne zu antworten führte die Wächterin Molly zu einem imposanten weißen Backsteingebäude, in dem sich die Menge in mehreren Warteschlangen drängte. Manche der soeben erst Wiedergeborenen waren jung, andere alt, doch alle trugen dieselben Krankenhaushemden und warteten nun auf ihre Abfertigung.

Molly spürte, wie sie Stück für Stück ins Leben zurückkehrte – wie ein Fernsehbild, das allmählich aus dem weißen Rauschen auftaucht. Die Aufsichtsbeamten erinnerten die Wartenden an die Vorschriften: »Bleiben Sie in der Schlange. Gedulden Sie sich bitte. Nehmen Sie Rücksicht auf Ihre Mitbürger.«

Molly betrachtete die nassen Gesichter um sich herum und erkannte viele Mitschüler. Sie unterhielten sich, lachten …

Die Party. Die lästigen Zweien. Anscheinend kamen sie alle von da. Als sie die anderen lachen hörte, hatte sie plötzlich das Gefühl, etwas verpasst zu haben.

Sie verdrehte die Augen. Hast du wirklich Angst, etwas verpasst zu haben, weil du tot warst? Selten dämlich, Molly.

Die Schlange führte im Zickzack durch eine Absperrung wie vor der Sicherheitskontrolle an einem Flughafen. Auf einem Podium am anderen Ende des Raumes stand ein Mann in einer purpurnen Robe. Kopf und Gesicht waren von den dicken Lagen seines Zeremonialtuchs verhüllt, eine einschüchternde schwarze Brille verdeckte die Augen.

Der Seeprälat.

Der oberste Wächter, der traditionell anonym blieb. Seine blau gekleideten Untergebenen sorgten dafür, dass jeder der Wiedergeborenen in seiner Schlange blieb, während der Prälat wiederum dafür sorgte, dass kein Wächter aus der Reihe tanzte. Zu diesem Zweck tippte er Befehle in sein Tablet, woraufhin Signallichter in seltsamen Mustern aufleuchteten, die nur die Wächter verstanden.

Nach ungefähr einer halben Stunde war Molly an der Reihe und wurde von einem Wächter in eine kleine Kabine geführt. Der Mann schloss den Vorhang und bedeutete ihr, den Arm zu heben. Dann nahm er einen kleinen stiftähnlichen Apparat und setzte ihn unterhalb ihres Ellbogens an. Der Stift war heiß, und es fühlte sich wie ein Bienenstich an. Sie zuckte zusammen.

»Au, das tut weh. Eine kleine Vorwarnung wäre nett gewesen!«

»Entspann dich«, sagte der Beamte ebenso desinteressiert wie ungeduldig.

Dann steckte er den Stift in sein Tablet und überprüfte das Ergebnis des Verifikations-Gentests. Molly schaute heimlich auf das Display, auf dem ihr Name, ihr Alter und ihre Lebensnummer (»ehemals: 2, aktuell: 3«) eingeblendet waren. Dann nahm der Beamte ein anderes, an ein Smartphone erinnerndes Gerät von seinem Gürtel. Die Nummerierungspistole. Ein kleines blaues Licht blinkte auf, als er sie einschaltete.

»Neue Nummer und neuer Chip«, sagte er. Jetzt fiel Molly auch wieder ein, dass mit jedem neuen Tattoo ein winziger Chip implantiert wurde, um die Echtheit der Lebensnummer zu gewährleisten. »Noch einmal entspannen, bitte.«

Er drückte das Gerät gegen Mollys Hals. Sie spürte einen weiteren heißen Stich. Als der Beamte den Apparat wieder wegnahm, warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel.

An ihrem Hals prangte eine schwarze Drei.

Molly unterdrückte einen Freudenschrei.

Haltung, bitte.

Schließlich war sie nun eine Drei.

Molly ging zum Busbahnhof und sah dort auf die Uhr: Es war 5.30 Uhr morgens. Wiedergeburten fanden fast immer dreißig bis vierzig Minuten nach dem Eintritt des Todes im nächstgelegenen See statt (manchmal dauerte es sogar nur zehn Minuten). Warum? Die wissenschaftliche Erforschung der Wiedergeburt hatte dazu bisher nicht mehr als ein paar Theorien hervorgebracht. Dennoch wusste Molly, dass man sich auf diesen zeitlichen Ablauf verlassen konnte. Die Abfertigung hatte etwa drei Stunden gedauert, also musste sie um etwa zwei Uhr nachts gestorben sein.

Die Busfahrt nahm weitere zwei Stunden in Anspruch. Sie hatte Julian auf dem Weg zur Party gebeten, sie um etwa halb acht Uhr morgens abzuholen.

Sie hatte gar nicht schlecht geschätzt.

Und auf Julian konnte sie sich ebenfalls verlassen.

Der Wind, der durch die Hügel um den See herum pfiff, gewann an Geschwindigkeit und fuhr durch das Terminal, wobei er Müll aufwirbelte. Wenigstens war es für September noch immer ziemlich warm. Eine Böe spielte mit Mollys Krankenhaushemd. Sie hielt es sich vor die Beine, als sie zur Haltestelle für den Bus nach Lakeshore ging. Dort stellte sie sich mit anderen Wiedergeborenen – Dreien, Vieren, Fünfen – in eine Schlange und wartete.

Sie alle waren wunderschön, jeder die beste physische Version seiner selbst. Zumindest aus Mollys Sicht. Das war der Teil der Wiedergeburt, auf den sie sich am meisten gefreut hatte: der neue Körper. Man kam in exakt demselben Alter wieder, in dem man gestorben war, aber als perfekte Version seiner selbst, mit einem vollkommenen Körper – abgesehen natürlich von der hohen Wahrscheinlichkeit eines Wiedergeburtsfehlers. Aber das war meist nur ein kleiner Makel: eine Allergie, ein Muttermal, eine leichte Veränderung der Interessen oder des Gemütszustandes.

Molly strich über die Stelle, an der ihr verhasstes Doppelkinn gewesen war, und konnte es kaum fassen: Die kleine Fettschicht war verschwunden. Vergiss die Fitnessstudios! Sport und Diäten waren ein Witz gegen die Wiedergeburt!

Molly trank einen Schluck aus dem kleinen Saftkarton, den sie im Empfangszentrum erhalten hatte, und blickte aus dem Fenster, während der Bus die Straße entlangholperte. Die Lake Road wand sich durch einen dichten Ulmenwald, der Lakeshore und seine Vororte vom See trennte. Die Bäume wurden immer höher und dichter, je näher man dem See kam. Ihre knorrigen Äste umschlangen einander so fest, dass kein Sonnenlicht bis zu den uralten, tiefschwarzen Schatten im Unterholz drang.

Aber Mollys Aufmerksamkeit galt etwas ganz anderem. Sie betrachtete ihr Spiegelbild: ihr Kinn, die Drei auf ihrem Hals, das nun tiefe und glänzende Braun ihrer Haare. Wie üppig ihre Brust sich unter dem Krankenhaushemd wölbte. Sie bewunderte sich selbst, wie sie eine schöne Unbekannte bewundern würde, die ihr zufällig auf der Straße begegnete.

So, jetzt hast du deine Zwei ausgelöscht. Das ist dein neues Ich, Molly. Du bist diese Frau, deren Spiegelbild du gerade siehst. Nett, dich kennenzulernen. Du hast tolles Haar. Und du bist eine Drei. Mach was draus. Sie wiederholte den letzten Teil leise, wie ein Mantra. »Mach was draus.«

Schließlich erreichte der Bus die Haltestelle Lake Road, und Molly, immer noch im Krankenhaushemd, stieg aus. Julian war schon da und lehnte gegen sein in die Jahre gekommenes, kaputtes Auto. Guter alter Julian. Die Eins an seinem Hals war ihr noch nie so deutlich ins Auge gestochen wie in diesem Moment. Und es überraschte sie, wie sehr sie dieser Anblick störte.

Aber wie auch immer: Er war da, wie versprochen. Sie lächelte und überquerte die Straße.

KAPITEL 3

»Seltsam? Du fühlst dich ›seltsam‹? Das ist alles?«

Natürlich hatte Julian in der Schule gelernt, wie eine Wiedergeburt funktionierte und was man tun musste, wenn man im See aufwachte. Aber er wollte wissen, wie es sich anfühlte.

»Ja, seltsam. Zuerst fühlt es sich an wie … als ob jeder Teil deines Körpers kommt. Gleichzeitig«, sagte Molly.

»Was?« Julian drehte sich zu ihr um und versuchte dabei, die Straße im Auge zu behalten. »Moment. Du meinst, wie … wie ein Orgasmus?«

»Ja, ein Ganzkörper-Orgasmus«, sagte Molly. »Es war so gut, dass es fast wehtat. Und als es aufgehört hat, war es, als ob … als ob ich nicht mehr ich bin. Ich komme mir immer noch nicht normal vor. Als hätte ich meinen Körper verlassen und müsste mich erst einmal wieder darin zurechtfinden. Es ist schwer zu beschreiben.«

»Wow, also spaßig klingt das nicht gerade«, sagte Julian. »Schreckliche Schmerzen, Wahnvorstellungen, Verwirrung … das ist doch das genaue Gegenteil von Spaß. Wie nennt man das doch gleich? Ach ja, genau: Folter.«

Molly betrachtete sich in Julians Rückspiegel. »Von nichts kommt nichts, oder?«

»Vielleicht bin ich ja verrückt, aber mir ist eine ununterbrochene körperliche Existenz lieber.«

Molly beschloss, die Bemerkung zu ignorieren. Sie strich sich über das Gesicht. »Hey, sehe ich fett aus?«, fragte sie stattdessen.

»Wie bitte? Das ist alles, was dich gerade beschäftigt?«

»Im Ernst. Sehe ich fett aus?«

»Nein, aber so fett warst du doch auch vorher schon nicht.«

Molly zog eine Augenbraue hoch. »›So fett‹?«

»Entschuldige, so war’s nicht gemeint. Naja, du siehst irgendwie … fitter aus. Deine Muskeln sind definierter und so weiter. Versuchs doch mal bei den Kunstturnerinnen, die suchen noch Nachwuchs.«

Molly boxte ihm spielerisch gegen den Arm. »Du willst mich ja nur in so einem engen Trikot sehen, stimmt’s?«

»Der neue Körper macht dich ein bisschen größenwahnsinnig, kann das sein?«

Obwohl … unwillkürlich erschien das Bild von Mollys neuem durchtrainierten Körper in einem hautengen Outfit vor seinem geistigen Auge. Schnell verscheuchte er diesen Gedanken.

Molly schnaubte verächtlich, konnte sich dabei aber das Lachen kaum verkneifen.

Sie war irgendwann in der letzten Woche zu dem Entschluss gekommen, dass es an der Zeit war, die Zwei hinter sich zu lassen.

Julian und Molly gehörten zu einer Handvoll Unterklasse-Kids, die mit einem Stipendium an die Lakeshore Academy, die Eliteschule von Lakeshore, gekommen waren. Sie hatten sich an ihrem ersten Schultag beim Ausfüllen der Stipendiumsformulare im Büro des Schuldirektors kennengelernt. Aber wirklich zusammengeschweißt hatte sie die Tatsache, dass sie beide die einzigen Einsen an der gesamten Schule gewesen waren – bis vor etwa einem Jahr.

Auch wenn er es ihr nie gesagt hatte, Julian war insgeheim stolz darauf gewesen, dass sie dem Druck nicht nachgegeben hatten. Es waren nur sie beide gegen den Rest der Welt gewesen. Sie beide, die von oben herab ihren Klassenkameraden dabei zugesehen hatten, wie sie blindlings in die Fallen tappten, die die Welt für sie bereithielt: Hausaufgaben. Football. Cheerleader-Truppe. Auslöschung.

Wie selbstherrlich er gewesen war. Wenn er jetzt an diese Zeit zurückdachte, schämte er sich für seine Dummheit.

Molly hatte ihre Eins in aller Heimlichkeit ausgelöscht. Letztes Jahr hatte sie sich an einem ganz gewöhnlichen Morgen durch die Menge zu ihrem Platz im Klassenzimmer gedrängt, als er die Zwei an ihrem Hals gesehen hatte. Sie war seinem Blick ausgewichen, und da hatte er begriffen, dass er nun komplett allein auf der Welt war. Fassungslos hatte er sie nach der Schule angeschrien: »Wie kannst du nur so bescheuert sein!«

Molly hatte den Mund geöffnet, um zu antworten, war dann aber stumm geblieben. Wie hätte sie etwas in Worte fassen können, was sich nicht in Worte fassen ließ: Warum sie nun genau das tat, worüber sie beide sich immer aufgeregt hatten. Und weil sie es nicht erklären konnte, hatte sie den Mund einfach wieder geschlossen, sich umgedreht und war zum Parkplatz gegangen. Danach hatten sie eine Woche lang kein Wort miteinander gesprochen.

Diesmal hatte sie Julian sofort von dem Entschluss erzählt, ihre Zwei auszulöschen. Sie hatte sich morgens im Klassenzimmer noch vor dem Unterricht bei Schuldirektor Denton zu ihm vorgebeugt und ihm mitgeteilt, dass sie vorhatte, zur Nacht der lästigen Zweien zu gehen. Dabei hatte sie gespannt seine Reaktion beobachtet.

Julian, der sich vorgenommen hatte, das nächste Mal erwachsener zu reagieren, schloss die Augen und brachte ein halbwegs aufrichtiges und gelassenes Lächeln zustande. Dieses Mal hatte er nicht das Gefühl, verraten worden zu sein. Er war auch nicht wütend. Er verspürte nur diesen mittlerweile vertrauten Eindruck von Verlassenheit. »Keine Sorge, alles okay«, sagte er zu Molly.

Alles okay.

Doch in der Nacht nach Mollys Ankündigung lag Julian lange wach und starrte an die Decke seines dunklen Zimmers. Eine schreckliche Einsamkeit streckte ihre langen Finger nach ihm aus. Hätte er nicht schon vor langer Zeit den Entschluss gefasst, nie mehr zu weinen, dann wäre er jetzt in Tränen ausgebrochen. Also lag er einfach nur da und starrte so lange an die Decke, bis die langen Finger aufgaben und verschwanden.

Er war mit Molly zu den Lästigen Zweien gegangen … als moralische Unterstützung, aber auch in der vagen Hoffnung, den eigenen Widerstand aufzugeben. Dazuzugehören, so wie Molly. Ein Rädchen im gut geölten Getriebe des Highschool-Lebens zu sein. Dann wären sie beide wieder vereint gewesen, nicht gegen die Welt, sondern als angepasster Teil davon.

Aber das war natürlich nicht passiert.

Julian hielt vor Mollys Haus an.

»Tut mir leid, ich bin noch etwas neben mir. Ich fühle mich, als ob ich hinter meinem eigenen Echo herjage«, sagte sie. »Ich brauche ein bisschen Zeit, um meinen Kopf und meinen Körper wieder zusammenzubringen. Aber danke fürs Mitnehmen. Du bist ein echter Freund, Jules. Ich weiß, dass du keine Lust auf die Party hattest.«

»Schon gut«, sagte Julian. »Dazu sind Freunde ja da. Du weißt schon, wenn man mal eine Begleitung braucht oder stirbt und abgeholt werden muss und so weiter.«

Molly lächelte und stieg aus. Sie wollte schon zur Haustür gehen, drehte sich dann aber noch einmal um und lehnte sich durch das offene Beifahrerfenster in den Wagen.

»Sag mal, haben die Auslöscher danach eigentlich aufgeräumt?«

»Ich glaube schon. Aber so lange bin ich nicht geblieben.«

»Es wird also keine Trauerfeier geben oder so …?«

»Igitt. Hättest du deine eigene Leiche sehen wollen?«, fragte er.

»Nein. Also … Ich wollte nur … Ich wollte nur wissen, was überhaupt passiert ist.«

Julian verzog das Gesicht, als er an Mollys Leiche dachte. Schnell verscheuchte er das Bild aus seinen Gedanken.

»Du hast mit Constance Kuss oder Schluss gespielt«, sagte Julian. »Aber ich weiß nicht, wie es passiert ist. Ich war draußen, und als ich wieder reingekommen bin, waren alle tot.«

Molly schwieg einen Moment lang und dachte nach. »Du hast nicht zufällig ein paar Fotos gemacht?«, fragte sie schließlich.

»Also weißt du«, Julian versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn diese Vorstellung anwiderte. »Auf die Idee bin ich wirklich nicht gekommen.«

Molly seufzte. »Schon okay, du hast recht. Ich würde sie auch gar nicht sehen wollen.« Julian sah ihr nach, als sie zur Tür ging und dann im Haus verschwand.

Er ließ das Auto noch eine Zeit lang in ihrer Einfahrt, saß einfach nur da und schnupperte den Duft der wiedergeborenen Molly, der noch im Wagen hing: der modrige Geruch des Sees, ein bisschen wie Schlamm direkt nach dem Regen, dazu die leichte Chlornote des mit Desinfektionsmittel behandelten Krankenhaushemds. Er betrachtete seine Hände auf dem Lenkrad. Sie waren dünn und blass. Seine Daumen wirkten seltsam unproportional, sie waren zu klein im Vergleich zu seinen anderen Fingern. Er blickte aus dem Fenster. Das Sonnenlicht wurde vom Asphalt des Bürgersteigs reflektiert und blendete ihn. Staub tanzte in der Luft wie trauriges, verirrtes Konfetti.

Er würde auf keinen Fall weinen.

KAPITEL 4

Julian wohnte auf einem kleinen Hügel oberhalb eines Autoschrottplatzes. Der Schrottplatz war vor etwa zehn Jahren gebaut worden, woraufhin die Grundstückspreise auf dem Hügel in den Keller gefallen waren.

Im ersten Jahr, nachdem der Schrottplatz den Betrieb aufgenommen hatte, waren die meisten Nachbarn weggezogen. Auch Julians Familie hatte umziehen wollen. Julians Mutter, die bei der Wiedergeburtsbehörde gearbeitet hatte, war gerade befördert worden. Mit der Gehaltserhöhung hätte sie ihm sogar die Lakeshore Academy finanzieren können, ganz ohne Stipendium. Aber seitdem hatte sich vieles verändert, und ein Umzug stand nun nicht mehr zur Debatte.

Die rostigen Scharniere der Tür quietschten, als Julian eintrat. Er warf seine Tasche auf einen Stuhl. Sein kleiner Bruder Rocky saß am Küchentisch und machte seine Hausaufgaben. Er ging in die dritte Klasse.

»Kommt Molly auch?«, fragte Rocky.

»Heute nicht, Rock. Sie fühlt sich nicht gut.«

»Hast du sie geküsst oder was?«, sagte Rocky.

Julian zeigte seinem achtjährigen Bruder scherzhaft den Mittelfinger. »So ist das nicht mit Molly. Sie steht nicht auf Jungs«, sagte Julian.

Rocky zuckte mit den Schultern. »Vielleicht steht sie ja auf beides.«

Julian verdrehte die Augen und fragte sich gleichzeitig, woher sein kleiner Bruder sich so gut mit den sexuellen Neigungen seiner Freunde auskannte. Dann holte er einen Kochtopf und machte sich daran, das Abendessen vorzubereiten.

Rocky wandte sich wieder seinen Hausaufgaben zu. »Molly wäre eine coole Mom«, sagte er.

Julian ließ den Topf scheppernd auf den Tisch fallen.

Mom.

Rocky war Meister darin, ihn aus der Fassung zu bringen.

Bei Rockys Geburt war ihre Mutter mitten in ihrem fünften Leben gewesen. Sie war Beamtin im höheren Dienst bei der Wiedergeburtsbehörde gewesen und hatte nur so vor Energie gestrotzt, ihr gemeinsames Zuhause mit Leben erfüllt und Julian, Rocky und ihren Vater immer auf Trab gehalten, ob es nun um die Schule, Partys oder Sport ging. Sie war die treibende Kraft ihrer Familie gewesen.

Ein paar Jahre später hatte sie – praktisch über Nacht, wie es Julian vorgekommen war – ihr siebtes Leben begonnen. Sie veränderte sich so schnell und so dramatisch, als hätte man sie durch eine andere Person ersetzt. Was ja gewissermaßen auch der Fall gewesen war, jedenfalls, was ihren Körper betraf.

Kurz nachdem sie als Sieben nach Hause gekommen war, stellte sich heraus, dass sie der Retrogression zum Opfer gefallen war. Einen so schweren Fall hatten die Ärzte noch nie erlebt. Sie fehlte regelmäßig bei der Arbeit. Sie vergaß ganze Lebensabschnitte. Sie verlor ihr Lachen und ihre Lebensfreude – und damit auch ihre Persönlichkeit. Sie vergaß, wo sie wohnte. Vergaß, dass sie ein kleines Kind hatte, um das sie sich kümmern musste …

»War Mom auch so cool wie Molly?«, fragte Rocky.

»Ja«, sagte Julian. »Mom war cool.«

Während ihres achten Lebens blieb ihre Mutter über eine Woche lang verschwunden. Als Julian seinen Dad fragte, wo sie war, bekam er keine richtige Antwort. »Mach dir keine Sorgen. Sie kommt bald zurück«, sagte sein Vater, ohne dabei von der Werkbank aufzublicken, als wagte er nicht, Julian in die Augen zu sehen. »Und jetzt sprechen wir nicht mehr darüber.«

Genau, Dad, wir sprechen einfach nicht mehr über sie. Vergessen wir sie einfach, so wie sie uns vergessen hat.

Ein Vorfall hatte sich mit jedem einzelnen schrecklichen Detail in Julians Gedächtnis eingebrannt: Es war mitten in der Nacht gewesen, seine Mutter war seit Tagen nicht nach Hause gekommen. Das Geräusch von zersplitterndem Glas hatte Julian geweckt, und er schlich sich nach unten in den Flur und spähte um die Ecke. Doch statt eines Einbrechers sah er dort die geisterhafte Gestalt seiner Mutter in einem Krankenhaushemd und mit einer auf den Hals tätowierten Neun. Er ging vorsichtig auf sie zu, in der Hoffnung, dass sie ihn erkennen und in den Arm nehmen, dass sie wieder seine Mutter sein würde. Aber stattdessen sah sie ihn an und schrie: »Du! Du bist an allem schuld! Du Stück Scheiße!«

Dann ging sie auf ihn los. Plötzlich, wie aus dem Nichts, erschien sein Vater und hielt sie fest, noch bevor sie Julian erreichte.

»Geh in dein Zimmer, und schließ die Tür ab!«, rief er Julian zu.

Julian rannte in sein Zimmer und knallte die Tür zu, hinter der er nun gedämpft seinen Vater mit tiefer Stimme schreien hörte. Er hörte, wie die Haustür zugeknallt wurde. Hörte, wie Schläge auf Haut klatschten, hörte die Schmerzensschreie seiner Mutter durch die Nacht hallen. Dann folgte eine plötzliche Stille, die noch entsetzlicher als alles davor war.

Als Julian es schließlich wagte, aus dem Fenster zu spähen, sah er seine Mutter in Richtung Schrottplatz davonlaufen. Doch nach etwa zehn Metern blieb sie abrupt stehen, drehte sich um und schaute zu seinem Fenster hinauf. Sie sah ihn an. Der Blick aus den leuchtend grünen Augen durchbohrte ihn, so durchdringend und intensiv, als würde er sich direkt in seine Seele brennen. Dieses Gefühl würde er nie vergessen. Dann brach die Verbindung ab, und seine Mutter verschwand im Dunkel der Nacht.

Das war das letzte Mal, dass er sie lebend gesehen hatte.

Nach dieser Nacht lernte Julian, die wahre Bedeutung eines Wortes zu verstehen, das er bis dahin nur aus Schulbüchern gekannt hatte. Ein Wort, das nur selten ausgesprochen wurde, und wenn, dann nur von besorgten Erwachsenen im ernsten Flüsterton.

Permatod.

»Jules, kannst du mir helfen?«, fragte Rocky. »Mrs. Landon macht mir in Mathe die Hölle heiß. Sie sagt, sie mag meine ›Einstellung‹ nicht.« Er machte Anführungszeichen mit den Fingern.

»Naja, Sarkasmus hilft dir dabei auch nicht weiter. Und Faulheit erst recht nicht«, sagte Julian. »Bei den Malaufgaben brauchst du meine Hilfe doch gar nicht. Das Einmaleins kannst du schon. Außerdem muss ich mich um das Abendessen kümmern.«

»Wirklich? Aber es ist doch schon so spät. Wollen wir nicht einfach ein Sandwich essen?«

»Sorry, aber ich habe es Dad versprochen. Auch wenn er Doppelschichten arbeitet, möchte er, dass wir alle zusammen was Anständiges zu Abend essen.«

»Aber bis er da ist, muss ich schon längst im Bett sein«, protestierte Rocky. »Und Dad will doch auch, dass ich genug Schlaf bekomme. Wegen ihm muss ich ja auch immer so früh aufstehen.«

»Was? Du willst mich mit ihm allein lassen, wenn er von einer Zwölfstundenschicht nach Hause kommt? Was ist mit ein bisschen brüderlicher Solidarität?«

Rocky stöhnte. »Na gut, aber dafür schuldest du mir was.«

»Ich stehe in der Schuld eines Achtjährigen …« Julian schüttelte den Kopf.

»Ja, also hilf mir mit den Mathehausaufgaben.«

»Okay, okay«, sagte Julian. Er schüttete den Inhalt einer Konservendose in den Topf und ging zu seinem Bruder hinüber.

»Siehst du, brüderliche Solidarität«, sagte Rocky. Julian verdrehte die Augen.

Julians Vater kam noch später heim als erwartet. Es war schon fast halb zehn. »Verdammter Verkehr, von Retro Row bis zur Lake Road war alles dicht«, sagte er und ließ seine Arbeitstasche neben der Tür fallen.

Dann setzten sie sich und aßen pflichtbewusst den faden und mittlerweile kalten Tofu-Eintopf. Im Hintergrund lief leise der Fernseher. In den Nachrichten wurde über ein Seeterritorium in der Ukraine berichtet, wo man das Kriegsrecht verhängt hatte, nachdem es aufgrund der Lebensmittelknappheit zu Aufständen gekommen war. Dann wechselte der Nachrichtensprecher zu lokalen Themen. Julian setzte sich auf, als ein DeadLinks-Video gezeigt wurde, auf dem »offensichtlich der Tod einiger Dutzend Minderjähriger bei einer Party in Lakeshore zu sehen ist«.

Es wurden nur wenige Szenen daraus gezeigt, doch Julian erkannte die Party sofort wieder. Er war erstaunt, dass sie es ins Fernsehen geschafft hatte. Dann bekam er Angst, dass er auch in dem Video zu sehen sein könnte. Hatte ihn jemand unbemerkt gefilmt? Julian schaltete den Fernseher aus, bevor sein Vater etwas mitbekam. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war eine weitere Diskussion über seine Eins.

Das Abendessen verlief wie immer: Dad sprach nur wenig, und wenn, dann ging es um die Arbeit, die Schule oder die mangelnde Disziplin seiner beiden Söhne – die heilige Dreifaltigkeit der unangenehmen Themen.

»Julian«, sagte er, »ich habe heute bei der Arbeit mit Marcus gesprochen.« Seine Stimme hatte nun den allzu vertrauten strengen, betont rationalen Klang, den sie immer dann annahm, wenn er seine Familie mit der harten Realität des Lebens konfrontieren musste. »Einem Freund von ihm gehört das Tasty’s südlich von Retro Row.«

Julian schluckte einen Bissen herunter und schloss die Augen. Er wusste bereits, was als Nächstes kommen würde.

»Da ist eine Stelle frei geworden, und er könnte dir mit deiner … Situation entgegenkommen. Du sollst morgen nach der Schule gleich zum Vorstellungsgespräch vorbeikommen.«

»Was? Fast Food?« Julian war entsetzt.

»Naja, immer noch besser als Zeitarbeit im Staubhaus, oder?«, sagte Julians Vater.

»A-aber, sollte ich nicht …«, stammelte Julian. Vor seinem geistigen Auge sah er sich bereits in einer albernen Uniform an einer Kasse stehen und Essensbestellungen entgegennehmen … Wenn er das zuließ, wenn er unter die Räder dieser Welt geriet, würde er sicher auch bald mit dem Auslöschen anfangen.

»Solltest du nicht was?«, fragte sein Vater.

»Naja … Sollte ich mich dieses Jahr nicht auf meine College-Bewerbungen konzentrieren?«

Sein Vater kaute und betrachtete ihn dabei mit zu Schlitzen verengten Augen, bis er heruntergeschluckt hatte.

»College-Bewerbungen?« Er sprach das Wort in einem Tonfall aus, als hätte Julian behauptet, es gebe Leben auf einem weit entfernten Planeten. »Mein Sohn, ich weiß, es ist hart ohne …« – er blickte zu Rocky hinüber – »… ohne deine Mutter. Aber es wird nun langsam Zeit, dass du dir Gedanken darüber machst, was aus dir werden soll.«

Julian starrte in sein Essen. Auf dem Eintopf hatte sich eine gummiartige Haut gebildet.

»Sicher, es gibt auch ein paar liberale Colleges«, fuhr sein Vater fort. »Aber wenn du wirklich auf eine gute Schule willst, dann musst du …«

»Ich weiß, Vater«, sagte Julian, »du brauchst Geld.« Er stach mit dem Löffel in die Haut auf seinem Eintopf.

Sein Vater zog wütend die Augenbrauen zusammen und hatte mit einem Mal doppelt so viele Falten im Gesicht. Dann knallte er den Löffel mit einem lauten Scheppern auf den Tisch, holte tief Luft und beugte sich mit plötzlich todernster Miene zu Julian vor. »Wir. Wir brauchen Geld.« Er sprach jedes einzelne Wort langsam und überdeutlich aus. »Wenn du eine bessere Idee hast, dann raus damit.«

Julian wich dem Blick seines Vaters aus. Er wusste, was nun kommen würde: die Lebensbilanz ihrer Familie, die sich aus der Gesamtzahl aller getilgten Leben innerhalb eines Haushalts errechnete. Je besser die Bilanz, desto mehr staatliche Unterstützung.

Die Lebensbilanz ihrer Familie fiel trotz der zahlreichen vorzeitigen Tilgungen, die Julians Mutter hatte vornehmen lassen, sehr schlecht aus. Schuld war Julian, die Eins, die längst keine mehr sein sollte.

»Okay«, sagte er und starrte seinen Teller an. »Bewerbungsgespräch morgen. Danke, Dad.«

Das Gesicht seines Vaters entspannte sich. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und atmete tief und lang aus. »Könnten wir nun wieder unser gemeinsames Abendessen genießen, bitte?«

Doch Julian stand abrupt auf und stellte seinen Teller ins Spülbecken.

»Ich bin fertig«, sagte er.

»Julian, du tust so, als ob das meine Schuld wäre«, sagte sein Dad.

»Schon okay«, antwortete Julian. »Ich bin einfach nur müde.«

Julian ging in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Der Raum war sehr klein, eigentlich war er nicht einmal ein richtiges Zimmer, sondern ein an das Wohnzimmer angeschlossener begehbarer Schrank. Nach dem Tod seiner Mutter hatte Julian auf ein eigenes Zimmer bestanden, und dies war der einzige freie Raum gewesen. Julian hatte die Werkzeuge darin weggeräumt, die Regale entfernt, eine Matratze auf Betonklötzen hineingelegt und die Wände mit Postern zugekleistert. Die meisten zeigten Landschaften. Vor allem war ihm wichtig, dass keine Menschen darauf zu sehen waren. Savannen. Dschungel. Weite Aussichten von Klippen auf das Meer. Er hatte sich eine Oase aus menschenleeren Landschaften geschaffen, einen Ort, an dem er für sich sein konnte.

Seine wertvollsten Besitztümer befanden sich in einem Schuhkarton unter dem Bett. An diesem Abend zog er ihn hervor. Dann saß er eine Weile mit dem Karton auf dem Schoß da und überlegte, ob er ihn öffnen sollte.

Schließlich entschied er sich dafür.

In dem Karton befanden sich ein eselsohriges Comicheft, etwas Bargeld, ein paar alte Zeichnungen von Comicfiguren. Zuoberst lag der von der Wiedergeburtsbehörde ausgestellte Ausweis seiner Mutter mit einem Foto. Sie lächelte, ihre tiefgrünen Augen leuchteten. Das war seine Mutter, seine wahre Mutter. Nicht die Frau, die auf ihn losgegangen war. Nicht die Frau, die ihre Leben ausgelöscht hatte, bis nichts mehr von ihr übrig war.

Seine Augen brannten, und seine Kehle schnürte sich zu.

Okay, genug für heute.

Er schloss den Karton und stellte ihn wieder an seinen Platz unter dem Bett. Dann legte er sich hin und starrte die Decke an, von der die kreideweiße Farbe abblätterte. Er schob alle Gedanken an seine Mutter, an Fast-Food-Restaurants und Lebensbilanzen beiseite und sah auf sein Handy.

Er hatte eine Menge DeadLinks-Meldungen erhalten – die meisten führten zu Videos von den Lästigen Zweien. Ein sorgfältig arrangiertes Bild zeigte Constance, die als Femme fatale mit Pistole posierte. Das Gesicht mit den durchdringenden blaugrauen Augen wurde von zwei tiefschwarzen Haarsträhnen umrahmt. 477 Kommentare. Er schloss die Liste, um die schleimigen Blödsinnsbeiträge nicht lesen zu müssen, und scrollte weiter. Es folgten mehrere Bilder von den Jugendlichen, die vom Dach gesprungen waren und anschließend tot im Pool gelegen hatten. Er scrollte weiter.

Dann ein Bild von Molly.

Seine beste Freundin, wie sie halb auf dem Sitzsack lag. Tot.

Jetzt war sie eine von ihnen.

Seine Augen brannten. Er hatte einen Kloß im Hals.

Er schloss DeadLinks, und zum Vorschein kam eine App, die er immer geöffnet hielt: ein Satellitenbild von einem grünen Eiland, das einsam im klaren, blauen Wasser lag. Die afrikanische Insel Mauritius.

Julian zoomte näher heran und bewegte den Bildausschnitt dabei weg von den Städten und hin zur Spitze eines Berges in einem abgelegenen Teil der Insel. Er zoomte noch näher heran, bis er das Gesuchte fand: eine kleine Hütte ganz oben auf dem Berg, völlig abgeschieden, auf einer einsamen Insel mitten im Ozean. Dieser Anblick beruhigte ihn.

Dann verkleinerte er die Ansicht wieder, bis die Insel nur noch ein winziger Fleck mitten im Blau des Ozeans war. Er stellte sich vor, dass er im Vergleich zu dieser blauen Welt nicht mehr als ein mikroskopischer, unbedeutender Punkt war, kleiner als ein Sandkorn.

Durch die dünnen Wände hörte er, wie sein Vater Rocky ins Bett brachte und im Haus Türen und Fenster schloss. Julian aber konzentrierte sich weiter auf die Karte, zoomte die Insel näher heran, dann wieder heraus, und versuchte dabei, sich vorzustellen, wie sich das Nichts anfühlte. Schließlich war der Akku leer, und der Bildschirm wurde abrupt schwarz.

Julian hängte das Telefon an das Ladekabel und machte das Licht aus. Dann schloss er die Augen. Der Kloß in seinem Hals hatte sich aufgelöst, und bald fiel er in die Leere eines tiefen, traumlosen Schlafs.

KAPITEL 5

Franklin hasste den frühen Morgen. Viel natürlicher hätte er es gefunden aufzustehen, wenn der Körper von selbst wach wurde, und sich hinzulegen, wenn der Körper schlafen wollte. Aber die Schule, das Auslöschen, der Tod – all der Mist hielt ihn davon ab, das zu tun, was nur natürlich war.

Und den heutigen Morgen hasste Franklin ganz besonders, denn er musste sich das aufgeblasene Gelaber von Nicholas Hawksley anhören.

Nicholas, der amtierende Gold Star der Auslöscher, war voll in Fahrt. Vom Platz des Silver Star aus sah Franklin dabei zu, wie Nicholas im Orchesterraum der Schule auf und ab ging. Sein Haar saß auch um 7.30 Uhr morgens bereits perfekt, und er verströmte koffeinbefeuerte Energie.

»Nehmt eure eigene Sinnlosigkeit an«, sagte Nicholas in selbstsicherem Tonfall, während er den Blick über seine weiß gekleideten Anhänger schweifen ließ, allesamt Kinder der Superreichen und mit den besten Beziehungen ausgestattet – diejenigen Schüler der Academy, die bereit waren, alles zu tun, um cool zu sein.

Die Auslöscher trugen ausnahmslos weiße Blazer. Die Lakeshore Academy erlaubte es ihren Schülern theoretisch zwar, zwischen den beiden Schulfarben Weiß und Marineblau zu wählen, praktisch trugen aber nur die Auslöscher Weiß. Das Löscher-Outfit wurde außerdem durch einen subtilen, aber gut sichtbaren roten Akzent komplettiert (»ein Blutfleck, der die schöne Fassade verunziert«, hieß es in der Auslöscherbibel). Die meisten kamen dieser Pflicht mit einem roten Button am Rucksack oder roten Anstecknadeln am Kragen nach. Franklin trug ein unauffälliges rotes Armband. So leistete er der Forderung Genüge, ohne dass es groß ins Auge fiel. Er mochte keine Prahlerei.

An diesem Morgen war das Treffen besser besucht als sonst, was an dem Zustrom neuer Anwärter lag, die im hinteren Teil des Raumes Platz genommen hatten: Es waren die frisch wiedergeborenen Dreien, inspiriert von ihrem Tod bei den Lästigen Zweien und getrieben von der Hoffnung, irgendwann selbst einmal den weißen Blazer zu tragen oder vielleicht sogar mit Nicholas auf dem Podium zu stehen.

»Ich weiß, dass viele von euch gerne unserer exklusiven kleinen Gemeinschaft beitreten möchten«, sagte Nicholas und wies dabei mit einer Handbewegung auf die hinteren Sitzreihen. »Bei der Nacht der lästigen Zweien – an dieser Stelle Dank an Gloria Merriweather für ihre Gastfreundschaft – habt ihr einen Vorgeschmack auf das Auslöscherleben bekommen.« Er nickte einer kleinen dunkelhaarigen jungen Frau in der ersten Reihe zu.

»Achtzehn Löschungen waren es an diesem Abend. Macht sich gut auf DeadLinks. Wir sind sogar in die Lokalnachrichten gekommen. Das ›kleine Haus der großen Schrecken‹ haben sie es getauft.« Nicholas ging in genau abgezirkelten Bewegungen hinter dem Podium auf und ab. »Ich habe meine Beziehungen spielen lassen. Alle Leichen waren bereits abtransportiert und beseitigt, als die Polizei am Morgen eintraf.«