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Ule Hansen

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Beschreibung

Vor Menschen hat sie Angst. Serienmörder versteht sie.

Berlin, Potsdamer Platz. Beim Klettern auf einem Baugerüst macht ein Junge eine grausame Entdeckung: Drei Leichen, einbandagiert in Panzertape, hängen in schwindelerregender Höhe an den Gerüststangen. Sie sehen aus wie Mumien und scheinen in dieselbe Richtung zu blicken, als würden sie auf etwas warten. Als die menschenscheue Fallanalystin Emma Carow auf den Fall angesetzt wird, ist ihr schnell klar, dass er für ihre Karriere entscheidend ist. Doch je fester sie sich verbeißt, desto mehr droht ein altes Trauma sie in den Abgrund zu ziehen.

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Zum Buch

Berlin, Potsdamer Platz. Beim Klettern auf einem Baugerüst macht ein Junge eine grausame Entdeckung: Drei Leichen, einbandagiert in Panzertape, hängen in schwindelerregender Höhe an den Gerüststangen. Sie sehen aus wie Mumien und scheinen in dieselbe Richtung zu blicken, als würden sie auf etwas warten. Als die menschenscheue Fallanalystin Emma Carow auf den Fall angesetzt wird, ist ihr schnell klar, dass er entscheidend für ihre Karriere ist. Doch je tiefer sie sich verbeißt, desto mehr droht ein altes Trauma sie in den Abgrund zu ziehen.

Zum Autor

Ule Hansen ist das Pseudonym eines Berliner Autorenduos. Astrid Ule ist zudem Lektorin, Eric T. Hansen freier Journalist. Gemeinsam haben Sie bereits mehrere Dreh- und Sachbücher verfasst. Sie teilen eine Leidenschaft für nächtliche Gespräche bei gutem Whisky, exzentrische Halloweenpartys und ziellose Streifzüge durch die vergessenen Ecken der Stadt. NEUNTÖTER ist ihr erster Thriller. Besuchen Sie Ule Hansen auf www.ulehansen.de oder auf Facebook.

ULE HANSEN

NEUNTÖTER

THRILLER

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Originalausgabe 02/2016 Copyright © 2015 by Ule Hansen Copyright © 2016 by Wilhelm Heyne Verlag, München,, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Susann Rehlein Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design Umschlagmotive: © Gettyimages / Proehl Proehl / Picture Press Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-15314-4V005
www.heyne.de

1

Sie hielt das Päckchen in der Hand. Das Päckchen von ihm.

Sie bewegte sich nicht. Konnte sich nicht bewegen. Konnte kaum atmen.

Von der Wohnungstür bis zur Küche hatte sie gebraucht, bis sie seinen Namen auf der Rückseite erkannte. Fünfzehn Sekunden? Zehn? Weniger? Bis sie begriff, was da stand: sein Name. Woher kannte er ihre Adresse? Sie stand nicht im Telefonbuch, war nirgendwo verzeichnet.

Seinen Namen hatte sie in den letzten zehn Jahren oft gelesen.

In den Polizei- und Prozessakten, von denen sie daheim Kopien aufbewahrte, im Internet, auf seiner Website, die sie ziemlich schnell nach seiner Entlassung aus der Haft entdeckt hatte, in Artikeln und Interviews über sein neues Leben, seine Resozialisierung, seine Vorträge, seine Lebensphilosophie, seine aufmunternden Worte, durchaus auch kritische Artikel, aber immer wieder Bewunderung: faszinierte Journalisten, Promis, die sich fast verschämt als Fans outeten, wachsendes Publikum.

Es gab Zeiten, in denen sie das Zeug nicht anfasste. Manchmal wochenlang. Dann wurde sie irgendwann wieder schwach, meist spätabends, und holte alles wieder raus, die Artikel und die Akten, las darin, suchte seinen Namen im Netz.

Aber noch nie hatte er sich persönlich gemeldet.

Nicht per Post, nicht per E-Mail, nicht per Telefon. Und jetzt auf einmal: ein Päckchen. Sogar seine Adresse stand drauf. Er war inzwischen also auch nach Berlin gezogen.

Ein Nachbar musste das Päckchen für sie angenommen haben, am Samstag wahrscheinlich, und es ihr gestern Abend noch vor die Tür gelegt haben. Sie hatte es gefunden, als sie zur Arbeit wollte. Das Päckchen war schwer für seine Größe, in braunes Packpapier gewickelt, klassisch, rechteckig, fest eingeschlagen, ein Buch. Sie wusste auch, welches. Sein Buch. Das Buch, über das sie schon in der Zeitung gelesen hatte. Gutes zumeist. Auch Fernsehauftritte gab es. Zwei. Sie hatte sie nicht gesehen. Nur aufgenommen. Die Aufnahmen warteten auf sie. Darin hielt er sicher das Buch in die Kamera.

Mit einem Gruß. Ein Gruß wird dabei sein, dachte sie. Muss dabei sein. Ein Autor schickt kein Buch ohne ein, zwei persönliche Worte, oder? Eine Widmung oder ein Kärtchen. »Schöne Grüße« zum Beispiel. Vielleicht: »Einen lieben Gruß von einem alten Freund.«

Oder auch: »Ich denke an dich – dein Vergewaltiger.«

Emma Carow stand in ihrer Küche und konnte sich nicht bewegen.

Sie starrte auf den Fußboden. Linoleum, wie es früher auf Arbeitstischen zum Einsatz kam, sattgrün, blank poliert, erinnerte irgendwie an Schule oder Kontor. Auch die alte Küchenbank, der massive Holztisch fielen in diese Kategorie. Ihre Schwester Sarah hatte mal bemerkt, sie hätte die ganze Wohnung wie eine Amtsstube eingerichtet, selbst Küche und Schlafzimmer. Das war nicht ganz fair. Den Tassenberg in der Spüle, die überall gestapelten Bücher und Zeitschriften, findet man das in einem Büro? Na ja, die Nachschlage- und Standardwerke, den Goffman, den Dahle & Dölling vielleicht, auch die neueste Ausgabe der MKS. Aber doch nicht die ganzen ollen Reiseprospekte, die Kinderzeichnungen, die Rätselhefte der alten Nachbarin, vollgekritzelt, bis auf die paar Rätsel, die ihr zu schwer waren, die überließ sie gerne Emma, so was findet man nicht in einer Amtsstube, so schlimm war das doch gar nicht.

Das warme Licht der Deckenlampe warf einen gelben Kegel auf den Tisch und den Boden. Außerhalb des Kegels war es noch dunkel. Zu früh am Morgen. Das Dunkel wächst rasch an im Oktober in Berlin. Die Nacht wälzt sich über die Ostgrenze und drängt den Tag zurück, und jeden Morgen weicht sie später, die Wolken kommen aus dem Westen, aus dem Norden, von überallher eigentlich, und hängen da, und die Dunkelheit schleicht sich lautlos in jede Ecke, in jeden Winkel, wie ein Nebel, sie liebkost dich und atmet schwer in deinen Nacken. Im Oktober in Berlin. Und nicht nur dann.

Emma stand im goldenen Kegel und stellte sich vor, das Päckchen zu öffnen. Tat es aber nicht. Sie stellte sich andere Dinge vor, die sie auch nicht getan hatte: dass sie damals nicht zu ihm ins Auto gestiegen wäre, zum Beispiel. Ganz einfach.

Aber auch das: Er sitzt in irgendeiner Buchhandlung hinter einem Tisch und signiert sein Buch, die Schlange ist lang, er scherzt mit den Fans, er ist charmant, bis er erkennt, wer vor ihm steht: Sie. Emma. Sein Opfer. Mit einem Baseballschläger. Sie hebt ihn und fegt mit einem Schlag den Stapel Bücher vom Tisch und, wie interessant, sein Charme zerfließt wie Schnee in der Sonne. Als er unter den Tisch kriecht, zieht sie ihn wieder heraus, und seine Fans sind wie erstarrt, sie trauen sich nicht einzugreifen; sie wissen, wer sie ist.

Oder damals, im Gerichtssaal: Sie saß dort als Nebenklägerin und hörte, wie der Richter das Urteil sprach. Sie konnte seine Reaktion nicht sehen, aber sie wusste, er lächelte. Sieben Jahre? Nur eine weitere Station auf seinem Werdegang, wie die Schulzeit oder die paar Monate Wehrdienst. Wer weiß, vielleicht lernt er dort etwas Nützliches? Dann dreht er sich um, das Lächeln erstarrt in seinem Gesicht, als er ihre Waffe sieht, er schwitzt, seine Augen werden groß, er bebt, kann kein Wort mehr herausbringen, der erste Schuss trifft ihn gar nicht, ein Warnschuss, er fällt auf die Knie, er bettelt, er bereut, er winselt um Vergebung, dann schießt sie, um zu treffen.

Und am Ende immer wieder das: Sie steigt zu ihm ins Auto. Warum auch nicht? Sie hat keine Angst. Sie kennt ihn doch. Sie machen Scherze. Selbst als er die Autobahn verlässt und sie weiß, er fährt sie nicht nach Hause, sondern in den Wald, zum Ferienhaus im Wald, wo er sich einen Kaffee machen will, er braucht jetzt dringend einen Kaffee, selbst dann lacht und flirtet sie, sie hat keine Angst. Und im kalten Ferienhaus seiner Eltern, als er Kaffee macht, als er ihr etwas zeigen will, hier, in der Schublade seines Vaters, dieses dicke Jagdmesser mit dem sinnlich-glänzenden Holzgriff, selbst da hat sie keine Angst, denn sie weiß, er kann sie gar nicht aufs Bett zwingen und ihr die Kleidung vom Leib schneiden und ihr die Klinge, die am Rücken dick und an der Schneide unendlich scharf ist, dieses Messer, das gemacht ist, um einem gestandenen Hundertfünfzig-Kilo-Hirschen den Hals aufzuschneiden, an die Kehle drücken und sie wie eine strampelnde Beute besteigen und, während sie bettelt und wimmert, in sie eindringen und sie dann wieder ans Bett fesseln, wie man ein erlegtes Reh zum Transport zusammenschnürt. Für die Bequemlichkeit. All das kann er nicht, denn sie ist schneller und stärker, sie ist die Jägerin. Diesmal hat sie das Messer in der Hand, und sie sticht zu, selbst als er verspricht, sie sofort nach Hause zu fahren, selbst als er schwört, es war alles nur ein Scherz, als er um sein Leben bettelt, als er nur noch ein Bündel Angst ist, sticht sie zu, mit dieser harten, scharfen Klinge, die mühelos in die Haut eindringt, echte Wertarbeit, und sie flüstert ihm dabei ins Ohr mit einem heißen, stinkenden Atem wie seinem damals, sie nennt ihn Schlampe und Fotze wie er sie und drückt ihn auf das Bett, und sein Gesicht ist von Horror gezeichnet, eine fast komische Maske aus Schreck und Schock, denn nie im Leben hat er sich vorgestellt, dass ihm das passiert, das geht gar nicht, das muss ein Fehler sein, denkt er, wie sie es damals dachte, aber es ist kein Fehler, es passiert wirklich, und jetzt sticht sie auf ihn ein, zuerst am Hals, wo das Blut, der Saft des Lebens, nur so heraussprudelt, verschwendet ist der an ihn, er windet sich, und sie treibt das Messer in seinen weichen Bauch unter dem Brustkorb, und dann schneidet sie die Hose weg und nimmt seinen Schwanz und seine Eier in die Hand, ach, wie das alles geschrumpft ist jetzt, das will sich wohl auf einmal verstecken, es will wohl entkommen, es weiß, was jetzt passiert. Sie nimmt das kleine ärmliche Gebilde und schneidet es ab, wie man Knorpel von einem Hähnchensteak entfernt, mit einer einzigen, ruckartigen Bewegung, dann schmeißt man das Ding beiseite, es ist Müll, Küchenabfall, nicht der Betrachtung wert, wer braucht das schon, er jedenfalls nicht mehr.

Es waren keine neue Fantasien. Emma hatte sich all das schon oft ausgemalt. Und am Ende war es immer gleich: Wenn es vorbei ist – nicht weil sie fertig ist, sondern weil diese Fantasien sie so erschöpft haben –, ist sie noch immer nicht zufrieden. Noch immer nicht glücklich. Noch immer die Frau, die er aus ihr gemacht hat. Sie zittert am ganzen Körper, und die dunkle Faust in ihr drin, die ihr die Luft wegdrückt, ist unverändert da, sie geht nie mehr weg, egal wie oft sie ihn in Gedanken umbringt, dieses verstümmelte Leben, das er ihr verschafft hat, ist jetzt ihres.

Sie öffnete das Päckchen mit seinem Buch nicht.

Sie trug es auf beiden Händen ins Wohnzimmer. Sie kniete sich vor den alten Einbauschrank unter ihrem Fenster, der mit seiner vergitterten Klappe wie eine Heizkörperverkleidung aussah, und öffnete ihn. Sie zog Akten in verblichenen Pappdeckeln heraus, das Album mit den alten Prozessreportagen und den Ausdrucken von seiner Website, seine ersten Zeitungsartikel, noch aus dem Knast veröffentlicht, seine Vorträge, die nummerierten DVDs mit seinen Fernsehauftritten und den Mitschnitten seiner Vernehmung damals.

Und das Messer. Nicht sein Messer: Das war ein Einzelstück. Ein echtes Wolfgang Gerheim. So etwas gab es nicht in Serie, aber Gerheim hatte ihr ein Messer im gleichen Stil und mit den gleichen Maßen nachbauen können: vierundzwanzig Zentimeter lang einschließlich der Schneide von zwölf Zentimetern, der Rücken bis zu vier Millimeter dick, der Griff aus glatt poliertem Maulbeerholz, die Klinge aus 1,1545-Stahl mit einer Härte von 59HRC. Täuschend ähnlich jenem Messer in der Jagdhütte. Es war ein schönes Stück, sinnlich geschwungen, das dunkel schimmernde Holz fast rot, brennend, lebendig, der Griff ging nahtlos in die harte, elegante Klinge über, und die Spitze schien vorwärts zu drängen, immer dahin, irgendwohin, wo es lebendiges Fleisch gibt. Das Messer lag in seiner handgearbeiteten Lederscheide. Nur selten hatte sie es herausgenommen. Ihre Hände zitterten immer dabei. Die Umverpackung und das Seidenpapier hatte sie schon lange weggeworfen, das Messer aber wollte sie in der Scheide sehen. Wollte sehen, dass es dort war, wo es hingehörte, nicht etwa irgendwo außerhalb ihrer Kontrolle.

Sie nahm alles noch einmal in die Hand, widerwillig, aber es musste ja sein. Unten legte sie das ungeöffnete Päckchen hinein und stapelte den Rest wieder obendrauf, vorsichtig, damit sämtliche Teile genau hineinpassten wie Puzzlestücke, bis der Schrank voll war. Ganz unten das Päckchen: Um heranzukommen, würde sie alles wieder herausnehmen müssen. Vielleicht würde sie es sich dann noch mal überlegen. Nicht heute. Zu viel Arbeit.

Aber sie wusste, sie würde eines Tages wiederkommen und das Päckchen öffnen.

Zurück im Flur, sah sie auf die Uhr. Überprüfte ihre Handtasche: Schminkzeug, Handy, Schlüssel, Geld, Ausweis. Dienstmarke. Dienstwaffe. Und fuhr zur Arbeit.

Endlich war das Wochenende vorbei.

2

Fünf ganze Tage hatte es gedauert, bis die drei Leichen auf Emmas Schreibtisch landeten.

Ihr Schreibtisch, nur wenige Minuten von ihrem Zuhause entfernt. Von ihrer Wohnung in dem Haus neben dem Haus, durch das die U-Bahn fährt, direkt am Gleisdreieckspark, ein Park, der seit Jahren nicht fertig wurde, brauchte sie mit ihrem kleinen silbernen Polo nur ein paar Minuten, an zig Baustellen, Backstuben und Friseurläden vorbei, die schmuddelige Kurfürstenstraße entlang, am Café Einstein vorbei, mitten rein ins schäbig-schicke Westberlin, dann rechts in die Keithstraße, wo das Laub schon von den Bäumen segelte, ein paar Minuten rumkurven, Parkplatz suchen, und schon war sie da.

LKA1, zuständig für Delikte am Menschen – Mord, Sexualdelikte, vermisste Personen. Das Dienstgebäude nahm fast einen halben Block ein. Eine Festung aus dem 19. Jahrhundert, das Eingangstor bogenförmig, die Fenster ebenfalls, Pfeiler, Simse, Zierfiguren, die Kollegen nannten es nicht umsonst die Burg. Die Eingangshalle wie im Opernhaus mit hohen Säulen, Kassettendecke, geschwungenen Treppenaufgängen und mittendrin ein gelangweilter Pförtner, den man nett grüßen musste, dann die Stufen hoch, rein in die langen Flure mit den kackbraunen und kotzgrünen Wänden, unnötig hohe Decken, alles düster hier, trübe Leuchtstofflampen, wir müssen sparen, die Beamtenhölle gleich hinter der glorreichen Fassade. Ganz hinten, durch das Zwischengebäude bis zum Ende, dann nach oben, bis unters Dach, Zimmer 506, Großraumbüro, hell und hoch. Links die Schreibtische, geradeaus die Besprechungsecke, rechts die Glastür zum Chefbüro, dazwischen Pinnwände und Whiteboards auf Rädern, Regalwände mit Nachschlagewerken und Journalen, der zugestaubte Legotisch zum Nachbauen von Tatorten, eine bescheuerte Idee, Aktenschränke, Kaffeeecke und irgendwo ganz hinten noch eine zugerümpelte Abstellkammer: das war die OFA, die Operative Fallanalyse, auch Puppenkiste genannt.

Sie war die Erste im Büro. Wie jeden Tag.

Emma schaltete sämtliche Lampen an, die Kaffeemaschine auch, fuhr den Computer hoch, wienerte das Whiteboard blank, kippte das Fenster. Atmete tief durch. Sie roch noch das Putzmittel der Reinemachtruppe. Sie lauschte dem Summen der Lampen, die nach und nach flackernd starteten, klick, klick, summ. Draußen war es immer noch nicht hell, aber sie stand in einem Raumschiff des Lichts.

Morgens allein im Büro. Es fühlte sich an wie zu Hause. Mehr noch. Wie ein besseres Zuhause, ein magischer Raum, in dem aus dem Nichts etwas entstehen konnte. Sinn, vielleicht.

Bevor die anderen kamen, natürlich.

Bevor es richtig hell wurde und laut. Bevor die Brennemann anfing herumzubellen und Sigmar und Matze sich alle naselang anfrotzeln mussten, das nervte. Nicht dass sie ihre Kollegen nicht gemocht hätte. Emma mochte Menschen, so war das nicht. Bei der Arbeit zog sie lediglich deren Abwesenheit vor.

Dann sah sie es. Auf ihrem aufgeräumten Schreibtisch: eine dicke Akte.

Die drei Leichen.

Die, auf die sie sich schon gefreut hatte. Gefreut wie ein Kleinkind auf sein neues Fahrrad, wie ein Junkie auf den nächsten Schuss. Seit Tagen redeten alle davon, spekulierten, rätselten. Im Flur, in der Kantine, in der Fürstentränke beim Bier, und natürlich in der Presse. War das merkwürdig? Sich auf Leichen zu freuen? Vielleicht. »Morbide«, würde Sarah das wohl nennen. Egal. Alle Welt liebte die hängenden Leichen vom Leipziger Platz, und endlich waren sie bei ihr angekommen.

Sie setzte sich und las den Bericht.

Am 23. Oktober um 16:53 Uhr ging ein Anruf in der Notrufzentrale ein. Frau Tatjana Greve meldete eine vermisste Person: Ihr zehnjähriger Sohn Elias war aus dem Hotel Ritz-Carlton am Potsdamer Platz entwichen, wo die Familie aus Braunschweig abgestiegen war. Mutter und Vater hatten sich hingelegt. Als sie kurz nach 16:00 Uhr aufwachten, merkten sie, dass er weg war.

Die Beamten H. Peters und L. Gotzkowski fuhren zum Hotel, und kurz darauf wurde die Beschreibung des Kindes durchgegeben. Jedoch erwies sich dies bald als überflüssig, denn gegen 17:35 Uhr wurden die Beamten in die Hotellobby gerufen, wo Elias Greve stand.

Der Junge war leicht verletzt und stand augenscheinlich unter Schock. Es kam der Verdacht auf, er sei misshandelt worden. Obwohl er kaum ein Wort herausbrachte, gelang es den Beamten, ihn zu befragen. Er bestritt, dass irgendwer ihm etwas angetan hätte, sprach jedoch immer wieder von »Aliens«.

Nur mühevoll gelang es den Beamten, ihm eine klare Aussage zu entlocken. Er sei klettern gewesen, sagte er, er würde immer irgendwas zum Klettern finden, egal wo, und wäre abgerutscht, hätte sich an den vielen Stangen gestoßen, hätte geblutet und fast das Bewusstsein verloren. Er stritt ab, gestoßen worden zu sein, sondern bestand darauf, er sei erst gefallen, als die »Aliens« nicht mit ihm sprechen wollten und er plötzlich erkannte, dass sie tot waren.

Obwohl anfangs skeptisch, ließen sich die Beamten Peters und Gotzkowski sowie die inzwischen eingetroffenen Sanitäter von dem Jungen dahin begleiten, wo er glaubte, Aliens gesehen zu haben. Er führte sie zur Kreuzung Ebertstraße/Leipziger Straße, da, wo sich der Leipziger Platz an den Potsdamer Platz anschließt.

Das Eckgebäude dort sieht von außen aus wie ein normales, an drei Seiten frei stehendes Haus, acht Stockwerke hoch, von derselben Traufhöhe wie die Nachbargebäude. Jedoch sind seine drei Seiten ganzflächig vom Boden bis zum Dach mit einer mit Fenstern und Türen bedruckten Plane bespannt, welche die Anwesenheit einer Fassade nur simuliert. Die obere Hälfte dieser falschen Fassade dient als Werbefläche für zwei Großplakate (auf der Seite Ebertstraße ein Unterwäschemodel, auf der Seite zum Leipziger Platz ein Mercedes; die spitze Ecke, die direkt zur Kreuzung zeigt, weist keine Werbung auf).

Der Junge führte die Beamten zu der spitzen Ecke des Gebäudes und zeigte ihnen eine kleine Tür in der Plane, an deren Holzrahmen ein Vorhängeschloss war, jedoch nicht richtig eingehängt, sodass sich die Tür aufdrücken ließ.

Dahinter fanden die Beamten nicht wie erwartet ein abrissbereites Wohngebäude vor, sondern ein dreidimensionales sogenanntes Raumgerüst von riesigen Ausmaßen, wabenartig aus Stahlstangen zusammengesteckt. Die Beamten waren überrascht: »Das soll hier die ganze Zeit gestanden haben?«, sagte Gotzkowski. »Ich dachte, hier wäre ein Haus.« Ein Sanitäter leistete sich einen Witz darüber, dass alles in dieser Stadt wohl Kulisse sei.

Auf die Frage der Beamten, wo er denn die »Aliens« gesehen habe, deutete der Junge nach oben – offensichtlich war er in dem Gerüst hochgeklettert. Doch die zahlreichen Stangen des Gerüstes verliefen so dicht kreuz und quer, dass man nur etwa zehn Meter tief in die Konstruktion hineinsehen konnte, selbst mit einer Taschenlampe, denn es fing an zu dämmern.

Daraufhin stieg der Beamte Peters, der über Klettererfahrung verfügt, in dem Gerüst hoch, immer genau dem Weg folgend, den der Junge genommen hatte. Er konnte sich etwa drei »Stockwerke« vorarbeiten, bis er von unten nicht mehr zu sehen war und mit Gotzkowski nur noch per Handy kommunizierte. Bald konnte Peters im Licht seiner Taschenlampe erkennen, dass weit entfernt, vermutlich auf der Höhe des fünften Stockwerkes, etwas hinter den Stangen silbern schimmerte. Auf den Vorschlag des Kollegen, besser zurückzukehren, sagte er: »Wenn der Junge das schafft, schaffe ich das auch.« Nach weiteren fünfzehn bis zwanzig Minuten näherte sich der Beamte drei menschengroßen, kokonartigen silbernen Gebilden. »Jetzt verstehe ich, wie der Junge auf Aliens kommt«, sagte er ins Handy.

Auf ihrer Höhe angelangt, hangelte er sich im Dämmerlicht vorsichtig die Stangen entlang, bis er sich ihnen direkt gegenüber befand. Er wollte die Kokons gerade mit seiner Taschenlampe näher untersuchen, als plötzlich und geräuschvoll die Flutlichtscheinwerfer der Werbeplakate auf beiden Seiten des Gebäudes ansprangen, sodass der ganze Innenraum erleuchtet war. Dies war so unerwartet, dass er, ähnlich wie der Junge, ausrutschte, sich aber noch fangen konnte. Durch die Scheinwerferbeleuchtung konnte er nun erkennen, dass jeder Kokon im oberen Teil eine Aussparung hatte, worin er menschliche Gesichter in einem späten Stadium der Zersetzung ausmachen konnte. Später erzählte er, dass der plötzliche Anblick der drei toten und zum größten Teil verwesten Gesichter ihn in Schock versetzte. Er rutschte erneut ab und kugelte sich diesmal eine Schulter aus. Mit Mühe und Not konnte er sich wieder fangen, jedoch ließ er sein Handy fallen, und somit war jeder Kontakt zu dem Kollegen verloren. Von unten konnte Gotzkowski nur seine Schmerzensschreie vernehmen.

Gotzkowski forderte Unterstützung an, wobei er zunächst Probleme hatte, die Zentrale davon zu überzeugen, dass hinter der Fassade des Eckgebäudes nichts als ein Raumgerüst stand. Dann kletterte er selbst zu seinem Kollegen Peters hoch, was eine Weile dauerte. Dort angekommen, konnte Gotzkowski dem Augenschein nach bestätigen, dass es sich um drei Menschen handelte, die bis auf die obere Hälfte des Gesichts völlig in silbernes Industrieklebeband eingewickelt waren. Alle drei waren tot.

Gotzkowski beschloss, den Weg nach unten nicht mehr zu wagen und stattdessen oben im Gerüst auf das Bergungsteam zu warten. Damit Peters, der unter starken Schmerzen litt, sich besser halten konnte, band er einen Arm und ein Bein des Kollegen mit ihren Gürteln an den Stangen fest.

Später beschrieben Peters und Gotzkowski die Erfahrung, etwa eine Stunde lang auf einer glatten Stahlstange in dreiunddreißig Metern Höhe neben drei völlig in Klebeband eingewickelten Leichen zu verbringen, folgendermaßen: »Alle zwei Minuten mussten wir uns umdrehen, wir waren sicher, da war noch jemand hinter uns.«

3

Emma schaute nicht hoch. Hörte nichts. Hielt ihren Kopf über den Schreibtisch gebeugt, während sie kritzelte. Zwanzig Zettel voll mit kunterbunten Notizen, fast jede mit Fragezeichen, sortiert nach Farben, Mist, Stift alle, macht nichts, nächster Stift. So fing sie immer an. Es gab Kollegen, die tippten gleich alles ein und mussten später doch wieder auf Zettel zurückgreifen. Emma nicht.

Sie hatte das Gefühl, in einem riesigen Kreuzworträtsel spazieren zu gehen, so lange, bis sie irgendwann über die Lösungswörter stolpern würde. Das ging ihr immer so zu Beginn. Es war ihre ergiebigste Phase. Es ging gar nicht darum, das Rätsel sofort zu lösen. Es ging erst einmal darum, herauszufinden, um was für eines es sich überhaupt handelte. Mal war es ein Kreuzworträtsel, mal ein Puzzle, mal eine Schnitzeljagd oder ein Suchbild, und manchmal war es einfach nur fremdartig.

Sie sah den Fundort: den Leipziger Platz, im Herzen der Stadt, eingekeilt zwischen dem Potsdamer Platz und der pompösen Mall of Berlin, mitten im nächtlichen Treiben, mitten in der Menge, vor aller Augen und dennoch den Blicken entzogen. Der typische Mörder will nicht, dass die Leiche gefunden wird: Sein Opfer kann die Polizei zu ihm führen. Eine ganze Wissenschaft beschäftigt sich ausschließlich damit, die Viktimologie. Jedes Opfer liefert Spuren. Was für ein Mörder ist das, der sich nicht darum schert?

Sie sah die Zahl: Drei. Drei Leichen, alle drei abgelegt an einem einzigen Ort, regelrecht inszeniert, um Eindruck zu machen. War das von Anfang an der Plan, drei Morde? Oder begann es mit einem einzigen und uferte dann aus? War er noch nicht fertig? Verlangte sein Plan mehr als das?

Sie sah seinen Plan nicht, aber sie wusste, dass es einen gab. Niemand nimmt so einen Aufwand und so ein Risiko auf sich ohne einen Plan.

Auch sein Motiv konnte sie nicht erkennen. Jemand, der drei Menschen hintereinander tötet, handelt selten aus Wut, Geldgier, Rache, Neid, Eifersucht oder Angst. Die Motive eines Serienmörders sind verborgen. Manchmal sind sie ihm selbst nicht klar. Er folgt seinem Tötungstrieb, wohin er ihn auch führt, und das macht seine Opferauswahl zufälliger. Manchmal vermengen sich Motive. Einer mordet mit dem Messer, weil er als Kind gesehen hat, wie sein Vater ein Reh mit einem Jagdmesser öffnete. Einer verstümmelt Frauen, weil er seine Mutter hasst. Einer tötet seine Opfer langsam, weil ihr Leiden ihn sexuell erregt. Einer inszeniert die Leichen an einem halb-öffentlichen Ort mit großem Aufwand wie futuristische Kokons aus einem Alien-Film, weil … weil … ja, warum?

Das sah Emma nicht.

Noch nicht. Vor ihr lagen die Akten: der Bericht der Spurensicherung, Laborergebnisse, Obduktionsbericht, vorläufige Ermittlungsergebnisse zu allen drei Opfern. Sie nahm die ersten Ermittlungsergebnisse zur Hand.

Bevor sie sie aufschlug, schaute sie hoch.

Das Büro war voll. Es war hell. Sie hatte nichts bemerkt, nicht mal den Lärm.

Karen Brennemann, Abteilungsleiterin, stand in ihrem Büro, in einen Bericht vertieft, vermutlich mit irgendetwas unzufrieden. Sigmar saß schweigend vor seinem Bildschirm, mit randloser Brille und schwarzem Rolli wie immer. Matze und irgendein Azubi von nebenan tranken Kaffee und unterhielten sich, irgendwas von wegen Formular LJ108bm, ein besonders widerspenstiges Formular in der Tat. Matze, das Küken. Der konnte mit jedem, wirklich. Ganz im Gegensatz zu Sigmar, dem großen Schweiger. So wenig, wie er sprach, so laut klapperte er mit den Tasten.

Emma spürte, wie der Sinn, eben noch zum Greifen nahe, hinter die lärmende Realität zurücktrat. Sie wollte ihn noch festhalten, aber er entzog sich, immer weiter, wie ein Traum, an den man sich zu sehr erinnern will. Keine Chance, sie musste ihn ziehen lassen. Nach der Mittagspause würde sie noch eine Chance haben. Wenn alle schnitzelmüde vor den Bildschirmen hingen, herrschte wieder Ruhe.

Dann sah sie es, das eine Teil, das nicht passte.

Was wollte dieser Typ hier?

Er saß an dem leeren Schreibtisch rechts und nahm in aller Ruhe Stifte, Unterlagen, Bücher, eine Kaffeetasse und eine Großpackung Kaugummi aus einem Karton und deponierte alles in und auf dem Schreibtisch: Stifte in die rechte Schublade – nein, doch lieber in die linke. Rechts die Kaugummis und das Handy. Die Kaffeetasse mit dem Aufdruck Sheriff mitten auf den Tisch. Dann wurde es schwierig: Sie konnte sehen, dass er versuchte, seine aktuellen Akten nach Priorität abzulegen. Sie lächelte. Wer hat schon Spaß an einem neuen Schreibtisch? Sie sind immer anders geschnitten als die alten.

Wieso tat er das überhaupt?

»Was machen Sie da?«

»Ich richte meinen Schreibtisch her.«

»Aber Sie sind doch einer von Lutz’ Leuten, oder?« Schreiner. Fritz. Nein, Felix. Felix Schreiner. Sie hatte ihn bei den Ermittlern schon lange nicht mehr gesehen. War es Monate her oder schon Jahre? Er war wohl auf Fortbildung gewesen, stimmt, da war was. »Ihr Schreibtisch ist im Vordergebäude. Gibt es nicht mehr genug Platz im Morddezernat?«

»Haben Sie die letzte Stunde nicht zugehört?« Schreiner war erstaunt. »Kein Wort? Was die Brennemann gesagt hat?«

Emma hatte tatsächlich nichts gehört.

»Sie sagte, ich werde zu euch in die Abteilung versetzt. Sie fragte Sie, ob alles klar ist. Sie haben genickt.«

Doch, da war was. Hatte sie genickt? »Warum werden Sie zu uns versetzt?« Emma fühlte sich plötzlich stumpf, wie gerade mühsam aus dem Schlaf erwacht.

»Ich helfe euch mit dem Mumien-Fall.«

Es wurde still im Büro. Matze schickte den Azubi raus. Die Kaffeemaschine hörte auf zu gurgeln. Irgendein Telefon klingelte, aber keiner ging ran. Die Brennemann trat in die Tür des Chefzimmers und stemmte den Arm in die Hüfte.

»Mit welchem Mumien-Fall?«

»Na, diese Silbermumien vom Leipziger Platz. Wir müssen das Täterprofil erstellen. Lutz … äh, das Ermittlungsteam wartet drauf. Ich fange gleich …«

»Sie sind nicht OFA. Sie sind Ermittler.«

»Ja, war ich mal.« Warum sprach er nur so langsam, wie zu einem Kind? »Waren Sie auch mal. Ich schließe aber gerade meine Fortbildung zum Profiler ab.«

»Profiler gibt’s nicht. Das ist Fernsehdeutsch. Das heißt Fallanalyse. Operative Fallanalyse.«

»Wie auch immer. Diese Abteilung braucht Unterstützung, diese Unterstützung bin ich. Also: Das ist jetzt mein Tisch. Sobald ich mein Zeug hier eingeräumt habe, sage ich, was ich noch brauche, und wir können mit dem Täterprofil anfangen.«

So eine hemdsärmelige Frechheit auf zwei Beinen. Jünger als sie, aber doppelt so eingebildet. Schon immer gewesen. Als er in Fortbildung ging, hatte sie gehofft, sie sähe ihn nie wieder. Das FBI. Jetzt wusste sie es. Er hatte ein paar Monate beim FBI in Amerika hospitiert, das war dann wohl die sogenannte Ausbildung. Und wieso reckte der seine Nase so in die Luft? Ach so, weil er sich lang machte. Eigentlich war er kaum größer als sie. Kleiner, aggressiver Muskelprotz, der Kerl. Fast bayerisch sah er aus mit seinen schwarzen Locken und seinem sturen Quadratschädel. Fehlte nur noch das karierte Hemd.

»Sie werden mit gar nichts beginnen. Das hier ist meine Abteilung«, sagte sie.

»Das reicht«, mischte sich nun die Brennemann ein. »Frau Carow, das ist meine Abteilung. Ich bin immer noch die Abteilungsleiterin. Herr Schreiner wird Ihnen im Fall EG98 helfen. Das ist eine Anweisung von ganz oben, und ich stimme damit überein. Wenn Sie sich nicht einigen können, werde ich die Aufgaben aufteilen.«

Die Worte bestimmt, die Stimme laut. Wie immer. Die Brennemann, ein Mann in weiblichem Körper. In jedem Zustand, wirklich.

»Ich würde Sie gern unter vier Augen sprechen«, sagte Emma.

Als Antwort zog sich die Brennemann aus dem Türrahmen zurück, damit Emma an ihrem bedrohlich großen Bauch vorbei ins Büro gelangte, und schloss die Tür hinter ihnen.

»Er ist hier wegen der Schwangerschaftsvertretung, oder?«, fragte Emma.

»Auch das kam zur Sprache.«

»Die Position wurde mir versprochen. Das war abgemacht. Er ist kein Fallanalyst, er ist bloß Ermittler. Er hat eine Fortbildung? Eine Fortbildung?«

»Frau Carow, ich will ehrlich sein. Es gibt noch andere Kandidaten neben Ihnen.«

»Sigmar? Sie haben ihm selbst das Präsentieren vor den Ermittlern entzogen, weil er dabei immer ins Stottern kommt.«

»Dr. Anstätt ist auch zu sehr Fachidiot. Das sind Sie nicht, zugegeben. Manchmal hat es auch Vorteile, ein Studium nicht abzuschließen. Man nimmt sein Fach nicht wichtiger als andere. Was war das noch mal, Soziologie?« Sie erwartete keine Antwort. »Nachteile hat es aber auch, gerade bei Beförderungen. Sieht aus, als ob man nichts zu Ende bringt.«

Emma hätte damit rechnen sollen. Hatte sie aber nicht. Im Gegenteil, sie hatte gedacht, dass Jahre harter Arbeit das vergessen lassen könnten.

Langsam wurde sie wütend. »Haben Sie nicht selbst gesagt, dass Matze viel zu jung …«

»Aber mit Menschen kann er umgehen«, unterbrach die Brennemann sie.

»Was soll das schon wieder heißen?«

»Mag sein, dass nicht alle Ihnen die nötige Sozialkompetenz zugestehen, die eine Abteilungsleiterin braucht.«

»Sozialkompetenz? Ich bin die beste Fallanalystin hier. Das wurde schon mehrfach festgestellt. Ich leite das Team, wenn Sie ausfallen. Ich präsentiere die Ergebnisse. Waren Sie je mit einem Profil unzufrieden? Oder Lutz?«

»Das nicht, nein. Da hängen Sie sich rein. Ich würde sogar sagen, ohne Ihre Hartnäckigkeit würden es die anderen lockerer angehen.«

Emma hörte das unausgesprochene »Aber«. Sie blickte durch die Glaswand ins Büro. »Die Schwangerschaftsvertretung wurde mir in Aussicht gestellt.« Sie suchte nach Worten. Schwierig. Nach Argumenten. Dann fand sie eins: »Mit Sozialkompetenz meinen Sie doch, dass er ein Mann ist. Der Schreiner. Er kann mit in den Puff mit den anderen, so kompetent ist er. Er kann mit saufen. Das hat mit Kompetenz nichts zu tun.«

Es hatte zu lang gedauert, ein paar Sekunden nur, bis es ihr eingefallen war. Weil sie keine Sozialkompetenz hatte.

»Es ist noch nicht entschieden«, sagte die Brennemann.

»Wann?«

»In zwei, drei Wochen, denke ich.« Die Brennemann klopfte auf ihren Bauch.

»Was kann ich tun? Es muss doch etwas geben.«

»Ich sage Ihnen, was Sie tun können, Carow. Sie können mitarbeiten. Sie können Kollegin sein. Sie können konkurrieren. Wie er es auch tut. Das ist ein sehr ambitionierter Mann da draußen. Er wird kämpfen, tun Sie das auch. Niemand wird Ihnen die Stelle geben, nur weil Sie Titten haben. Meine Titten haben mir auch nicht weitergeholfen.«

Das war eine Lüge, hundert Pro. Die Brennemann verfügte über eine beachtliche Oberweite, jetzt mehr denn je, es traute sich nur niemand, ihr Komplimente zu machen, weil alle Angst vor ihr hatten. Breite Schultern hatte sie auch. Eigentlich eine schöne Frau, ihre Chefin, irgendwo unter dieser Kruste aus Ruppigkeit. Dunkelblonde Naturkrause, genervt zum dicken Zopf gedreht, immer ungeduldig, ständig heiser.

»Also doch in den Puff und saufen.«

»Wenn Sie wüssten, was Sozialkompetenz ist, Mädchen, würden Sie nicht vom Puff sprechen. Sie würden von Kollegen und Zusammenarbeit und Teamfähigkeit sprechen. Sie würden den neuen Kollegen willkommen heißen und einarbeiten und ihn respektieren und nicht mit der Chefin hinter seinem Rücken und bei geschlossener Tür mauscheln.«

Die Brennemann wandte sich ab und zündete sich eine Zigarette an. Das Gespräch war beendet. Emma machte den Mund noch einmal auf, aber bevor sie etwas erwidern konnte, kriegte sie zu hören: »Und sagen Sie jetzt nichts wegen dem Baby. Light. Superlight. Das muss dieses Gör wegstecken, oder es wird mit mir nicht warm werden. Zurück an die Arbeit.«

Emma wandte sich zur Tür.

»Ach ja, Lutz will das Profil schon morgen Mittag, 14 Uhr.«

Emma lachte ungläubig. »Haben wir überhaupt genug Daten dafür?«

»Die Aufgaben habe ich verteilt, als Sie geschlafen haben. Sie erstellen die Sequenzanalyse. Herr Lüders macht ViCLAS und die anderen Datenbanken, Herr Dr. Anstätt die Zeugenbefragungen und seinen Psychokram.«

»Viktimologie«, sagte Emma.

»Apropos Sozialkompetenz. Hören Sie auf, mich ständig zu korrigieren, Carow.« Die Brennemann seufzte. »Herr Schreiner übernimmt die Gerichtsmedizin.«

»Ich habe aber schon mit der Gerichtsmedizin angefangen«, konterte Emma. Das war eine Lüge. »Geben Sie doch dem Schreiner die Sequenzanalyse, das ist weniger Arbeit.«

Die Brennemann machte die Tür auf und bellte: »Schreiner! Sie haben die Sequenzanalyse.«

Emma lächelte. Sequenzanalyse. Die Rekonstruktion des Tathergangs, Minute für Minute. Dafür gab es nicht annähernd genug Daten. Der Neuling hatte eine unmögliche Aufgabe bekommen. Vielleicht stand die Brennemann ja doch auf ihrer Seite. Zumindest mit einem Fuß.

»Internes Meeting nach der Mittagspause«, sagte die Brennemann noch. »13 Uhr. Ich habe die Leitung. Könnte aber passieren, dass ich spontan wegmuss. Schwanger und so. Sie wissen schon, werdende Mütter brauchen viel Ruhe etcetera, pipapo. Ich sollte eigentlich längst im Mutterschutz sein. Dann muss einer für mich übernehmen. Könnten Sie sein. Spontan. Sagen wir, Viertel nach. Nicht vergessen: Sozialkompetenz.«

4

Die Puppenkiste war still, als sie wieder aus Brennemanns Tür hinaustrat. Na ja, was man so still nennt. Matze studierte seinen Bildschirm. ViCLAS-Datenbank, vermutlich. Ohrstöpsel in den Segelohren, sein blonder Schopf mit dem dunklen Ansatz wippte im Takt. Sie konnte die Musik bis hierher hören. Sigmar ihm gegenüber war in eine dicke akademische Zeitschrift vertieft. Alle paar Sekunden räusperte er sich. Komisch, wie jemand, der so wenig sprach, so viel Lärm machen konnte. Der Neue, der Schreiner, beschäftigte sich mit seiner untersten Schublade, rechts. Mit einer Hand. In der anderen Hand schwankte die Sheriff-Tasse über seinen Papieren. Er balancierte dabei auf einer Arschbacke. Sie konnte eine Frage in seinen Augen lesen. Nein, nicht eine. Mehrere.

Emma ging zu ihrem Schreibtisch, packte ihren Stapel Akten, marschierte wieder an den anderen vorbei, raus in den Flur.

Flur runter, Zwischengebäude, langer Übergang ins Vordergebäude, Dachgeschoss, Kantine. Leer. Fast. In der Ecke neben dem Gummibaum saßen zwei aus der 13, Sexualdelikte, und plauderten leise, wahrscheinlich ging’s um Urlaub. Emma holte sich am Automaten einen Kaffee. Sie nickte der gelangweilten Frau hinter der Theke zu, setzte sich in die Ecke unter den historischen Berliner Stadtplan. Hier hatte sie ihre Ruhe. Hier konnte sie lesen.

Nein. Sie klappte die Akten zu. Sonst würde sie morgen daran zurückdenken und erkennen: Das war ein Fehler. Du bist geflüchtet. Du hast einem Konkurrenten wortlos das Feld überlassen. Du darfst nie flüchten. Das hast du zu oft im Leben getan.

Sie stand wieder auf. Ließ die Akten liegen. Kehrte ins Büro zurück.

Alle hoben den Blick, hörten mit der Arbeit auf, mit den Gesprächen, mit dem Tippen. Emma marschierte zum Whiteboard, wischte es noch mal ab und schrieb: Was hat Opfer2hier zu suchen?

Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Dann setzte sie hinzu: Ist es überhaupt ein richtiges Opfer?

Das musste reichen. Jetzt hatte sie den Denkanstoß gegeben. Ihnen was zum Kauen hingeworfen. Auch dem Schreiner. Sollten sie mal schön nachdenken.

Erhobenen Hauptes wandte sie sich zum Gehen. Die anderen starrten ihr nach.

5

Ergebnisse der vorläufigen gerichtsmedizinischen Untersuchung, stand auf dem Sektionsprotokoll. Gezeichnet Emmanuel Kottke, Direktor Forensische Pathologie, Charité. Ort, Datum. Opfer 1, Opfer 2 und Opfer 3, chronologisch geordnet nach vermutetem Todeszeitraum. Immer noch namenlos, obwohl Lutz alle drei Opfer identifiziert hatte. Kottke die Namen mitzuteilen, dazu hatte er wohl noch keine Zeit gehabt.

Drei Berichte, für jede Leiche einer. Obenauf ein vierter: Zusammenfassung, mit dem Hinweis: Der Umstand, dass alle drei Leichen am gleichen Ort gefunden und auf identische Weise platziert wurden, weist auf eine Tateinheit hin.

Du meinst Serienmord, Kottke, dachte Emma. Warum musst du bloß immer alles so kompliziert ausdrücken? Griff sich den vierten Bericht trotzdem zuerst.

Kottke schrieb: Am 24. Oktober um 10:30 Uhr wurden drei auffällig präparierte Leichen in den Obduktionssaal des Instituts für Rechtsmedizin geliefert.

»Auffällig präpariert« war gut. Sie waren von Kopf bis Fuß mumienartig in mehrere Lagen Industrieklebeband eingewickelt, sodass ihre Körper mit Ausnahme von Nasen-, Ohren- und Augenpartien vollständig damit bedeckt waren. Die Münder waren mit einem Lappen verstopft und ebenfalls mit Industrieklebeband zugeklebt. In ihrem Rücken war jeweils ein Brett mit eingewickelt worden, mit einem Haken am oberen Ende.

Emma notierte: Warum Mund zugeklebt, aber Augen freigelassen?

Kottke schrieb: Alle Leichen hingen schon geraume Zeit im Freien, sodass in der Gesichtspartie eine fortgeschrittene Zersetzung stattfand. Die Jochbögen liegen beiderseits knöchern frei.

Emma schaute sich die Fotos an. Kottke hatte untertrieben. Von keinem der Gesichter war etwas übrig. Gebleichte Knochen, ein paar Fleischreste. Von den Lippen nur lose Hautfetzen. Bei Opfer 1 und Opfer 2 waren selbst diese weggefault. In den Lippen von Opfer 3 waren die Maden noch aktiv.

Die Kokons bestanden aus bis zu zehn Lagen Industrieklebeband, die eine so stabile Hülle bildeten, dass sie ihre mumienartige Form beibehielten, selbst als der Inhalt nur noch aus Haut und Knochen bestand. Die Opfer trugen keine Unterwäsche, nur eine Erwachsenenwindel, vermutlich vom Täter angelegt. Persönliche Habe fehlte, doch – und das war seltsam – sämtliche Brieftaschen waren vorhanden. Deshalb hatten die Opfer überhaupt so schnell identifiziert werden können.

Emma notierte: Handys entsorgt, aber nicht die Brieftaschen? Wieso hat er uns diese Spur hinterlassen?

Dann etwas Merkwürdiges: Aufgrund der ungewöhnlich artifiziellen Bekleidung der Opfer und weil in den Kokons jeweils eine Sammlung unpassender Objekte mit eingewickelt zu sein scheint, wurden die leeren Kokons zum Abwickeln an die Spurensicherung weitergeleitet.

Wie bitte? Artifizielle Kleidung? Welche Kleidung hätte denn bei Mord natürlicher ausgesehen? Was heißt unpassende Objekte? Kottke, du Arsch, irgendeinen Hinweis hättest du schon geben können.

Sie notierte: Spurensicherung!

Kottke schrieb: Aufgrund der unterschiedlich fortgeschrittenen Zersetzung der Leichen lässt sich feststellen, dass Opfer 1 Anfang Juni dieses Jahres, Opfer 2 Ende Juni und Opfer 3 Mitte September zu Tode gekommen sein muss. Eine Position der Leichenflecken ist aufgrund des Gewebezustandes nicht mehr eindeutig feststellbar.

Emma fasste zusammen: Pause nach Opfer 1: vier Wochen. Pause nach Opfer 2: zehn Wochen. Warum? Sie nahm die Fotos noch einmal zur Hand. Der Obduktionssaal des gerichtsmedizinischen Instituts, von Neonröhren taghell erleuchtet. Drei mattglänzende Seziertische aus Edelstahl. Darauf die silbernen Kokons, na ja, inzwischen eher zinngrau, das Wetter hat ihnen zugesetzt und die Tauben. Noch ein Foto: Die Kokons offen, längs aufgesägt, die Kleidung der Opfer klebte noch innen an der Hülle, wie das Innenfutter eines Sargs. Interessant, dass Kottke Kleidung in diesem Zustand noch als artifiziell identifizieren konnte.

Opfer 3 war grünlich aufgebläht und schwarz eingesunken, der Torso unförmig wie ein im Ofen vergessenes Soufflé, der Kopf mit vertrockneten Fleischresten und verklebten Haaren übersät. Opfer 1 und 2 waren beinahe nicht mehr vorhanden: Die Knochen fast abgenagt, am Brustkorb schwarz und vertrocknet, nur an den Beinen faulte das rohe Fleisch noch. Hautfetzen und Knochen schwammen in einer grün-schwarzen Flüssigkeit. Als Kottke den ältesten Kokon aufgesägt hatte, waren ihm offenbar mehrere Liter aufgelöster biologischer Masse entgegengeschwappt, die die Bakterien und Maden noch immer nicht weggeputzt hatten. Hinten hatte er notiert: Menschensuppe.

Du bist und bleibst ein Witzbold, Kottke.

Kottke schrieb: Opfer 3 weist Narben im Genitalbereich auf, die auf eine Vergewaltigung hindeuten. Nachweis sexueller Gewalt bei Opfer 1 und 2 unsicher. Spermareste in keinem Fall mehr nachweisbar.

Aber Drogen: Es folgte eine lange Liste von chemischen Komponenten, am Ende die zwei Worte: Rohypnol und Ketamin.

Emma notierte: Anfangs Rohypnol zur Ruhigstellung? Später Ketamin: Opfer wacher, aber wehrlos?

Das war nicht alles. Kottke schrieb: Alle Opfer erlitten mehrere, allerdings minimale Rippenfrakturen. Opfer 3 zeigt zahlreiche Prellmarken und Hämatome am ventralen Thorax, jedoch sind alle zugefügten Schäden eher oberflächlich. Die relative Geringfügigkeit der Verletzungen bei gleichzeitig hoher Anzahl weist auf die Wahrscheinlichkeit hin, dass die Schäden erst zugefügt wurden, nachdem die Opfer in ihre schützende Hülle eingewickelt waren. Die an den Leichen beschriebenen Traumata sind nicht als ursächlich für deren Tod anzusehen.

Sie wurden lebend eingewickelt? Das war ungewöhnlich. Komm schon, Alter, dachte Emma, gestorben sind sie aber schon, wenn nicht an ihren Verletzungen, woran denn nun?

Endlich: Todesursache: Herz- und Kreislaufversagen bei fortgeschrittener Exsikkose.

Emma dachte: Kottke, du Witzbold, du sitzt da und wartest, bis die Ermittler zu dir kommen und fragen: Was ist Exsikkose? Dann erklärst du es ihnen, und du genießt es, wie sie bleich werden und sagen: Mein Gott, sie hingen eingewickelt in irgendeinem Keller und lebten noch vier bis sieben Tage lang, bis sie verdurstet sind?

Emma schrieb: Mord durch Verdursten erfordert besonders einsamen Tatort, weil das Sterben tagelang andauert. Wo bleibt man mindestens eine Woche ungestört? Ohne Besuch von Vermieter, Handwerkern, Nachbarn, Partner, Freunden, Familie? Keller im Eigenheim? Ferienhaus? Jagdhütte? Boot?

Die Kantine war jetzt voll. Die Nebentische besetzt. Emma schaute auf die Uhr. Noch eine Stunde, dann Besprechung. Sie hatte ohnehin keinen Hunger.

Sie klappte die Zusammenfassung zu und nahm sich die Einzelberichte zu Opfer 1 und Opfer 3 vor. Legte sie sorgfältig Seite an Seite. Roch dabei Hackbraten in Jägersoße.

Bilderbuchopfer. Beide weiblich, Mitte zwanzig, die eine 1,72 groß und vor der Zersetzung vermutlich zwischen sechzig und fünfundsechzig Kilo schwer, die andere 1,68 groß, ebenfalls im Idealgewichtsbereich. Opfer 1: Haare naturblond, schulterlang. Opfer 3: Haare brünett, blondiert, schulterlang.

Emma überflog Kottkes Liste.

Besonderheiten: Opfer 1: Fingernägel lackiert, schlichter Ehering, Gold 333 mit Diamant, goldene Armbanduhr, goldene Ohrringe.

Opfer 3: Finger- und Zehennägel lackiert, Ehering Weißgold mit der Gravur »Julia & Max 4ever«, Perlenohrringe. Weiterhin trug sie ein silbernes Nabelpiercing und eine dezente Tätowierung an der linken Schulter in Form eines Unendlichkeitszeichens.

Ungewöhnliche Verletzungen: Blut- und Hautreste unter mehreren Fingernägeln. Allerdings stammten diese von den Opfern selbst: Sie hatten sich in ihren Kokons die Schenkel blutig gekratzt.

Weitere Auffälligkeiten: Opfer 1 wies eine Kaiserschnittnarbe auf; Opfer 3 einen genähten Dammschnitt. Mütter also.

Das war nicht alles. Emma ließ die Papiere sinken.

Opfer 1 wies noch eine spezielle Besonderheit auf: In ihrem Kokon lagen zusätzlich die feinen Skelettreste eines Embryos. Wie nennt man ein viertes Opfer, das zu klein ist, um vom Täter wahrgenommen zu werden? Opfer 3,5? Ein Opfer, das nicht leiden musste, weil es noch gar nicht wusste, dass es hätte leben können? Ein Opfer, das sich die falsche Mutter ausgesucht hatte?

6

Emma verließ die Kantine mit sieben Minuten Verspätung. Sie hatte unbedingt noch Opfer 2 zu Ende lesen müssen.

Die Akten unterm Arm, eilte sie gerade am Aufzug vorbei, und als der sich öffnete, stand da Lutz. Trat heraus, im Gespräch mit seinem Schatten Habernickel. Lutz grinste, als er Emma sah.

»Na, bist du endlich wieder glücklich? Hast ordentlich was zu kauen?«

Sie wusste, was er meinte. Sie hatte einen neuen Fall. Ablenkung von ihren echten Problemen, nannte ihre Therapeutin das. Schade, dass nicht das ganze Leben aus Ablenkung bestehen kann. Lutz war der Einzige, der so was bemerkte.

Er hatte ein breites Grinsen. Alles an ihm war breit: sein Schädel, seine Schultern, seine Pranken, seine Hüften. Ein Wanst wie ein Muskel. Amüsiert bemerkte sie, dass er in ihrer Gegenwart den Bauch einzog. Als ob das nötig gewesen wäre. Lutz Bogner, sechzig, früher mal Emmas Chef, jetzt Leiter der LKA11, des Morddezernats mit seinen acht Mordkommissionen. Er hatte persönlich die Leitung der neu ins Leben gerufenen Ermittlungsgruppe übernommen, der »EG98 Leipziger Platz«. Der Fall war so groß, dass er gleich zwei Mordkommissionen darauf angesetzt hatte, die MK1 und die MK4 dazu. Trotzdem wollte er schon morgen von Emma ein Profil haben.

Lutz war es, der den Fall in die OFA geschickt hatte, sobald sich abzeichnete, dass die Opfer in keiner Beziehung zueinander standen und es sich um einen Serienmord mit unklarer Motivation handeln musste. Erst dann wird die OFA zur weiteren Analyse herangezogen.

Ein Freund war er auch, irgendwie. Sie hatten sich bei den Sportschützen kennengelernt. Nach der Vergewaltigung, dem Abbruch des Studiums, nachdem sie nach Berlin zurückgekehrt war, obwohl ihre Eltern hier längst nicht mehr wohnten, wollte Emma schießen lernen. Nie dachte sie darüber nach, wozu. Sie wusste es. Lutz brachte es ihr bei. Der Sport verschaffte ihr Ruhe. Ein Stück Selbstvertrauen. Nahm ihr ein kleines bisschen die Angst. Schon wenige Monate, nachdem sie dem Schützenverein beigetreten war, wusste Emma, dass sie sich an Lutz halten musste.

Er war es, der ihr den Weg in die Polizei geebnet hatte, in das LKA, als Ermittlerin damals. Auf seine Empfehlung hin konnte sie trotz ihres Studienabbruchs die Fortbildung zur Fallanalystin aufnehmen. Er hatte ihr nicht nur unter die Arme gegriffen, vor allem hatte er sie ernst genommen.

Irgendwann, sie war erst ein halbes Jahr dabei, musste sie einen vorbestraften Vergewaltiger befragen. Als Zeugen nur, nicht mal als Verdächtigen, nichts Ernstes, nichts mit Video oder Anwalt oder so. Der Arsch konnte seine Augen nicht von ihrem Busen nehmen. Er duzte sie. Er fragte sie, wie sie es mag. Von hinten? Bis es reißt? Ich mag spröde Frauen. Wenn sie kommen, zerspringen sie in Millionen Teile. Er begann, sich zu befummeln. Wie sollte Emma reagieren? Sie musste sachlich bleiben. Plötzlich war Lutz da. Kann ich helfen?, sagte er höflich. Zu ihm. Kann ich beim Rubbeln helfen? Er zog seine Jacke aus. Dann sein Hemd. Kein schöner Anblick. Pelzige Männerbrust, nicht mehr so jung. Titten, Narben. Der Arsch gegenüber wusste nicht, was er sagen sollte. Völlig selbstverständlich setzte Lutz sich neben Emma, verschränkte die Arme, nickte ihr zu, und sie fuhr mit dem Verhör fort. Als sie fast eine Stunde später aus dem Raum gingen, ohne ein Wort zu sagen, wusste sie, dass er alles von ihr haben könnte. Als sie irgendwann die Ermittlung nicht mehr ertrug und in die Operative Fallanalyse wechseln wollte, war er enttäuscht, unterstützte sie aber trotzdem. Jetzt stand sie kurz davor, die Leitung der OFA zu übernehmen, ohne ihn wäre sie längst an Büropolitik gescheitert, an Leuten, die sich einfach nicht so gern im gleichen Raum aufhielten wie sie. Auch das – dass sie so weit gekommen war – verdankte sie ihm.

Lutz erwartete keine Antwort auf seine rhetorische Frage. Ein paar nette Worte aber wären angebracht. Über das Wetter, das Wochenende, ein Witz vielleicht? Es fiel Emma nicht immer leicht, mit Lutz zu reden. Vor allem, wenn er nicht allein war. Mal fühlte sie sich wohl bei ihm, mal verwirrte er sie.

»Vergiss Opfer 1 und 3«, platzte es aus ihr heraus. »Opfer 2 ist wichtig. Ich brauche mehr Infos über die Person. Viel mehr. Ohne die geht gar nichts.«

Er gähnte verhalten, Pranke vorm Mund. Lutz Bogner war ein Mann der alten Schule: einer, der glaubte, wenn er genug Schlaf bekäme, wäre er kein richtiger Mann. »Du willst immer mehr, als da ist, Emma. Mehr Zeit, mehr Infos. Wir haben siebenundzwanzig Mann dran und schon mehr angefordert, und die Ergebnisse reichen dir nicht?«

»Wenn du gute Arbeit willst …«

Auf einmal war Lutz weniger freundlich. »Weißt du, was in den Zeitungen steht? Du bist nicht die Einzige, die was von uns will, Emma. Wir brauchen nicht die Lösung für den ganzen Fall von euch, sondern ein Profil, und zwar bis gestern.«

Da lag er falsch.

Lutz war ein guter Ermittler, aber wie ein Serientäter dachte, würde er nie kapieren. Er war nicht der Typ dafür. Er verstand Mörder, er verstand Motive. Er verstand Menschen. »Es ist meistens der Ehemann«, sagte er immer. »Bringt mir den Ehemann, und ich habe meine Ruhe.« In 95 Prozent der Fälle hatte er auch recht. Psychopathen aber verstand er nicht. Emma verstand Psychopathen. Das war ihr Job. Und es war ihr Job, ihm zu sagen, dass das zweite Opfer wichtiger war als die beiden knackigen Blondinen. Aber wie sagt man einem Kollegen, dass er falschliegt, ohne respektlos zu klingen? Das hatte sie nie gekonnt.

»Wir brauchen mehr Daten über Opfer 2«, wiederholte sie. Bisschen bockig vielleicht.

Habernickel, Leiter der MK1, kompetenter Mann, aber neben Lutz sah er immer aus wie der Butler, musterte sie prüfend. Von Kopf bis Fuß. Typisch. Dieser furztrockene Kerl mit seiner spiegelblanken Glatze und dem Altberliner Schnauzer verlor nie ein Wort zu viel.

»Sehe ich nicht so«, sagte Lutz. »Opfer 2 ist eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. Opfer 2 ist ein Zufall, jemand, der zu viel gesehen hat und dran glauben musste. Mehr nicht.«

Lutz wandte sich ab. Habernickel ihm nach. Lutz’ letzte Worte kamen, ohne dass er sich umdrehte: »Und das gilt auch für heute Abend: Ich will nicht, dass du mir die ganze Zeit mit Opfer 2 die Ohren vollheulst.«

Erst als Emma schon fast wieder in der OFA war, fragte sie sich, was Lutz mit »heute Abend« gemeint hatte.

7

»Lutz ist am Ende«, sagte die Brennemann gerade, als Emma die Puppenkiste betrat und sich leise auf den freien Stuhl am Besprechungstisch gleiten ließ.

»Er ist am Arsch«, korrigierte Matze.

»Er hat jede Menge Spuren«, fuhr die Brennemann fort und hob kurz die Augenbrauen Richtung Emma, »doch eine heiße ist nicht dabei. Drei Tote und kein einziger Zeuge. An diesem Gerüst arbeiten jede Woche Dutzende von Arbeitern, die tauschen die Werbeplakate aus. Das sind zum Teil Schwarzarbeiter – die werden wir nie alle finden, geschweige denn ihre DNA abgleichen.«

»Hält Lutz den Leipziger Platz denn für den Tatort?«, wollte der Neue wissen.

»Nein«, erwiderte die Brennemann grimmig. »Das ist eindeutig nur der Fundort. Auf einer öffentlichen Baustelle kann sich ein Täter wohl kaum tagelang am Sterben seiner Opfer ergötzen.«

»Wir wissen also weder, wo sie ermordet wurden, noch, wie sie zum Leipziger Platz transportiert wurden?«

Das Schweigen der Brennemann sprach Bände.

»Heute Morgen war ich bei den Tempelhofern«, sagte Matze. Die Tempelhofer, das war die Kriminaltechnik am Tempelhofer Damm: Tatorterkennung, Personenerkennung, DNA-Analyse, Ballistik, Kfz-Untersuchungen. »Die KT ist voller Arbeitsschuhe, bis zur Decke. Echt, hundert Paare, zweihundert, in Riesenstapeln, an jedem Tisch, überall, die machen Abdrücke von jedem einzelnen Paar. Das dauert Wochen.«

»Die einzigen beiden Verdächtigen sind schon wieder frei«, sagte die Brennemann und drehte ihr Feuerzeug in den Fingern. Schon am Wochenende hatte Lutz zwei vorbestrafte Vergewaltiger festnehmen lassen, die irgendwann mal Panzertape zur Fesselung ihrer Opfer benutzt hatten. Es wäre ergiebiger gewesen, einfach das Telefonbuch aufzuschlagen und die Finger auf irgendwelche Namen zu legen.

»Was ist hiermit?«, fragte Emma. Zog eine Spurenliste aus ihren Akten. Lauter Sachen, die in dem Raumgerüst gefunden worden waren. Einige Punkte waren rot markiert:

–  Glasscherben von einer Brille

–  Puppe mit rasiertem Kopf

–  Brieftasche mit japanischem Führerschein, Fotos und 200 Yen (Euros und Kreditkarten fehlten)

–  drei rote Stumpenkerzen, unterschiedlich weit abgebrannt

–  acht leere Bierflaschen (Beck’s, Jever, König Pilsener), fünf leere Plastikflaschen (Coke, Pepsi), eine leere Wodkaflasche (Smirnoff), eine leere Rotweinflasche (Bordeaux)

–  drei Antirutsch-Arbeitshandschuhe

–  ein Karabiner von einer Sportkletterausrüstung

–  ein Frauenslip, weiß, Größe 36

–  Spermaspuren auf einem blauen Grubentuch

–  ein Glasauge

–  ein Männerturnschuh, Marke Reebok, Größe 44

»Der japanische Tourist hat den Diebstahl seiner Brieftasche vor zwei Jahren gemeldet und ist längst wieder daheim«, sagte die Brennemann achselzuckend. »Der Schuh ist interessanter: Er ist speziell zum Klettern, aber kein Arbeitsschuh. Lutz hat Leute zu jedem Kletterverein der Stadt geschickt. Die einzig wirklich spannende Spur ist das Sperma. Ich tippe auf irgendeinen Bauarbeiter, der zu vielen scharfen Müttern nachgepfiffen hat.«

»Das Grubentuch ist das Standardgeschirrtuch in jedem Restaurant der Stadt, kriegst du auch im 99-Cent-Laden«, ergänzte Matze.

»Ja, aber was ist mit den unpassenden Objekten, die Kottke im Obduktionsbericht erwähnt hat?« Emma tippte auf ihre Unterlagen. »Die stehen hier gar nicht drauf.«

»Was heißt überhaupt unpassend?«, fragte Sigmar.

»Und die Kleidung war ›artifiziell‹? Was soll das denn heißen?« Matze.

»Schauen Sie nicht mich an.« Die Brennemann hob die Augenbrauen. »Kottke und Lutz wollen, dass diese Objekte gründlich untersucht werden, bevor wir sie zu Gesicht kriegen. Klauben Sie mal irgendwelchen Kleinscheiß aus hundert Metern Panzertape. Ich weiß nicht, wann sie fertig sind.«

»Irgendeine Idee?«

»Unpassende Dinge sind das.« Die Brennemann zuckte mit den Schultern. »Und unpassende Kleidung. Und unpassende Fragen. Wir müssen mit dem arbeiten, was wir haben, bis mehr Daten kommen.«

Sigmar schüttelte wortlos den Kopf. Sein Pferdeschwanz wippte. Matze drehte seinen Fahrradhelm in den Händen. Der Neue fächerte die Zeitungen auf, die auf dem Tisch lagen.

»Einiges wissen wir ja bereits.« Die Brennemann klopfte auf ihren Notizblock. »Erstens: Für einen Einzeltäter ist der Aufwand zu groß. In Betracht kommen hier ein Primärtäter und ein Mitläufer. Zweitens: Mindestens einer der beiden ist männlich, das geht aus dem Aufwand hervor, aber auch aus der Opferauswahl. Drittens: Es gibt hier ziemlich sicher eine sexuelle Komponente. Opfer 3 wurde unseres Wissens vergewaltigt, wahrscheinlich auch Opfer 1. Ist das alles?«

»Na ja, ein bisschen mehr kann man schon sagen«, wandte Emma ein. »Der Mann, der sich das ausgedacht hat, ist stolz auf sein Werk. Er betrachtet es als große Leistung. Es ist extrem aufwändig, und er hat es schon dreimal durchgezogen, ohne gefasst zu werden. Er hält sich für ein Genie, allmächtig und fehlerfrei. Was er da verwirklicht, das ist eine extrem weit entwickelte, spezifische Fantasie, die er schon einen Großteil seines Lebens mit sich herumträgt, und seit einigen Jahren arbeitet er konkret an der Realisierung. Das ist sein Lebensinhalt, alles andere verblasst neben diesem Meisterwerk, und nun endlich hat die Welt es bemerkt. Das wollte er wahrscheinlich von Anfang an.«

Es dauerte, bis jemand etwas sagte. Das war dann der Neue, der sich gerade ein Kaugummi einwarf: »Hört sich fast an, als ob Sie ihn bewundern.«

»Merken Sie sich eins: Sie werden als Fallanalyst nie wieder so einem Täter begegnen.«

»Erst die Fakten, dann die Spekulation«, unterband die Brennemann sofort jede weitere Diskussion. »Herr Lüders, die Datenbanken.«

Mit einem Seufzer zog Matze seine Notizen unter seinem Fahrradhelm hervor. Seine Finger zitterten leicht. Von der Brennemann direkt angesprochen zu werden, machte ihn nervös. Er war noch sehr jung für diesen Job.

»Stichworte waren: Industrieklebeband, Gerüst, Raumgerüst und leer stehende Gebäude. Auch bezüglich der Fundortinszenierung haben wir recherchiert, vor allem das Aufhängen der Leichen ist interessant. Ich finde bisher keine Tat, die auch nur annähernd ähnlich ist.«

»Was genau ist eigentlich Industrieklebeband?«, wollte Emma wissen.

»Das Zeug hat tausend Namen. Gewebeband. Lassotape. Filmtape. Panzertape. Es stammt aus dem Zweiten Weltkrieg. Ist unglaublich zäh, wasserdicht, du kannst damit wirklich einen Panzer zusammenflicken. Kein Witz. Laut den Tempelhofern haben die Täter mindestens zehn Rollen pro Opfer benutzt, von mindestens drei verschiedenen Firmen. ViCLAS hat eine Menge zum Stichwort ›Panzertape‹ ausgespuckt.« ViCLAS: die internationale Serientäterdatenbank, ursprünglich aus Kanada, inzwischen internationaler Standard.

»In Kanada gab es in den Achtzigern eine Sekte, wo die Kinder mit Panzertape an Stühlen fixiert wurden wie am Pranger, wenn sie irgendwas falsch machten oder ihr Gemüse nicht aufaßen. Irgendwann hat der Sohn den Vater ermordet und brachte sich später selber um. Ein Serienmörder in Frankreich hat bei sechs oder sieben Opfern den Kopf völlig mit Panzertape umwickelt, bevor er ihn abhackte …«

»Damit er ihnen nicht in die Augen sehen muss«, nickte Sigmar.

»Er sitzt noch in Haft«, schloss Matze. »Aber den ganzen Körper einwickeln? Nirgends.«

»Herr Doktor?«, wandte sich die Brennemann an Sigmar.

»Im Normalfall würde ich sagen, das Einwickeln zeugt von Reue«, sagte der. »Viele Mörder bereuen ihre Tat, sie wollen es wiedergutmachen, legen die Leiche ab, als ob sie schläft, waschen sie, kleiden sie hübsch, damit der Tod nicht mehr so grau… grausa…« Er stotterte wieder.

Felix Schreiner half aus: »Scheiße aussieht.«

Sigmar gab nach: »Scheiße aussieht.«

»Undoing«, sagte Felix Schreiner.

»Richtig.«

»Ich habe nur einen einzigen Fall gefunden, wo das Opfer komplett eingepackt wurde«, sagte Matze. »Es war aber nicht Panzertape, sondern Gips. In den USA in den Sechzigern. Als die Polizei den Kerl hochnahm, hatte er vier Frauenleichen im Haus, sie waren auf den Boden genagelt und ganz mit Gips zugespachtelt.«

»Das ist vermutlich anders gelagert«, sagte Sigmar. »Er konnte weder die Leichen entsorgen noch ihren Anblick ertragen.«

»Dafür musste er den ganzen Tag lang darüber stolpern.« Schreiner, der Witzbold.

»Du denkst an Dinner for One.« Matze.

»Ach, das habe ich lange nicht mehr gesehen.« Schreiner. »Läuft das an Silvester noch?«

»Das war aber keine spontane Wiedergutmachung«, unterbrach Emma das Geplänkel. »Das war geplant, war Teil der Tat.«

»Richtig.« Sigmar. »Das hier ist anders. Eine Erklärung ha… ha… habe ich noch nicht.«

»Na, es gibt auch ganz praktische Gründe, die Opfer einzuwickeln«, sagte der Neue. »Spurenbeseitigung.«

»Entschuldige mal«, meinte Emma, »Wenn der Typ Spuren beseitigen wollte, hätte er die Leichen im Wald vergraben.«

»Sperma. Spätestens fünf Tage nach einer Vergewaltigung absorbiert der Körper alle Spermareste. Aber nur, wenn der Körper lebt. Wenn der Täter das Opfer ohne Kondom vergewaltigt hat, musste er fünf Tage warten, bis seine DNA nicht mehr vorhanden ist. In diesen fünf Tagen muss er unbedingt der Versuchung widerstehen, sich noch einmal an dem Opfer zu vergehen. Also wickelt er es ein.«

Sigmar und Matze hörten auf zu murmeln.

»Und das Aufhängen?«, fragte die Brennemann.

»Das ist wirklich eigen.« Sigmar schüttelte den Kopf. »Einen Körper aufzuhängen, das ist sehr schwer.«

»Und erst eine Leiche. Das ist wie Tangotanzen mit einem nassen Sack«, sagte die Brennemann trocken und fügte hinzu: »Ich weiß, wovon ich rede.« Keiner hakte nach. »Irgendwelche Vorbilder?«

»Metzger hängen die Rinderhälfte nach der Schlachtung fünf Tage auf«, sagte Schreiner. »Erst dann schmeckt das Fleisch. ›Fleischreifung‹ nennt man das.«

»Ich weiß schon, warum ich das Zeug nicht esse.« Matze schüttelte sich.

»Ich kenne auch einen Vegetarier.« Schreiner. »Adolf Hitler hieß er.«

Matze zuckte mit den Schultern. »Ich bin Veganer.«

Sigmar blätterte durch die Zeitungen auf dem Tisch. »Sie nennen den Täter schon den Mu… Mumienmörder.«

»Neuntöter«, sagte Emma. Sie musterte den Tagesspiegel, auf dem die Zeichnung eines Vogels prangte. Neben einem Artikel über die drei Morde.

»Wie bitte?«

»Ein Vogel. Sadistisches kleines Ding. Er spießt seine Beute auf Stacheldraht oder auf Dornen auf und lässt sie da hängen.«

Matze googelte schon. Als er ein Foto hatte, drehte er den Monitor, damit es alle sehen konnten. »So sehen sie aus. Im Mittelalter fast ausgerottet – steht hier –, man hielt sie für teuflische Wesen. Heute eine gefährdete Art.«

»Der trägt ja eine Zorromaske.« Der Neue lachte.

Dieses Lachen. Wieso nervte sie das so? Eigentlich fühlte Emma sich wohl in der Puppenkiste. Es war das Zweitbeste nach dem Alleinsein. Sie kannte diese Leute. Sie wusste, wenn sie jetzt gleich an Matzes Schreibtisch vorbeiging, würde er nach frischem Kaffee riechen. Sie wusste, dass er mit den Fingern trommelte, wenn er unsicher wurde, trotzdem respektierte sie ihn. Sie wusste alles über Sigmars kleine Rattenfarm bei ihm zu Hause und von der Verhaltensforschung, die er da betrieb, und sie fühlte sich davon nicht sonderlich abgestoßen. Sie merkte richtig, wenn ein neuer Fall kam, wie die Synapsen in den Gehirnen um sie herum feuerten. Doch, sie mochte es hier. Nur dieser Schreiner. Der störte.

»Und gibt es einen Grund, warum er seine Beute überall so aufhängt?«, sagte der jetzt.

»Weil er vom Teufel besessen ist?« Die Brennemann wurde ungeduldig. »Im Ernst, mich interessiert nur, warum unser Täter das tut.«

Emma legte die Zeitung beiseite. »Moment mal, ich finde die Frage gut«, warf sie widerwillig ein. »Das hat Ähnlichkeiten mit dem Prinzip der Fleischreifung. Einerseits ist das eine Art Vorratshaltung. Andererseits kann er so auch giftige Insekten fressen, er wartet ein paar Tage, bis sich das Gift neutralisiert, dann sind sie ungefährlich. Das ist ein Tier, das langfristig denkt. Daher kommt auch der Name: Im Mittelalter glaubte man, dass er erst neun Opfer sammelt, bevor er sie verspeist.«

Die anderen waren still. Emma wusste, was sie dachten.

»Dieses Sammeln – das tut auch unser Täter. Drei Opfer an einem Ort. Er legt die Leichen nicht ab, er sa… sa… sammelt sie.«

Die Brennemann wandte sich an Emma. »Glauben Sie, dass er eine bestimmte Zahl im Kopf hat?«

Emma zuckte mit den Schultern. »Er hat auf jeden Fall einen Plan. Die meisten Mörder planen nur einen Mord: den nächsten. Unser Täter denkt offenbar größer.«

»Wie groß?«, fragte Matze in die Stille.

Keiner antwortete.

»Noch eine Seltenheit«, konstatierte die Brennemann. »Mord durch Verhungern. Oder Verdursten. Herr Doktor?«