Wassertöchter - Ule Hansen - E-Book

Wassertöchter E-Book

Ule Hansen

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Beschreibung

Es sind gute Zeiten für die hochbegabte Fallanalystin Emma Carow. Sie ist glücklich. Frisch verliebt. Die Dämonen der Vergangenheit ruhen. Emma kann einschlafen, ohne an ihre brutale Vergewaltigung vor vielen Jahren zu denken. Auch mit den Kollegen kommt sie besser klar. Dann findet eine Vergewaltigung statt. Das Opfer hat Schnittwunden, die an ein Ritual erinnern, eingeritzt mit einem sehr scharfen Messer. Genau wie bei Emma damals. Kann es sein, dass ihr Vergewaltiger wieder aktiv ist? Die Indizien sprechen dagegen. Doch als kurz darauf eine grauenhaft zugerichtete Wasserleiche auftaucht, ist Emma sicher: Auch dieses Opfer trägt seine Handschrift. Niemand glaubt ihr. Die Dämonen kehren zurück. Und Emma beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln.

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Seitenzahl: 553

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Zum Buch

Es sind gute Zeiten für die hochbegabte Fallanalystin Emma Carow. Sie ist glücklich. Frisch verliebt. Die Dämonen der Vergangenheit ruhen. Emma kann einschlafen, ohne an ihre brutale Vergewaltigung vor vielen Jahren zu denken. Auch mit ihren Kollegen kommt sie besser klar. Dann findet eine Vergewaltigung statt. Das Opfer hat dreizehn Schnittwunden, eingeritzt mit einem sehr scharfen Messer. Genau wie bei Emmas Vergewaltigung. Emma ist sicher, dass ihr Vergewaltiger Uwe Marquardt der Täter war. Und dass eine grauenhaft zugerichtete Wasserleiche, die kurze Zeit später auftaucht, ebenfalls auf sein Konto geht. Niemand glaubt ihr. Die Dämonen kehren zurück. Und Emma beginnt auf eigene Faust zu ermitteln.

Zum Autor

Ule Hansen ist das Pseudonym eines Berliner Autorenduos. Astrid Ule ist zudem Lektorin, Eric T. Hansen freier Journalist. Gemeinsam haben Sie bereits mehrere Dreh- und Sachbücher verfasst. Sie teilen eine Leidenschaft für nächtliche Gespräche bei gutem Whisky, exzentrische Halloweenpartys und ziellose Streifzüge durch die vergessenen Ecken der Stadt.

ULE HANSEN

WASSER

TÖCHTER

THRILLER

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 by Ule Hansen

Copyright © 2020 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Marcus Jensen

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München,

unter Verwendung der Fotos von © Bigstock (ilker canikligil)

und GettyImages (studioair/Multi-Bits)

Herstellung: Helga Schörnig

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-20115-9V001

www.heyne.de

1

Glücklich.

Emma probierte das Wort aus. Sie nahm es in den Mund. Kostete es vor. Rollte es auf der Zunge, ehe sie es sagte.

»Glücklich.«

Könnte giftig sein. Es schmeckte ungewohnt. So wie sich die Lippen spitzten, dann wieder entspannten, zu einer Art Lächeln fast.

Glücklich. Ein Wort, das lächeln machte. Ein komisches Wort, ein mysteriöses Wort, ein Fremdwort. Man müsste mal nachschlagen, woher es kommt, was es wirklich bedeutet. So ein Wort, alle benutzen es, jeden Tag, aber keiner weiß, was es heißt. Außer ihr. Vielleicht. Sie lächelte.

War das Glück? Fühlte es sich so an?

Sie roch ihn noch. Auf ihrer Haut, in ihrem Haar, an ihren Laken. Sein Aftershave. Billig, wie sich das für einen Kerl gehört. Und seinen Schweiß. Sie kannte seinen Geruch, wenn er sie im Auto oder bei einer Begrüßung flüchtig streifte, klar, aber wenn er Liebe machte, veränderte er sich. Intensiver, heißer, frischer wurde er. Dieser frische Schweiß roch besser als das beste Aftershave.

Sie hob den Blick. Über die Hügellandschaft der zerwühlten Decken hinweg. Die Kopfkissen, wo waren die Kopfkissen? Da unten, auf dem Boden, eins. Das andere zu ihren Füßen. Sie lag verkehrt herum, deshalb. So war sie eingeschlafen.

Ihr Bett. Komisch. Diese Worte, so selbstverständliche Worte, doch für sie war es nagelneu zu sagen: »Das ist mein Bett.« Nicht, weil sie es selbst ausgesucht und gekauft hatte, mit ihrem eigenen Geld, nicht, weil es in ihrer eigenen Wohnung stand, zu der nur sie die Schlüssel hatte und an deren Tür mehrere Stangen- und Sicherheitsschlösser angebracht waren, nur für den Fall, dass jemand einbrechen und sie überwältigen und vergewaltigen wollte.

Wie er es getan hatte, als sie neunzehn war.

Uwe. Der sie an sein Bett band, ihr kranke Liebesworte ins Ohr flüsterte und sie mit seinem Messer schnitt, wie es ihm gefiel, und sie nicht gehen ließ, nicht gehen ließ, drei Tage lang.

Seitdem hatte jedes Bett, in dem sie schlief, ihm gehört. Jedes Bett war blutbeschmiert, jede Nacht, in der sie Schlaf fand, träumte sie von seinen Fesseln, jede Nacht wachte sie früher oder später auf und hörte noch den Nachhall seiner Worte, glasklar.

Jede Nacht, jedes Bett.

Nur diesmal nicht.

Diese Nacht hatte sie ihm nicht gehört. Diesmal war es anders. Sie verachtete den Kerl in ihrem Bett nicht, sie verachtete sich selbst nicht, sie vergaß Macht und Ohnmacht, unnützer Kram, sie nahm sich, was sie wollte, und gab alles, sie weinte nicht, sie staunte nur, er schlief in ihren Armen ein, und sie hielt ihn fast die ganze Nacht, erschöpft und zufrieden und irgendwie richtig.

Als ob das Bett zum ersten Mal das ihre war. Als ob es nicht genug gewesen war, es mit eigenem Geld zu bezahlen. Sie musste auch noch ihr eigenes Leben darin leben.

War das Glück? Selbst bestimmen, wer dir nah sein darf, und ihn dann nicht fortschicken, sondern mit ihm einschlafen, als ob er eine Mauer zwischen dir und deinem Vergewaltiger ist, zwischen dir und dem, was du warst. Zwischen dir und Emma, dem Opfer. Zwischen ganz und gebrochen. Und am nächsten Morgen aufwachen, und das Bett ist immer noch deins.

Uwe Marquardt stand nicht vor ihr, flüsterte ihr nicht ins Ohr, war nicht durch ihre Träume gegeistert.

Er verblasste. Ihr Bett gehörte ihr, und Uwe verblasste.

Glück.

Emma genoss den frischen, rauen, neuen Duft in ihrem großen, leeren Bett, bis sie wusste, sie war spät dran.

Sie drehte sich zum Nachttisch und sah etwas Buntes. Sie angelte danach. Ein Flyer. Teneriffa, Finca Paloma. Viele Fotos. Schöne Fotos. Meer, Berge, Blumen, Strand.

Samstag in drei Wochen, war darauf gekritzelt, magst du mit? Ich wette, du hast noch 100 Jahre Urlaub. Sind Freunde von mir. Ich bleibe 3 Wochen, mindestens. Sag einfach Ja.

Dann lag sie da noch eine Weile länger und grinste.

2

»Du schaust nicht mehr in die Datenbanken, oder? Privat, meine ich?«

Das waren die ersten Worte, die Felix an sie richtete, als Emma die Puppenkiste betrat. Verspätet.

Puppenkiste, Eierköpfe, Profiler, die »echten« Ermittler hatten viele dämliche Spitznamen für die Operative Fallanalyse. Ganz hinten, ganz oben lag die OFA, die keiner so nannte, unterm Dach des LKA Berlin, Keithstraße, ein Bau, wuchtig wie eine Festung, nicht umsonst die Burg genannt. Die OFA war die modernste Abteilung im ganzen Haus, na ja, war nicht schwer, war ja auch die jüngste. Weit, hell, schlicht, mit vielen Fenstern, drei Schreibtischen und Whiteboards, einem großen Konferenztisch am Erker und der besten Kaffeemaschine der Etage. Sigmar grüßte stumm hinter Glas aus seinem Chefbüro, wie immer im schwarzen Rolli, Matze, der Jüngste der Truppe, die Haare seit Neuestem grau gefärbt, nickte ihr vom Computer her zu.

Emma stellte ihre Tasche auf den Tisch. »Weshalb fragst du?«

»Lutz war hier.« Wie er da stand, der kleine Macho mit seiner Sherifftasse, die angeblich ironisch gemeint war. Haha. Diese Selbstsicherheit stank ihr manchmal schon ein wenig. Hätte es ein nettes »Guten Morgen« nicht auch getan? Andererseits, diese Lippen. Die machten vieles wett.

»Er hat noch mal betont, dass die Datenbanken nicht für persönliche Recherchen da sind«, fuhr Felix fort. »Wegen Datenschutzbestimmungen. Jeder Missbrauch wird ab jetzt geahndet. EU und so.«

»Ist was passiert?«

»Warum sonst würde er uns an was erinnern, was wir längst wissen?«

»Sicher hat wieder irgendwer in der Zwölf den neuen Freund seiner Exfrau nachgeschaut«, sagte Emma. Die LKA 12, das war die Abteilung Vermisste Personen. Doch sie wusste, worauf er hinauswollte.

»Ich soll’s dir ausrichten, du warst noch nicht da. Keine Ahnung, was du morgens immer so lange treibst.«

Emma grinste, fuhr den Computer hoch und holte Kaffee. Als sie zurückkam, saß er auf ihrem Stuhl. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Du glaubst, jemand hat den Namen Uwe Marquardt in die Datenbanken eingegeben, obwohl es keinen Fall gibt und er nicht unter Verdacht steht. Und Lutz denkt, ich war das?«

Felix zuckte mit den Schultern.

»Also, ich war’s nicht. Und dein Platz ist da drüben.«

»Wollte nur mal höflich fragen«, sagte er, zog die Augenbrauen hoch und schlenderte zu seinem Tisch. »Nicht, dass du wieder dem Datenmissbrauch verfällst.«

»Wir sind hier nicht bei den Anonymen Alkoholikern!«, rief sie ihm nach. Er zeigte ihr nur den Stinkefinger, ohne sich umzudrehen. Arschloch.

Emma saß an ihrem Schreibtisch, sah dem Staub in der Vorfrühlingsluft beim Sinken durch die Sonnenstrahlen zu, sollte an irgendwelchen Cold Cases arbeiten, wollte nicht. Sie musterte Felix. Genauer, seinen Rücken. Sexy Arschloch bei der Arbeit, versunken in irgendwelchen Akten.

War sie verliebt?

Nein, das nicht.

Aber glücklich … das war ein Wort, mit dem Emma Carow sich arrangieren könnte. Unter Umständen. Sie öffnete ihre Tasche und riskierte einen Blick hinein. In deren Tiefen ruhte der Teneriffa-Flyer wie ein kleines Juwel.

Matze am Nebentisch strich sich durchs Haar, das in alle Richtungen abstand. Wahrscheinlich mal wieder ohne Fahrradhelm gefahren. Der Einzige heute, der anscheinend wirklich arbeitete. Sie schlenderte zu ihm, schaute ihm über die Schulter. »Was für ein Fall ist das?«

»Zwei. 2009 und 2010. Dieselbe Abfolge: Entführung, Missbrauch, Kindesmord. Ich sortiere die grad ins System. Wir wissen genau, wie der Typ vorging. Aber nicht, wer es war.« Er klickte sich durch die Akte und erzählte weiter, aber Emma hörte nicht mehr zu. Sie starrte auf den Bildschirm. Das kleine blonde Mädchen, das da so fröhlich grinste, hätte Emily sein können. Ihre Nichte. Emma wartete seine Antwort nicht ab. Ignorierte seinen leicht düpierten Blick, als sie wortlos zu ihrem Tisch zurückkehrte.

Unglück. Sie wusste, was Unglück war. Wie es aussah, sich anfühlte. Nicht gut, doch altbekannt. Wie die Faust aufs Auge passte das Unglück zu ihr, wie ein Freund, der nicht gut für einen ist, aber halt der einzige, der immer da ist. Seit drei Jahren suchte Emma oft mehrmals täglich die Datenbanken nach einem Satz ab, Uwes Satz. Wie eine Wunde, von der man nicht lassen kann, denn sie heilt so unendlich langsam.

Noch vor wenigen Wochen war sie stets die Erste auf Arbeit gewesen, gegen sechs, halb sechs Uhr früh schon. Sie genoss die einzigartige Stille, die Leere. Bis die Menschen kamen, war das ihr ganz persönlicher Tempel. Und sie konnte ungestört POLIKS und ViCLAS durchforsten.

Polizei-Datenbanken wie das Violent Crime Linkage Analysis System enthalten alle Merkmale einer protokollierten Straftat. Wird jemand vergewaltigt und meldet die Tat, wird die Beschreibung des Täters und seiner Vorgehensweise hier eingespeist. Mit einem 165-Punkte-Fragebogen. Jedes Stichwort kann man abfragen. Sagt der Vergewaltiger etwas Bestimmtes zu seinem Opfer – »Du willst es doch auch, Kind«, zum Beispiel –, dann erscheint dieser Satz dort. Wie der Satz, den Uwe Marquardt zu ihr gesagt hatte. Den er wieder sagen würde, wenn er wieder zu vergewaltigen begann. Seit seiner Entlassung hatte Emma danach gesucht.

Jetzt nicht mehr. Schon ein paar Wochen lang. Manchmal vermisste sie es, wie eine Süchtige, doch sobald der Feierabend kam und sie es wieder mal geschafft hatte, einen ganzen Tag die Finger von den Datenbanken zu lassen, war sie stolz auf sich.

Ich will die alte Emma nicht mehr. Ich will die neue Emma. Die mit Zukunft.

Sie hatte den Gedanken an Rache aufgegeben. Vor Kurzem erst. Als sie Uwe spontan öffentlich, mit ihrem Anruf im Radio, verziehen hatte, war es wie ein gewaltiges Ausatmen gewesen. Jetzt bekam sie Fanbriefe: Du gibst mir den Glauben an die Menschheit zurück.Wenn du über deinen Schatten springen kannst, dann kann ich es auch. Ich habe sein Buch gelesen, er hat seine Strafe abgesessen, ich weiß, dass er ein anderer Mensch ist, und ich weiß, wie wichtig es ihm ist, dass du ihm verzeihst.

Sie wunderte sich selbst, dass sie das hatte tun können. Immer noch. Uwe Marquardt hatte sich garantiert nicht geändert, was immer seine Fans auch dachten. Psychopathen wie er tun das selten. Aber Emma konnte sich ändern.

Nein, Lutz, ich habe nicht unerlaubt in die Datenbanken geschaut.

»Spielen Sie etwa Su-Sudoku?« Sigmar stand plötzlich hinter ihr. Er schien sich immer noch nicht daran gewöhnt zu haben, dass er hier der Chef war. Je mehr er ihn rauszukehren versuchte, desto schlimmer wurde sein Stottern. Er blickte besorgt über ihre Schulter auf das Rätselheft, das vor ihr auf dem Schreibtisch lag.

»Nein«, sagte Emma. »Ich tippe die alten Akten ins System ein. Ich bin schon bei Januar 2004.«

»Sie haben bei Januar 2004 angefangen. Das w-war letzte Woche. Und das ist ein Sudokuheft auf Ihrem Tisch.«

»Das ist aber ein Sudoku von 2004. Es ist fallrelevant.«

»Sudokus gibt es in Europa erst seit 2005«, sagte Sigmar.

»Äh, meine ich ja, 2005, natürlich.«

Sigmar seufzte nur und ging kopfschüttelnd zurück in sein Büro. Emma seufzte auch und schlug das Sudokuheft auf. Legte den Stift wieder hin. Wer schaute bloß nach Spuren von Uwe Marquardt? Irgendjemand hatte es getan. Warum sonst würde Lutz sich melden? Es war eine Warnung, an sie: Lass es, bevor es einer merkt.

Oder war es ganz anders? Ging es vielleicht gar nicht darum, dass jemand die Datenbanken missbrauchte, sondern gab es darin etwas, was sie nicht sehen sollte? Seinen Satz, zum Beispiel?

Irgendwann blickte Emma auf, und die Puppenkiste war leer. Mist. Wann Sigmar, wann Matze gegangen waren, hatte sie nicht mitbekommen. Felix, das Arschloch, hatte sich vor vielleicht zehn Minuten mit warnendem Blick verabschiedet.

Auf dem Computerbildschirm vor ihr: ViCLAS.

Sie brauchte ihn nur einzutippen. Uwes Satz.

Sie tippte den Satz nicht ein. Sie griff zum Telefon und rief Lutz Bogner an. Was er bitte damit gemeint habe, sie solle nicht wieder in den Datenbanken suchen?

Mailbox.

Lutz Bogner, ihr Oberboss, Leiter der LKA 11, Delikte am Menschen. War er schon zu Hause? Feierabend, Handy aus, Abendessen mit der Brennemann? Die Brennemann, Ex-Boss der Puppenkiste, Sigmars Vorgängerin. Die beiden Dickschädel, jetzt unter einem Dach, unglaublich. Die Brennemann kümmerte sich um das Baby, das passte gar nicht zu ihr, aber sie tat es. Ob das auf Dauer gut gehen würde?

Emma legte auf, trat zum Fenster. Draußen wurde es langsam dunkel, sie erkannte ihr eigenes Spiegelbild im Glas. Ein Berliner Freitagabend. Wo die anderen jetzt wohl waren? Matze? Da gab es irgendeine Freundin, eine Japanerin oder so. Stimmt, er wollte Ramen kochen. Veganes Ramen. Sigmar? Sie hätte ihn nach Urlaub fragen sollen. Teneriffa. Haha, so kurzfristig, ein Witz war das doch. Andererseits: Wirklich los war gerade nichts. Es konnte sein, dass sie tatsächlich mal nicht gebraucht wurde.

Felix? Fitness? Fußball? Sie hatte keine Ahnung, was der Kerl in seiner Freizeit trieb. War er daheim, in der abgewrackten Pension, wo er nun lebte, aus dem Koffer, ohne Pläne, ohne Hoffnung, seit seine Frau sich für einen anderen entschieden hatte? Eher in der »Fürstentränke« unten an der Ecke wahrscheinlich.

Emma wandte sich vom Fenster ab, schüttelte den Kopf. Sammelte ihr Zeug zusammen, ihre Tasche, den Schlüssel zum Schließfach, wo ihre Dienstwaffe lag, solange sie im Büro war, ihr Handy, den Flyer.

Der Flyer. Morgen würde sie Sigmar fragen. Genau.

Und ging nach Hause.

Nur, sie ging nicht nach Hause. Sie schaltete zwar die Schreibtischlampe aus, schaffte es aber nicht am Schreibtisch vorbei. Im Stehen machte sie den Computer noch mal an, nur so. Ein letztes Mal. Das ViCLAS-Fenster öffnete sich wieder.

Sie tippte den Satz ein.

Treffer.

Zum ersten Mal seit drei Jahren. Da stand er doch, Uwes Satz, direkt vor ihren Augen, so normal, als ob er schon immer da gestanden hätte.

Ich bin das Messer, du bist das Fleisch.

Kurz war sie nicht mehr sicher, ob sie richtig las. Oder halluzinierte. Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Schloss die Datenbank, schaltete den Computer aus. Saß im Büro, alleine, unbeweglich, der Monitor schwarz, der Schreibtisch leer und aufgeräumt, die Tasche lag bereit für den Feierabend, das war gerade nicht passiert, oder? Sie hatte den Spruch sicher nur halluziniert. Im Dunkeln spinnt man einiges zusammen. Das stand nicht wirklich da, oder?

Sie fuhr den Computer wieder hoch. ViCLAS. Tippte.

Das Opfer wurde erst gestern Abend im S-Bahnhof Ostkreuz überfallen, von einem Unbekannten, der sie zwang, den Satz zu wiederholen, als er sie vergewaltigte.

Uwe. Uwe Marquardt vergewaltigte wieder.

Emma griff nach ihrer Tasche und rannte.

3

Raus in den neonbeleuchteten Flur, nein, zurück zur Umkleide, zu den Schließfächern, Waffenschrank, ihre Hände zitterten, sie hatte Schwierigkeiten, den Spind zu öffnen, jetzt schnell den Flur runter, zum Aufzug, Knopf drücken, warten, warten, nein, lieber doch die Treppe, dann den Gang zum Vordergebäude, große Treppe, Halle, die bunte, prächtige Eingangshalle des LKA, prächtiger als alles, was dahinter lag. Hinter Glas: der Pförtner, Janosch hatte heute Dienst.

Emma klopfte an die Pförtnerloge: »Janosch, ich fahre zur Alten Schönhauser 48, ich werde Uwe Marquardt verhaften, es geht um Vergewaltigung, bitte informieren Sie Sigmar Anstätt.« Auf dem Weg nach draußen sah sie ihn noch zum Telefon greifen.

Ihr Wagen stand nicht weit, um die Ecke, vor der Fürstentränke, ob Felix wirklich da drin war? Egal, ab ins Auto, durch den Tiergarten, Invalidenstraße, weiter, Mitte, Torstraße, Rosa-Luxemburg-Platz, in die Alte Schönhauser, Nummer 48. Gründerzeit, fünf Etagen, totsanierte Klinkerfassade mit cremefarbenem Zierrat. Das Haus, in dem Uwe Marquardt lebte.

Motor aus.

Emma überprüfte ihre Tasche. Nervös, sie war nervös. Da lag sie, neben ihrer Dienstmarke: ihre Sig Sauer P6, griffbereit. Sie nahm die Neunmillimeter kurz in die Hand, dieses feste schwere Stück Eisen, diese effiziente Maschine mit nur einem Zweck, die immer funktionierte, die nie versagte, erst dann wurden ihre Hände ruhig. Erst dann konnte sie nachdenken. Erst dann spürte sie es.

Er war zurück, ihr alter Freund, das Unglück. Als ob es nie weg gewesen wäre. Das so vertraute Gefühl, in einer andauernden Krise zu leben, in der sie unaufhörlich von ihrem alten Vergewaltiger bedroht wurde, bis es nichts mehr gab als diesen einen Gedanken, ihn irgendwann töten zu müssen, töten zu dürfen, damit dieser unerträgliche Zustand aufhörte, der einzige Ausweg, die einzige Erlösung.

Emma Carow saß da noch eine ganze Weile. Dachte nach. Atmete, versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Dachte an Glück und Unglück. Dann nahm sie ihr Smartphone zur Hand und wählte. Sigmar ging nicht ran, wahrscheinlich sprach er gerade. Lutz war immer noch nicht da. Diesmal hinterließ sie ihm eine Nachricht.

»Lutz, ich habe … ich kann dich nicht erreichen. Ich weiß nicht, ob ich gerade einen Riesenfehler mache. Ich sitze in meinem Auto vor Uwe Marquardts Haus. Ich habe in die Datenbanken geschaut. Ich brauche deine Hilfe.«

Stoppe mich, wollte sie sagen. Sagte sie aber nicht.

Sie legte auf und stieg aus.

Erst als sie vor der Haustür stand, dachte sie nach.

Was tun? Ihre Vorgesetzten hatte sie informiert. Eines fehlte noch: der KDD, der Kriminaldauerdienst. Falls was passierte, falls was schiefging, falls sie schießen musste. Sie blieb knapp, beantwortete keine Frage, legte auf, und schon klingelte sie so lange im Haus, überall, nur nicht bei ihm, bis der Öffner schnarrte. Sprintete die Treppen hoch, bis zu seiner Tür im vierten Stock, die mit dem gravierten Messingschild: Marquardt.

Klingelte.

Sie hämmerte an die Tür.

Sie schrie: »Uwe Marquardt, hier ist die Polizei!«

Im Treppenhaus ging eine Tür auf. Die Nachbarn wollten zuhören. Sollten sie ruhig.

»Marquardt, Polizei, Polizei!«

Keine Antwort. Sie hämmerte fester.

Es war still hinter der Tür. Es war still im Treppenhaus. Sie horchte. Horchte er auch? Hinter der Tür? Konnte sie ihn da atmen hören?

Nein, sie konnte gar nichts hören.

»Ich glaube, der ist nicht zu Hause«, kam eine zaghafte männliche Stimme von einer Etage tiefer. »Ich glaube, der ist in Urlaub gefahren.«

»Gehen Sie zurück in Ihre Wohnung und bleiben Sie dort«, befahl Emma.

In der Etage darunter klappte die Tür zu.

Emma hämmerte weiter.

Kein Laut. Das Wort, dieses eine Wort. Was hatte der Mann gesagt? Urlaub.

Sie hörte auf zu hämmern.

Das konnte nicht sein. Die Vergewaltigung war doch erst gestern gewesen. Eine Frau vergewaltigen, dann in Urlaub fahren? Doch, doch, wenn das sein Begriff von Spaß war, warum nicht?

Sie horchte.

Sie hörte nichts außer der Melodie ihres Handys.

Uwe Marquardt war nicht zu Hause.

Emma setzte sich auf die Stufen und wartete.

4

Es dauerte nicht lange.

Irgendwo klingelte es. Unten ging die Tür zur Straße auf. Jemand kam die Treppen hoch. Erster Stock, zweiter, dritter.

Emma erhob sich, griff in ihre Tasche. Ihre Sig Sauer.

Von der dritten Etage kam seine Stimme: »Emma?«

Lutz.

»Er hat wieder vergewaltigt, Lutz, ich weiß es.«

»Was machst du hier?« Lutz nahm die letzten Stufen.

»Es waren seine Worte, ich bin das Messer, du bist das Fleisch, das sagt nur er, das kann nur er gewesen sein.«

»Emma, es ging so lange gut, Kleines, ich dachte, so einen Scheiß machst du nicht mehr.«

»Er ist verschwunden, er will fliehen, sich ein Alibi verschaffen, wir …«

»Der Fall ist Sache der Dreizehn.« Die LKA 13, Sexualdelikte. »Der Schwander hat auch schon einen Verdächtigen.«

»Einen Verdächtigen?« Sie schüttelte den Kopf, ungläubig. »Das war Uwe.«

Lutz setzte sich auf die Stufen. Er stöhnte leicht, als er sich niederließ. Klopfte neben sich. »Emma, jeder kennt diesen Satz. Jeder. Seit du damals in dieser Talkshow angerufen hast. Seit er dieses Buch … sein Buch ist doch ein Bestseller. Jeder Vergewaltiger Deutschlands kann diesen Satz sagen, jeder kann ihn nachahmen, jeder kleine Wichser, der sich an der Nachbarstochter vergreift.«

Sie fühlte es weggleiten, durch ihre Finger. Nachahmer? Nachbarstochter? Uwe versuchte zu entkommen. Er durfte nicht entkommen.

Aber er entkam gerade.

Sie setzte sich neben Lutz. »Er darf nicht entkommen. Bitte.«

»Emma, jeder hat ihn auf dem Schirm, echt, nicht nur die Dreizehn. Mach du deinen Job, wir machen unseren.«

»Du hast keine Ahnung, wie das ist, er ist überall, was ich auch tue, was ich auch vorhabe, er steht mir im Weg, er lässt mich nicht in Ruhe, das kann doch nicht …«

»He, das schaffst du. Erzähl mir nichts. Ich hab’s gesehen. In der Talkshow.«

»Warum bist du nicht ans Telefon gegangen, Lutz?«

Lutz. Ihr Lutz. Der einzige Mann weit und breit, der Sinn machte. Der einzige, der ihr Vernunft einreden konnte. Der einzige, auf den sie hörte. Diese Stimme. Dunkel, fest, klar. Mit seiner Stimme allein konnte er sie beruhigen. Sie wollte ihren Kopf an seine Schulter legen, die Waffen strecken, er sollte das regeln für sie, er sollte übernehmen, endlich mal. Sie tat es nicht, doch sie wollte. Sie griff nach seiner Hand. Nach dieser riesigen Pranke, die sie schon so oft aus dem Schlamassel gezogen hatte. »Muss ich immer erst mit der Pistole rumfuchteln, bis du kommst? Du hast die letzten drei Wochen nicht zurückgerufen.«

»Ich kenne deine Anrufe. Ich merke schon an der Art, wie das Handy klingelt, ob es wichtig ist oder nicht. Du musst dich ein bisschen zusammenreißen. Ich habe ein Baby zu Hause, ich bin müde. Rund um die Uhr. Ich kann nicht mein ganzes Leben lang aufpassen, dass du nicht aus Versehen jemanden erschießt.« Als er ihr Gesicht sah, fügte er hinzu: »Und wenn er es noch so sehr verdient.«

Sie sagte nichts.

»Hör mal, damit meine ich nicht, dass es nicht gut ist, dass du angerufen hast. Im Gegenteil. Sonst springst du immer Hals über Kopf in den Abgrund, heute hast du vorher mal nachgedacht. Und mich angerufen. Das könnte man als Zeichen deuten, dass du vielleicht langsam erwachsen wirst. Obwohl du unverändert meine Anweisungen missachtest. An dem Punkt musst du noch arbeiten.«

Emma schwieg.

»Wobei, was rede ich da«, sagte Lutz. »Ich bin auch nicht erwachsen. Ich hab heute genauso Scheißangst davor, eine Familie zu gründen, wie damals mit einundzwanzig. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht hab. Ich hab Angst wie ein Kind. Weißt du, man bleibt verwirrt, verstört, verunsichert, man wartet immer darauf, dass endlich das wahre Leben beginnt. Mit sechzig noch!« Er lachte auf. »Erwachsen bist du bloß in den Momenten, in denen du dich bewusst dagegen entscheidest, kindisch zu sein. Nur dann. Und das hast du heute gemacht. Das ist neu, Emma. Das mag ich. Mach weiter so, hör nicht auf, mich anzurufen.«

Emma musste lachen, wischte sich die Wange. Er hatte ja recht. »In Ordnung.«

»Der KDD kommt gleich«, sagte er. »Gehen wir lieber, bevor alle erfahren, was du wieder angestellt hast.«

Sie drückte seine Hand und wollte aufstehen. Zu spät. Unten klingelte es. Sturmklingeln. In allen Wohnungen, einer nach der anderen.

Lutz erhob sich seufzend, stoppte sie, als sie es ihm nachtun wollte, und polterte die Stufen herab. »Ich hab doch Entwarnung gegeben!«, konnte sie ihn zwei Stock tiefer hören. »Hat das keiner von euch mitgekriegt? Wo ist Meyerhofer?« Es gab ein wenig Hin und Her da unten, Widerworte, die er scharf konterte, Beschwichtigung, Stille.

»Sie sind weg«, sagte er, als er wieder hochkam. »Aber einen Bericht wird es geben. Und der Schwander … den haben sie natürlich informiert. Vergewaltigung. Ist schließlich sein Fall. Der kocht. Von dem wirst du hören.«

»Wird er ihn verhaften? Warum hat er das noch nicht getan?«

»Hast du Facebook auf deinem Smartphone?«

»Was?«

»Öffne es.«

Emma kramte in ihrer Tasche und zog ihr Smartphone heraus. Rief Facebook auf. Sie hatte ein Profil, aber keine Freunde. Es hatte ihr mal gefallen, auf Partys bei ihrer Schwester Sarah Witze zu bringen wie: »Ich hab ein Profil auf Facebook, aber keine Freunde. Auch auf Facebook hab ich keine.« Das gab ein paar Lacher. Nach dem zweiten Mal sagte ihr Sarah, sie sollte solche Witze nicht mehr machen.

»Uwe Marquardt. Los.«

Zuerst war Emma verwirrt, dann suchte sie nach Uwe Marquardt.

Fotos. Schöne Fotos. Uwe am Strand, Uwe mit Freundin im Arm, Uwe an der Bar mit einem bunten Cocktail, Uwe auf einem Berggipfel mit einem atemberaubenden Panorama hinter ihm.

Darunter die Daten: heute. Gestern. Vorgestern. Letzte Woche. Mein Urlaub auf Ibiza.

»Das ist gestellt. Als Alibi. Du kannst solche Daten fälschen, wenn du willst.«

»Nein, Emma, Uwe Marquardt befindet sich wirklich auf Ibiza. Schwander hat das gleich als Erstes überprüft. Schwander ist nicht dumm.«

»Schwander ist ein Idiot.«

»Stimmt, Schwander ist ein Idiot, aber er ist kein dummer Idiot. Er weiß, was er tut. Der Vergewaltiger ist nicht Uwe Marquardt. Es ist jemand anderes. Irgendjemand stellt deine Vergewaltigung nach, Emma.«

5

Sie hatte doch gewusst, dass noch keine Saison war. Ende März?

»Mama, Mama, Emma denkt, auf Karls Erdbeerhof pflückt man Erdbeeren!« Emily hatte sich vor Lachen gekugelt, und selbst Sarah prustete. »Echt?«

»Ja, was denn sonst?«

»Emma hat keine Ahnung«, hatte Emily begeistert gekräht, während sie über das Sofa hopste. Und hopste nun ebenso begeistert im Kindersitz herum, als Emma in Elstal hinter Spandau den Blinker setzte und zu Karls Erdbeerhof abbog.

Gut, dass endlich Samstag war. Den Ausflug hatte sie Emily schon lange versprochen. »Wir zwei gehen Erdbeeren pflücken auf dem Feld, und danach backen wir Kuchen!« Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie beim Wort genommen werden würde, noch bevor die Erdbeeren überhaupt reif waren. Kaum hatte sie geparkt, schoss Emily wie eine Gewehrkugel aus dem Auto. Helle Sonne, kalter Wind hier draußen. Ihre Nichte war schon hinter den Backsteinmauern verschwunden, über denen Fahnen mit lachenden Erdbeeren wehten und wo eine große Erdbeerfigur die Arme zum Willkommen ausbreitete.

So was wie die Eingangsscheune voller alter Kaffeekannen, die die haushohen Setzkastenwände füllten, als wäre es eine riesige Urnenhalle, hatte Emma noch nicht gesehen. Erdbeerpampe blubberte in großen Töpfen vor sich hin und erfüllte alles mit betäubendem Duft. Erdbeerprodukte standen überall. Rot, rot, rot. Dahinter, auf dem weiten, von wuchtigen Gebäuden umringten Hof, tobte eine entfesselte Kinderhorde. Es war erst zehn Uhr morgens, aber schon rappelvoll und ohrenbetäubend laut. Emily war nirgends zu sehen. Emma hatte immer noch Probleme einzuordnen, was hier vorging. War das ein Bauernhof oder ein Spielplatz? Und wer hatte sich nur all die schlimm gereimten Hinweisschilder ausgedacht?

Sie brauchte dringend einen Kaffee.

Ihre Nichte fand sie schließlich neben dem Misthaufen des Streichelzoos. Besser gesagt, auf dem Riesenhüpfkissen neben dem Misthaufen, wo sie ihre Hopskünste unter Beweis stellte. Emma hielt sich die Nase zu, die Jungs neben ihr nutzten die Gelegenheit zu einem Pupswettbewerb.

Kaffee. Emma blickte sich um. Dahinten. Ein eisernes Schild schwankte im Wind: Pfannkuchenschmiede.

»Emily!«

»Ich komm gleich!«, schrie Emily und hopste weiter.

»Emily!«

Keine Antwort.

»Pfannkuchen!«

Emily kam aus dem Takt, rutschte vom Kissen und kam taumelnd neben ihr zum Stehen.

Die Pfannkuchen wurden in wagenradgroßen schwarzen Pfannen über dem offenen Feuer zubereitet und mit viel Hallo von einem muskulösen Pfannkuchenkoch in der Luft herumgewirbelt. Emma blickte sich um. Erschöpfte Mütter klammerten sich an ihre Coffee-to-go-Becher und labten sich stumm am Anblick des Kochs in der roten Schürze.

»Na, ihr zwei Hübschen, was darf’s denn sein?« Er hatte sie erspäht. Nicht nur das, er zwinkerte Emma zu.

»Pfannkuchen mit alles!«, rief Emily.

»Einen Kaffee, bitte«, sagte Emma.

Pfannkuchen mit alles war Pfannkuchen mit Erdbeermarmelade, Erdbeereis und dazu eine Erdbeersaftschorle. Neben Emmas Kaffee lag eine Schokoladenerdbeere. Langsam begriff sie das Konzept.

»Du hast mich reingelegt«, sagte sie zu Emily.

Die kicherte begeistert.

»Hier kann man überhaupt keine Erdbeeren pflücken. Das sind Treibhausfrüchte, die die verarbeiten. Oder tiefgefrorene. Hab ich recht?«

»Gar nicht!«, rief Emily, das Gesicht voller Marmelade. »Mama und ich haben hier Erdbeeren gepflückt. Im Sommer.«

»Sag mal, bist du sicher, dass du das schaffst?«

Statt einer Antwort zog Emily den Teller wortlos näher zu sich heran.

Die Pfannkuchen mit alles kamen zwar nach der Achterbahn direkt wieder raus, aber Emily schien das gewohnt zu sein und nicht willens, deshalb auf irgendetwas zu verzichten. Beim Ponyreiten marschierte sie von einem Tier zum anderen, bevor sie schließlich leicht enttäuscht auf irgendeines kletterte. »Ich dachte, ich finde vielleicht ein Einhorn«, murmelte sie, und Emma erinnerte sich daran, dass sie kaum sechs Jahre alt war. Im Streichelzoo musste sie mit Ziegen kämpfen, die ihren Schal anknabbern wollten, und in der Bonbonmanufaktur bestaunte sie die rot-weißen Zuckerschlangen, die vom unerschütterlich gut gelaunten Personal in mundgerechte Stücke geschnitten wurden.

»Sollen wir Mama eine Tüte mitbringen?«

Emily streckte Emma einen Zettel entgegen. »Den soll ich dir geben. Da hat Mama aufgeschrieben, wie viele.«

Keine Bonbons!!! stand auf dem Zettel. Bring mir lieber einen Erdbeerlikör mit.

Auf dem Weg zum Bauernmarkt lag der Irrgarten. Hohe Weidenmatten waren zum Labyrinth montiert worden, nichts Bedrohliches, nicht für einen Erwachsenen zumindest, der sich nur recken musste, um den Ausweg zu sehen, für Kinder schon.

»Emma, ein Mann folgt uns«, sagte Emily, bevor sie hineinschlüpfte. Emma drehte sich um. Ein Paar mit zwei Kindern, dahinter eine ältere Frau, zwei Lehrer im Gespräch, umringt von ihrer Schulklasse. Kein einzelner Mann, keiner, von dem Emma sagen würde, er sei verdächtig oder sie müsse ihn im Auge behalten.

»Wen meinst du denn jetzt?«

Aber Emily war schon weg.

Emma folgte ihrer Nichte in den Irrgarten. »Emily?« Wo steckte sie nur? Emma stellte sich auf die Zehenspitzen, doch Emily war zu klein, um über die Matten emporzuragen. »Emily! Wen meinst du?«

Da, ein Kichern, ein Flitzen um die Ecke. Emma sprintete los, und Emily lachte. »Niemand. Reingefallen!«

»Ach, du!«

Emma schnappte nach ihr, Emily rannte los und Emma hinterher. Den gewundenen Weg durch die hohen, dunklen Matten, über festgestampfte Erde, an einem weinenden Mädchen vorbei, dessen Mutter neben ihm im Schlamm kniete, glitschige Blätter, bloß nicht ausrutschen, durch Gruppen fremder Kinder hindurch, aus dem Weg, Kinder, rechtsrum, linksrum, Emma rannte schnell genug, um hinter Emily zu bleiben, aber nicht so schnell, dass sie sie einholte, sie liebte es, wenn Emily entsetzt quietschte und lachte und schrie und vor ihr floh und ihr entkam: »Ich bin schneller!«

»Ich kriege dich noch.«

»Nein, tust du nicht!«

Bis Emily einfach aus der Puste war und sich auf den Strohhaufen im Mittelpunkt des Labyrinths warf. Emma sprang hinterher, hob Emily auf, nahm sie in die Arme, hielt sie fest. »Du kleiner Witzbold, du Kobold, du Scherzkeks.«

Den Weg nach draußen fanden sie dann schnell mit Emily auf Emmas Schultern.

»Da, eine Würstchenbude.«

Auch am Imbiss gab es niemanden, der Emma verdächtig vorkam. Es war fast schade, Emily zu unterbrechen, sie war so vertieft in ihre Bratwurst, kaute andächtig, die Miene ernst, der Blick konzentriert.

»Hat deine Mama dir das gesagt? Mit dem Scherz?«

»Mit welchem Scherz?«

»Dass uns ein Mann verfolgt.«

Emily grinste. Sie war stolz auf ihren Scherz. »Mama sagt, du bist paranoid.«

Emma fragte sich, ob Emily wusste, was paranoid bedeutet. Richtig aussprechen konnte sie es jedenfalls nicht.

»Und hat sie auch ihrem Freund erzählt, dass ich paranoid bin? Diesem Hauke?«

»Bestimmt«, sagte Emily, aber man hörte Zweifel in ihrer Stimme. Irgendwann, das ahnte sie wohl, würde Tante Emma sie fragen, was paranoid eigentlich heißt. Je länger sie so tat, als ob sie das Wort verstand, desto größer würde die Blöße werden, wenn sie es darauf antworten müsste.

»Nächste Woche lerne ich ihn ja endlich kennen«, sagte Emma. »Er war in Urlaub, dann war ich beschäftigt, aber jetzt sind wir beide da.«

Emily nickte stumm und tunkte ihre Wurst in Ketchup.

»Willst du nicht, dass ich ihn kennenlerne?«

Emily zuckte mit den Schultern.

»Ich dachte, du magst ihn.«

»Ja, schon.«

»Du trägst sein Halsband nicht mehr.«

»Es pikst.«

»Macht er dir noch Geschenke?«

Emily nickte.

»Magst du ihn nicht mehr?«

Emily zuckte wieder mit den Schultern und musterte ihre Wurst.

»Was denn?«

»Er ist … komisch.«

»Hat er dir was getan? Dich angefasst?«

»Nein. Quatsch. Du bist paranoid.« Da, Emily versuchte es wieder. Emma wusste: Es war ein Test. Ob paranoid in die Situation passte. Emily lächelte fragend. Emma ging nicht darauf ein.

»Wenn er dir was tut, dann sagst du es mir, oder? Du hast es versprochen. Weißt du noch?«

Emily nickte.

»Warum magst du ihn nicht mehr so?«

»Ich mag ihn schon. Er ist nur komisch.«

»Wie meinst du das?«

Emily wusste es nicht. Es war einfach bloß ein Gefühl, vermutete Emma. Kinder haben manchmal so ein Gefühl, für das es keine Worte gibt.

»Sag mal, weißt du noch unser Geheimwort?«

Emily nickte.

»Und, was ist es?«

Emily lehnte sich über den Tisch und flüsterte Emma ins Ohr: »Giraffenaffen.«

»Richtig. Und wer muss das zu dir sagen?«

»Wenn jemand sagt, er soll mich vom Kindergarten abholen, weil Mama das gesagt hat, oder er will ein Spiel mit mir spielen, Mama hat gesagt, er darf das, oder wenn ich was tun soll, und die Mama soll es nicht wissen, dann soll ich ihn nach dem Geheimwort fragen, das ihm die Mama gesagt hat, und wenn er es nicht kennt, soll ich schreien und wegrennen.«

»Perfekt.«

»Ich übe das auch manchmal mit Mama«, sagte Emily stolz. Emma erinnerte sich, wie Sarah noch mit den Augen gerollt hatte, als sie ihr zum ersten Mal diesen Vorschlag gemacht hatte, und musste lächeln.

»Und was machst du, wenn er dich anschreit?«

»Ich frage ihn nach dem Geheimwort.«

»Auch, wenn er richtig laut brüllt?« Emma hatte die Stimme erhoben, Emily blickte erschrocken auf, aber sie nickte.

»Und wenn er dich packt und anbrüllt«, Emma schnappte sich Emilys Arme, »was machst du dann?«

»Aua! Lass mich los, das tut weh!«

Einige Leute guckten herüber.

»Was machst du dann?« Emma hob drohend die Hand, jemand stand auf.

»Emma!«

»Sag es!«

»Wie ist das Geheimwort, natürlich!«, rief Emily aufgebracht.

»Gut«, sagte Emma. »Sehr gut. Genau so muss es sein.« Sie ließ los, griff nach Emilys Hand, zog sie zu sich und schüttelte sie. »Ich gratuliere! Du hast gewonnen! Du hast den Test bestanden. Weißt du, es gibt Leute da draußen, die vielleicht versuchen werden, dir Angst zu machen, wenn du so was sagst. Aber du hast keine Angst gehabt, trotzdem nach dem Wort zu fragen, selbst wenn man dich anschreit. Super.«

»Ich mag aber nicht, wenn du schreist!« Die Empörung stand Emily ins Gesicht geschrieben.

»Ich weiß. Entschuldigung. Ich wollte nur …«

»Du sollst das nicht mehr machen, Emma!« Emily zog ihre Hand weg.

»Okay«, murmelte Emma, deren Herz plötzlich klopfte. »Du hast ja recht. Es tut mir leid.«

Emily schob die Wurst beiseite und stützte ihren Kopf zwischen ihre kleinen Fäuste. Endlich sprach sie. »Was hab ich denn gewonnen?«

»Wie bitte?«

»Du hast doch gesagt, ich hab gewonnen. Was denn?«

»Oh, ach so, klar. Ja, du hast eine große Tüte Bonbons gewonnen. Die müssen wir gleich da drüben im Bauernmarkt abholen.«

Emilys Gesicht leuchtete auf, und plötzlich saß sie wieder gerade.

»Ist schon mal irgendwas passiert, wo du nach dem Geheimwort fragen musstest?«

Emily schüttelte entschieden den Kopf.

Emma atmete auf. »Willst du wissen, was paranoid heißt?«

Emily nickte.

Emma zog ihre Nichte aus dem Stuhl, ging in die Knie und hielt sie fest im Arm, barg ihr Gesicht in dem feinen blonden Haar, das nach Apfelshampoo roch und ein bisschen nach Frühling. Seltsam, was ein Kleinkind für einen speziellen Duft hat, ganz anders als ein Erwachsener. Emma wusste, dass es nur Hormone waren, egal. Es gefiel ihr, an Emily zu schnuppern. Wie ein Hund, ein Tier, ein Muttertier, sog sie den zarten Duft ein und murmelte: »Paranoid heißt, deine Tante Emma liebt dich mehr als alles andere auf der Welt.«

6

Der Montagmorgen kam nicht so recht in Schwung, und sie wusste nicht, warum.

Wie immer war sie wach, bevor der Wecker klingelte. Kurz davor. Sie blieb im Bett liegen, in ihrer Wohnung in dem Haus neben dem Haus, durch das die U-Bahn fährt, und alles war still. Nichts regte sich draußen, hinter den Wänden ratterte nichts, Stimmen von der Straße gab es keine, nicht mal aus dem Park am Gleisdreieck erklang ein Lebenszeichen. Hatten die Vögel heute keine Lust zu singen? Es war doch Frühling. Es war ihr nicht mal klar, ob sie überhaupt geschlafen hatte. Sie schaute zweimal auf die Uhr, ob es vielleicht mitten in der Nacht war und sie noch nicht ganz da.

Sie zog die Vorhänge beiseite und stand am Fenster. Es war Ende März, doch die Luft war nicht frisch. Nicht kühl, nicht warm, irgendwie ganz ohne Temperatur. Der Kaffee schmeckte fad. Der Kaffee – die wichtigste, die erste Freude des Tages, manchmal die einzige. Sie kippte ihn aus, kochte einen neuen, auch der schmeckte nicht.

Der Samstag mit dem Kind, der Sonntag mit dem Kerl, das ganze Wochenende war schön gewesen, aber an diesem Montagmorgen glühte nichts nach, und sie wusste nicht, warum.

Die Sonne war schon eine Weile aufgegangen, als sie in die Keithstraße einbog, früh genug, um einen guten Parkplatz zu ergattern. Niemand auf der Straße. Die Flure der Burg waren still, die Begrüßungen gedämpft, die Ceesay murmelte etwas, ohne von ihren Akten aufzuschauen, die sie im Gehen las. Das Licht der Gänge so fahl wie das Licht draußen, die Wolken grau und niedrig, die Sonne halbherzig, krank. Die Puppenkiste leer. Sie machte die Lichter an, nur die Hälfte funktionierte. Irgendwas war immer kaputt. Zwielicht, nicht mal das, einfach nur grau, alles grau.

Sie fuhr den Computer hoch. Auf dem Bildschirm: eine Mail an sie.

Sie solle zu Schwander. Sofort.

Schwander. Leiter der LKA 13, Sexualdelikte, einer der drei Chefs der Burg, neben Piske, Leiter der 12, Vermisste Personen, und Lutz, Leiter der 11, Delikte am Menschen. Agil, sehnig, sportlich war er, der Schwander, obwohl schon über fünfzig. Ein super Fußballer, laut Felix zumindest. Glatt rasierter Glatzkopf, eine spiegelblanke randlose Brille, die sie irgendwie immer irritierte, Lederjacke, Jeans, Krawatte, teure Uhr, ein winziger Ohrring (Jugendsünde. Berlin halt. Natürlich nicht schwul).

Der Mann hatte immer einen schnellen Schritt drauf und hatte das auch für den Schreibtisch perfektioniert: Er fing einfach schon mit der nächsten Aufgabe an, wenn er fand, es sei nun Zeit für den Besuch, zu gehen. Emma wusste, dass die Pressestelle ihn gern rief, wenn sie lästige Journalisten loswerden wollte. Sie wurde mit ihm nicht warm. Den Mann, der die 13, Sexualdelikte, leitete, machten Vergewaltigungsopfer unruhig – vor allem, wenn sie sich nicht erwartungsgemäß benahmen, so wie Emma.

Deshalb war der Tag so flau. Sie musste sich vor Schwander verantworten. Klar, sie hatte sich in seinen Fall eingemischt. Schwander mochte dergleichen nicht.

Wieder den gleichen Weg zurück: Diesmal grüßte niemand. Die Türen im zweiten Stock, Vordergebäude, altweiß, vergilbt, eine wie die andere, profillose Holztüren, Beamtentüren, nur durch die Beschriftung zu unterscheiden.

Schwanders hübsche Assistentin grüßte mit gesenkten Lidern, Emma nickte im Vorbeigehen, bekam einen Wimpernschlag zurück. An ihrem Tisch vorbei, durch eine letzte Tür, ohne zu klopfen, Schwander saß hinter seinem picobello aufgeräumten Schreibtisch, aus dem Ei gepellt wie immer, und er war nicht allein.

Emma musste nicht wissen, wer da saß, um instinktiv innezuhalten. Bevor der zweite Mann sich zu ihr umdrehen konnte, überfiel sie blinde Panik – eine Panik, die sie kannte, aus einem anderen Leben, die Ur-Panik der Beute, die weiß, dass es für Flucht zu spät ist.

Warum? Sie hatte so viele Sitzungen bei Frau Dr. Klee damit verbracht, sich auf diesen Tag vorzubereiten. Dann war er tatsächlich gekommen, und sie hatte ihn gemeistert, mit Bravour, in der Talkshow, sechs Wochen war das erst her, dass sie ihm gegenübergesessen hatte, sicher und völlig ruhig. Wieso jetzt plötzlich dieses seltsame Gefühl in den Knien?

»Frau Carow«, sagte Schwander, »ich glaube, Sie kennen …«

Er musste den Namen nicht aussprechen. Der Mann musste sich ihr nicht zuwenden, sie musste sein Gesicht nicht sehen, sein Gesicht mit diesem Grinsen, das nie wieder aus ihrem Gedächtnis verschwinden würde. Natürlich tat er es doch.

»Frau Carow, ich glaube, Sie kennen Uwe Marquardt.«

7

»Ich muss das nicht tun. Muss ich nicht. Der hat ja wohl den Arsch offen. Ich hab noch Urlaubstage, ich werde …«

»Was musst du nicht tun?« Lutz war im Büro. Das war momentan nicht immer so. Ein echter Glücksfall, unangemeldet durch die Glastür ganz hinten im Großraumbüro der Mordkommission 1, auch Kessel genannt, zu marschieren und ihn tatsächlich dort vorzufinden. Schlafend zwar, sein Kopf schwer auf die gekreuzten Unterarme auf dem Schreibtisch gesunken, aber eindeutig anwesend. Luischen, vier Monate alt inzwischen, war nirgends zu sehen, die Babytrageschale in der Ecke leer. Emma hatte ihn gerüttelt, ganz zart, und nur ein Schnarchen als Antwort bekommen. Der Mann war müde. Nun war er wach. »Was hast du jetzt wieder angestellt?«

»Ich? … Seit ich in der Talkshow war, hat der mich auf dem Kieker. Seit ich da über Vergewaltigung gesprochen habe und dass man unbedingt Anzeige erstatten soll, wenn …«

»Seitdem sind bei Schwander die Anzeigen hochgegangen, ja. Aber das ist Schnee von gestern.« Lutz rappelte sich hoch. »Du weißt doch ganz genau, weshalb der Schwander sauer ist.« Er gähnte.

Sie wusste es.

»Hast du ihm gesagt, dass er mich da hinzuziehen soll?«

»Ich habe gar nichts gesagt. Was sollst du denn machen?«

»Uwe Marquardt befragen.«

»Moment, was?« Jetzt war Lutz wirklich wach.

»Er hat Kontakt zu Schwander aufgenommen, also sein Anwalt …«

»Nach deiner Aktion bei ihm? Das war zu erwarten.«

»Ja, aber er will sich nicht beschweren. Er will …« Emma stemmte die Arme in die Hüften, hob sie dann zu einer hilflosen Geste: »… mitarbeiten.«

»Er – was? Wie will er denn …«

»Er steht womöglich mit dem Vergewaltiger in Kontakt, sagt er.«

»Bitte?«

»Er bekommt Fanbriefe. E-Mails.«

»Fans? Emma, jetzt hör auf, hin und her zu tigern, und setz dich mal.«

»Er bekommt wohl schon eine Weile Mails von Fans, die sein Buch gelesen haben. Also von solchen, die auf Vergewaltigung stehen, wie er.« Emma schnaubte. »Die meisten liest er nicht – behauptet er. Manche aber doch. Und am letzten Donnerstag war diese Vergewaltigung, wo ich dachte, Uwe sei der Täter, weil der Täter seinen Satz zitiert hat. Der Fall am Ostkreuz mit den Schnittwunden – dreizehn Schnitte, nicht tief, aber überall. Also von dem hat er gehört, und das erinnert ihn an einen ›Fan‹, der so was vor einigen Monaten beschrieben hat.«

»Wie hat er denn davon gehört?«

»Er liest wohl ab und zu die Polizeimeldungen.«

»Und jetzt möchte er uns sein Wissen freundlicherweise zur Verfügung stellen?«

»Ja, aber nur, wenn ich ihn befrage.« Emma schüttelte den Kopf. »Ach, und die Staatsanwaltschaft soll ihm für seine Hilfe Straffreiheit zusichern.«

»Straffreiheit? War er denn an der Tat beteiligt?« Lutz schob stirnrunzelnd Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her. »Hier war doch irgendwo die Akte vom Schwander, gelesen hab ich sie noch nicht …«

»Höchstens unterlassene Hilfeleistung. Na ja, denkt er. Er nahm die Mails ja nicht ernst und hat sie uns nicht weitergeleitet.«

»Es gibt also nichts Konkretes, was sein Ansinnen untermauert.«

»Nichts, außer dass er ein Arschloch ist.«

Lutz hatte die Akte EG33/Ostkreuz gefunden. Er starrte einen Moment lang hinein. Dann sagte er: »Setz dich endlich und sei mal eine Sekunde still.«

Emma setzte sich.

Lutz blätterte durch die Akte. Machte den Mund auf und wieder zu, schwieg. Die Glastür war nicht dick, die Gespräche der MK1-Ermittler im Kessel da draußen plätscherten vor sich hin wie jeden Tag, ein leises, stetes Murmeln in Emmas Rücken. Langsam atmete sie wieder ruhiger.

»Weißt du, dass ich mal mit einer Hellseherin zusammengearbeitet habe?«

»Ehrlich?«

»Ein Mädchen war verschwunden, es stand in allen Zeitungen, eine dieser Geschichten, die alle liebten, die ganze Nation empörte sich, das war eine echte emotionale Entladung. Das hab ich da zum ersten Mal erlebt, so eine kollektive seelische Läuterung. Das Mädchen verschwand zur rechten Zeit, sie wurde sofort zum Star. Auch wenn sie nichts davon wusste.«

Emma hörte zu. Ihr Herz schlug fast wieder normal. Lutz’ Stimme beruhigte sie, wie die Stimme eines Piloten bei Turbulenzen, er hatte alles unter Kontrolle, na dann.

»Wir hatten einfach zu viele Hinweise. Jeder, der ein Telefon besaß, hatte den Täter gesehen oder das Opfer oder irgendwas Verdächtiges. Ein Albtraum. Dann tauchte diese Frau auf. Jung, mit wilden Locken und vielen Halsketten, vegetarisches Elfenbein, Armbändern und …«

»Vegetarisches Elfenbein?«

»Gibt’s wirklich. Und so ein buntes, selbst gehäkeltes Kleid, irre. Irgendwie kam sie ins Gebäude und schaffte es bis zu mir. Ich wollte sie schon abwimmeln, da sagte sie: Das Mädchen trägt ein T-Shirt mit einer Boyband drauf, ich weiß nicht mehr, welche es war damals, irgendeine angesagte, und es liegt in einem Mohnfeld. Das Mädchen hatte tatsächlich ein Boyband-Shirt bei sich gehabt, das hatten wir nicht an die Presse gegeben. Weil wir es da noch gar nicht wussten. Sie war Hellseherin, sagte sie, das Mädchen sei ihr im Traum erschienen.«

Emma schwieg.

»Ich wusste, ich mache mich lächerlich, aber die Intensität dieser Frau …«

»Du wolltest ihr an die Wäsche.«

»Ich glaube, die trug gar keine Wäsche. Na jedenfalls, sie behauptete, etwas zu wissen. Also nahm ich sie als Beraterin dazu, sogar mit Vertrag und Honorar. Dreimal fragte ich sie aus, stundenlang, und nichts, was sie sagte, stimmte.« Lutz seufzte. »Nichts. Es ging ihr ganz klar nur um Werbung für sich. Und die Sache mit dem Boyband-Shirt – das wusste die Presse zwar nicht von uns, aber das Mädchen hatte das Shirt auf einem anderen Foto getragen, das die Familie an die Presse gab, und die Band spielte an dem Tag in Berlin, also hat die Hellseherin einfach geschätzt, dass das Mädchen am Tag ihres Verschwindens ihr Lieblings-T-Shirt mitgenommen hatte, weil sie sicher versuchen würde, ein Autogramm zu kriegen. So landete sie zufällig einen Treffer. Sie hatte schon ein gutes Gespür für Menschen.«

»Und Wahrscheinlichkeiten.« Emma wurde nicht mal ungeduldig. Sie mochte seine Geschichten. »Hat sie ihr Autogramm gekriegt?«

»Eines fiel auf – das heißt, beinahe hätte ich es überhört, denn es war nur ein Nebensatz –, sie sagte, das Mädchen wolle wieder nach Hause, sie vermisse ihre Katze und den Kuchen ihrer Mutter. Irgendwie blieb dieser Satz bei mir hängen. Wir fragten die Mutter, ob das Mädchen so gern Kuchen mochte. Nicht mehr als jedes andere Kind, sagte die Mutter, aber was sie wirklich liebte, war Lakritz. Sie wollte lernen, sie selber zu machen. Wie sie auf so eine Idee kam, fragte ich – die meisten Kinder kaufen sich das und basta –, und die Mutter erzählte, dass in dem Kiez ein Lakritz-Laden aufgemacht hatte, so ein Edel-Laden, wo man das Zeug vor den Augen der Kunden frisch zusammenrührt. Wir stellten im Laden ein paar Fragen und hörten die falschen Antworten und durchsuchten ihn und fanden das Boyband-Shirt. Mit Autogramm. Das Mädchen war tot, aber den Ladenbesitzer konnten wir hochnehmen. Keiner sah den Bezug zu dem Laden, keiner kam auf die Idee, erst, als die Wahrsagerin uns ihren Nonsens erzählte – das Mädchen würde Kuchen so sehr lieben.«

»Uwe Marquardt ist mein Hellseher. Das willst du damit sagen.«

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich dafür aufgezogen wurde, auch öffentlich.« Lutz lachte leise. »Eine Hellseherin als Beraterin. Diese Kritik, dieser … Vertrauensverlust, das hätte ich nicht überlebt, wenn ich den Täter nicht gefunden hätte. Aber ich bin nicht Bulle, um geliebt zu werden, ich bin Bulle, um Täter zu finden. Das ist auch deine Aufgabe.«

»Marquardt macht nichts umsonst, Lutz. Er wird versuchen, uns zu manipulieren. Schwander. Mich. Speziell mich. Und ich habe keine Ahnung, wie lange ich standhalte. Er wird lügen. Das macht ihm Spaß. Er kann nicht anders.«

»Dann achte besonders auf die Lügen, Emma. Die sind wichtig.«

Damit hielt er ihr die Akte hin.

»Du schaffst das.«

8

Felix wartete im Flur vor der MK1 auf sie. Er sagte nichts, als er sie aus Lutz’ Büro herauskommen sah. Wandte sich ab und ging wortlos vor, um die Ecke und durch die nächste Tür in den Server-Raum. Die mannshohen Maschinen sperrten das Licht der Fenster aus, sie summten leise und verbreiteten eine mollige, staubige Wärme. Irgendwo in der Ecke saß der IT-Administrator unter Kopfhörern, er würde sie nicht bemerken. Hier kam nie jemand rein. Wer etwas von ihm wollte, schickte ihm eine Nachricht.

Emma folgte Felix. Zog die Tür hinter sich zu.

Er nahm sie in die Arme.

Sie wusste, das sollte er nicht. Sie wusste, sie sollte ihn wegschieben, irgendwas sagen, zum Beispiel: »Wir sind kein Paar, Felix«, oder: »Ich habe einmal zugelassen, dass du mich küsst, das heißt nicht, dass du dir alles erlauben kannst.« All das sagte sie nicht, all das tat sie nicht.

»Ich werde das nicht tun«, sagte sie. Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Hab’s schon gehört«, sagte er. »Dann tu es nicht.«

»Ich werde das nicht tun.« Sie barg ihr Gesicht an seiner Schulter.

»Geh heim, überlass den Kerl Schwander, der findet ihn schon, nicht dein Problem.«

»Ich tu es nicht.«

»Du bist zwar Bulle, und es ist dein Job, Täter zu finden, macht aber nichts, wenn du keine Lust hast, muss man das verstehen.«

»Arschloch. Du bist ein Arschloch. Immer noch.«

»He, vergiss nicht, wir sind im einundzwanzigsten Jahrhundert, wir haben Rechte. Wenn dir der Vergewaltiger nicht passt, ist das sein Problem, nicht deins, du wartest einfach, bis ein besserer kommt. Es gibt genug Kollegen.«

»Arschloch. Arschloch. Arschloch.«

»Du darfst weinen, wenn du willst«, sagte Felix, sein Ton anders jetzt, sanfter, leiser, versöhnlich. »Einmal. Einmal darfst du. Kurz. Ich sag’s nicht weiter.«

Wollte sie auch. Sie wollte weinen, damit die Welt aufhorchte, innehielt, damit sie Uwe Marquardt nicht auf sie losließ. Das war ihr gutes Recht, oder? Darauf hatte die Welt zu hören, wenn jemand weinte. Emma hörte darauf, wenn jemand weinte.

Sie konnte es nicht. Selbst wenn sie es wollte, einmal nur, sie konnte nicht. Sie schob Felix weg.

»Okay, Arschloch, ich hab’s kapiert, in Ordnung.«

»Du hast gesagt, du hast ihm verziehen, er ist nicht mehr Mittelpunkt deines Lebens …«

Emma drückte ihm zwei Finger auf die Lippen, damit er endlich schwieg.

»Ist schon gut. Du hast deine Pflicht getan. Ich bin wieder ich. Hast du gut gemacht.«

Sie küsste ihn.

Auch das hätte sie nicht tun sollen. Stattdessen hätte sie ihm endlich sagen sollen, was da mit Lukas Arndt lief, das wäre nur fair, irgendwie schob sie das immer vor sich her, aber sie tat es nicht. Sie wusste, dass sie es bereuen würde, trotzdem küsste sie ihn.

9

»Ich habe gehört, es gibt so ein Gerücht, dass ich paranoid bin?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, woher so ein Gerücht kommt, es sei denn, irgendein Gör hat private Dinge ausgeplaudert, die sie nichts angehen«, sagte Sarah mit strengem Blick auf ihre Tochter. Emily kicherte entzückt.

Sie saßen zu dritt im Café am Neuen See – berühmt für seinen tollen Ausblick und seine schlechte Bedienung. Ein Treffpunkt mitten in der Stadt, der so tat, als sei er mitten im Grünen, aber vor allem lag er bloß ein paar Minuten vom LKA entfernt. Auf der Arbeit hatte sich Emma seit gestern in Cold Cases gestürzt. Um nicht über Uwe nachzudenken. Natürlich tat sie es trotzdem, das war auch ihre Standardantwort, wenn sie gefragt wurde: Ich denke darüber nach. Draußen blinzelte die Nachmittagssonne durch die Zweige. Ein zarter Grünschleier hing in den Bäumen. Alles stand in den Startlöchern für einen herrlichen Frühling, einen wunderbaren Sommer. Nur los ging es einfach nicht. Sarah und Emma waren bereits beim Prosecco, Emily noch beim Streuselkuchen, Kalli, der Labrador, hechelte unterm Tisch. Der neue Freund hatte Verspätung.

Emma: »Was die kleine Göre nicht weiß und die große Göre auch nicht, ich bin ein neuer Mensch. Zum Beweis fliege ich Samstag in zwei Wochen nach Teneriffa. Mit einem Mann.«

»Was, du? Echt, wer ist das jetzt?« Sarah freute sich. »Es gibt einen Mann, dem du genug vertraust, um mit ihm in Urlaub zu fahren?«

»Erzähle ich ein andermal. Wenn ich wieder da bin. Dann weiß ich mehr. Heute ist dein Tag, ich will endlich deinen Neuen kennenlernen.«

Ganz neu war er ja nicht mehr, ein paar Monate waren er und Sarah schon zusammen, doch irgendwie hatte es bisher nie geklappt mit einem Treffen zu dritt, mal hatte er abgesagt, mal Emma. Sarah hatte ihr schon vorgeworfen, eifersüchtig zu sein – »jetzt, wo es ernst wird für mich. Du willst mich nicht an ihn verlieren und Emily auch nicht.« Vielleicht war da was dran. Emma hatte sogar mit Frau Dr. Klee darüber gesprochen, und die hatte irgendwas gesagt von Emmas letztem Halt im Leben, der Schwester, und von ihrer Nichte, der Einzigen, die sie bedingungslos lieben konnte. Mochte alles sein. Aber die Zeiten änderten sich. Emma hatte kein Problem damit, den Typen kennenzulernen.

»Und ich will kein doofes Gesicht sehen.«

»Was meinst du denn damit?«

»Das weißt du ganz genau – du ziehst immer so einen Flunsch, wenn dir was nicht passt, du kannst überall ein Haar in der Suppe finden.«

»Ich verspreche, ich ziehe keinen Flunsch.« Emma hob die Hand zum Schwur.

»Er ist vielleicht nicht Harry« – Harry, das war der erste Mann, der Vater von Emily, ein toller Typ, vielleicht zu toll, viele andere Frauen fanden ihn auch toll. »Aber er ist gut für mich und Emily.«

Dass ihr Neuer nicht perfekt war, hatte Sarah bereits betont. Zu oft für Emmas Geschmack. Aber sie hatte nichts darauf gesagt, und sie würde es auch künftig nicht tun. Brauchte sie ohnehin nicht, Sarah sagte schon genug. »Ich bin kein Teenie mehr, Emma. Heute will ich bloß einen, der nicht bei der ersten Krise wegrennt, der ab und zu mit Emily und Kalli in den Park geht und der nicht alle drei Monate seinen Job verliert.«

»Klar. Kenn ich.« Emma kannte das nicht.

»Es gab Zeiten, da hab ich echt gedacht, ich schalte eine Anzeige, mit Monatslohn und bezahltem Urlaub und Zehnjahresvertrag, ich brauche bloß einen Typ, der seine Aufgabe erfüllt. Und dann kommt plötzlich einer, und das L-Wort fällt ihm einfach so aus dem Mund, und ich will verdammt noch mal, dass du dich für mich freust.«

Es war zu schön, um wahr zu sein. »Sarah …«

»Und er ist gut im – du weißt schon«, sagte Sarah und leerte ihren Prosecco.

»Versuchst du zu zwinkern oder was?«

»Im Bett«, ergänzte Emily. Sie mochte es nicht, wenn Erwachsene in ihrer Gegenwart aufhörten, wie Erwachsene zu reden, und war inzwischen gut darin, die Lücken auszufüllen. »Immer wenn Hauke bei uns schläft, dauert das Frühstück länger, weil er sich gern Zeit lässt. Aber dafür gibt es Pfannkuchen!«

Sarah wurde rot. Emma verkniff sich einen Kommentar. Sie traute keinem Mann, der sein Essen nicht verschlang. Das war jemand, der etwas zu verbergen hatte. Selbstlose Männer kamen in der Natur nicht vor. Zumindest nicht in Emmas Natur.

»Er ist echt romantisch«, sagte Sarah hastig. »Er macht mir Geschenke, Blumen und Pralinen, so viel darf ich gar nicht essen, und er ruft mitten am Tag von der Arbeit an und sagt, dass er an mich denkt. Auch Emilys Rucksack ist von ihm, schau.«

Der war Emma schon aufgefallen, er sah aus wie ein Teddybär.

»Das ist mir fast ein bisschen unheimlich …«

»Was ist unheimlich?«

Eine Männerstimme. Sie waren nicht mehr allein.

Und da war er, direkt hinter Emma: kantiges Kinn, nicht zu groß, nicht zu klein, breite Schultern. Ein klassisch gut aussehender Kerl. Oder? Auf den zweiten Blick ein wenig zu schlank, zu sehnig, es fehlte Substanz, auch Muskeln, und der Kopf – ausdrucksstark, ein wenig eckig, wie ein Holzschnitt, er hatte eins dieser Gesichter, die so hart an der Grenze von schön und hässlich waren, dass man sich stets aufs Neue darüber wundert, wenn man sie betrachtet.

Irgendwoher kannte sie ihn.

Emma stand auf. Sie war entschlossen, sich zu freuen, ihn zu mögen, streckte ihm die Hand entgegen. Sie lächelte schon, das war doch mal wirklich ein attraktiver Typ, charmant, ihre Hände berührten sich, er griff ihre, und sie wusste wieder, woher sie ihn kannte.

10

Wann war das gewesen? Zwischen Weihnachten und Silvester. Die einsamste Zeit des Jahres. Er hatte noch keinen Bart. Und keine dicke Hornbrille.

Da war diese komische Kneipe, Emma war ausnahmsweise mal im Prenzlberg unterwegs, brauchte bloß ein Bier, mehr nicht, na ja, ein Bier und unter Leuten sein. Sarah und Emily waren verreist, wie jedes Jahr um diese Zeit, also verirrte sie sich in den Starken August, einen Hipsterladen. Erlebniskneipe nannte man das früher, aufgemacht wie ein Zirkus, wie einer der bunten, nostalgischen Zirkusse, die es so in Wahrheit nie gegeben hat, mit Zigarettenmädchen und Kellnern in peinlichen Kostümen.

Sie war geblieben, obwohl sie eindeutig nicht dahin gehörte. Eine Beamtin ist kein Hipster. Eine Beamtin ist nicht cool, ihre raspelkurze Frisur war kein Statement, sondern schlicht Berufsrisiko. Diese Beamtin war auch keine neunzehn mehr. Und das Bier kostete sechs Euro. »Craft-Bier«, sagte der Barkeeper, als sie nachfragte, ob er richtig gerechnet hatte. Sechs Euro für ein Bier, ein süßes auch noch. Sie musterte das Etikett. Mit »Bio-Honig«. Gab es Honig, der nicht biologisch war? Sie wollte schon wieder los, als Hauke sich unauffällig zu ihr lehnte und flüsterte: »Bitte geh nicht, ich brauche einen Partner fürs Porno-Karaoke.«

»Wie?«

»Ich hab mir geschworen, heute trau ich mich.«

Der Typ war noch nicht da gewesen, als sie reinkam. Oder war er ihr einfach nicht aufgefallen?

Sie musterte ihn. Teurer Anzug, aber leicht abgestoßen, also schon eine Weile im Einsatz, glatt rasiert, kein Tattoo, kein Piercing, keine Retroklamotten, keine ironische Brille, kein Ohrring, nichts, er passte überhaupt nicht hierher. Ein Normalo wie sie, ein Berliner im Prenzlberg der Touristen, ein Erwachsener unter Kindern.

Gut so.

Ein Bier, viel Lärm, das brauchte sie, einen Fremden, das brauchte sie gerade auch, und »ich brauche einen Partner fürs Porno-Karaoke« hatte noch keiner zu ihr gesagt.

Nach zwei weiteren Bieren schafften sie es auf die Bühne. Sich vor allen bloßstellen, blamieren, offenbaren, darum geht es letztendlich doch, die Sehnsucht, einmal öffentlich die Maske fallen zu lassen und es zu überleben, oder?, also stieg sie mit ihm da hoch, während irgendein billiger Porno auf Großleinwand lief, und stöhnte ins Mikro, sie grunzte und gurrte und quiekte und lachte und schrie und vermöbelte ihn mit einem Geschirrhandtuch, das ihr einer zugeworfen hatte, bis die Leute johlten, und nach einer Weile war es, als ob sie und dieser Fremde Sex auf der Bühne hatten oder irgendwas, was vielleicht noch intensiver und befreiender war, und schon während Emma wieder in die Niederungen des Publikums hinabstieg, bedauerte sie fast, dass es vorbei war. Kein Problem, sagte er, ich wohne gleich um die Ecke.

In der Nacht dann, als sie fertig waren, schlief er aber nicht ein.

Sie wartete darauf, doch er blieb wach. Die meisten Männer schliefen irgendwann ein, und dann ging sie. Er nicht. Emma stellte sich schlafend, aber als sie kurz die Augen aufschlug, war er da, sein Gesicht über ihr, ganz nah, lächelnd, er betrachtete sie.

Als klar wurde, dass sie sich nicht einfach davonschleichen konnte, sagte sie: »Ich muss weg.« Und wollte aufstehen.

»Ich kann dir helfen«, sagte er.

»Wie bitte?« Ihre Nackenhaare richteten sich auf.

»Wir brauchen Heilung. Jeder von uns. Und wir brauchen Hilfe dabei. Ich will dir helfen.«

»Heilen? Was meinst du?«

»Er hat dir Gewalt angetan. Das hätte er nicht tun dürfen. Ich weiß, dass du nicht mehr davon loskommst, ich will dir helfen.«

Erster Instinkt: Wo war ihre Handtasche?

Auf dem Nachttisch. In Reichweite. Darin: ihre Sig Sauer, geladen. Ihre Hand lag schon darauf.

Zweiter Instinkt: seine Hände.

Sie konnte sie sehen. Beide. Er hielt keine Waffe. Wo war die, falls er eine hatte? Im Nachttisch? Unterm Bett? Unter der Matratze?

Dritter Instinkt: Schlafzimmertür. Die stand offen. Den Flur runter und zur Wohnungstür. Hatte er die von innen abgeschlossen? Nein, das glaubte sie nicht. Es würde nur wenige Sekunden dauern. Ihre Kleidung brauchte sie nicht, wichtig war: raus. Handtasche, Waffe, Handy, dann raus.