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Allein in Deutschland setzt die Esoterikindustrie geschätzte 20 bis 25 Milliarden Euro pro Jahr um. Räucherstäbchen und Alternativ-Chic waren gestern – die Branche ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen und bedient sich professioneller Geschäftsmodelle und moderner Marketingstrategien, um potenzielle Kunden anzusprechen. Ob Engelsfestivals, Energiekristalle oder esoterische Selbstfindungsseminare: Der Psychologe und Esoterikexperte Johannes Fischler fühlt der Marketingdramaturgie kritisch auf den Zahn und macht so die Mechanismen der Szene transparent. Anschauliche Vergleiche mit der bunten Markenwelt internationaler Konzerne, spannende Undercover-Recherchen und erschütternde Berichte von Aussteigern und Betroffenen verdeutlichen die Schattenseiten einer boomenden Industrie, für deren Verlockungen wir anfälliger sind als wir denken. Mit einem Vorwort von Univ.-Prof. Dr. Heinz Oberhummer, theoretischer Physiker und Mitglied der bekannten "Science Busters".
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Seitenzahl: 379
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Johannes Fischler
NEW CAGE
Esoterik 2.0
Wie sie die Köpfe leert und die Kassen füllt
ISBN 9783990402122
© 2013 by Molden Verlag
in der Verlagsgruppe Styria
GmbH & Co KG
Wien · Graz · Klagenfurt
Alle Rechte vorbehalten
Bücher aus der Verlagsgruppe Styria gibt es in jeder Buchhandlung und im Online-Shop
LEKTORAT: Elisabeth Wagner
COVER UND BUCHGESTALTUNG:
Maria Schuster
COVERBILD: Fotolia/viperagp
1. DIGITALE AUFLAGE: Zeilenwert GmbH 2013
Cover
Titel
Impressum
Vorwort Prof. Heinz Oberhummer
WILLKOMMEN IM NEW CAGE
Die Welt in der Welt
Grund und Grundsätzliches
Die Epidemie
Vodoo lebt weiter – vom Kult zur Kultur
Keiner ist Esoteriker, aber der Markt ist da: die Zahlen der Zahlenden
Money for nothing – wie man sein Geld in nichts verwandelt
Der Fall „Manuel“: Aus magisch wird tragisch
Stamm-Kunden, Prosumer-Movements und Klientenreligionen
MULTI DIMENSION MARKETING
Abheben im Business der Esoterik 2.0
ZUM PRINZIP : Nimm etwas weniger, aber dafür von vielen!
SCHRITT 1: Die Startbasis
Der esoterische Weltenbau und seine Requisiten
SCHRITT 2: Der Astronaut
Das esoterische Heldendrehbuch, Glamour und seine Tücken
SCHRITT 3: Die Tankfüllung
Spirituelle Energieträger und fesselndes Marketing
SCHRITT 4: Die Zündung
Neurochemische Explosionen und die Genese feinstofflicher Sucht
SCHRITT 5: Das Raumschiff hebt ab
Meister, ihre Ausbildung und ihre Mission: der spirituelle Stairway to Heaven
SCHRITT 6: Hauptriebwerk und Booster
Der esoterische Verdrängungsmotor steigert Nachfrage und Umsatz
SCHRITT 7: Die Schaltzentrale
Die Drahtzieher bleiben im Hintergrund und verdienen an allem
SCHRITT 8: Das Eintreten in die nächste Dimension
Die Vertriebsstellen vervielfältigen sich von selbst
SCHRITT 9: Leben in der Raumkapsel
Gefangen im New cAge
SCHRITT 10: Völlig losgelöst – per Freiflug in die Unendlichkeit
Das Sternenschiff fliegt mit Autopilot
Das Letzte, was wir von Manuel hörten
Anhang
Anmerkungen
Quellen
Nützliche Adressen
Literaturtipps
Dank
Da die sechste Lichtkörperebene für die meisten
Menschen sehr unangenehm ist,
verlassen hier viele Menschen den Planeten (...)
Wenn es uns gelingt, jemanden lebendig durch die fünfte und sechste Ebene zu bringen,
ist der Rest einfach. Wer an diesem Punkt den Planeten nicht verläßt,
wird höchstwahrscheinlich den ganzen Prozeß durchmachen.
Erzengel Ariel[1]
Zu Beginn des ersten Kapitels dieses Buchs steht als Zitat zu lesen, dass der aus dem Griechischen stammende Begriff „esoterisch“ so viel wie „nur für Eingeweihte einsichtig“ bedeutet. Genau darin besteht das Problem des esoterischen Glaubens, dass er in der realen Welt nicht transparent gemacht und wissenschaftlich nicht nachvollzogen werden kann. Denn wenn man esoterische Glaubensinhalte mit wissenschaftlichen Methoden überprüft, bleibt nichts mehr übrig. Und es gehört schon ein großes Maß an Arroganz, Überheblichkeit und Einbildung dazu, wenn Esoteriker sogar die Naturgesetze ignorieren und außer Kraft setzen.
Was ist denn der Unterschied zwischen Wissenschaft und Glauben? Wissenschaft ist die Methode, wie man Wissen schafft. Viele sind der Überzeugung, dass Genies den entscheidenden Fortschritt in der Wissenschaft bringen. Weitaus wichtiger ist jedoch die wissenschaftliche Methode, mit welcher alle Entdeckungen und Erkenntnisse laufend überprüft, gecheckt, kritisiert, modifiziert und verbessert werden. Alle Ergebnisse und Erkenntnisse der Wissenschaft sind daher vorläufig und hypothetisch. Kurz gesagt, die Wissenschaften unterziehen sich freiwillig und bewusst stets einem Selbstreinigungsprozess, um schlechte und/oder Pseudowissenschaften auszumerzen. Das unterscheidet Wissen prinzipiell vom esoterischen Glauben, der fast immer unveränderlich, fundamentalistisch, dogmatisch und starr ist und sich kaum weiterentwickelt.
Die Wissenschaft kann unser Universum vom Allerkleinsten bis zum Allergrößten beschreiben, von Elementarteilchen und Atomen bis zu den Sternen und Galaxien. Die Technik als Kind der Naturwissenschaft hat Fernsehen, Handys, Flugzeuge, die U-Bahn und viele weitere großartige Errungenschaften hervorgebracht. Die Esoterik hingegen schaffte es noch nicht einmal, eine einzige Glühbirne zum Leuchten zu bringen. Vor 150 Jahren – das ist noch nicht so lange her – lag die durchschnittliche Lebenserwartung noch bei etwa 35 Jahren. Für einen heute geborenen Menschen ist diese Lebenserwartung durch den wissenschaftlichen Fortschritt auf fast 100 Jahre gestiegen. Die Zukunft der Menschen liegt daher im Wissen und nicht etwa im esoterischen Glauben.
Trotzdem ist das Wachstum esoterischer Anwendungen und Produkte aller Art ungebrochen und beängstigend. Die Esoterik als Massenphänomen wird von breiten Teilen der Gesellschaft nicht mehr als solche wahrgenommen, da wir als Mitglieder einer Lifestyle- und Wellnesskultur gewissermaßen selbst Teil des Spieles sind. Fast jeder kennt heute jemanden in seinem Verwandten- oder Bekanntenkreis, der esoterischen Aussagen tatsächlich glaubt oder zumindest diesen nicht kritisch gegenübersteht. Esoterischen Glauben gibt es zwar als Gespinst in unserem Gehirn, dessen Inhalte sind aber in der realen Welt wissenschaftlich nicht nachweisbar. Ich frage mich immer wieder, warum man durchaus vernünftige und verständige Menschen kaum davon überzeugen kann, dass Esoterik Unfug ist. Man kann das wohl so erklären: Wenn jemand viel in einen Glauben investiert und sich mit diesem intensiv beschäftigt hat, ist er kaum bereit, diesen wieder aufzugeben. Denn dadurch entsteht eine große Lücke im Gehirn. Und das will man nur ungern zulassen. Menschen, die an esoterische Inhalte glauben, sind daher immun gegen jegliche logische Argumentation.
Esoterik kann aber auch gefährlich sein. Man kapselt sich nämlich von der realen Umwelt ab und begibt sich in eine Welt, die es in der Wirklichkeit nicht gibt. Klarerweise kommt man dann auch mit der wirklichen Welt schlecht oder gar nicht zurecht, wenn man an Dinge glaubt, die nur im Kopf, aber nicht in der Realität existieren. Schließlich sind esoterische Publikationen ungleich zahlreicher als diejenigen, welche sich kritisch damit auseinandersetzen.
Man braucht derzeit jeden verfügbaren kritisch denkenden Menschen, der dem eskalierenden Wahnsinn die Stirn bietet. Dazu gehört auch der Autor dieses Buches, der psychologisches, philosophisches, neurochemisches und Marketingwissen gepaart mit Zynismus und Schlagfertigkeit zusammenträgt. Die Analysen sind sehr tiefgehend, aber immer so gestaltet, dass die Leserin und der Leser folgen können.
Besonders gefällt mir, dass der Autor dieses Buches Psychologe ist. Chemiker oder Physiker können zwar erklären, warum esoterische Methoden den Naturgesetzen widersprechen, nicht jedoch, warum es Esoterik überhaupt gibt und warum Menschen dafür so empfänglich sind. Deshalb ist auch die psychologische Perspektive vonnöten, um die Innenansicht esoterischer Weltentwürfe genauer unter die Lupe zu nehmen.
Der Text beinhaltet viele Originalzitate esoterischer Protagonisten. Dafür hat sich der Autor sogar inkognito bei einigen Engels-Conventions, Matrix-Seminaren und ähnlichen Veranstaltungen „reingeschummelt“. Er bringt also originales esoterisches Insiderwissen nach außen. Insbesondere auch die „bräunliche“ Seite deutschösterreichischer Esoterik kommt in seinem Buch zur Sprache. Die Parallelen zu „rassischen Idealvorstellungen“ sind leider zu offensichtlich. Und stets vergleicht der Autor das Esoterische mit der sogenannten „normalen Welt“. Denn Lifestyle und New Age sind sich oft ähnlicher, als man wahrhaben möchte.
Glücklicherweise gibt es auch noch viele Menschen, die gegenüber esoterischem Unfug kritisch und skeptisch eingestellt sind. Im vorliegenden Buch werden fragwürdige, ja haarsträubende und absurde Beispiele der Esoterik diskutiert und analysiert. Man hat bei den besprochenen esoterischen Methoden oftmals das Gefühl, dass die Aufklärung spurlos an uns vorübergegangen ist und wir uns wieder im tiefsten Mittelalter befinden. Der Autor versucht mit diesem Buch, uns das sich in der Gesellschaft ausbreitende Krebsgeschwür der Esoterik mit konkreten Beispielen aus der Praxis vor Augen zu führen. Er leistet damit auch der Wissenschaft insgesamt einen wichtigen Dienst. Schon allein aus diesem Grund wünsche ich dem Buch jeden nur denkbaren Erfolg!
Univ.-Prof. Dr. Heinz Oberhummer
Emeritierter Universitätsprofessor für Theoretische Physik an der Technischen Universität Wien & Mitglied der „Science Busters“
esoterisch, von griech. „esōterikós“: nur für Eingeweihte einsichtig, innerlich
Die Esoterik ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Seit jeher verweist sie auf das verborgene Land der Innerlichkeit, das Numinose. Sei es durch das Versprechen von Macht, sei es als Spiegelbild unserer Sehnsucht nach der Überwindung des rein Äußeren, des Irdischen. Dabei liefern esoterische Welten Bezugssysteme: Wirklichkeiten, welche das Faktische hinter sich lassen sollen. Torwege aus dieser Welt in eine andere, tiefere Dimension, mit neuen Gesetzmäßigkeiten, neuen Protagonisten, neuen Göttern und natürlich auch neuen Selbstbildern derer, die in diese Welten eintauchen. Eine Geschichte der Esoterik gibt es nicht. Lassen Sie uns lieber von einer Historie des Esoterischen sprechen. Esoterisches oder das, was wir heute darunter verstehen, ist und war in der Menschheitsgeschichte stets allgegenwärtig. Mal eher am Tageslicht, meist aber im Verborgenen, im Okkulten. Esoterik, Religion und Wissenschaft koexistierten seit jeher in gegenseitigem Wechselspiel.
Doch egal in welcher Ausformung, der Reiz des Metaphysischen bestand immer schon im Nicht-Offensichtlichen, das es noch zu entdecken galt. Der Zugang zu obskurem Wissen war fortwährend ein gut gehütetes Geheimnis, in welches nur wenige Ausgewählte Einlass erhielten. Esoteriker bildeten so seit jeher eine heimliche Elite. Sie waren Geheimnisträger und verstanden sich als Hüter eines „heiligen Grals“, als Torwächter zu einer obskuren Innerlichkeit. Glücklich schätzen konnte sich demnach jener, welchem der Zutritt in die Halle des Bergkönigs1 gewährt wurde.
Wie wir schon am Namen des vermeintlichen esoterischen Urvaters, Hermes Trismegistos, erkennen können, zeichnete sich innerweltliches Wissen also immer schon durch seine Exklusivität aus. Es war eben eine hermetische, nach außen abgeriegelte Welt. Eine Sphäre, von der die breite Masse ausgeschlossen war, ja regelrecht sein musste. Und so inszenierte man noch bis ins späte 19. Jahrhundert magische Rituale stets in kleinen Zirkeln Gleichgesinnter. Übersinnliche Séancen und die Anrufung bereits Verstorbener waren vornehmlich die Angelegenheit weniger Reicher, deren Erlebnishunger über das Diesseitige hinausgriff. Obschon hier der Okkultismus zu einer Art „Chic“ des betuchten Bürgertums und des Adels avancierte, markierte die magische Praxis immer noch ein diskretes Insignium einer gewissen Schichtzugehörigkeit. Man konnte es sich leisten, sich gemeinsam zur Geisterbeschwörung auf seinen Landsitz zurückzuziehen. Manche erwiesen sich dieser höheren Ebenen würdig, andere wiederum nicht. So jedenfalls präsentierte sich die „Old School“ des Spiritismus, oder nennen wir sie lieber die Esoterik des alten Paradigmas.
Mit dem Siegeszug der Industrialisierung und dem damit verbundenen Wertewandel erfuhr das Esoterische vor allem im beginnenden 20. Jahrhundert einen nie dagewesenen Aufschwung. Der seinen bisherigen Bezugssystemen entrissene Mensch sah sich angesichts des zunehmenden Diktats von Technik und Zweckmäßigkeit nun endgültig einem viel zu aufgeklärten, alles verschlingenden Kosmos gegenüber. Drehte sich die Welt seit Beginn der Aufklärung mehr und mehr wie ein wundervolles großes Uhrwerk, so war das Getriebe des Daseins Ende des 19. Jahrhunderts zu einer alles zermalmenden Tretmühle geworden. Der Mensch, die ehemalige Krone der Schöpfung, fand sich plötzlich als Sklave seiner eigenen Schaffenskraft wieder. Stechuhr und Rationalitätsdoktrin bestimmten seine Existenz. Der, der sich nach dem Ebenbild Gottes geformt glaubte, war unversehens nur mehr ein kleines Rädchen, verloren im großen Apparat des Kapitalismus. Eben nur mehr das, was Charlie Chaplin in seinem Film „Modern Times“ so sinnbildlich zum Ausdruck bringt: ein Niemand, verloren im übermächtigen System, ein bloßer Spielball des Fortschritts.
Wen wundert’s, wenn Funktionalismus und technokratische Rationalität für viele schon damals zum Feindbild par excellence wurden? Man konnte mit der Modernisierung kaum noch Schritt halten. Und so erwuchs die Sehnsucht nach einer neuen Menschlichkeit, einer neuen Menschheit. Eine Besinnung auf das Wesentliche, eine neue Innigkeit wurde gepriesen. Die zu dieser Zeit kursierenden Ahnenlehren und Kosmologien zeugen von dem Verlangen, dem Menschen ein Gefühl von Wert und vor allem Mächtigkeit wiederzugeben. Vieles wurde unternommen, was einer „Wiederverzauberung“ der Welt dienlich sein sollte.
Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts könnte man demnach als großes Projekt gemeinschaftlicher Wirklichkeitsflucht bezeichnen. Und hier meinen wir vor allem die Flucht in Wirklichkeiten. Okkulte Strömungen und magische Weltsichten schossen wie die Pfifferlinge aus dem Boden. Und so markierte dieser Abschnitt einen ersten Kulminationspunkt einer durch viele Bevölkerungsschichten dringenden, esoterischen Breitenströmung. Was Helena Blavatsky, die Grande Dame des Okkultismus, noch im Jahre 1875 als „die Geheimlehre“ [2] (The Secret Doctrine) etikettierte, verdiente ein halbes Jahrhundert später kaum mehr den Namen. Das ehemals noch Verborgene, die einstigen Geheimnisse avancierten zu einer Art esoterischen Mode. Und diese präsentierte sich beinahe schon im Gewand einer Massenbewegung.
Unser Leben ist zweifelsohne noch schneller geworden. Im Informationszeitalter mutiert unsere Lebensumwelt mehr und mehr zu einem total vernetzten Dorf. Und das in einem Tempo, in dem sogar Zukunftsforscher zur „Verzögerung der Zeit“ [3] aufrufen. Nur mit Burn-out bleibt man in. Wie heißt es doch so schön? Speed kills. Hunger, Tod, Ausbeutung und Verderben brechen tagtäglich, nein viertelstündlich in Newsflash-Gewittern über uns herein. Diese werden wie Donnerkeile vom medialen Gott in unsere Privatsphäre geschleudert. Von Terrorismus bis Klimagau, die Sendboten des Chaos sind im Echtzeit-Zeitalter omnipräsent. Wir sind umzingelt von lauter Informationen und diese Informationskultur formt unser Befinden. Sie stellt uns allerorts nach und permanent werden wir mit unserem scheinbaren Unvermögen konfrontiert. „Global“ ist da noch nicht genug. Wir schaffen es ja nicht einmal, das Universum sauber zu halten. Noch produzieren wir ja nur Weltraumschrott, doch bald gehören wir wohl selber zum alten Eisen. Als wäre der Homo sapiens bloß ein tragischer Irrläufer der Evolution, ein verwunschenes Enfant terrible, unfähig, den Planeten nicht doch noch zu ruinieren, oder wenigstens begabt genug, sich selbst auszurotten. In einer derartigen Leitkultur des Infotainment – Matthias Horx prägte sehr treffend den Ausdruck „Krisotainment“ [4] – verlieren wir endgültig jedes Gespür für eine Wirksamkeit unserer selbst. Das Fühlen verflacht sich heute zum sogenannten „Feeling“. „Feeling“ ist eine Ware und wird uns erfolgreich verkauft. Ihr Erwerb macht uns scheinbar frei und lässt uns die quälende Ahnung von Bedeutungslosigkeit für kurze Augenblicke vergessen. Der eigene Gemütszustand wird so zum Konsumgut, der Zeitvertreib zur Profession. Doch wir können machen, was wir wollen: Hinter allem lauert stets diese gähnende Leere.
Umso mehr ertönt in diesem Umfeld der Ruf nach Sinnhaftigkeit und Geltung. So wie damals sehnt man sich danach, irgendwo doch noch so etwas wie Selbstwirksamkeit entfalten zu dürfen. Denn sich als handelndes Agens wahrzunehmen liefert erst die Grundbedingung dafür, sich als ein Jemand zu empfinden. Wie Thomas Metzinger [5] und zahlreiche Denker vor ihm betonen, hängt die Wahrnehmung von Agentivität eng mit unserem Bewusstsein für Subjektivität zusammen. Bleibt die Erfahrung eigener Einflussnahme jedoch aus, verblassen wir unversehens zu dem, was ein alter Beatles-Song so treffend ins Bild rückt: ein „nowhere man, sitting in his nowhere land“. Und wer will das schon sein? Der Mensch der Postmoderne verlangt nach neuen Songtexten, neuen Sphären des Aktiv-Werdens, schlicht nach neuen Wirklichkeiten.
Maßgeschneiderte Seins-Dimensionen gibt’s mittlerweile zuhauf. Dabei faszinieren virtuelle Gefilde à la „Word of Warcraft“ (Wo W) heute nicht nur Kinder und Jugendliche. Auch die sozialen Netzwerke des Internet fungieren mehr und mehr als Spielräume einer nicht unbedingt realen, aber dennoch wirksamen Identitätserfahrung.
Die sogenannten „Second Lives“ lediglich als unechte Spielereien abzutun würde ihrer Bedeutung nicht gerecht. Ob wir uns auf die moderne Hirnforschung beziehen oder uns unsere eigenen Beobachtungen ins Gedächtnis rufen: Man wirkt und handelt doch ganz und gar erfahrbar in diesen Cyber-Räumen. Hier erlebt sich der Protagonist geradezu „in Action“. Spielen befreit eben ungemein und rettet den Involvierten aus seiner alltäglichen Ohnmacht. Oder haben Sie sich noch nie in einem Spiel regelrecht verloren? Nicht umsonst spricht man vom Homo ludens. Dieser empfindet die damit einhergehende Selbstvergessenheit als lustvoll und gerade das macht künstliche Identitätsangebote ja auch so beliebt. Dabei lässt sich eines wohl unbestreitbar festhalten: Wirklichkeiten in der Welt bestimmen doch immer unausweichlicher unser Dasein.
Wenn wir nun auch das Reich der Esoterik als „Welt in der Welt“ – als Wirklichkeit innerhalb des greifbar Realen – verstehen, so erscheint sie doch vom selben Wunsch beseelt. Gemeint ist das Verlangen nach neuen innerlichen Dimensionen, nach virtuellen Wirksphären mitten in der Welt.
Doch die Analogie zu den Social Networks zieht noch weitere Kreise. Denn so wie die Vernetztheit des digitalen Hyperraumes wird auch der Wirkkosmos von Zauber und Magie nun an uns herangetragen, und das oft ohne aktive Anforderung seitens des Zielpublikums. Man muss hier nicht mehr den versteckten Eingang finden. Fernab der ehemaligen Exklusivität – das Tor ins Innerweltliche eröffnet sich uns spielerisch.
An dieser Stelle ist es an der Zeit, den Begriff „Esoterik 2.0“ aufs Tapet zu bringen. Bereitwillig und unverhüllt kolportieren die Vermittler einer eigenwilligen Spiritualität esoterisches Geistesgut und jenseitige Botschaften einer stetig wachsenden Fangemeinde, und das über zahlreiche Kanäle. Denn Multimedialität ist im Zeitalter des Lichtes kein Fremdwort, viel eher fußt in ihr ein bestimmendes Wesensmerkmal dieser Sphären. Ganze Massen empfangen transzendente Botschaften beim wöchentlichen Live-Channeling: von zu Hause aus, ganz für sich, oder in der Community. Ähnlich den Videoplattformen im Internet produzieren auch hier viele spirituelle Konsumenten ihren eigenen Kanal und gehen ihrerseits entschlossen auf Sendung. Die Esoterik 2.0 erhebt dabei ihre Käufer selbst zu geistigen Medien, welche die neuen Wirklichkeiten bereitwillig auch den Übrigen, den Normalsterblichen, offenbaren. An ihnen beweisen sie ihre neu gefundene Berufung. Der spirituelle Aufsteiger unserer Tage hält nicht geheim, nein, er missioniert. Und ganz nebenbei – je mehr „Freunde“ er in seinem Account verbuchen kann, desto durchschlagender sein Prestige, desto höher die eigene Schwingung, umso besser sein Ranking im esoterischen Highscore. Mit jedem generierten „Like“ wird der Aufstieg in die spirituelle Hall of Fame gewissermaßen wirklicher.
Die unzähligen Licht-und-Liebe-Plattformen im Internet unterstreichen diesen Trend. Das Versteckspiel vergangener Tage scheint endgültig vorbei. Der moderne New Ager entwickelt Sendungsbewusstsein. Hätte sich früher kaum jemand zu spiritueller „Lichtkosmetik“ oder „Aura Lifting“ bekannt, gehört dies heute zum selbstverständlichen Angebot jedes besseren Wellnesstempels. Auch intimste Bereiche bleiben dabei nicht verschont: „Waxing by Angels“[6] gefällig?
Unterhielt man sich in der Esoterik 1.0 noch hinter vorgehaltener Hand über Astrologie und Reinkarnation, so stellen die neuen „Botschafter der Liebe“ ihre Überzeugungen mittlerweile ganz offen ins World Wide Web. So auch eine Volksschullehrerin, die das Klassenzimmer mitsamt ihren Schülern regelmäßig mit Erzengel-Sprays reinigt. Für jeden ersichtlich und via Videobotschaft macht sie, wie viele andere auch, keinen Hehl daraus. Warum auch nicht? Die Kinder haben offensichtlich „mehr Spaß am Lernen“ [7]. Dabei wirkt dieses In-die-Öffentlichkeit-Gehen noch nicht einmal besonders mutig. Vielmehr beeindruckt hier dieser Beigeschmack von Normalität. Das vormals Okkulte wird heute entschlossen veräußert. Wir erleben eine noch nie dagewesene Vermarktung des Geheimwissens, eine Esoterik 2.0.
Millionenseller wie „The Secret“ [8] illustrieren eine weitere Paradoxie. Geheimniskrämerei etabliert sich als kommunales Must-Have. Zur Verdeutlichung lohnt hier ein weiterer Abstecher in den Cyber der sozialen Netzwerke. Übereinstimmend mit dem gesellschaftlichen Zwang, sich einer Facebook-Community anzuschließen, versprühen auch esoterische Wirklichkeiten diesen Hauch von Verbindlichkeit. Denn wer nicht von alleine aufspringt, wird von seinem Umfeld regelrecht bekehrt. Wer aber dennoch nicht mitgeht, der bleibt zurück, der ist noch nicht so weit. Dem kann nicht geholfen werden – noch nicht.
Was sich im Web bereits als Standard etabliert hat, entwickelt sich im Netz der Esoterik 2.0 mit einigen Parallelen: Auch hier steht unser Account schon bereit. Auch hier sind die schönen neuen Selbstbilder bereits hochgeladen. Auch hier erwartet uns eine neue schillernde Identität und mit ihr im Schlepptau viele neue „Freunde“. Auch hier bleibt man online, also immer brav an der Leine. Gruppendruck mit Kuschelfaktor – so formieren sie die Bewegungen der Neuen Zeit. Ob nun im Digitalen oder im Spirituellen: Als Türöffner zum Umworbenen dient da wie dort die Schmeichelei.
Diese entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als die hinter allem stehende treibende Kraft. In einer Gesellschaft, in der Schlagwörter wie „Liebe dich selbst“ beinahe schon wie ein Befehl ertönen, finden esoterische Himmelschlösser ein tragfähiges Fundament. Als Bausubstanz hierfür dient die gegenseitige Selbst-Bespiegelung. Wie in den Foren des Internet vernetzt man sich dabei gegenseitig. Hyper-Verlinken, das nicht nur fühlbar verbindet, sondern auch spirituell aufwertet. Geblendet von unendlichen Reflexionen eigener Selbstverschönerung wird die Scheinwirklichkeit zum Königspalast. Ein Spiegellabyrinth, aus dem man kaum mehr herausfindet. Hermetisch? Ja, nur diesmal nach außen.
Und genau dieses Außen gerät dabei mehr und mehr in Vergessenheit. Die Rede ist von jener sogenannten „Dualität“, sprich der realen Welt, der Welt mit Freud und Leid, der Welt mit den großen Herausforderungen der Menschheit, mit chinesischen Mauern und alljährlichen Ölteppichen. Inmitten unendlicher Reflexionen seiner selbst verliert sich das Ich in Wirklichkeiten, die uns scheinbar noch heiler und noch ganzer machen, aber mit Realität nichts gemein haben.
Derart losgelöst vom Irdischen dient die Esoterik 2.0 als groß angelegtes Gemeinschaftsprojekt phantastischer Wirklichkeitsentwürfe. Und wer möchte behaupten, dass die hier beschrittenen Dimensionen nicht erfahrbar, nicht spürbar wären? Kurt Lewin formuliert es treffend: „Wirklichkeit ist, was wirkt.“ [9] Sie kennen doch den Blick in die Unendlichkeit: die Aussicht ins Ewige inmitten der täglichen Rasur oder von mir aus beim alles glatt machenden Peeling? Nur zwei Spiegel genügen und wir leben im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Optische und seelische Rückkoppelungen schenken das Gefühl kosmischer Ausdehnung. Dem Betrachter seiner eigenen unendlichen Wiederholungen verleihen sie ein Antlitz endlosen Weitblickes und erhabener Weisheit.
Esoterische Communitys dienen sozusagen als Spiegelwelten wechselseitiger Verillusionierung. Man erfüllt sich gegenseitig mit Bedeutung und bestärkt einander beim gemeinsamen Gang aus der Realität in diese neue glanzvolle Wirklichkeit. Und, ob nun für die breite Masse oder nicht: Elitarismus schafft eben Charisma. Kennen Sie derartige Gesichter, die erleuchteten Antlitze selbstbestimmter Liebesbotschafter der Neuen Zeit? Diese Antlitze voll Güte und Fürsorge, diese Sinnbilder von Sanftheit. Ihre Mimik kann bezaubern, sie wirken wirklich. Und das nicht nur auf sich selbst, sondern vor allem auch auf jene, die noch ihre Heimat in der „alten Welt“ glauben. Charisma ist nun mal ansteckend, für seinen Träger geradezu klebend.
Esoterische Welten sind Wirklichkeiten in der Welt. Was beim ersten Hinschauen so anschmiegsam und auf sanften Pfoten daherkommt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Zerrbild unserer tiefsten Eitelkeiten. Gleich dem Narcissos der griechischen Mythologie verliert man sich auch hier in einem Spiegelkabinett der Selbstliebe. „Narzissmus“ ist eng verwandt mit dem Wörtchen „Narcosis“, also mit Betäubung. Und das, was die amerikanischen Psychologen Jean Twenge und Keith Campbell so treffend als „Narzissmus-Epidemie“ [10] charakterisieren, ereilt uns als Esoterik der Neuen Zeit in seinen schillerndsten Farben. Man muss nur genau hinschauen.
Demzufolge kann das Wohlgefühl, welches eine Welt „unermesslicher Liebe“ versprüht, ganz leicht zu kaltem Schauer am Rücken ausarten – narkotisierendes Opium fürs Volk, Gänsehaut nicht ausgeschlossen. Der Schritt in die unendliche Freiheit des „Neuen Zeitalters“ gleicht so bei Tageslicht eher einem befreienden Sich-Einschließen aus Angst vor allem Realen. Wir lieben nun einmal die geschützten Werkstätten der Selbstumkreisung. Leicht übersehen wir, wie sehr wir uns von der großen weiten Welt wegsperren. Die ganz Tapferen unter uns – selbst ernannte „Lichtpioniere“ des nahenden Himmelreiches – werfen entschlossen den Schlüssel weg. Sie üben sich im Vergessen. Sie finden Erlösung in selbstlosem Sich-selbst-Vergessen.
Nein, goldene Käfige sind nicht mehr das Privileg irdischer Königshäuser. Schließlich erleben wir eine noch nie dagewesene Demokratisierung der Lebensstile. Goldene Gardinen gibt’s heute für jeden. Wir erleben ein Zeitalter des „Cage on demand“: jedem sein Aufgefangensein, jedem seine Wirklichkeit. Je größer der Käfige Glanz, desto eher wird man zur Prinzessin. Aber Achtung, es ist nicht alles Gold, was glänzt, und goldene Legebatterien verhelfen noch lange nicht zu goldenen Eiern. Die Kristallkugel wird zur Heimat, die Wirklichkeitsblase zum Kerker. Doch Zwinger aus Glas sind für ihre Insassen leider unsichtbar. Die wahren Gefängnisse sieht man nicht, die sind im Kopf. Hereinspaziert in das goldene Zeitalter esoterischer Selbstgefälligkeit.
New Age war gestern! Willkommen im New Cage!
So wie vielleicht auch Sie kenne ich jemanden, der in eine lichtvolle Parallelwelt abdriftete. Taub für alle Zurufe von außen, unerreichbar für Verwandte und Freunde. Man konnte nur zusehen, wie das Bizarre unaufhaltsam seinen Lauf nahm. Jedes Tun, jede gut gemeinte Intervention besorgter Angehöriger machte alles nur noch schlimmer. Und so war es mein eigenes Unvermögen, zu helfen, das einen ungeahnten Wissensdurst in mir nährte. Ich wollte verstehen, welche Dynamiken dahinterstehen, wollte wissen, welche Sogkräfte hier wirken und welche Leute mit Derartigem ihr Geld verdienen.
Und dann passiert es: Sie beschäftigen sich mit einer Sache intensiv und irgendwann kippen Sie rein. Irgendwann sitzen Sie selbst bei einem Engelsfestival, mit Rekorder, Mikrofon und Kamera. Sie entwickeln ein unbändiges Mitteilungsbedürfnis, denn was Sie dort erleben, schreit förmlich zum Himmel. Und ehe sie sich versehen, sitzen sie zu Hause. Zwei Bildschirme und einen Esstisch voller Flyer, Kataloge, Amulette und Sprays – Engelssprays wohlgemerkt. An Ihnen nagt ein beklemmendes Gefühl, denn Sie wissen nun schlichtweg zu viel. Sie haben schon alles probiert, Urlaub machen, Bier trinken, meditieren oder sonstige Formen des Loslassens. Aber dieser klobige Elefant steht mitten in Ihrer Wohnung und geht von alleine nicht mehr weg. Außerdem versperrt er Ihnen die Sicht auf die wundervollen Tiroler Berge da draußen.
Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig. Sie greifen zur Machete, beginnen das Ungetüm zu filetieren. Hieb um Hieb und Stück für Stück. Das Ergebnis dieses Prozesses bekommen Sie nun serviert, in Buchform, häppchenweise Seite für Seite. Mein Beweggrund war also purer Leidensdruck. Psychohygiene auf eine ganz eigene Art. Triebfeder Geld? Mal ganz unter uns: Gitarre spielen in der Fußgängerzone ist nicht nur lustiger, sondern auch ungleich lukrativer!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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