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Was macht die enorme Anziehungskraft New Yorks aus? Dieser Frage ist der Autor nachgegangen und das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Er nimmt uns mit auf eine Reihe von Spaziergängen durch Manhattan. Herausgekommen ist dabei ein Stadtführer der speziellen Art. Der Leser erhält neben wichtigen Informationen zu den klassischen New Yorker Sehenswürdigkeiten und historischen Hintergründen, auch Ideen für etwas ausgefallenere Unternehmungen. Garniert wird dieses mit spannenden und unterhaltsamen Begebenheiten, die dem Autor während seiner Erkundungen widerfahren sind, wodurch der Leser immer wieder ungewöhnliche Einblicke erhält.
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Seitenzahl: 328
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Mario Graß
Books on Demand
for the lady with the beautiful eyes
Welcome to New York City
Lower Manhattan – Zerbrechliche Stärke
Civic Center & Seaport – Politische Ambitionen & ein architektonisches Meisterwerk
Lower East Side – Sammelbecken der Kulturen
SoHo & Tribeca – Zu Gast bei Robert de Niro
Greenwich Village – Über dem Regenbogen
East Village – Zentrum der Gegenkultur
Gramercy Park - Elitäre Kreise, Attentate & ein Gebäude zum Staunen
New York Yankees – Auf fremdem Hoheitsgebiet
Chelsea & Garment District – Magische Momente
Theater District – Glitzer, Glanz & Glamour
Lower Midtown – Weltpolitik, Wohlstand & Opfer
Upper Midtown – Großes Kino
Upper East Side – Kaffee, Kunst & Konsum
Central Park – Fern der Großstadt
Upper West Side - Exklusivität, Hochkultur & Schüsse in der Nacht
Harlem & Morningside Heights – Oh happy Day
Leaving New York
„New York war seit jeher ein Magnet für Menschen aus aller Welt und wird dies auch immer bleiben.“
(Michael Bloomberg, Bürgermeister von New York City)
Was macht diese enorme Anziehungskraft New Yorks aus? Warum kommen seit Jahrzehnten Millionen von Menschen in diese Stadt, von denen einige bleiben, viele immer wieder zurückkehren und wohl alle die Metropole an der Atlantikküste für immer in ihrer Erinnerung behalten?
New York ist mit seinen mehr als acht Millionen Einwohnern die größte Stadt der USA und umfasst mit Manhattan, The Bronx, Brooklyn, Queens und Staten Island, fünf Stadtbezirke – auch Boroughs genannt -, von denen sich das vorliegende Buch ausschließlich mit dem, wenn auch kleinsten, so doch aber schillerndsten dieser Bezirke beschäftigt: Manhattan.
In Manhattan leben etwa 1,6 Millionen Menschen, auf einer Landfläche von lediglich knapp 60 km2, was in etwa die siebenfache Bevölkerungsdichte von Berlin ergibt. Eine oftmals vergessene geografische Besonderheit dieses Stadtgebiets ist die Tatsache, dass es sich um eine Insel handelt, die vom East River, Harlem River und Hudson River umgeben ist, was wiederum zur Folge hat, dass die Ausdehnung Manhattans auf natürliche Grenzen trifft, die auch bereits seit mehr als hundert Jahren erreicht sind. Doch die New Yorker haben einen Ausweg aus der Misere dieser vermeintlichen Grenzen gefunden, indem sie diese nicht vertikal, sondern horizontal verschoben haben. Die Wolkenkratzer, die Teile des Stadtbildes prägen und die berühmte Silhouette ausmachen, sind nicht zuletzt Resultat dieses geografischen Umstands. Hinzu kommt, dass der solide Felsengrund, auf dem die Stadt steht, es überhaupt erst ermöglicht, derartige Bauwerke zu errichten.
Im vorliegenden Buch habe ich Manhattan in 15 einzelne Bezirke, die auf der Karte unten dargestellt sind, gegliedert und ihnen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet.
Ich hoffe ihnen Manhattan somit als eine ungeheuer facettenreiche Metropole präsentieren zu können, die so manche Überraschung bereithält und soviel mehr zu bieten hat, als Wolkenkratzer und die Freiheitsstatue.
Von allen fünf New Yorker Stadtteilen ist Manhattan der einzige der, aufgrund unterschiedlicher Ursachen, heute eine geringere Einwohnerzahl aufweist, als noch vor hundert Jahren. Zum einem setzt die beschriebene Inselsituation der Bevölkerungsentwicklung Grenzen. Zudem wurde Manhattan insbesondere in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geradezu überschwemmt von Immigranten, die unter oftmals menschenunwürdigen Bedingungen, in schnell aus dem Boden gestampften Mietkasernen, ihr Dasein fristeten. Mit dem Rückgang dieser Einwanderungswellen ist in der Folge auch die Bevölkerungszahl gesunken. Darüber hinaus sind es aber auch die enormen Mieten, die viele New Yorker davon abhalten, in Manhattan zu leben. Die Mietpreise schwanken erheblich innerhalb des Stadtgebietes, aber umgerechnet sollte man zwischen 40 und 80 Euro mindestens pro Quadratmeter Wohnfläche einplanen, wobei dann wohlgemerkt die Rede von bescheidenen, eher kargen Wohnungen ist. Die meisten New Yorker wohnen in solchen einfachen 1-2 Zimmer-Appartements und nicht in Wohnungen mit ausgedehnten Fluren, von denen zahlreiche Zimmer abgehen, aus deren Fenstern man den Blick über die Bäume des nahen Central Parks schweifen lässt, wie einem möglicherweise Woody Allen-Filmen glauben lassen. Solche Unterkünfte können sich nur die allerwenigsten leisten, weshalb viele New Yorker auch in einem der anderen vier Stadtteile leben, in denen die Lebenshaltungskosten doch um einiges günstiger sind, und Manhattan in erster Linie betreten, um dort zu arbeiten, wobei sie dabei allmorgendlich ein nicht unerhebliches Verkehrschaos verursachen.
Das oftmals überfüllte Straßennetz Manhattans, das jedem Autofahrer die Schweißperlen auf die Stirn treten lässt, ist für Besucher jedoch geradezu ideal, da es ungeheuer klar gegliedert ist. Abgesehen von der Südspitze der Insel, sind die Straßen am Reißbrett entwickelt worden und verlaufen nach einem eindeutigen System, das sich wie ein Gitternetz aus rechtwinkligen und geraden Linien über die Stadt erstreckt, weshalb sie in Manhattan auch nur selten auf eine Kurve treffen werden.
Die Straßen, die in Nord-Süd-Richtung verlaufen heißen „Avenues“, diejenigen, die von West nach Ost führen, werden als „Streets“ bezeichnet. Aber damit nicht genug. Die Stadtregierung erspart den Besuchern zusätzlich auch noch das merken von Straßennamen, denn diese hat man (bei einigen Ausnahmen) schlicht durchnummeriert. So heißt die Straße, die ganz im Osten von Nord nach Süd verläuft „1st Avenue“, die Parallelstraße in westlicher Richtung von ihr „2nd Avenue“ usw.
Bei den Streets gilt das gleiche Prinzip, wobei die Zahlen hier in nördliche Richtung ansteigen. Ein System, das die Orientierung ungemein erleichtert. Wenn sie sich innerhalb Manhattans doch einmal verlaufen haben und einem Straßenschild entnehmen, dass sie sich beispielsweise auf der 53rd Street befindet, einige Schritte bis zur nächsten Kreuzung gehen und dort feststellen, dass sie nun an der 54th Street angelangt sind, wissen sie sogleich, dass sie sich in nördliche Richtung bewegt haben.
Die 5th Avenue teilt die Stadt in etwa längs in der Mitte. Straßen die östlich von ihr verlaufen tragen den Zusatz „East“, Straßen die westlich von ihr liegen entsprechend den Zusatz „West“. Adressen sind in New York folglich zu lesen wie ein Koordinatensystem. Haben sie zum Beispiel die East 42nd Street / 3rd Avenue zum Ziel, müssen sie nicht lange auf ihrem Stadtplan suchen, denn lediglich diese beiden Koordinaten grenzen den gesuchten Ort bereits auf etwa 50 Meter genau ein.
Ihnen bleibt dann womöglich noch die Frage, wie sie dieses Ziel denn nun am günstigsten und schnellsten erreichen können. Was die Benutzung von Verkehrsmitteln betrifft, ist New York eine gänzlich unamerikanische Stadt, denn die meisten Bewohner bedienen sich öffentlicher Verkehrsmittel, sodass nur etwa die Hälfte aller Autos auf Manhattans Straßen Privatfahrzeuge sind. Das Straßenbild ist vor allem durch die sogenannten „yellow cabs“, die berühmten New Yorker Taxis, geprägt, von denen mehr als 12.000, stets hupend, durch die Straßen Manhattans kreuzen, weshalb sie sich auch nur einen kurzen Moment an den Straßenrand stellen müssen, um einem vorbeikommenden Taxifahrer mit dem Heben ihres Armes zu signalisieren, dass sie eine Beförderung benötigen. Taxi fahren ist in New York vergleichsweise günstig, was es daher auch für Touristen zu einem durchaus empfehlenswerten Fortbewegungsmittel macht. Der Grundtarif beträgt 2 Dollar. Hinzu kommen 1,50 Dollar pro Meile, was etwa 1,6 km entspricht, plus etwa 10-15 % Trinkgeld. Möchten sie zum Beispiel einmal entlang der 42nd Street vom East River, bis zum Ufer des Hudsons befördert werden, was für New York-Verhältnisse eine bereits recht weite Strecke ist, kostet sie das gerade einmal 4 Dollar. Ein Preis, für den ein Taxifahrer in Berlin, sie nicht einmal bis zur nächsten Straßenecke fahren würde.
Noch günstiger ist es natürlich die Subway zu benutzen, die in der Regel einen 24-Stunden-Service bietet und die etwas verwirrende Unterscheidung zwischen „Local Trains“, die an jeder Station halten, und den „Express Trains“, die nur an wenigen Stationen haltmachen und daher um einiges schneller unterwegs sind, vornimmt. Um die Verwirrung komplett zu machen, erlaubt sich die Verkehrsgesellschaft zwischenzeitlich immer mal wieder den Spaß, mittels Lausprecheransagen darauf aufmerksam zu machen, dass der „Lokal train“ heute ausnahmsweise als „Express train“ fungiert oder umgekehrt, dieses aber nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Streckenabschnitt gelte. Solche Durchsagen werden sie während ihrer ersten Tage in New York vielleicht noch nervös machen, beobachten sie dann jedoch die New Yorker um sich herum, werden sie feststellen, dass diese solche Hinweise achselzuckend hinnehmen, und zwar nicht unbedingt, weil sie besser Bescheid wüssten, sondern weil sie gelernt haben, dass es sinnlos ist, sich über Derartiges aufzuregen. Irgendwann wird der Zug irgendwo halten und dann sieht man weiter.
Eine Fahrt mit der Subway kostet 2 Dollar, wobei es sicherlich Sinn macht, sich eine Tageskarte für 7 Dollar oder, noch besser, eine Wochenkarte für 24 Dollar zu gönnen.
Aber selbst das Geld können sie theoretisch, für ihren geplanten Shoppingtag auf der 5th Avenue einsparen, und auf ein gänzlich kostenfreies Verkehrsmittel setzen: ihre eigenen Füße. Das ist gar nicht so abwegig, wie es vielleicht im ersten Moment klingt, denn schließlich ist Manhattan in seiner – vertikalen – Ausdehnung gar nicht so groß und man bewegt sich entsprechend nicht so weit von einem Ausgangspunkt weg, wie dieses in anderen Großstädten – man denke an London oder Berlin – der Fall sein mag. Selbst wenn sie Manhattan an einer recht breiten Stelle von Ost nach West durchlaufen wollen, legen sie nicht viel mehr als 3 km zurück, weshalb die New Yorker auch als die einzigen Nordamerikaner angesehen werden können, die in ihrer Stadt überhaupt zu Fuß unterwegs sind.
Wenn sie die Stadt gehend erkunden, bringt das zudem mit sich, dass sie nicht nur schnell die vermeintlichen Sehenswürdigkeiten abklappern, sondern die Stadt in ihrer Ganzheit wahrnehmen, denn in New York gibt es so vieles, das würdig ist, gesehen zu werden. Kommen sie also mit mir, auf eine Reihe von Spaziergängen, durch eine faszinierende Metropole.
„Wie schön ist alles erste Kennenlernen. Du lebst, solange Du entdeckst.“
(Christian Morgenstern)
Ja! ... schön ist es ... und aufregend. Ich laufe rastlos an der Balustrade der „John F. Kennedy“ entlang und kann mein Glück kaum fassen. Mein erster Morgen in New York City: Bei strahlendstem Sonnenschein fahre ich auf dem leuchtend orangen Schiff der Staten Island Ferry - Flotte an der Freiheitsstatue und an Ellis Island vorüber, während sich der Hafen Manhattans zunächst langsam von mir entfernt.
Immer wieder wechsle ich zwischen Steuer- und Backbord hin und her, um all die Ansichten in mich einzusaugen, wobei ich gezwungen bin dabei fast minütlich das Hauptdeck zu durchqueren, wo sich etwa zwanzig bis dreißig New Yorker - überwiegend wohl auf dem Weg zu ihren Arbeitsstellen – aufhalten, ihre Köpfe tief in einem Buch oder hinter einer Zeitung versteckt. Ich weiß nicht, ob sie genervt sind von mir, dem hektischen Touristen, der scheinbar die banalsten Selbstverständlichkeiten aufregend findet oder ob sie mich überhaupt wahrnehmen. Ich denke und hoffe sie haben in ihrem Großstadtleben gelernt, störende Menschen einfach auszublenden. Eigentlich bemühe ich mich in vergleichbaren Situationen möglichst wenig als Tourist aufzufallen und so werde ich es auch ab demnächst wieder handhaben ... aber hier und jetzt kann ich nicht anders.
Neben einer Handvoll weiterer New York Besucher, gibt es da nur noch die Kinder einer Grundschulklasse, die offenbar einen Ausflug unternehmen und die sich auch lieber außen an der Reling, statt im Inneren des Schiffs aufhalten. Ihren leuchtenden Augen und ihrem aufgeregten Gejohle entnehme ich, dass sie ähnlich begeistert sind wie ich. Sie haben das alles eben auch noch nicht so oft erlebt, wie die abgeklärten New Yorker im Schiffsinnenraum. Lediglich die beiden strengen Lehrerinnen sorgen dafür, dass sie ihre Freude in einer Reihe stehend zum Ausdruck bringen müssen und nicht wie ich, ständig von vorne nach hinten und von rechts nach links laufen können. Die Privilegien eines Erwachsenen ... dafür traue ich mich nicht, so laut zu brüllen ...
Die Staten Island Ferry transportiert bereits seit mehr als hundert Jahren Pendler von Staten Island nach Manhattan – bzw. umgekehrt -, wird aber inzwischen auch von Touristen reichlich frequentiert, denn der Clou ist: Die Fahrt ist kostenlos. Staten Island liegt etwa 8 km vor der Küste Manhattans und ist neben Manhattan, der Bronx, Queens und Brooklyn einer der fünf New Yorker Stadtteile. Lange Zeit war die Insel bekannt als die Müllkippe New Yorks, denn bis ins Jahr 2001 wurde hier der Großteil des anfallenden Abfalls entsorgt. Aufgrund von massiven Bürgerprotesten – denn die Geruchsbelästigung war erheblich - wurde die zentrale Deponie schließlich geschlossen. Im darauffolgenden Jahr musste die Insel dann aber doch noch einmal als Entsorgungsstelle herhalten, als der Schutt des zerstörten World Trade Centers hier gelagert wurde.
Staten Island
Die Fähren fahren etwa im halbstündigen Takt und sind – zumindest in den Morgenstunden – nicht überfüllt.
Ellis Island, jene Insel, über die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa 12 Millionen Menschen in die USA einwanderten, zieht an mir vorbei und auch Liberty Island, die Insel auf der die wohl berühmteste Statue der Welt ihre goldene Fackel unerschütterlich in die Höhe reckt.
Ellis Island & Liberty Island
Ich versuche mir den Eindruck der Millionen Einwanderer vorzustellen, die einst nach beschwerlicher Seereise dieses Land voller Hoffnungen erreichten und aus der Ferne die Konturen der Statue erblickten. „Komm - Du bist am Ziel!“, scheint sie einem zuzurufen. Es muss auch heute noch ein tolles Erlebnis sein, New York mit dem Schiff zu erreichen, denke ich mir; aber mangelnde Zeit, fehlendes Geld, latente agoraphobische Tendenzen und drohende Seekrankheit sprechen dann einfach doch für das Flugzeug.
„Give me your tired, your poor,
Your huddles masses yearning to breathe free,
The wretched refuse of your teeming shore.
Send these, the homeless, tempest-tossed to me:
I lift my lamp beside the golden door.”
“Gebt mir eure Müden, eure Armen,
Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren,
den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten.
Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen,
hoch halt` ich mein Licht am gold`nen Tore.“
Dieses Gedicht der amerikanischen Poetin Emma Lazarus ist auf dem Sockel der Freiheitsstatur eingraviert und bringt die Identität der Vereinigten Staaten als erklärtes Einwanderungsland zum Ausdruck. In Anbetracht der Politik der jüngeren Vergangenheit und angesichts der tausend Kilometer Zaun, Hightech-Sensoren und Radaranlagen an der Grenze zum Nachbarn Mexiko, erscheint dies heute jedoch äußerst fragwürdig. Mehrere Hundert Menschen kommen jedes Jahr, an der von der Nationalgarde bewachten Grenze, beim verzweifelten Versuch der nackten wirtschaftlichen Not in ihrer Heimat zu entkommen, ums Leben. Schon der irische Schriftsteller George Bernard Shaw bemerkte: „Ich bin bekannt für meine Ironie. Aber auf den Gedanken, im Hafen von New York eine Freiheitsstatue zu errichten, wäre selbst ich nicht gekommen.“ Der New Yorker Musiker Lou Reed drückt es drastischer aus, indem er das Gedicht in einem seiner Songs aufgreift und umformuliert: “Give me your hungry, your tired, your poor, I´ll piss on ´em. That´s what the Statue of Bigotry says.”
Wie nahezu sämtliche Touristen an Bord wechsle auch ich an der Anlegestelle in Staten Island lediglich das Schiff und fahre schnurstracks wieder zurück. Die Anfahrt auf Manhattan ist derart imposant, dass es mir die Sprache verschlägt. Der Blick auf die weltberühmte Silhouette zwischen dem Hudson River und dem East River, die langsam näher kommende Brooklyn Bridge ... atemberaubend, wunderschön und zweifellos eines der Bilder, das für ewige Zeiten in meinem Kopf festgehalten sein wird. Jetzt bin ich endgültig eingestimmt, auf die Dinge die dieser Ort für mich bereithält: „New York – Ich komme!“
atemberaubend: die Anfahrt auf Manhattan
Nach etwa einer Stunde kehre ich beseelt zurück zur Anlegestelle und betrete wieder den Boden Manhattans. Genau hier begann einst die Geschichte von New York City, als die Holländer den Indianern die Insel „Manna-hata“ („hügeliges Land“) für Schmuck im Wert von 24 Dollar abkauften. Wo sich jetzt vor mir die Wolkenkratzer in enorme Höhen türmen, errichteten die Holländer einst ein Fort, ein paar kleine Häuser und – natürlich - eine Windmühle. Man muss schon einiges an Fantasie aufbringen, um sich hier und heute inmitten dieser imposanten Bauten, dieses idyllische Bild vorzustellen.
Nach einigen Schritten entdecke ich zwischen gewaltigen architektonischen Konstruktionen aus Stahl und Glas ein Haus, das hier völlig fehl am Platz zu sein scheint. Einerseits wirkt das Gebäude mit seinen drei Stockwerken geradezu winzig und zerbrechlich, zwischen den riesigen Bauten in seiner Nachbarschaft; andererseits strahlt es aber auch eine Art trotzige Würde aus, als könne die Zeit ihm nichts anhaben. Eine kleine Kirche ist direkt an das Hauptgebäude angebaut worden, deren weißes Türmchen ein schlichtes Kreuz mahnend auf seiner Spitze trägt.
In diesem Haus (7 State Street) hat Elisabeth Anne Seton – die erste in den USA geborene Heilige – zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelebt.
Sie war Lehrerin, der besonders die Bildung von sozial schwachen Kindern am Herzen lag und um ihre Vorstellungen zu realisieren, gründete sie einst eine eigene Schule. Der ersten Nonnenorden den USA - die „Sisters of Charity“ -, dem sie von 1809 bis 1819 als Generaloberin vorstand, geht auf ihre Initiative zurück. 1821 starb Elisabeth Anne Seton im Alter von 47 Jahren an Tuberkulose. Ihre Heiligsprechung erfolgte 1975 durch Papst Paul VI.
Ende des 19. Jahrhunderts diente das Gebäude als Heim für irische Immigrantenfrauen. Etwa 170.000 von ihnen machten hier Station auf ihrem Weg in die neue Heimat.
Ich folge der Straße in Richtung Innenstadt und gelange nach etwa 200 Metern zur ältesten Grünanlage der Stadt, dem sogenannten „Bowling Green“ (Whitehall Street / Broadway), die ihren Namen tatsächlich dem Sport verdankt, der hier einst unter freiem Himmel praktiziert wurde. Heute laden zahlreiche Bänke, die unter Bäumen, um ein Wasserbassin mit einem Springbrunnen gruppiert sind, zum Verweilen ein. Der Zaun, der das dreieckige Gelände umfasst, steht seit fast 250 Jahren an diesem Ort.
Genau hier beginnt auch der berühmte Broadway, der sich über eine Strecke von etwa 25 km durch ganz Manhattan zieht. Die holländischen Siedler haben einst diesen alten Indianerpfad zu einer Straße ausgebaut, die sie Breede Weg („breiter Weg“) nannten, woraus sich dann im Englischen der Name Broadway entwickelte.
Vom Bowling Green aus erblicke ich dann auch schon eine berühmte Sehenswürdigkeit New Yorks: den „Charging Bull“ (Broadway / Bowling Green). Die Bronzefigur steht zu meiner Überraschung nicht direkt vor der New Yorker Börse, sondern etwa 200 Meter von ihr entfernt. Das war jedoch nicht schon immer so, denn an einem Morgen des Jahres 1989 stand der Bulle tatsächlich direkt vor den Türen der New Yorker Stock Exchange und sorgte dort für erstaunte und fragende Gesichter. Der Bildhauer Arturo de Modica hatte die etwa 3200 kg schwere Figur ohne Genehmigung dort in einer Nacht und Nebel Aktion - mithilfe eines Gabelstaplers und etwa 30 Freunden - innerhalb weniger Minuten aufgestellt. Die Kunstaktion brachte jedoch erhebliche Verkehrsprobleme mit sich, sodass die Skulptur nach einigen Tagen von der Polizei entfernt werden musste. Die New Yorker hatten sich aber inzwischen so sehr an dem Anblick des Tieres erfreut, dass seine Entfernung beträchtliche Proteste mit sich brachte und der Bulle schließlich am Broadway eine neue Heimat zugewiesen bekam, wo seitdem Touristen seine mächtigen und inzwischen blank gescheuerten Nüstern tätscheln.
Nach dem Börsencrash von 1987 begann der aus Sizilien stammende Künstler de Modica mit der Arbeit an der etwa 5 Meter langen Figur. Mut und Stärke soll der Bulle symbolisieren. Er wolle „junge Leute ermutigen, sich wieder aufzurappeln und die amerikanische Wirtschaft auf den rechten Weg zu bringen“, so der Künstler.
Seit Jahrhunderten stehen Bulle und Bär als Sinnbild für steigende oder fallende Aktienkurse, wofür es verschiedene Erklärungsansätze gibt. Einer geht auf einen spanischen Literaten zurück, der im 16. Jahrhundert die Börse in Amsterdam besucht haben soll und der sich durch das rege Treiben der Händler an eine südamerikanische Stierkampfvariante erinnert haben soll, bei der Bullen gegen Bären kämpften.
Eine weitere Erklärung zur Entstehungsgeschichte ist die, dass ein Bär im Kampf mit seiner Tatze von oben nach unten haut und somit fallende Kurse symbolisiert, während ein Bulle mit seinen Hörnern von unten nach oben stößt und daher steigende Kurse versinnbildlicht. Auf die Idee dem kräftig aufstrebenden Bullen, sein Pendant den schwächelnden Bären gegenüberzustellen, wie vor der Frankfurter Börse, käme ein New Yorker wohl nicht. Ich befinde mich schließlich im Land der Hoffnung und der Zuversicht.
Gleich um die Ecke verläuft die berühmte Wall Street, die ihren Namen einem Schutzwall zu verdanken hat, den die Siedler einst errichteten, um sich vor den Indianern sicher zu fühlen.
Das Herz des Finanzviertels ist eine relativ kleine und schmale Straße, wobei dieser Eindruck sicherlich durch die enormen Höhen der Bauten an diesem Ort verstärkt wird. Winzig kommt man sich hier vor und durch die Hochhäuser fällt kaum ein Lichtstrahl auf die Straße. Der Ort, an dem das Schicksal von Menschen weltweit beeinflusst wird, liegt stets im Schatten, was Vergleiche mit Mordor – der Brutstätte des Bösen in Mittelerde in Tolkiens „Der Herr der Ringe“ - in mir aufkommen lässt.
das Herz der internationalen Finanzwelt
Gegenüber der Börse, die seit dem 11. September 2001 aus Sicherheitsgründen nicht mehr besichtigt werden darf, liegt die Federal Hall (26 Wall Street), ein klassizistisches Gebäude, auf dessen Eingangstreppe eine Statur von George Washington, an einen großen Moment der amerikanischen Geschichte erinnert, denn der erste Präsident des neu gegründeten Staates legte hier 1789 seinen Amtseid ab.
Vorbei an zahlreichen Wolkenkratzern, die zumeist Banken beherbergen, gelange ich zu dem wohl bedrückendsten Ort New Yorks: Ground Zero. Im Grunde gibt es hier nicht viel zu sehen: Ein großes Areal, umgeben von Sicht- und Lärmschutzwänden hinter denen schwere Maschinen lärmend ihre Arbeit verrichten. Doch mein Blick geht unbewusst Richtung Himmel, um dort eine Weile zu verharren. Unwillkürlich entstehen Bilder in meinem Kopf. Vor den blauen Himmel projiziert meine Fantasie die brennenden Zwillingstürme und das Ausmaß der Katastrophe trifft mich hier vor Ort stärker, als Fernsehbilder dieses vermochten. Ich beobachte andere Passanten und überall das gleiche Phänomen ... die Menschen gucken in die Luft, an die Stelle, wo nichts mehr ist, außer blauem Himmel und die Bilder im eigenen Kopf.
Ground Zero: neue Gebäude wachsen aus dem Boden
Auch Prominenten wie Robert de Niro geht es so, der von seinem Büro aus auf die Stelle blicken kann, an der einst die Türme des World Trade Centers standen und der somit täglich an das Unglück erinnert wird. „Jedes Mal, wenn ich jetzt in dieses freie Stück Himmel gucke, wird mir der Wert des Lebens bewusst. Jeder Tag ist ein Geschenk ...“, sagt er dazu in einem seiner wenigen Interviews.
Über 3000 Menschen starben einst bei den Anschlägen. Viele der unter den Trümmern begrabenen tauchen jedoch in keiner Statistik auf, da sie als Illegale in New York lebten und ihr Geld bei Reinigungsunternehmen, als Tellerwäscher in Restaurants oder als Mitarbeiter in Cateringfirmen verdienten oder auch als Obdachlose in Kellerschächten und Tiefgaragen des Word Trade Centers lebten. Sie stehen auf keiner Vermisstenliste und lediglich ihre Verwandten in Ländern wie Mexiko stellen fest, dass das dringend benötigte Geld sie schlagartig nicht mehr erreicht.
Die Polizei eskortierte damals Ärzte – viele meldeten sich unverzüglich freiwillig - aus ganz New York zum nahegelegenen Saint Vincent´s Hospital, doch weitestgehend vergeblich warteten die Mediziner rauchend vor den Türen der Klinik auf ihren Einsatz. Die Notaufnahme blieb am 11. September 2001 erschreckend leer.
Nur etwa die Hälfte der Opfer konnte anhand von sterblichen Überresten identifiziert werden. Eine New Yorkerin berichtet mir von der Aussage eines Feuerwehrmannes, der damals bei den Einsätzen dabei war und auf die Frage eines Arztes, der spontan zur Hilfe geeilt war, wo denn die ganzen Toten und Verletzen seien, antwortete: „Wir atmen sie gerade ein.“ Tausende Menschen haben sich buchstäblich in Luft aufgelöst, sind mit den Türmen zusammen zu Staub geworden, der sich lange Zeit über ganz Manhattan ausbreitete.
Wohl jeder New Yorker kann sich minutiös an die Ereignisse des 11. Septembers erinnern. Sie alle haben Bilder im Kopf, die sie zeit ihres Lebens mit sich herumtragen werden. So erzählt mir eine deutsche Auswanderin von einem kleinen Mädchen, das sie am 12. September gesehen hat. Es stand völlig regungslos mit einer Rose in der Hand unter einer Straßenlaterne, umhüllt von Rauch und Staub.
50.000 Freiwillige halfen bei den Aufräumarbeiten am Ground Zero und sie alle atmeten giftigen Staub ein. Asbest, Blei, Quecksilber und Dioxin mischten sich zu einer fatalen Mixtur, an der viele schwer erkrankten und der Umgang der Stadt mit diesen Opfern des 11. Septembers ist beschämend. Stellvertretend für sie alle möchte ich hier an James Zagroda erinnern. Dieser New Yorker Polizist hörte damals am 11. September nach Dienstschluss im Autoradio auf dem Heimweg von den Ereignissen und entschloss sich spontan zu helfen. Er schlug sich bis zum Ground Zerodurch und begann Menschen aus den noch stehenden Gebäuden zu evakuieren und brachte sich dabei selbst in Lebensgefahr.
Freunde und Kollegen berichten, dass James Zagroda - den alle nur Jim nannten - im darauffolgenden Monat etwa 500 Stunden in den Trümmern verbrachte. Er grub mit bloßen Händen Menschen aus und beseitigte Tonnen von Schutt. Der stämmige und robuste Mann ging dabei bis an seine körperlichen und psychischen Grenzen und manchmal wohl auch darüber hinaus.
Zu Beginn des Jahres 2002 begann er über Atembeschwerden und Halsschmerzen zu klagen. Ärztliche Untersuchungen ergaben schließlich eine niederschmetternde Diagnose: Staublunge. Fiberglas und Knochensplitter hatten sich in Zagrodas Lunge festgesetzt - Reste von Leichen und Trümmern, die er während seines Einsatzes einatmete und während New York wieder erstarkte, wurde James Zagroda immer schwächer. Medikamente führten zu keiner Linderung und im Jahre 2004 wurde er frühpensioniert. Er erhielt zwar eine angemessene Rente, doch für die nötigen ärztlichen Behandlungen und Medikamente wollte nun niemand mehr aufkommen. Kurz darauf starb seine Frau an Krebs und Zagroda versank endgültig in tiefe Depressionen.
Im Januar 2006 starb James „Jim“ Zagroda im Alter von nur 34 Jahren und hinterließ eine vierjährige Tochter und Medikamenten- und Krankenhausrechnungen in einer Höhe von etwa 50.000 Dollar.
James Zagroda ist nur ein Beispiel von vielen. Auch heute noch fordern die Ereignisse vom 11. September 2001 Opfer, doch nur ungern wird in dem Land, in dem es stets vorwärts und aufwärtszugehen hat und für ein Zurückblicken keine Zeit bleibt, an sie gedacht.
Die Aufräumarbeiten am Ground Zero zogen sich über ein halbes Jahr hin und wurden im Mai 2002 für beendet erklärt. Bis zu diesem Zeitpunkt stieg noch immer vereinzelt Qualm von unterirdischen Schwelbränden aus dem Trümmerfeld auf. Nun begannen die Bauarbeiten, während derer neue Wolkenkratzer an der Stelle des zerstörten und abgetragenen World Trade Centers entstehen sollen. Einige Gebäude sind bereits fertig. Der größte Turm soll eine Höhe von 541 Metern erreichen, doch hier verzögern sich die Arbeiten, nicht zuletzt durch die Wirtschaftskrise, stark und manch einer glaubt schon nicht mehr daran, dass er jemals fertiggestellt werden wird.
Direkt neben Ground Zero befindet sich St. Paul´s Chapel (Fulton Street / Broadway), eine kleine Kirche, die im Schatten großer Laubbäume liegt und der ich einen Besuch abstatte.
Sie blieb am Tag des Anschlages, wie durch ein Wunder, unbeschädigt und öffnete ihre Pforten für die Erstversorgung von Verletzten. Später erhielten hier Feuerwehrleute und andere Helfer Mahlzeiten und provisorische Schlafplätze. Schautafeln und diverse Ausstellungsstücke in der Kirche erinnern heute an die Schreckenstage vom Herbst 2001.
Erinnerungen an Tage des Grauens
Das World Financial Center trennt die Baustelle am Ground Zero vom Battery Park, einer Mischung aus Park und Wohnanlage, aber auch hier wird man noch einmal an die Tragödie erinnert. Eine fast 8 Meter hohe, stark verbeulte, Gold schimmernde Erdkugel aus Bronze ist hier seit 2002 aufgestellt. Es handelt sich um ein Kunstwerk des deutschen Bildhauers Fritz Koenig mit dem ursprünglichen Titel „große Kugelkaryatide“, der sich jedoch – wen wundert es - bei den New Yorkern nicht durchsetzten konnte, die das Werk schnell in „The Sphere“ (dt. „die Kugel“) umtauften.
Seit 1971 krönte die überdimensionale Erdkugel eine Brunnenanlage zwischen den Zwillingstürmen des World Trade Centers und diente vielen New Yorkern als beliebter Treffpunkt. Die Anschläge überstand die Skulptur, wenn auch stark beschädigt. Die Idee die Kugel in diesem Zustand an anderer Stelle, nun als eine Art Mahnmal, neu aufzustellen, lehnte ihr Erschaffer zunächst ab, ließ sich schließlich aber doch überzeugen, zumal geplant ist die Skulptur nach Beendigung der Bauarbeiten, wieder an ihren ursprünglichen Platz zu versetzen.
Beim Anblick seines zerbeulten Werks erkannte Koenig durchaus auch den Reiz der Transformation: „Es war eine Skulptur, nun ist es ein Denkmal. Jetzt hat sie eine andere Schönheit, eine, die ich mir nie vorstellen konnte. Sie hat nun ihr eigenes Leben – ein anderes als das, das ich ihr gegeben habe.“
An einer lang gezogenen Uferpromenade spaziere ich den Hudson River entlang, werfe Blicke hinüber nach New Jersey, das sich auf der gegenüberliegenden Seite befindet und dessen Skyline in den vergangenen Jahren durchaus beträchtliche Ausmaße angenommen hat. Die New Yorker betrachten dies jedoch mit einem etwas arroganten Schulterzucken.
Der Versuch mit New York in dieser Hinsicht in Konkurrenz zu treten, erscheint zumindest zurzeit noch lächerlich.
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Blick über den Hudson River auf die Skyline von New Jersey
Ich betrachte Skulpturen und Denkmäler, lausche Straßenmusikanten, beklatsche Tänzer und wundere mich, dass die zahlreichen Verkäufer von „I Love NY“-T-Shirts darauf hindeuten, dass man hiermit ernsthaft Geld verdienen kann. Welche geheimen Kräfte bewirken es, in einem Menschen den Entschluss aufkommen zu lassen, sich solch ein Bekleidungsstück zu kaufen, frage ich mich. Findet wirklich eine angemessene Anzahl von Menschen diese T-Shirts schön? Was finden solche Menschen dann nicht schön? Vielleicht T-Shirts mit dem Aufdruck „I love New Jersey“? Ich weiß es nicht, erkenne aber auch sogleich die Sinnlosigkeit meiner Gedanken, als ich sehe, dass sich Touristen in einer Schlange aufstellen, um sich für 5 Dollar mit einer als Freiheitsstatur verkleideten Mexikanerin fotografieren zu lassen.
Uferpromenade im Battery Park
Ich kann bereits wieder die großen blauen Buchstaben, die auf die Anlegestelle der „Staten Island Ferry“ (South Ferry Plaza) hinweisen, erkennen und bin damit wieder am Ausgangspunkt meines Spaziergangs angelangt. Wenn man von der Schifffahrt am Vormittag absieht, habe ich mich bislang lediglich in einem Gebiet von etwa einem Quadratkilometer bewegt.
Ich setzte mich noch einem Moment auf eine der zahlreichen Holzbänke an der Uferpromenade, betrachte von Weitem die Freiheitsstatur, auf die man von hier einen tollen Blick hat, und lasse meine Gedanken eine Zeit lang kreisen, bevor es weiter geht zu neuen Entdeckungen.
„Regieren macht Spaß – Politik nicht.“
(Michael Bloomberg, Bürgermeister von New York)
Diese Aussage des amtierenden New Yorker Bürgermeisters mag man als sympathisch oder abschreckend empfinden, auf jeden Fall beschreibt sie den Stil des Politikers und Geschäftsmanns Michael Bloomberg, der nun bereits seit 2001 die Geschicke der Stadt lenkt, recht gut, denn Bloomberg ist ein Macher. Er will gestalten, führt New York wie ein Unternehmen und macht das, was er für effektiv hält. Eines seiner Lieblingswörter ist „notwendig“. Politische Ränkespiele, Parteiräson und Seilschaften sind seine Sache hingegen nicht.
2001 gewann Bloomberg, der zuvor nicht als Politiker, sondern lediglich als Unternehmer in Erscheinung getreten war, erstmalig die Bürgermeisterwahl in New York und trat damit die Nachfolge von Rudolph Giuliani an. Bloomberg, der aus bescheidenen Verhältnissen stammt, baute in den achtziger Jahren eine Finanzdatenagentur auf und ist heute, mit einem geschätzten Vermögen von 16 Milliarden Dollar, der achtreichste Amerikaner. Seine Haltung zum Parteiensystem machte er vor seiner ersten Wahl zum Stadtoberhaupt deutlich, als er - um nicht die Vorwahlen bestreiten zu müssen – kurzerhand von den Demokraten zu den Republikanern wechselte. Hierauf angesprochen reagiert er pragmatisch: „Die Demokraten gaben mir nicht die Möglichkeit Bürgermeister zu werden“.
Somit galt er lange Zeit als Demokrat innerhalb der Republikanischen Partei, nahm er doch in vielen Bereichen eher demokratische Standpunkte ein. So tritt er für das Recht auf Abtreibung, die Ehe von gleichgeschlechtlichen Paaren und strengere Waffenkontrolle ein. Er macht keinen Hehl daraus, dass er Bill Clinton lieber mag als George W. Bush, neben dem er auf dem Parteitag der Republikaner nicht einmal sitzen wollte. 2005 wurde er wiedergewählt und während seiner zweiten Amtszeit gab er bekannt, die Republikanische Partei wieder zu verlassen, um von nun an als unabhängiger Politiker zu arbeiten.
Seine Wahlkämpfe finanziert Bloomberg aus eigener Tasche, denn er will keine Abhängigkeiten und niemanden etwas schulden. 75 Millionen Dollar soll ihm der Wahlkampf 2005 gekostet haben. Eine Rekordsumme, die seine Gegenkandidaten erblassen ließ. Manch einer kritisiert die, aufgrund der immensen finanziellen Mittel Bloombergs, ungleichen Chancen der Kandidaten. Aber auch diese Kritik kontert er gewohnt konsequent: „Mein Ziel ist es die Schulen besser zu machen, die Kriminalitätsrate zu senken, Häuser zu bauen, die man sich leisten kann, die Straßen aufzuräumen – und nicht einen fairen Wahlkampf zu führen.“
Im November 2009 wurde er schließlich zum dritten Mal gewählt, wozu das Wahlrecht, das bislang eine Amtszeitbeschränkung vorsah, verändert werden musste. Kritiker fürchten daher eine langsame Aushöhlung der Demokratie, aber Bloomberg ist offenbar nicht zu bremsen.
Bei den New Yorkern war er dabei zunächst eher unbeliebt, in manchen Umfragen sogar so unbeliebt, wie kein Bürgermeister vor ihm. Er galt als schlechter Kommunikator, mit wenig Charisma. Interessanterweise wählten in die New Yorker trotzdem, denn offenbar ist die Haltung der New Yorker zu ihrem Bürgermeister auch eher pragmatischer Natur. Muss man seinen Bürgermeister lieben? Die New Yorker beantworteten diese Frage lange Zeit mit einem klaren Nein. Die Bürger schätzten Bloombergs Unabhängigkeit und stellten fest, dass er ihr Leben zumindest nicht erheblich stört. Also ... warum nicht?
Mittlerweile mögen sie ihren „major Mike“ sogar, denn er gibt sich volksnah, fährt mit der Subway, spricht mit Passanten und von seinen Erfolgen ist selbst manch politischer Gegner beeindruckt.
Als geradezu fanatischer Tabakgegner ließ er nach seiner Wahl 2001 umgehend das Rauchen in Restaurants und Bars verbieten und startete Kampagnen, die auf die Gefahren von Nikotin aufmerksam machen sollten, mit dem Ergebnis, dass die Zahl der Raucher in New York während seiner Amtszeit, um fast eine halbe Million Menschen, dramatisch gesunken ist und mittlerweile einen historischen Tiefstand erreicht hat. Rauchverbote für Parks, Strände und öffentliche Plätze sind seit geraumer Zeit in Planung, denn die Gesundheit der Bürger ist Bloomberg ein besonders wichtiges Anliegen. Zum Entsetzen mancher Fast-Food-Kette sind diese seit Kurzem dazu gezwungen, den Brennwert des von ihnen angebotenen Essens offenzulegen. Mit der Kalorienangabe bei Pommes, Burgern und ähnlichen Speisen will man der Volkskrankheit Übergewicht beikommen.
Die Kriminalitätsrate, die unter seinem Vorgänger stark zurückging, ist weiter gesunken und inzwischen so niedrig wie nie zuvor, und das, ohne dass die Polizei heute besonders brutal und rücksichtslos erscheint, wie oftmals noch unter seinem Vorgänger Giuliani.
Er bewilligt hohe Investitionen für den Bau von Sozialwohnungen und hat das Schulwesen reformiert und dabei für eine bessere Bezahlung der Lehrer gesorgt. Mit dem Ergebnis, dass sich die Leistungen der Schüler an öffentlichen Schulen messbar verbessert haben.
Der Service innerhalb der Stadtverwaltung wurde optimiert und zum Beispiel ein Telefonservice in 170 verschiedenen Sprachen, darunter auch verschiedene chinesische Dialekte, eingerichtet.
Eines der Hauptziele Bloombergs bleibt aber, dass er New York umweltfreundlicher machen will und seine Vorsätze sind durchaus ambitioniert. Der Treibhausgasausstoß soll um 30 % gesenkt, die New Yorker Taxis auf Hybridantrieb umgestellt und 1 Million Bäume neu gepflanzt werden. Eine Vervierfachung der Radwege, sowie eine Vermehrung der Parks, denn jeder New Yorker soll laut Bloomberg zukünftig nur 5 Gehminuten von einer Grünanlage entfernt leben, sind geplant. Die Qualität des Wassers und der Luft hat sich während seiner Amtszeit bereits messbar verbessert.
Und - man mag es kaum glauben - bei all den Anstrengungen ist es ihm sogar gelungen zu sparen. Für seine Dienste als Bürgermeister verlangt Bloomberg lediglich einen symbolischen Dollar pro Jahr. Die Verwaltung ist unter ihm effektiver geworden und manches Budget gekürzt worden, wobei es immer wieder vorkommt, dass Bloomberg, wenn er sich gezwungen sieht, den Etat einer Institution zu kürzen, den fehlenden Betrag aus eigener Tasche ausgleicht, wobei diese Wohltätigkeit natürlich auch Abhängigkeiten schafft, die der Demokratie nicht gerade dienlich sind.
Kritiker Bloombergs beklagen zudem den Ordnungsfanatismus ihres Bürgermeisters, durch den sich mancher Bürger gegängelt fühlt. Die angesprochenen Rauchverbote sind dafür ein Beispiel. Unter Bloomberg wurde aber auch verboten, sich in der Öffentlichkeit auf einen umgedrehten Getränkekasten zu setzen, in der Subway eine Plastiktüte auf den Nebensitz zu stellen oder sich die Schuhe auf einer Treppe zu binden, die zu einer U-Bahn-Station führt, sodass seine Widersacher zu dem Urteil kommen, Bloomberg erdrücke seine Gegner mit seinem Geld und seine Bürger mit kleinlichen Gesetzen.
Seit jeher gibt es Spekulation darüber, ob er nach seiner Amtszeit als Bürgermeister von New York, die amerikanische Präsidentschaft anstreben wird. Zutrauen würde es ihm inzwischen wohl jeder, denn mittlerweile weiß er sich auch medienwirksam zu verhalten. Beim Wirbelsturm „Katrina“, der 2005 weite Teile Louisianas verwüstete, ließ sich Bloomberg unverzüglich mit seinem Privatflugzeug in das Krisengebiet fliegen und stand bereits am nächsten Morgen – lange vor Präsident Bush - vor den Fernsehkameras, um die sofortige Entsendung von 450 Helfern aus New York zu verkünden.
Michael Bloombergs Büro befindet sich in der City Hall (City Hall Park at Broadway / Park Row), dem ältesten Rathaus der USA, das bereits seit 1812 der New Yorker Stadtregierung als Sitz dient. Das Gebäude strahlt auf mich, mit seinen hellen Marmorfassaden, Stil und Bedeutung aus und wurde im - zur damaligen Zeit vorherrschenden – Federal Style, ein amerikanischer Architekturstil, der sich - angeregt vom europäischen Klassizismus – auf die klaren Formen der Antike zurück besann, erbaut. Da man in den neugegründeten Vereinigten Staaten die antiken römischen und griechischen Republiken als politische Vorbilder ansah, kam diese Geschmacksrichtung auch politisch gelegen. Die City Hall ist mit einem flachen Dach, das von einem Turm gekrönt wird und einer klar gegliederten, geometrischen Fassade versehen. Die rückwärtige Nordseite hat man bei dem Bau des Gebäudes aus kostengünstigen braunen Sandsteinen gefertigt, da die Bauherren davon ausgingen, dass weiter im Norden - wenn überhaupt jemand – dann „doch nur ein paar Dorftrottel wohnen werden.“ Dieser kolossalen Fehleinschätzung der zukünftigen Stadtentwicklung hat man 1954 Rechnung getragen und auch diese Seite mit dekorativem Marmor verkleiden lassen.
Das Stadtgebiet, in dem ich mich augenblicklich befinde, wird auch als „Civic Center“ (dt.: „Verwaltungszentrum“) bezeichnet und ist geprägt von faszinierender Architektur aus verschiedenen Jahrhunderten. Ein lebhaftes Viertel, das neben dem Sitz der Stadtregierung auch das Polizeipräsidium und mehrere Gerichtsgebäude beherbergt.
Vor der City Hall befindet sich eine kleine Grünanlage, in der einige Kinder spielen und Touristen ihre müden Füße entspannen, hinter der sich das Woolworth-Building (233 Broadway) 240 Meter in die Höhe türmt. Dieses elegante, gotische Bauwerk wurde von 1910 bis 1913 erbaut, war damals das größte Gebäude New Yorks und leitete die kommende Ära der Wolkenkratzer ein. Die zahlreichen Tierornamente, Wasserspeier, Ecktürmchen und Stützpfeiler an seiner Fassade, machen das, von einem Pyramidendach mit vier Türmchen gekrönte, Hochhaus, auch heute noch zu einer Augenweide. Der Bau kostete seinem Besitzer Winfried Woolworth 13,5 Millionen Dollar, die dieser in bar bezahlen konnte, war er doch durch die damals revolutionäre Idee, Artikel in einem Laden nicht im Regal zu verstecken und nur auf Verlangen der Kundschaft vorzuzeigen, sondern sie zu einem festen Preis – was damals ebenfalls unüblich war – auf Tischen zu präsentieren, sodass die potenziellen Käufer das gesamte Angebot überblicken und sogar anfassen konnten, zu immensem Reichtum gekommen.
Ich gehe die Park Row Richtung Norden und passiere das Municipal Building (1 Center Street), in dem ebenfalls Teile der New Yorker Stadtverwaltung untergebracht sind, denn gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann man zu ahnen, dass New York wohl doch deutlich schneller wächst, als man noch beim Bau der City Hall gedacht hatte.
Ein neuer Verwaltungssitz war notwendig geworden - zumal 1898 die Stadtteile Queens, Brooklyn und Staten Island eingemeindet wurden (die Bronx war bereits zuvor zu einem New Yorker Stadtteil erklärt worden) - der 1914 fertiggestellt wurde und harmonisch mit der City Hall zusammenwirken sollte, weshalb auf übertriebene Details an der Fassade verzichtet wurde. Dafür hat man jedoch ein aufwendiges Turmensemble entworfen, bei dem vier kleinere Ecktürme, die vier neuen Stadtteile symbolisieren sollen und das von einem prächtig gestalteten Hauptturm, der wiederum von einer goldenen Statue gekrönt wird, abgeschlossen wird.
Auch an diesem Bauwerk findet man Beziehungen zur Antike, denn ein klassischer Säulengang verbindet die beiden äußeren Gebäudeteile und schafft somit eine Art Innenhof.