Streets of London - Mario Graß - E-Book

Streets of London E-Book

Mario Graß

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Beschreibung

Rote Busse und Telefonzellen, regungslose Wachposten am Buckingham Palace, die Houses of Parliament und die berühmten Themsebrücken ... Doch London hat mehr zu bieten als Postkartenmotive. Der Autor nimmt uns mit auf eine Reise von Spaziergängen durch Englands Hauptstadt und führt uns zu bekannten und weniger bekannten Sehenswürdigkeiten sowie in idyllische Seitengassen und zu verwunschenen Plätzen. "London blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Wiederholt wurde die Stadt durch Brände und Kriege zerstört, anschließend erneut aufgebaut, verändert und weiterentwickelt. Die Straßen hatten und haben Bestand. Manche von ihnen verlaufen unverändert - wie noch zu Zeiten des römischen Reiches. Auf ihnen lässt sich die Seele der Stadt erspüren. Ihre Namen sind Blicke in die Vergangenheit und erzählen Geschichten von Verschwundenem, von einstigen Bewohnern, ihren Neigungen, ihre Berufen und ihren Versammlungsorten." (Mario Graß)

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„Wie kunstbegabte Götter schufen wir / mit unsern Nadeln eine Blume beide / nach einem Muster und auf einem Sitz, / ein Liedchen wirbelnd, beid' in einem Ton, / als wären unsre Hände, Stimmen, Herzen / einander einverleibt.

So wuchsen wir / zusammen, einer Doppelkirche gleich, / zum Schein getrennt, doch in der Trennung eins, / zwei holde Beeren, einem Stiel entwachsen, / dem Scheine nach zwei Körper, doch ein Herz. / Zwei Schildern eines Wappens glichen wird, / die friedlich stehn, gekrönt...“

(William Shakespeare)

In Erinnerung an Anja & Sylvi

Inhaltsverzeichnis

Shopping, Songs & Sightseeing – WELCOME TO LONDON

LONDON - ÜBERBLICK

Heilsbringer, Hindernis & Inspiration – DIE THEMSE

Im Zentrum der Macht – WHITEHALL & WESTMINSTER

Kunst & Literatur – BLOOMSBURY & ST. PANCRAS

Zu Besuch bei den Royals – ST. JAMES & TRAFALGAR

Im Namen des Gesetzes – HOLBORN & INNS OF COURT

Kunst, Kultur & Wissenschaft – SOUTH KENSINGTON & KENSINGTON GARDENS

Von den Römern bis zur Neuzeit: eine Reise durch die Stadtgeschichte – THE CITY

„There are places I`ll remember…” – REGENT`S PARK & MARYLEBONE

Spuren der Vergangenheit – SMITHFIELD & SHOREDITCH

Genuss & Lebensfreude – SOHO & MAYFAIR

Markttreiben & Mördersuche – COVENT GARDEN

Who was Jack the Ripper? – SPITALFIELDS & WHITECHAPEL

Rockstars, Models & Hugh Grant – KENSINGTON & NOTTING HILL

Shakespeare, Schenken & Londons Speisekammer – SOUTHWARK & BANKSIDE

Prediger, Poesie & Pudel-Reiki – HYDE PARK & KNIGHTSBRIDGE

Der aufblühende Süden – SOUTH BANK & LAMBETH

Eine Stadt im stetigen Wandel – GOODBYE LONDON

Langsam senkt sich die Lufthansamaschine, mit der ich soeben den Ärmelkanal überquert habe, durchbricht die dünne Wolkendecke, womit der Blick freigegeben wird auf die grüne, von zahllosen dünnen, blauen Streifen durchzogene Landschaft der Grafschaft Essex. Aus den vielen Wasserläufen und Seitenarmen bildet sich schließlich ein Fluss, dem der Pilot von nun an wie einem stummen Wegweiser zu folgen scheint: die Themse. Mein Blick heftet sich an den altehrwürdigen Fluss, der sich Tausende Meter unter mir durch die englische Landschaft schlängelt. Vielleicht spaziere ich schon heute Abend am Flussufer entlang, überlege ich und stellte mir vor, wie ich einen Fuß oder meine Hand in das Wasser tauche, diese ein wenig sanft durch das kühle Nass bewege, dabei die sanften Wellenbewegungen erspüre, während das Wasser durch meine weit gespreizten Finger strömt, als mein Handrücken unvermittelt an einen weichen Widerstand stößt und ich mit weit aufgerissenen Augen eine nackte, aufgedunsene Frauenleiche, unmittelbar unterhalb der Wasseroberfläche, entdecke.

Eine makabere Fantasie, die von Szenen aus Alfred Hitchcock- und Edgar Wallace-Filmen genährt wird. Ich denke an Nebel, flackernde Gaslaternen, Schritte auf regennassem Kopfsteinpflaster, einen Schatten an der Wand, Jack the Ripper und das Geräusch einer sich rasch entfernenden Pferdekutsche. Verbrechen und Krimis verbinde ich mit der Stadt, der ich mich unaufhaltsam nähere.

An einer markanten Biegung des Flusslaufs erkenne ich das von zwölf gelblichen Stahlpfeilern, die an das Ziffernblatt einer Uhr sowie an die zwölf Monate des Jahres erinnern sollen, durchbohrte weiße Kunststoffdach der O2-Arena. Schade - ein Konzertbesuch in diesem größten Kuppelbau der Welt ist bei diesem Aufenthalt nicht geplant. Wen würde ich hier gerne live erleben? Britisch sollte es auf jeden Fall sein.

Für The Who, Led Zeppelin oder Pink Floyd bin ich zu spät ... und irgendwie auch für die Rolling Stones. Selbst Britpopper wie Oasis, Blur oder The Verve haben sich aus dem Rampenlicht verabschiedet und Amy Winehouse gleich endgültig aus dem Leben. Blieben mir noch Robbie Williams, Coldplay, Arctic Monkeys oder am liebsten Radiohead. Rockmusik – ebenfalls ein Thema, das ich mit London assoziiere.

Der Flieger setzt zu einer weiten Kehre an, schwenkt nach rechts und überfliegt den Norden der britischen Hauptstadt, wo mir sogleich der charakteristische Bogen des Wembley-Stadions ins Auge fällt. Fußball, das Wembley-Tor, das bis heute den Puls meines Vaters spürbar in die Höhe treibt, Chelsea und Arsenal, Bobby Charlton und Wayne Rooney, Bierhoffs Golden Goal, „You never walk alone“ und „Football´s coming home“, die typischen Gesänge englischer Fans, kommen mir in den Sinn. Ich werde abrupt aus meinen Gedanken gerissen, als unverkennbar ein gesummtes „Rule Britannia!“ an mein rechtes Ohr dringt. Ich wende mich um und blicke in das grinsende Gesicht meines Reisebegleiters, der sich von nun an für die Hintergrundmusik zum Landeanflug verantwortlich zu fühlen scheint, wobei er zwischen „God Save the Queen“, „Land of Hope and Glory“ und dem patriotischen „Rule Britannia!”, das zum festen Repertoire der jährlichen „Last Night of the Proms“ zählt, wechselt, was mich gedanklich sogleich zum nächsten Themenkomplex führt: Politik, Geschichte, Patriotismus – Lord Nelson, die Schlacht von Trafalgar, Queen Victoria, die Luftschlacht über London, Churchill, Margret Thatcher, die Queen und ihre Klatschblätter füllende Familie. Die gütig lächelnde Queen Mum, mit ihrem breiten blauen Hut, die 2002 im stolzen Alter von 101 Jahren verstarb, erscheint vor meinem inneren Auge und winkt mir zu. Das hohe Alter sowie die heitere Gelassenheit, die sie Zeit ihres Lebens ausstrahlte, hatte sie womöglich ihrem täglichen Konsum von Gin Tonic zu verdanken. Ich nehme mir sogleich vor noch heute Abend in einem Pub ein Gläschen ihres Lieblingsdrinks zu bestellen und auf ihr Wohl zu trinken.

Vergeblich halte ich nach der Tower Bridge und dem berühmten Glockenturm, den viele fälschlicherweise „Big Ben“ nennen, obwohl dieses lediglich der Name einer der Glocken innerhalb des Turmes ist, Ausschau - zwei Wahrzeichen, die jeder unwillkürlich mit London in Verbindung bringt. Welche Bauten werden mich dort unter noch erwarten? Natürlich der Buckingham Palace und Westminster Abbey, St.

Paul´s Cathedral, der mittelalterliche Tower of London, aber auch hypermoderne Glasbauten im Bankenviertel der Finanzmetropole.

Und dann geht alles ganz schnell. Die Dächer scheinen schlagartig zum Greifen nahe, der Flugzeugmotor dröhnt laut auf, dann ein kurzes, sanftes Rumpeln und ich befinde mich auf englischem Boden – London Heathrow.

Etwa zwei Stunden später spaziere ich, aufgeregt und gespannt auf das, was mich erwartet, meinen grauen Koffer rumpelnd hinter mir herziehend, durch die Straßen Londons, der mit Abstand teuersten Stadt in Großbritannien. Besonders eklatant ist die Preissituation auf dem Wohnungsmarkt, denn von den Immobilienpreisen, die ohnehin in England in den vergangenen Jahren drastisch nach oben geschossen sind, hat sich London völlig abgekoppelt. In begehrten Wohngegenden wie Kensington oder Chelsea liegt der Durchschnittspreis für eine Immobilie bei etwa 6 Millionen Euro. Es existieren ernst zu nehmende Berechnungen die besagen, dass es für einen Londoner unter dem Strich billiger sei, zum Shoppen nach Italien zu fliegen, als in der eigenen Innenstadt seiner Konsumlust nachzugehen. Aus all dem ergibt sich die paradoxe Situation, dass die Gehälter in London zwar stolze 30 % über dem britischen Durchschnitt liegen, die Londoner aber dennoch über einen niedrigeren Lebensstandard verfügen, als die Bürger im restlichen Land.

Aber selbst in einer derart teuren Stadt wie London gibt es tatsächlich kostenlose Vergnügungen und das sind Museumsbesuche. Nicht ein einziges staatliches Museum verlangt auch nur einen Penny Eintrittsgeld. Egal ob Sie die Tate Modern, die National Gallery, das Museum of London oder das altehrwürdige British Museum besichtigen möchten - es wird ihre Reisekasse nicht belasten.

Restaurantbesuche, insbesondere wenn Sie hochwertigen, gehobenen Standard beim Essen gewohnt sind und auf ein gutes Glas korrespondierenden Wein bestehen, können in London für verheerende Folgen im Portemonnaie sorgen. Doch mittlerweile bieten auch manche Pubs und Cafés ordentliches Essen zu annehmbaren Preisen an.

Generell ist das kulinarische Angebot im multikulturellen London nahezu grenzenlos.

Sie können während ihres Aufenthaltes, beginnend mit einem portugiesischen Törtchen in Notting Hill, gefolgt von einem afrikanischen Schmorgericht in einem der Restaurants an der Harrow Road, arabischen Köstlichkeiten in „Little Beirut“ an der Edgware Road, der obligatorischen Pekingente in Chinatown oder einem köstlichen Currygericht in der Brick Lane, jederzeit zu einer kulinarischen Weltreise aufbrechen.

Beißen Sie auf einer Bank im Hydepark, herzhaft in ein Sandwich, schlürfen Sie Austern im Savoy, bestellen Sie traditionelle Fish & Chips und ein Bier im Pub an der Ecke oder schauen Sie bei Englands bekanntestem Koch Jamie Oliver im „Fifteen“ vorbei.

Ein roter Doppeldeckerbus schnauft an mir vorbei und an der nächsten Straßenecke entdecke ich eine Telefonzelle gleicher Farbe. Jetzt fehlt noch ein Polizist mit lustiger Kopfbedeckung und ich habe die gängigen Postkartenmotive beisammen. Doch in den nächsten Tagen bin ich vor allem daran interessiert die Vielschichtigkeit Londons zu entdecken, die überraschenden Kontraste, wenn Tradition auf Moderne trifft, denn auch wenn Bräuche wie die Schlüsselzeremonie im Tower, die Wachablösung am Buckingham Palace oder die jährliche Geburtstagsparade der Queen überdauert haben, ist London eine junge und quirlige Stadt, deren knapp acht Millionen Bewohner mehrheitlich jünger als 35 Jahre alt sind.

Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts staunte Theodor Fontane über die „summende, rastlose Geschäftigkeit“ der damals fortschrittlichsten Metropole der Welt, die der internationalen Moderne den Takt vorgab. Anders als in weiten Teilen Kontinentaleuropas herrschte hier Meinungsfreiheit, der König hatte den Großteil seiner Macht an das Parlament abtreten müssen und Erfindungen wie die Dampfmaschine hatten die industrielle Revolution ermöglicht. London war das Zentrum eines differenzierten Schienennetzes und die Trassen für die erste U-Bahn der Welt, die mich vom Flughafen hierher gebracht hat, wurden in den Boden der Themsestadt gegraben. Beim Hinaustreten aus der unterirdischen Station, trafen mich, statt des zu erwartenden Regens, warme Sonnenstrahlen. Aber der Londoner Regen ist ein Klischee, das keiner Statistik standhält, denn man mag es kaum glauben – in London fällt weniger Regen als in Rom, Sydney oder New York.

Londinium hieß die Stadt nicht nur in „Asterix bei den Britten“, sondern so lautete der Name der Siedlung, die von den Römern 43 n. Chr. an diesem Ort gegründet wurde.

Die Bezeichnung „Londinium“ geht möglicherweise auf den keltischen Ausdruck „Llyn-don“ zurück, was „Stadt beim Fluss“ bedeutet. Er könnte sich aber auch von „Laindon“ ableiten, was übersetzt „langer Hügel“ heißt. Daneben existieren noch weitere Theorien bezüglich der Herkunft des Namens, die zu untermauern scheinen, dass bereits vor dem Auftauchen der Römer, hier eine keltische Siedlung existiert hat und die Geschichte Londons nicht mit den Römern beginnt, sondern mit deren Ankunft im Jahre 43 lediglich ein neues Kapitel in der langen Stadtgeschichte geschrieben wurde. Hierbei handelt es sich zweifellos um ein entscheidendes Kapitel, denn mit den Römern begann die moderne Besiedlung, deren vereinzelte Überreste noch heute in den Straßen von London zu finden sind.

Londinium entwickelte sich bald zu einer blühenden Hafenstadt und Handelsmetropole mit etwa 50.000 Einwohnern. Ein Aufschwung der nach dem Verschwinden der Römer und mit dem Auftauchen der Angeln und Sachsen sowie später der Normannen, nicht abriss. Themsebrücken wurden errichtet, das englische Theater, der vielleicht bedeutendste kulturelle Beitrag Englands, wurde geboren, eine Tradition, die sich bis heute in den West End-Theatern, dem National Theatre oder den vielen Freiluftvorstellungen in den Sommermonaten fortsetzt.

Abenteuerlustige Forscher brachen von hier aus auf, um die Welt zu erkunden.

Seuchen, Pest und verheerende Brände vermochten die Entwicklung Londons zwar zu bremsen, aber nicht aufzuhalten. Mit dem Aufstieg Englands zur beherrschenden Seemacht im 18. und 19. Jahrhundert, wurde die sich enorm ausdehnende Metropole, deren Einwohnerzahl mittlerweile die Millionengrenze überschritten hatte, zum Zentrum eines Weltreiches und für lange Zeit zur größten Stadt der Welt. Nach den Zerstörungen, die deutsche Bomber im Zweiten Weltkrieg angerichtet und damit große Teile der Stadt in Schutt und Asche gelegt hatten, erholte sich London nach und nach, bis es in den 1960er Jahren unter dem Schlagwort „Swinging London“ in puncto Mode und Musik erneut den Ton angab. Zum Shoppen von bunter, extravaganter Kleidung ging man in die Carnaby Street, Frauen trugen den neu kreierten Minirock und lösten damit einen Skandal aus und die Beatles lieferten dazu den Soundtrack: „All you need is Love“.

Eine bis heute bewegte Geschichte, die im empfehlenswerten Museum of London nachempfunden werden kann.

Auf dem Weg zu meinem Hotel fallen mir die zahlreichen Schornsteine auf den Dächern auf. Diese erinnern an eine Bestimmung, in der festgelegt wurde, dass für jede Feuerstelle im Haus ein gesonderter Rauchabzug nötig sei und da es vor dem Aufkommen der Zentralheizung nötig war, in nahezu jedem Zimmer zumindest ein kleines offenes Feuer entfachen zu können, erklärt sich die ungewöhnliche Schornsteinansammlung auf den Dächern Londons.

Auffallend sind auch die Stromkabel, die gewagt an den Außenwänden entlang verlaufen und damit deutschen Hausbesitzern aus ästhetischen Gründen sowie den allermeisten deutschen Handwerkern aus Sicherheitsgründen die Schweißperlen auf die Stirn treiben würden. Solchen Angelegenheiten scheint der Londoner entspannter zu begegnen. Apropos Entspannung – die Dichte an Pubs, die englische Variante der deutschen Eckkneipe, beeindruckt mich bereits jetzt. An nahezu jeder Straßenecke lädt eines dieser oftmals sehr schmucken, mit schmiedeeisernen Schildern und bunten Blumendekorationen versehenen, Wirtshäuser zu einer Pause ein. Doch ich ziehe es vor, zunächst mein Gepäck unterzubringen, bevor ich mich dem Stadtleben zuwenden werde.

Doch wo beginnt die Stadt und vor allem, wo endet sie? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn eine klare Grenze, eine Linie an der London, das seit zweitausend Jahren ständig wächst wie ein lebender Organismus und manchen Nachbarort gierig verschlungen hat, aufhört, existiert nicht.

Juristisch gesehen ist London der Verwaltungsbezirk „Greater London“, ein Gebiet, das heute mit ungefähr 1600 km2etwa doppelt so groß wie Berlin ist.

In diesem großen Gebiet würden Sie sich auf der Suche nach den erhofften Sehenswürdigkeiten schwertun und folgen Sie der Beschilderung „The City“, in der Erwartung auf die Innenstadt zu treffen, werden Sie enttäuscht werden. Sie werden kaum Fußgängerzonen, Einkaufszentren, Theater und Cafés vorfinden, sondern auf eine ungeheure Dichte von dunklen Anzügen treffen, denn die „City“ beherbergt in erster Linie den Finanzdistrikt der Stadt.

Vielleicht sollte man die Sache ähnlich pragmatisch angehen, wie die Londoner das Leben generell, denn für die allermeisten Touristen ist London das Gebiet, das die U-Bahn innerhalb der Tarifzonen eins und zwei erreicht. Hier sind nahezu alle gefragten Sehenswürdigkeiten, Parks, Einkaufs- und Unterhaltungsmöglichkeiten, für die Englands Hauptstadt weltweit berühmt ist, zu finden.

Wie erkundet man eine solch große, unübersichtliche Metropole am besten? Die berühmten roten Busse, die das Straßenbild Londons prägen, kommen einem womöglich als Erstes in den Sinn und in der Tat ist das Busnetz, mit mehr als 8000 Bussen, die sich auf über 700 Linien, durch den Hauptstadtverkehr quälen, ungeheuer dicht. Hierin besteht zugleich eine Schwierigkeit, denn für den ungeübten Touristen ist der Busfahrplan schwer zu überblicken. Für die schnelle Überbrückung von kurzen Entfernungen ist der Bus aber durchaus empfehlenswert.

Eine Alternative bieten Taxis, die man durch einfaches Winken am Straßenrand herbeiruft. Auf ein Taxi muss man in der Regel nicht lange warten. Zu bedenken ist jedoch, dass eine Fahrt in einem der berühmten Cabs, die heutzutage nicht mehr zwingend schwarz sind, alles andere als kostengünstig ist.

Zur Überwindung längerer Strecken gibt es kein zweckmäßigeres Verkehrsmittel als die U-Bahn. Über hundert Bahnhöfen erstrecken sich über das Stadtgebiet, womit die Londoner U-Bahn, die von den Einheimischen „tube“ genannt wird, das zweitgrößte Netz weltweit aufweist.

Da Sie bei einem Londonbesuch die U-Bahn gewiss mehrfach benutzen werden, ist der Kauf von Einzelkarten wenig zweckmäßig. Zwei Alternativen stehen ihnen hier zur Verfügung. Zum einen die Travelcard, die Sie zur Nutzung von U-Bahn, Bus und Vorortzügen innerhalb der von ihnen gewählten Zonen berechtigt und die in den Varianten Tages-, Dreitages- oder Wochenkarten angeboten werden. Ein paar Pfund können Sie noch sparen, wenn Sie sich für eine „Off-Peak-Card“ entscheiden, mit der Sie an Wochentagen erst ab 9:30 Uhr fahren dürfen, somit den morgendlichen Berufsverkehr entlasten und sich stattdessen noch in Ruhe einen zweiten Toast zum Frühstück gönnen können, bevor Sie mit ihrer Sightseeingtour beginnen.

Eine zweite Alternative zur Einzelfahrkarte stellt die Oystercard, eine Plastikchipkarte, mit der Sie beim Betreten und Verlassen der U-Bahn-Station, durch Auflegen der Karte an ein Lesegerät ihre Fahrt bezahlen, dar. Die Karte ist kostenfrei an den Schaltern erhältlich, wo Sie sogleich mit einem Guthaben aufgeladen werden kann und besitzt einige Vorteile. Eine einfache Fahrt kostet nur etwa die Hälfte im Vergleich zu einer Einzelkarte, wobei eine Tagesobergrenze sicherstellt, dass Sie niemals mehr bezahlen müssen, als bei der Verwendung einer Travelcard.

Ein weiteres Fortbewegungsmittel bleibt unerlässlich, will man eine Stadt wirklich erkunden und das sind die eigenen Füße. Davon abgesehen, dass Gehen manchmal der schnellste Weg sein kann, um nicht weit auseinanderliegende Orte zu besuchen, eröffnet es die Chance unterwegs auf interessante Dinge zu stoßen, die der Reiseführer nicht erwähnt hat. Sie haben die Möglichkeit die Stadt in ihrer Ganzheit, mit ihren Geräuschen, Gerüchen, Menschen und deren Stimmengewirr wahrzunehmen, idyllische Seitengassen oder verwunschene Plätze zu entdecken, statt nur schnell ein paar Sehenswürdigkeiten abzuarbeiten.

Die Straßen Londons, die uns auf unserer Entdeckungsreise leiten werden, weisen eine Besonderheit auf. Wiederholt wurde London durch Brände und Kriege zerstört, anschließend erneut aufgebaut, verändert und weiterentwickelt. Die Straßen hatten und haben Bestand. Manche von ihnen verlaufen unverändert, wie noch zu Zeiten des römischen Reiches. Auf ihnen lässt sich die Seele der Stadt erspüren. Ihre Namen sind Blicke in die Vergangenheit und erzählen Geschichten von Verschwundenem, von einstigen Bewohnern, ihren Neigungen, ihren Berufen und ihren Versammlungsorten.

Begleiten Sie mich zu einer Reihe von Spaziergängen durch die oftmals laute, gelegentlich skurrile, bisweilen hektische, unvergleichliche, multikulturelle und einmalige englische Hauptstadt.

„Let me take you by the hand and lead you through the streets of London.

I´ll show you something to make you change your mind.”

(Ralph McTell)

London - Überblick

1 – Themse

2 – Whitehall& Westminster

3 – Bloomsbury & St. Pancras

4 – St James`s & Trafalgar

5 – Holborn & Inns of Court

6 – South Kensington & Kensington Gardens

7 – The City

8 – Regent`s Park & Marylebone

9 – Smithfield & Shoreditch

10 – Soho & Mayfair

11 – Covent Garden

12 – Spitalfields & Whitechapel

13 – Kensington & Notting Hill

14 – Southwark & Bankside

15 – Hyde Park & Knightsbridge

16 – South Bank& Lambeth

In seinem Lobgedicht auf die Stadt London aus dem Jahre 1501 (s. Eingangszitat) vergegenwärtigt der schottische Hofdichter William Dunbar den Londonern das außergewöhnliche Ansehen, das „ihr“ Fluss auf der ganzen Welt geniest. Bis zum heutigen Tage kommt auf nahezu jeder Darstellung und Ansicht Londons, sei es auf Postkarten, Gemälden, Filmplakaten, Touristikkatalogen oder TV-Spots, der Themse eine zentrale Bedeutung zu. Stets fließt sie, oftmals den Raum im Vordergrund einnehmend, vorbei an den charakteristischen Gebäuden der Stadt, wie dem Palace of Westminster mit dem berühmten, Big Ben genannten, Glockenturm, der majestätischen St Paul`s Cathedral, dem mittelalterlichen Tower of London oder dem derzeit höchsten Riesenrad Europas, dem „London Eye“.

Es ist kein Zufall, dass nahezu sämtliche Städte auf der Welt, die auf eine ähnlich lange Geschichte zurückblicken können wie London, an einem Fluss gegründet wurden. Im Falle der Themse wird vermutet, dass sich bereits lange vor der Ankunft der Römer, die das Gewässer als Handelsweg zu nutzen wussten, eine Siedlung am Ufer des Flusses befunden hat.

Die Themse ist älter als alles andere, was ich in den nächsten Tagen in dieser Stadt zu sehen bekommen werde. Sie war zuerst hier und ohne sie gäbe es die Stadt London nicht, weshalb es mir angemessen erscheint, meine Erkundungen mit einer Bootsfahrt auf der Themse zu beginnen.

An einer Schiffsanlegestelle, in unmittelbarer Nähe des Towers of London, gehe ich an Bord eines Schiffes der Reederei „City Cruises“ (www.citycruises.com), deren Boote in den Sommermonaten halbstündig zwischen Westminster und Greenwich pendeln.

Kaum an Bord, wende ich meinen Kopf unweigerlich in Richtung der nahe gelegenen Tower Bridge, einem der einprägsamsten Wahrzeichen der Stadt. Da dem Kapitän der besondere Reiz, den diese Brücke auf Londonbesucher ausübt, offenkundig bekannt ist, positioniert er freundlicherweise das Schiff für einige Minuten längs vor der Brücke, um den Touristen an Bord gleich zu Beginn der Fahrt ein perfektes Fotomotiv zu bieten. Auch wenn ich die Tower Bridge unzählige Male auf Fotos oder in Filmen gesehen habe, wird mir erst jetzt, bei der unmittelbaren Begegnung, ihre Schönheit, mit ihren gotischen Brückentürmen und den strahlend blauen Verstrebungen, bewusst.

Nur einige Jahre vor Errichtung der Tower Bridge im Jahre 1894 wurde an fast gleicher Stelle eine Flussunterführung geschaffen, die den Tower Hill auf der Nordseite der Themse mit der südlichen Flussseite verbindet. Der Tunnel sollte vorrangig von Pferdeomnibussen genutzt werden, doch da den meisten Passagieren das Dröhnen der Raddampfer über ihren Köpfen suspekt war, konnte sich diese Verbindung nicht durchsetzen und erwies sich spätestens mit der Eröffnung der Tower Bridge ohnehin als überflüssig. Der Tunnel existiert bis heute, wird für verschiedene Leitungen genutzt und ist einer der einsamsten Orte Londons. Die einst gescheiterte Idee wurde viele Jahrzehnte später erneut aufgegriffen, denn mittlerweile existieren mehrerer solcher Tunnel, durch die minütlich die Züge der Londoner U-Bahn sausen, ohne dass deren Passagiere nennenswerte Gedanken daran zu verlieren scheinen, was sich einige Meter über ihren Köpfen abspielt.

Auf der südlichen Flussseite fällt vor dem Hintergrund von dutzenden Baukränen, die darauf hindeuten, dass in der Region derzeit eine rege Entwicklung herrscht, die ungewöhnliche, ovale Form der City Hall, in der seit einigen Jahren der jeweilige Londoner Bürgermeister sein Büro bezieht, ins Auge. Bei diesem 2002 eröffneten Gebäude wurde die Tradition fortgeführt, repräsentative Bauten und Machtzentren unmittelbar am Ufer der Themse zu errichten. Gleiches galt für den vorherigen Sitz der Stadtverwaltung, die County Hall, den Bischofssitz in Lambeth oder den Sitz des Parlamentes, die Houses of Parliament. Diese Praxis verdeutlicht, dass die Themse als Symbol der Machtuntermauerung genutzt wurde und wird, denn strategisch ist eine derartige Lage ausgesprochen ungünstig, da die Gebäude Angriffen sowie Hochwasser schutzlos ausgeliefert sind. Dennoch liegen zahlreiche wichtige öffentliche Bauwerke in unmittelbarer Flussnähe – ein weiterer Grund sich bei einer gemütlichen Schiffstour einen ersten Eindruck von der Stadt zu verschaffen. Der Kapitän hat das Schiff mittlerweile gewendet und es geht los - flussaufwärts Richtung Westminster.

Mit knapp 350 km ist die Themse nach dem Severn zwar der zweitlängste Fluss Großbritanniens, kann aber in dieser Hinsicht mit ähnlich namhaften Gewässern, wie dem Mississippi, dem Colorado, dem Nil, dem Rhein, dem Ganges oder der Loire, nicht ernsthaft konkurrieren. Die Themse entspringt in der Nähe des kleinen Ortes Kemble, von wo aus der Fluss durch Oxford, Eton und Windsor plätschert, sich über Richmond und Kew langsam London nährt, hier mitten durch die Stadt fließt, anschließend Greenwich und Dratford passiert, bevor er in die Nordsee mündet.

Diese Strecke legt das Wasser der Themse ausgesprochen gemächlich zurück. Die Strömung ist derart gering, dass der Fluss bis vor 200 Jahren in den Wintermonaten regelmäßig zufror. Im 17. Jahrhundert wurde wiederholt eine Zeltstadt auf der Themse errichtet und ein „Frostjahrmarkt“ abgehalten. Seit dem Ansteigen der Temperaturen im frühen 19. Jahrhundert kommt ein Zufrieren über einen erwähnenswerten Abschnitt nicht mehr vor.

Seit jeher und bis zum heutigen Tage nutzt das jeweils herrschende Königshaus die Themse als Ort für prunkvolle königliche Zeremonien. Zahlreiche englische Monarchen befuhren mit goldverzierten und mit Bannern, Baldachinen und Standarten geschmückten Barken, den Fluss. Stets handelte es sich dabei um eine Inszenierung der Macht, bei der die Themse als Bühne diente. Anne Boleyn soll 1533 in goldene Gewänder gehüllt zu ihrer Krönung die Themse hinabgefahren sein. Über eine Länge von vier Meilen folgten ihr Begleitboote, von denen „Trompeten, Schalmeien und vielerlei anderer Instrumente“ ertönten. Nur drei Jahre später führte der Fluss Anne Boleyn auf ihrer letzten Reise geradewegs in den Tower of London, wo sie, auf Betreiben ihres Ehemannes Heinrich des VIII., geköpft wurde.

Auch die amtierende Königin Elisabeth II. wusste die Themse als Ort der Machtdemonstration zu nutzen, als sie 2012 anlässlich ihres 60. Thronjubiläums, an der Seite ihres Ehemannes Prinz Philip, das prächtig geschmückte Schiff "Spirit of Chartwell" betrat.

Die Punkband „The Sex Pistols“ nutzte Ende der 1970er Jahre diese Tradition für eine umstrittene, aber gelungene Werbeaktion. Anlässlich des silbernen Thronjubiläums von Elisabeth II. veröffentlichten sie den Song „God save the Queen“ und besangen darin das ihrer Ansicht nach „faschistische Regime“ ihres Heimatlandes. Angeblich erreichte die Single Platz 1 der englischen Charts, soll jedoch aus Loyalität zur Königin von den Verantwortlichen nur auf Platz 2 gelistet worden sein. In der Woche der damaligen Jubiläumsfeierlichkeiten charterte die Band ein Boot, das den Namen „Queen Elisabeth“ trug und gab auf der Themse ein lautstarkes Konzert. Es kam wie es Malcolm McLaren, der findige Manager der Band, erhofft hatte. Die Wasserschutzpolizei rückte aus, unterbrach das Konzert und ließ mehrere Passagiere verhaften. Ein rundum gelungener PR-Gag.

Zu meiner Linken passieren wir die „HMS Belfast“ - die Abkürzung „HMS“ steht für „Her/His Majesty`s Ship“ -, ein ausgedientes Kriegsschiff, das 1971 in ein schwimmendes Museum umgewandelt wurde (Morgan´s Lane; www.iwm.org.uk; tägl. 10-17 Uhr).

Der Kreuzer ist während des Zweiten Weltkrieges vom Stapel gelaufen und hat eine entscheidende Rolle bei der Zerstörung des deutschen Schlachtschiffes „Scharnhorst“ sowie bei der Landung der Alliierten in der Normandie gespielt. Nach Ende des Krieges erfüllte das Schiff unter dem Kommando der Vereinten Nationen Aufgaben in Korea. Der Anblick des Kriegsschiffes, mit seinen 12 Kanonen, die mir entgegenragen, begeistern mich weniger als die meisten anderen Passagiere an Bord und auch den Hinweis des Schiffsbegleiters, dass die Besichtigung des Schiffes insbesondere mit Kindern großen Spaß mache, empfinde ich als eher befremdlich.

Auf der nördlichen Flussseite taucht hinter einer Reihe Laubbäume ein hübsches Bauwerk, das durch die auf dem Dach angebrachte, fischförmige Wetterfahne unzweifelhaft als „Old Billingsgate“, der einstige Londoner Fischmarkt, zu identifizieren ist, auf. Altertümliche Niederschriften belegen, dass an dieser Stelle bereits im Jahr 1016 Markt gehalten wurde. Da dessen Ursprünge womöglich bis in die vorchristliche Zeit zurückreichen, kann man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass an diesem Ort der älteste Markt von Londons beheimatet war, bis er 1982 auf die Isle of Dog verlegt wurde. An dieser erstaunlichen Tradition lässt sich erkennen, dass den Fischen der Themse einst eine wichtige Bedeutung bei der Ernährung der Londoner Bevölkerung zukam.

Viele Jahrhunderte lang wurde der florierende Markt unter freiem Himmel abgehalten, bevor Mitte des 19. Jahrhunderts eine Verkaufshalle errichtet wurde. Aus alten Niederschriften und Gemälden geht hervor, dass auf dem Markt ein ausgesprochen reges Treiben sowie ein überaus rauer Ton herrschten. Täglich wurden hier 400 Tonnen Fisch umgesetzt, die in großen Strohkörben auf den Köpfen von Lastenträgerinnen transportiert wurden. Insbesondere den „Weiber von Billingsgate“, wie sie in London genannt wurden, eilte ein zweifelhafter Ruf voraus. Sie rauchten Tabak, sprachen gerne und reichlich dem Gin zu und waren für ihre derbe Sprache bekannt. Ein Lexikon aus dem 18. Jahrhundert definiert das Wort „Billingsgate“ gar als „zeternde, unverschämte Schlampe“. Heute werden hier andere Umgangsformen erwartet, denn mittlerweile befinden sich Büros in dem alten Marktgebäude und nur noch der Fisch auf dem Dach erinnert an die vergangenen Jahrhunderte.

Das Schiff unterquert den mittleren der drei weiten Bögen der „London Bridge“, die bis 1750 die einzige Themsebrücke im Stadtgebiet war. Die Geschichte der, neben der Tower Bridge, berühmtesten aller Londoner Brücken, ist ähnlich turbulent und wechselhaft verlaufen, wie die der gesamten Stadt. Etwa 46 n. Chr. schufen die Römer, um Waren und Truppenkontingente schneller von einem Ufer an das andere zu befördern, an dieser Stelle eine Überführung.

Bei den ersten Konstruktionen handelte es sich noch um Holzbrücken, die mehrfach durch Feuer oder Hochwasser zerstört wurden, bis zu Beginn des 13. Jahrhunderts erstmals eine Steinbrücke, damals eine architektonische Sensation, realisiert werden konnte. Die Brücke bestand aus 19 kleinen Bögen sowie einer größeren Durchfahrt für Schiffe. Der damalige König Johann hatte die geschäftstüchtige Idee, auf der etwa sechs Meter breiten Überführung Mietshäuser zu errichten. Somit entstanden auf der Brücke bald Geschäfte, Tavernen und bis zu sieben Stockwerke hohe Wohnbauten.

Das Wohnen auf der „London Bridge“ wurde in der Bevölkerung derart beliebt, dass die Brücke bis zum 18. Jahrhundert als eigener Stadtbezirk galt, in dem auch der deutsche Maler Hans Holbein, der von Heinrich VIII. hochgeschätzte Hofmaler, lebte.

Ab dem frühen 14. Jahrhundert wurde die Brücke für eine makabere, schaurige Praxis genutzt, als die Köpfe von zuvor hingerichteten Verrätern auf Holzstangen gespießt und diese am südlichen Ende der Brücke, damit jeder Londoner sie als warnendes Beispiel vor Augen hatte, in den Boden gerammt wurden - eine grausame, 350 Jahre währende Tradition.

Mit dem Anwachsen der Bevölkerung sowie der stetigen Zunahme von Handel und Verkehr wurden die Zustände auf der Brücke derart chaotisch, dass sich die Verantwortlichen gezwungen sahen, für mehr Ordnung zu sorgen. Eine Anordnung wurde erlassen, die besagte, dass sämtliche Kutschen und Karren, die aus Southwark in Richtung City unterwegs waren, auf der Westseite der Brücke fahren mussten, während alle Gefährte, die die Stadt verließen, sich auf der Ostseite zu bewegen hatten - eine Maßnahme, die den Ursprung des bis heute geltenden Linksverkehrs in England darstellen könnte. Da diese Direktive nicht für eine ausreichende Beruhigung des Verkehrs sorgte, entschloss man sich 1760 sämtliche Gebäude abzureißen und die Brücke fortan ausschließlich als Verkehrsader zu nutzen. Erhaltene Aufzeichnungen einer Verkehrszählung belegen, dass im Jahr 1811 täglich etwa 90.000 Fußgänger die Brücke überquert haben. Hinzu kamen noch tausende Kutschen. Der zunehmende Verkehr machte den Bau einer neuen Brücke unumgänglich, weshalb 1830 eine aus fünf Rundbögen bestehende „London Bridge“ errichtet wurde, die gut hundert Jahre später, da sie langsam aber stetig in das Flussbett einsank, als nicht mehr sicher angesehen wurde. Der US-amerikanische Unternehmer Robert McCullock ersteigerte die Brücke für 2,5 Millionen Dollar, ließ sie Stein für Stein abtragen, in sorgfältig nummerierten Einzelteilen in die USA transportieren und im Lake Havasu im Bundesstaat Arizona wieder aufbauen, wo sie seitdem einen künstlichen Flussarm überspannt. Ein hartnäckiges Gerücht besagt, dass McCullock, als er sein Gebot für die Brücke abgab, fälschlicherweise angenommen hatte, es handele sich bei dem fraglichen Objekt um die Tower Bridge. In jedem Fall konnte die Stadt London mit der Einnahme eine erste Anzahlung auf die neue und bislang letzte „London Bridge“ leisten, die 1973 eingeweiht wurde.

Nachdem wir diese hinter uns gelassen haben, macht der Kapitän uns auf einen charakteristischen runden Fachwerkbau aufmerksam, bei dem es sich um das legendäre Globe-Theatre handelt, in dem zahlreiche Stücke von William Shakespeare uraufgeführt wurden. Wobei wir zu unserer Linken nicht den ursprünglichen Bau, sondern eine Rekonstruktion des elisabethanischen Theaters sehen, in dem Jahr für Jahr, während der Sommermonate, mit großem Erfolg angestrebt wird, die ursprüngliche Atmosphäre von Shakespeareaufführungen am Leben zu erhalten.

Das Theatergebäude wirkt geradezu zerbrechlich im Vergleich zu dem gewaltigen Bau in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, in dem das Tate Modern, eines der weltweit bedeutendsten Museen für moderne Kunst, untergebracht ist und das seit einigen Jahren durch eine Fußgängerbrücke mit der City of London, auf der gegenüberliegenden Themseseite, verbunden ist. Am nördlichen Ende dieser derzeit neuesten Themsebrücke befindet sich die St Paul´s Cathedral, deren majestätische, weiße Kuppel hinter dem Gebäude der City of London School, die Harry Potter-Darsteller Daniel Redcliffe einst besucht hat, auftaucht. Die elegante, von Sir Norman Foster entworfene, erdverankerte und futuristisch wirkende Hängebrücke wurde 2000 eröffnet und trägt daher den klangvollen Namen „Millennium Bridge“. Sie ist bewusst niedrig konstruiert worden, sodass die Aussicht vom südlichen Themseufer auf die St Paul´s Cathedral durch den Bau nicht eingeschränkt wurde. Die Brücke steht auf insgesamt drei Säulen, weist eine Länge von insgesamt 325 Metern auf und kann das Gewicht von 5000 Personen, die sich gleichzeitig auf ihr aufhalten, tragen.

Millennium Bridge

Nach langer Ausschreibungs-, Planungs- und Bauphase wurde die Millennium Bridge am 10. Juni 2000 von Queen Elisabeth II. feierlich eröffnet und wenige Stunden später von der Londoner Polizei aus Sicherheitsgründen geschlossen. Nachdem einige hundert Menschen die Brücke betreten hatten, begann diese unerwartet heftig und scheinbar unkontrolliert zu schwanken. Aus dem Architekturbüro hieß es konsterniert: „Wir mussten mit ansehen, dass sich die Brücke ganz anders verhielt als geplant. Wir hatten viel Arbeit in die Konstruktion gesteckt und waren uns sicher, alles im Griff zu haben. Doch dann geschah etwas, mit dem wir nie und nimmer gerechnet hätten."

Während sich die vertikalen Schwankungen im vorausberechneten Rahmen bewegten, waren die horizontalen Bewegungen unerwartet stark ausgeprägt. Das Architektenteam um Norman Foster schien ratlos. Was hatte man übersehen? Nach vielen Untersuchungen und Überlegungen kam man zu der interessanten Erkenntnis, dass bei dem Entwurf derartiger Brücken nicht nur statische, sondern auch psychologische Aspekte berücksichtigen werden müssen. Sobald die Brücke, aus welchen Gründen auch immer, ein wenig in Schwingung gerät, neigen Menschen unbewusst dazu, diese Schwingung mit ihren Körperbewegungen auszugleichen. Ein Phänomen, das man deutlich bei Passagieren auf stark schwankenden Schiff beobachten kann. Dieses Verhalten hat zur Folge, dass sich die Bewegungen der Passanten auf der Brücke einander angleichen, was die bestehende Schwingung beständig verstärkt.

Nach kostspieligen, aber erfolgreichen Nachbesserungsarbeiten wurde die Millennium Bridge im Februar 2002 erneut eröffnet. Seitdem ist es zu keinem vergleichbaren Vorfall gekommen, sodass die Brücke erst 2008 erneut für zwei Tage geschlossen werden musste, um die Dreharbeiten für den Film „Harry Potter und der Halbblutprinz“, in dem die Brücke zerstört wird, nicht durch Passanten zu behindern.

Am südlichen Themseufer verläuft, etwa in Höhe der Millennium Bridge, ein 15 Meter breiter Strandstreifen, auf dem soeben eine Mutter, ihren kleinen Sohn an der Hand haltend, entlang spaziert und zu uns hinaufschaut. An manchen Sonntagen treffen sich hier Hobbyarchäologen und Amateurhistoriker, um im Themseschlamm nach Kuriositäten und Spuren der Vergangenheit zu suchen, denn sobald der gezeitenabhängige Fluss auf seinem Tiefststand ist, gibt er Geheimnisse wie Scherben von mittelalterlichen Krügen, Mundstücke von Tabakpfeifen, die einst in den Mundwinkeln von Seeleuten gedampft haben, Fragmente von Dachziegeln aus der Tudorzeit oder weitere interessante Exponate preis. Die Themse dient somit als Geschichtschronik Londons.

Wir nähern uns den mächtigen Pfeilern der Blackfriars-Eisenbahnbrücke, hinter der sogleich die dekorativen roten Stützen der ursprünglichen Brücke aus dem Wasser ragen. Diese wurde in den 1980er Jahren demontiert, da sie die Belastungen der modernen Züge, die täglich über sie hinwegrauschten, nicht mehr tragen konnte.

Als das Schiff die Brücke unterquert, fällt mein Blick auf die Stahlverstrebungen, an denen in den Morgenstunden des 18. Juni 1982 die Leiche des italienischen Bankiers Roberto Calvi baumelte. Calvi war in diverse dubiose Finanzgeschäfte im Zusammenhang mit Drogenhandel, der Vatikanbank, der Mafia sowie verschiedener politischer Gruppierungen involviert und hatte mehrfach vielsagend gegenüber Journalisten angedeutet, dass er über Wissen verfüge, das für großes Aufsehen sorgen würde, käme es an die Öffentlichkeit. Nach einem dramatischen Bankenzusammenbruch, an dem Calvi maßgeblich beteiligt war, verließ dieser am 10.

Juni 1982 fluchtartig seine italienische Heimat und tauchte drei Tage später in London, im Stadtteil Chelsea, auf. Weitere fünf Tage später wurde seine Leiche geborgen. Die Justiz ging jahrelang von Selbstmord aus, bis 1992 die Exhumierung der Leiche erfolgte und Untersuchungen der Todesursache deutliche Hinweise auf einen Mord lieferten. Es folgten weitere Ermittlungen, die zu einem Prozess im Jahr 2005 führten, bei dem Mitglieder der Mafia des Mordes an Calvi angeklagt wurden.

Diese wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen und somit bleibt der Tod von Roberto Calvi, dessen Ableben aufgrund der zahlreichen Verstrickungen des Bankiers noch immer Anlass für wilde Spekulationen und Verschwörungstheorien gibt, weiterhin ungeklärt.

Einige Meter unterhalb der Überführung ist ein weiteres Geheimnis verborgen. Aus einer kreisrunden Öffnung fließt beständig Wasser in die Themse. Was aussieht wie ein Abwasserkanal ist in Wirklichkeit ein echter Fluss.

London ist eine hügelige Stadt und es wäre verwunderlich, wenn zwischen diesen Erhebungen neben der Themse nicht weitere Flüsse entstanden wären und in der Tat hat es solche Wasserläufe einst gegeben. Sie haben sich vor Urzeiten gebildet, sind von Menschen im Laufe der Jahrhunderte überbaut worden und werden heute als „London´s lost rivers“ bezeichnet. Der Fluss, der hier unterhalb der Blackfriars Bridge in die Themse mündet, ist der Fleet, ein einstiger Nebenfluss der Themse.

Gewissermaßen ist er nach wie vor ein Nebenfluss, denn auch wenn er unsichtbar und weitestgehend vergessen ist, existiert er und fließt durch unterirdische Kanäle und Rohre. Die Quellen, aus denen sich das Gewässer speist, fließen bei Clerkenwell, wo man bis heute an einigen Abwassergittern das Rauschen des Flusses hören kann, zu einem Wasserlauf zusammen. Dieser floss in Nord-Süd-Richtung durch die Stadt, trieb Mühlräder an, wurde von Booten befahren und von Brücken überspannt.

Unglücklicherweise hatten sich die Londoner angewöhnt, ihren Abfall in dem Gewässer zu entsorgen, sodass dieses häufig aufwendig gesäubert werden musste. Ein offener Abwasserkanal, der mitten durch die Innenstadt fließt, war sowohl ekelerregend als auch gesundheitsgefährdend, weshalb man sich im 18. Jahrhundert dazu entschloss, den Fluss verschwinden zu lassen. Heute erinnert noch diese kleine Öffnung unterhalb der Blackfriars Bridge sowie die Fleet Street an den „lost River“.

Doch womöglich weisen noch weitere Indizien darauf hin, dass man die Vergangenheit nicht überbauen und damit verschwinden lassen kann. Eine Untersuchung von Patienten in Londoner Krankenhäusern hat ergeben, dass die überwiegende Zahl der dort behandelten Asthmatiker in der Nähe des einstigen Flusses leben. Die Ursache für diese Korrelation liegt noch im Dunklen, wie auch jene, die G.W. Lambert in einem Buch veröffentlicht hat, die besagt, dass 75 % aller Geistererscheinungen in London in unmittelbarer Nähe eines „lost rivers“ beobachtet wurden.

Das Thema Wasserverschmutzung beschränkte sich nicht auf einen Nebenfluss wie den Fleet, sondern stellt seit jeher auch im Zusammenhang mit der Themse ein Problem dar. Aus einem Bericht aus dem 17. Jahrhundert geht hervor, dass tote Schweine und Hunde sowie Stallmist in dem Fluss entsorgt wurden und ein Zeitzeuge aus dem 18. Jahrhundert beschreibt das Themsewasser als „gesättigt mit dem ganzen Schmutz von London.“ Mit dem enormen Anwachsen der Bevölkerung im 19.

Jahrhundert stieg der Wasserbedarf, bei zeitgleicher Verschlechterung der Wasserqualität, denn sämtliche Abwasserkanäle der entstehenden Industrieanlagen mündeten in die Themse, die sich mit dem Aufstieg Londons zur Welthandelsmetropole zu einem der meistbefahrenen Flüsse weltweit entwickelt hatte, wodurch sich das Problem der Wasserverschmutzung zusätzlich verschärfte. 1858 wurde der Gestank, den der Fluss verströmte, derart unerträglich, dass Sitzungen des Unterhauses in Westminster eingestellt werden mussten und als Queen Victoria eine Vergnügungsfahrt auf dem Fluss unternehmen wollte, brach sie den Ausflug nach wenigen Minuten ab und flüchtete an Land, um der königlichen Nase die Ausdünstungen nicht weiterhin zumuten zu müssen. Die Farbe des Themsewassers wird in Überlieferungen als „bräunlich“ beschrieben und es ist unzweifelhaft, dass der Fluss, genauer gesagt der Umgang der Menschen mit dem Fluss, für den Ausbruch mancher Krankheit in der Metropole verantwortlich war. Zum Beginn des 20.

Jahrhunderts gelang es den Behörden endlich, die Wasserqualität allmählich zu verbessern, wobei noch Mitte des vergangenen Jahrhunderts weder Fische im Fluss schwammen noch Vögel an dessen Ufer heimisch waren. Doch mit dem Fortschritt der technischen Möglichkeiten und dem Entstehen eines ökologischen Bewusstseins gelang es, die Wasserqualität zu heben und 1976 wurde seit 140 Jahren der erste Lachs in der Themse gesichtet. Das Leben kehrte, beispielsweise in Form der Flunder oder der Seezunge, die heutzutage im Mündungsgebiet laicht, zurück. Eines Tages tauchte sogar, viele Meilen von seiner natürlichen Umgebung entfernt, ein Piranha auf, doch auch wenn sich vielerorts gefragt wurde, wie es gelingen konnte, diesen exotischen Fisch nach England zu locken, erscheint die naheliegende Erklärung zu sein, dass ein verängstigter Aquarianer, der womöglich um seine Fingerkuppen besorgt war, das Tier schlicht ausgesetzt hatte.

Gegenwärtig sind weit über hundert Fischarten in der Themse heimisch und vermutlich war der Fluss, seitdem sich Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung ansiedelten, selten so sauber wie heute.

Zu meiner Linken taucht der sogenannte „OXO-Tower“ auf. Das Gebäude wurde 1800 erbaut, beherbergte zunächst ein Kraftwerk, bis es 1928 von der Firma OXO erworben wurde. Diese erweiterte den Bau um einen Turm, der die Besonderheit aufweist, dass die Fenster auf allen vier Seiten mit großen Buchstaben verziert wurden, die senkrecht gelesen das Wort „OXO“ ergeben. Hinter der Idee steckt eine Anordnung, die es verbietet, am Flussufer der Themse Werbung anzubringen. Die Firma OXO umging dieses Verbot mit der findigen Erklärung, bei den Buchstaben handele es sich um Design und keineswegs um Werbung.

Im Zusammenhang mit dem besagten Werbeverbot stellt sich die Frage, wer für die Rechtsprechung über die Themse zuständig ist. Dies ist keineswegs eindeutig und hat im Verlaufe der Stadtgeschichte wiederholt zu Kontroversen zwischen der Stadt London und der Krone geführt. In der Magna Carta, der im 13. Jahrhundert unterzeichneten Vereinbarung zwischen dem damaligen König und dem englischen Adel, die bis heute das Fundament des englischen Rechtssystems darstellt und auf einer Themseinsel aufgesetzt wurde, legten die Vertragsparteien fest, dass die großen Flüsse in England dem Volk gehören. „Das Wasser der Themse gehört den Bürgern von London“, bekräftigte König Edward II. im 14. Jahrhundert, doch zahlreiche seiner Nachfolger waren nicht gewillt ihren Einfluss aufzugeben. In Verlauf gerichtlicher Auseinandersetzungen argumentierte das englische Königshaus, dass die Themse ein Meeresarm sei, was durch den Einfluss von Ebbe und Flut, der in London deutlich spürbar ist, zu erkennen sei und damit stehe der Fluss im Besitz des herrschenden Monarchen. Das Gericht entschied, dass sich das Flussbett und der Themseboden im Besitz des Königshauses befinden. War damit die damalige Königin Victoria die Besitzerin der Themse? Ihr gehörte das Land durch und über das die Themse fließt, doch wie verhält es sich mit dem Wasser? Ein Teil des Themsewassers ist während eines der berüchtigten Londoner Regenschauer in den Fluss getropft. Kann eine Königin Regen besitzen? Vorbei an den, hinter dem dichten Laubwerk der Uferbepflanzung verborgenen, Inns of Court, einem Gebäudekomplex, in dem seit Jahrhunderten Anwaltskammern beheimatet sind, steuert das Schiff die nächste Themsebrücke an. Der Waterloo Bridge wird nachgesagt, dass sie eine düster-melancholische Atmosphäre ausstrahle, die geradezu zum Selbstmord animiere. Heinrich Heine hielt seine Eindrücke der Waterloo Bridge wie folgt fest: „Nichts gleicht der schwarzen Stimmung, die mich einst befiel, als ich gegen Abendzeit auf der Waterloobrücke stand und in die Wasser der Themse blickte… Dabei kamen mir die kummervollsten Geschichten ins Gedächtnis…“ Schaut man sich die Gemälde des französischen Malers Claude Monet an, der die Brücke in mehreren seiner Werke zu verschiedenen Tageszeiten festgehalten hat, stellt man fest, dass die Brücke auf fast allen Bildern nebelverhangen und bei trübem Wetter dargestellt ist und von einer melancholischen Atmosphäre umgeben scheint. Bei der Waterloo Bridge, die auf Monets Gemälden, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind, festgehalten ist, handelt es sich noch um das Vorgängermodell der heutigen Brücke, denn diese musste, da sich die Fundamente zunehmend senkten, in den 1920er Jahren für den Verkehr gesperrt werden. Schließlich wurde sie abgerissen und 1945 durch die heutige, schnörkellos wirkende Brücke ersetzt.

Auch auf der Waterloo Bridge hat sich vor einigen Jahrzehnten ein mysteriöser, bislang ungeklärter Todesfall ereignet. 1978 überquerte der bulgarische Schriftsteller Georgi Markow, der sich wiederholt kritisch gegenüber der eigenen Regierung geäußert hatte, als Fußgänger die Brücke, als ihn ein Passant beiläufig mit seinem Regenschirm anstieß und dem Autor dabei eine mit Gift gefüllte Kapsel in den Unterschenkel injizierte. Drei Tage nach dem scheinbar zufälligen Zusammenstoß verstarb Markow. Der Täter, man vermutet, dass dieser im Dienste des bulgarischen Geheimdienstes stand, wurde nie gefasst.

Das Schiff passiert das Ende des 19. Jahrhunderts errichtete Savoy Hotel, das lange Zeit als eines der besten Hotels der Welt galt und auch heute noch gut situierte Gäste anspricht. Je nach Jahreszeit und Zimmerkategorie hat der Hotelgast zwischen 400 und 15.000 Pfund pro Nacht zu bezahlen.

Unmittelbar am Ufer, lediglich einige Meter vom Savoy entfernt, reckt sich der Obelisk „Cleopatras´s Needle“, auf dessen Spitze sich soeben eine Taube niedergelassen hat, senkrecht in die Höhe. Trotz des Namens hat dieser nichts mit Cleopatra zu tun, außer dass er aus deren ägyptischer Heimat stammt, wo er 1500 v.

Chr. erschaffen wurde und weit mehr als 3000 Jahre später als Geschenk der Stadt London übergeben wurde. Es ist kurios und schwer vorstellbar, dass das Kunstwerk, das ich zu meiner Rechten sehe, weitaus älter ist als London selbst.

Weitaus neueren Datums ist das Southbank Centre, das in den frühen 1950er Jahren, auf der Südseite der Themse errichtet wurde und das als Londons bedeutendstes Kulturzentrum gilt. Es beherbergt unter anderem das National Theatre und die Royal Festival Hall, den Stammsitz des London Philharmonic Orchestra. Der Gebäudekomplex hat für London eine starke symbolische Bedeutung. Mit seinem Bau begann der enorme Aufschwung des Londoner Südens, denn über Jahrhunderte hinweg trennte die Themse die Nord- und Südhälfte Londons in Arm und Reich.

Inwiefern diese Trennung mittlerweile überwunden ist, werde ich versuchen, in den nächsten Tagen herauszubekommen.

Hungerford Bridge

Das Schiff steuert auf den riesigen Charing Cross Bahnhof zu. In den 1990er Jahren wurde dieses monströse Gebäude, dessen Form und Gestaltung an einen Ozeandampfer erinnern soll, über den Gleisen eines alten Bahnhofes errichtet. Eine mächtige Eisenbahnbrücke, die Hungerford Bridge, die an beiden Seiten von jeweils einer Fußgängerbrücke flankiert wird, von denen man eine herrliche Aussicht genießen kann, dabei jedoch den Lärm der vorbeirauschenden Züge in Kauf nehmen muss, verbindet den Bahnhof mit der Südseite der Themse.

Kaum hat das Schiff die Brücke passiert, ertönt ein vielstimmiges Klicken aus den Kameras der an Deck befindlichen Passagiere. Wir nähern uns dem Ziel unserer kurzen Fahrt und vor uns eröffnet sich der Anblick, dem viele an Bord entgegengefiebert haben. Zu meiner Linken richten sich die Blicke und Kameraobjektive auf das London Eye, jenes 135 Meter hohe Riesenrad, das anlässlich der Millenniumsfeierlichkeiten vor einigen Jahren errichtet wurde und sich schnell als ein neues Wahrzeichen der Themsestadt etabliert hat.

London Eye & County Hall

Auf der gegenüberliegenden Flussseite taucht der Palace of Westminster, das weltbekannte Parlamentsgebäude, mit dem berühmtesten Glockenturm der Welt, Big Ben genannt, in der Ferne auf.

Palace of Westminster & Westminster Bridge

„London kommt! Unruhig und erwartungsvoll schweifen unsere Blicke die Themse hinauf“, formulierte Theodor Fontane, ebenfalls an Bord eines Themseschiffes, im Jahre 1852. Ganz ähnlich scheinen noch heute, mehr als 150 Jahre später, die Menschen zu empfinden. Zumindest gilt dies für die Kinder an Bord, deren Stimmen jetzt überdeutlich zu vernehmen sind und die aufgeregt am Ärmel ihrer Mütter zupfen oder ihre Väter mit neugierigen Fragen bombardieren. Aber es trifft auch auf mich zu und wie ich vermute auf die allermeisten anderen Erwachsenen an Bord, die sich im Laufe ihres Lebens abtrainiert haben, ihre Aufgeregtheit zu offenbaren.

Am „Westminster Pier“, unmittelbar vor der Westminster Bridge, auf der uns hunderte Passanten zur Begrüßung zuwinken, findet die Fahrt ihr Ende. Ich verlasse das Boot, gelange über eine Treppe auf die Westminster Bridge und bahne mir durch eine beachtliche Menschenmenge hindurch meinen Weg. Vorbei an zahlreichen Touristen, die unschwer anhand der Kameras, die um ihren Hals baumeln, zu identifizieren sind, verschiedenen Straßenmusikanten, die sich in dem Trubel nur schwer Gehör verschaffen können, einigen stoisch wirkenden Straßenmalern sowie geschäftstüchtigen Verkäufern, die Schirmmützen, Zuckerwatte oder Hot Dogs anbieten, gelange ich zur Mitte der Brücke, wo ich haltmache, mich über die Brüstung lehne und zur Themse, dem Fluss der sich seit Urzeiten durch diese Region schlängelt, hinabblicke. Erstaunliche Veränderungen hat der Fluss in seiner unmittelbaren Umgebung erduldet. Einst floss er durch eine menschenleere Hügellandschaft und als England und Kontinentaleuropa vor 12.000 Jahren noch miteinander verbunden waren und eine Landmasse bildeten, war die Themse tatsächlich ein Nebenfluss des Rheins.

Seit vielen Jahrhunderten prägt sie die englische Hauptstadt - eine Stadt, die es ohne den Fluss nicht geben würde.

Die Themse hat den Handel, mit dem London zur Weltmetropole aufgestiegen ist, in die Stadt getragen. Ihr hat London Reichtum wie auch Elend zu verdanken. Aber sie hat darüber hinaus, wie man alleine an den zahlreichen Architekturdenkmälern und repräsentativen Bauwerken in unmittelbarer Ufernähe erkennen kann, eine emotionale Bedeutung. Die Themse scheint der Stadt Stolz und Würde zu verleihen, obwohl es wirkt, als würde der Themse vorrangig von Touristen, Filmemachern, Malern, Musikern, Schriftstellern und internationalen Medien eine derartige Aufmerksamkeit geschenkt werden. Für die Londoner scheint der Fluss im Alltag seit jeher eher ein Hindernis, das man zügig überqueren möchte, darzustellen, denn im Gegensatz zu den Straßen der Stadt, führt sie der Fluss letztlich nirgendwo hin.

Mich hat die Themse zu den Ursprüngen Londons zurück- und gleichzeitig an die Stadt herangeführt. In den nächsten Tagen werde ich die Metropole, die in der Vergangenheit Künstler jeglichen Genres, Touristen aus aller Herren Länder, hoffnungsvolle Einwanderer, Schutz suchende Flüchtlinge, waghalsige Lebenskünstler, unerschrockene Individualisten und geschäftstüchtige Kaufleute angezogen hat, genauer in Augenschein nehmen. „In London gibt es alles, was das Leben bieten kann“, schrieb einst Samuel Johnson. Na dann los!

Überaus grimmig und missmutig blickt Winston Churchill, der legendäre englische Premierminister, mit hochgeschlagenem Mantelkragen von der gegenüberliegenden Straßenseite auf das Parlamentsgebäude. Vor ihm pickt eine Taube in aller Ruhe Essensreste, die nachlässige Passanten hinterlassen haben, vom Boden auf, während drei junge Japaner, die Churchill weitaus aufgeregter umkreisen, fragend zu dem Standbild emporblicken. Ich befinde mich am Parliament Square, einer von Statuen berühmter Politiker gesäumten Grünfläche, um die herum der stockende Autoverkehr in einem großräumigen Kreisverkehr, der erste seiner Art in Großbritannien, fließt.

Die Umgebung wirkt laut und chaotisch. Zwischen hupenden Autofahrern, bahnen sich furchtlose Radfahrer ihren Weg durch den hektischen Verkehr, die Gehsteige sind von fotografierenden Touristen bevölkert, während zahlreiche Polizisten bemüht sind, für das zumindest ansatzweise Befolgen der geltenden Verkehrsregeln zu sorgen.

Ich umrunde den Platz, der 1868 im Zuge der Neuerrichtung des Parlamentsgebäudes angelegt wurde, passiere Statuen von Staatsmännern wie Abraham Lincoln, Lord Palmerston, Benjamin Disraeli sowie Oliver Cromwell und erreiche das Standbild des einstigen südafrikanischen Staatspräsidenten Nelson Mandela. Der feierlichen Enthüllung, bei der Mandela persönlich anwesend war, ging eine politische Auseinandersetzung voraus, denn ursprünglich sollte das Denkmal am Trafalgar Square errichtet werden, wofür sich der damalige Bürgermeister Ken Livingston einsetzte, dem die Idee gefiel, den Platz mit zwei Nelsons zu dekorieren. „Lord Nelson hat mit dem Sieg bei der Schlacht von Trafalgar den Weg für 100 Jahre britischen Empires gelegt und Nelson Mandela symbolisiert den Übergang zu einer friedlichen Welt ohne Imperien.“ Der Stadtrat lehnte den Plan ab, da eine weitere Statue bei Veranstaltungen eine Behinderung darstellen könne und sie zudem die herrschende Symmetrie des Platzes zerstören würde.

Ich reihe mich in die Schlange der Wartenden und blicke auf die prachtvolle, gotische, mit Spitzbögen verzierte Fassade sowie auf eine Reihe von Statuen über dem Hauptportal, unter denen sich eine Skulptur des deutschen Theologen und Widerstandskämpfers gegen den Nationalsozialismus Dietrich Bonhoeffer befindet.

Westminster Abbey

Nach kurzer Wartezeit betrete ich die riesige Kirche (Broad Sanctuary; www.westminster-abbey.org; Mo-Do 10-18 Uhr, Sa & So 10-15 Uhr), betrachte prächtige Denkmäler sowie zahlreiche kleine Kapellen, darunter die St Edwards Chapel, die den Schrein von Edward dem Bekenner beherbergt. Er war der erste Monarch, der hier seine letzte Ruhestätte fand und seitdem wurden, bis auf wenige Ausnahmen, die englischen Monarchen an diesem Ort zu Grabe getragen. Ich erblicke den mehr als 700 Jahre alten Coronation Chair, auf dem seit Jahrhunderten die britischen Königinnen und Könige gekrönt werden. Bis vor einigen Jahren befand sich noch der Stein von Scone auf der Unterseite des Stuhls. Dieser Stein wurde einst im Königreich der Pikten, im Nordosten Schottlands, in einer Abtei verwahrt und als magischer Stein verehrt. 1296 ließ Eduard I., dessen Regentschaft durch sein aggressives und kriegerisches Auftreten gegenüber Schottland geprägt war, den Stein als Kriegsbeute nach London schaffen und in den Krönungsstuhl einbauen, was – und dies war sicherlich die Absicht - die Schotten als Affront empfunden haben. Erst 700 Jahre später, 1996, wurde der Stein zurück nach Schottland gebracht, wo er bis heute im Edinburgh Castle verwahrt wird.

In einer weiteren Kapelle umrunde ich das imposante Grabmal von Elisabeth I. und ihrer Schwester und Widersacherin Mary I., bekannt unter dem Namen Bloody Mary.

Ich passiere weitere Gräber von britischen Staatsmännern wie Disraeli, Palmerston und Gladstone sowie der Wissenschaftler Sir Isaac Newton und Charles Darwin und gelange zur Poets Corner, wo ich Denkmäler und Grabstätten berühmter Literaten, wie Geoffrey Chaucer, Alfred Tennyson und Charles Dickens vorfinde.

Über den Kreuzgang an der südwestlichen Ecke des Gotteshauses erreiche ich Dean's Yard, eine stille, von schönen alten Bäumen umgebene Gartenanlage. Hier wurde 1540 die bis heute existierende Westminster School errichtet, die als eine der traditionsreichsten und bedeutendsten britischen Schulen gilt und auf Absolventen wie den Dichter Ben Johnson, den Architekten Christopher Wren, den Schauspieler Peter Ustinov, den Komponisten Andrew Lloyd-Webber und den Philosophen John Locke zurückblicken kann. Während ich über Kieswege und Rasenflächen spaziere, wird mir bewusst, dass dieser Garten seit 900 Jahren existiert und Mönche bereits im Mittelalter an diesem Ort Kräuter und Gemüse angepflanzt haben. Ich passiere einen gemächlich plätschernden Brunnen, ausladende Platanen, die ihre Schatten auf die gepflegten Rasenflächen werfen, duftende Rosenbüsche, weinberankte Mauern sowie alte Statuen.

Dean's Yard

Die Umgebung ist nahezu menschenleer und strahlt klösterlichen Frieden aus, während einen Steinwurf entfernt hunderte Besucher an der Kasse der Abtei anstehen und hektisch ihre Fotoapparate, Smartphones und Kreditkarten zücken.

Nachdem ich die riesige, eindrucksvolle Kirche verlassen habe, wende ich mich nach rechts und stehe nach wenigen Schritten vor der beeindruckenden, neugotischen Fassade des Palace of Westminster, in dem das englische Unter- und Oberhaus tagt (www.parliament.uk; Mo-Mi 15-22 Uhr, Do 11-19:30 Uhr).

Palace of Westminster

Die Fassade des 1870 fertiggestellten Gebäudes wurde aus sandfarbenem Kalkstein errichtet, der aufgrund der durch die zunehmende Industrialisierung verursachten Luftverschmutzung zusehends zu verfallen drohte. 1928 fiel der Beschluss, die Fassade mit einem honigfarbenen Kalkstein von besserer Qualität neu einzukleiden.

Ich blicke am Victoria Tower, benannt nach der während seiner Bauphase herrschenden Monarchin, empor, an dessen Turmspitze der Union Jack weht, was erkennen lässt, dass der herrschende Monarch derzeit nicht im Gebäude weilt, da in diesem seltenen Fall der Royal Standard, die offizielle Flagge der britischen Königin Elisabeth II., gehisst wird. Lediglich zur alljährlichen Parlamentseröffnung sowie anlässlich bedeutender Zeremonien besucht der herrschende König, bzw. die Königin, das Gebäude und betritt es traditionell durch den Eingang am Fuße des Victoria Towers.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erblicke ich den Jewel Tower (Abingdon Street; www.english-heritage.org.uk; tägl. 10-17 Uhr), der einst Teil des ursprünglichen Palastes, der durch einen verheerenden Brand im 16. Jahrhundert nahezu vollständig zerstört wurde, war und einen der wenigen Gebäudebestandteile darstellt, der bei dem Brand unversehrt blieb, heutzutage aber durch die neu gebaute Abingdon Street vom restlichen Gebäude getrennt ist. Der Turm wurde im 14. Jahrhundert errichtet und erhielt seinen Namen aufgrund seiner Funktion, denn hier wurden die persönlichen Schätze des Königs verwahrt. Den ursprünglichen Palast hatte Eduard der Bekenner zeitgleich mit dem Bau der Westminster Abbey errichten lassen. Im Mittelalter entwickelte sich der Gebäudekomplex zur Hauptresidenz der englischen Monarchen bis der damalige Herrscher Heinrich VIII. beschloss, in den nahegelegenen Palace of Whitehall umzuziehen. Ab diesem Zeitpunkt wurde der Palace of Westminster ausschließlich von Parlamenten und hohen Gerichten genutzt.

Ich stelle mich in die Schlange der Wartenden, gelange nach kurzer Wartezeit und intensiver Taschenkontrolle in das Gebäude und betrete zunächst die imposante Westminster Hall, die bei ihrer Errichtung als die größte Halle Europas galt. Es handelt sich um den ältesten noch bestehenden Teil des Palastes, der, neben dem erwähnten Jewel Tower, die Brände und Zerstörungen der Vergangenheit unbeschadet überstanden hat. Bei dem Gedanken, dass ich hier über fast 1000 Jahre alte Steine schreite, wie vor mir Königinnen und Könige, Richter und Parlamentarier, löst ein erhabenes Gefühl und Ehrfurcht, aus. An diesem Ort wurden in ferner Vergangenheit Gerichtsverhandlungen und Krönungsbankette abgehalten und die Körper verstorbener Monarchen oder bedeutender Persönlichkeiten aufgebahrt. Zuletzt wurde diese Ehre der Königinmutter Elizabeth Bowes-Lyon zuteil.

Durch eine überdimensionale zweiflügelige Tür gelange ich in den Hauptteil des riesigen Gebäudes, das aus mehr als 1000 Räumen, 100 Treppenhäusern und Fluren mit einer Gesamtlänge von fast 5 km besteht. Ich erreiche die mit einer herrlichen Mosaikdecke überwölbte Central Lobby, setze mich dort in einem Seitenarm, der laut Beschilderung zum Lords` Chamber führt, auf eine der bereitgestellten Sitzbänke, da ich davon gehört habe, dass an diesem Ort wartenden Besuchern gelegentlich die Möglichkeit geboten wird, den Ratssaal des Houses of Lords zu besichtigen und mit ein wenig Glück einer Debatte des Oberhauses beizuwohnen. In der Tat tritt nach einigen Minuten ein Herr auf mich und eine Handvoll weiterer Wartender zu und raunt uns mit gedämpfter Stimme zu, dass wir, sollten wir beabsichtigen, die Lords` Chambers zu besuchen, ihm folgen sollen. Über eine schmale Treppe führt er uns in einen winzigen Vorraum, in dem wir unsere Taschen und Smartphones abgeben müssen und geleitet uns weiter zur Besuchergalerie des Sitzungssaales. Ich nehme auf einer der Bänke Platz und blicke hinunter in den üppig geschmückten Saal, zu den imposanten Buntglasfenstern, auf denen historische Szenen dargestellt sind und auf die hohen, mit Fresken dekorierten Wände. Auf den traditionell in Rottönen gehaltenen Sitzbänken im Saal beraten distinguiert erscheinende Herren über aktuelle politische Fragen. Meinen Blick zieht es zur gegenüberliegenden Wand, wo, flankiert von zwei hohen Kristallstehleuchten, der mit Gold verzierte und von einem pompösen goldenen Baldachin gekrönte Thron seinen Platz hat. Auf ihm nimmt alljährlich der herrschende Monarch während der zeremoniellen Parlamentseröffnung, die jeweils zu Beginn einer neuen Parlamentssession abgehalten wird, Platz, hält die Thronrede und verliest das Regierungsprogramm für das kommende Jahr.

Auch wenn ich den inhaltlichen Ausführungen der Parlamentarier nicht lückenlos folgen kann, ist alleine die Atmosphäre, die von gegenseitigem Respekt, Kultiviertheit und Würde geprägt ist, bemerkenswert. Die Abgeordneten sprechen sich nicht mit Namen, sondern mit der Formel „The honourable member for...“ gefolgt von dem jeweiligen Wahlkreis, an. Ich kann nicht die im deutschen Parlament häufig zu beobachtende Unsitte erkennen, dass sich Politiker demonstrativ mit anderen Dingen beschäftigen, sobald ein Redner der Gegenseite auftritt. Hier scheint man sich tatsächlich zuzuhören.

Das Gegenstück zum Lords` Chamber bildet das Commons` Chamber, in dem das Unterhaus, in einem weitaus nüchterner gestalteten Sitzungssaal, tagt. Das Unterhaus setzt sich aus gewählten Vertretern zusammen, wohingegen die Struktur des Oberhauses komplizierten Regeln folgt.

Das politische System in England unterscheidet sich von jenem in Deutschland in einigen Punkten erheblich. So besitzt England beispielsweise keine Verfassung oder einen Gesetzeskanon, der unserem Grundgesetz gleicht. Jedes bestehende Gesetz kann im englischen Parlament durch eine einfache Mehrheit geändert werden und da das Abgeordnetenhaus ab 40 Teilnehmern als beschlussfähig gilt, könnten 21 Abgeordnete innerhalb von wenigen Minuten grundlegende Veränderungen, erheblichen Ausmaßes, herbeiführen. Im Grunde hängt das gesamte englische Staatswesen damit am seidenen