Ni Thuigim - Anja Michaela Joris - E-Book

Ni Thuigim E-Book

Anja Michaela Joris

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Beschreibung

Der Allon-Zyklus: In der künstlichen Welt Allons, auf der Technik als Magie gilt, steigt eine Bedrohung aus längst vergangener Zeit empor, um alles Leben zu vernichten. Die Cyborgs, die Hüter der Welt, einst geschaffen, die Welt zu beschützen, müssen mit den Menschen, den Drachenvögeln und den Raubkatzen zusammenarbeiten, um ein Überleben aller zu gewährleisten. Band 1: Das System Eins der Inselwelt bestand einst aus vier Inseln, doch eine verschwand in den Nebeln. Wer hätte gedacht, dass man dort abstürzen muss, um erst alles zu verlieren und dann doch noch ein neues Leben zu gewinnen. Zila muss erkennen, dass der Verlust ihres Drachenbootes ihr völlig neue Welten eröffnet und neue Wege für die Drachengleiter.

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Ein Danke an Theodor für Tes und die Initialzündung

Inhalt

Umurra, Dorf

Kantarra, Zweisee

Cataqua, Axata

Kantarra, Hornburg

Kantarra, Ratsrepublik Ursulum, Zweisee

Kantarra, Zweisee

Kantarra, Isma‘Lome; Umurra, Stadt

Kantarra, Hornburg

Umurra, Wald

Kantarra, Hornburg

Umurra, Dorf

Umurra, Stadt

Cataqua, Axata

Umurra, Stadt

Kantarra, Kloster Baruk

Umurra, Höhlen

Kantarra, Kloster Baruk

Umurra, Höhlen

Persania, Gilliad

Arkana, Tilp

Kantarra, Kloster Baruk; Isma’Lome

Kantarra, Isma’Lome, Haus

Kantarra, Isma’Lome

Kantarra, Isma’Lome

Kantarra, Isma’Lome

Kantarra, Ratsrepublik Ursulum, Zweisee

Kantarra, Isma’Lome Höhlen

Kantarra, Zweisee, Endwogen

Osgabu, Akademie; Kantarra, Zweisee

Kantarra, Ankoia; Isma’Lome

Kantarra, Ankoia; Hornburg

Kantarra, Ankoia, Hornburg

1. Umurra, Dorf

Umurra, die Insel in den Nebel. Nur wenige erinnerten sich noch an helles Licht und Sonne. Heute war selbst der Sommer grau und es herrschte ein ewiges Zwielicht. Er war nur weniger dunkel und währte auch nur kurz. In diesen kurzen Wochen waren alle, die hier lebten, auf den Feldern. Männer, Frauen, Kinder, sobald sie laufen konnten. Sie packten einträchtig mit an, um so viel Saat wie möglich in den Boden zu bringen.

Sobald die ersten Nebelschwaden des Herbstes aufzogen, kehrten die Frauen und Kinder in die Häuser zurück und überließen die schwere Ernte des Salbs den Männern. Die Salbernte war hart und zehrte an den Kräften. Die Wurzeln saßen tief und der Boden war zäh und lehmig. Während der Arbeit auf den Feldern drangen Kälte und Feuchtigkeit des Nebels durch die Kleidung und Erschöpfung, Krankheit und Auszehrung forderten ihren Tribut von den Männern. Aber nicht nur sie waren betroffen. Zwar waren die Männer jedes Jahr die ersten Opfer, doch später im Jahr folgten die Frauen und Kinder. So war es auch in diesem Herbst. Die Zeit der Ernte war angebrochen.

Einer von ihnen, sein Name war Lu`Cyan, richtete sich auf. Er streckte sich. Die gebückte Haltung war anstrengend und schmerzte im Rücken. Er trank einen Schluck Wasser, den er aus der Flasche nahm, die er in der dafür vorgesehene Schlaufe an seinem Gurt bei sich trug. Dieses einfache System hatte ihm damals bei den Männern erst ein Staunen, dann Nachahmer beschert. Alle in seiner Erntegruppe, die ebenso wie alle anderen aus vier Männern bestand, trugen ihre Habseligkeiten so bei sich.

Sie hatten den ganzen Tag gearbeitet und das graue Licht wich nun dem diffusem Schimmern, das von den Nebeln ausging. Jetzt im Herbst blieb dieses Schimmern die gesamte Nacht und spendete noch etwas Helligkeit. Im Winter gab es nicht einmal mehr das.

Er wandte sich zu den anderen Männern seiner Gruppe und seufzte, als sein Blick auf Ren, das älteste Mitglied, fiel. Dieser war wie die meisten Menschen Umurras klein, hager und blass.

„Wir sollten für heute Schluss machen“, sagte Lu’Cyan laut zu den anderen, die im Nebel ein Stück entfernt arbeiteten. Bereits auf diese kurze Entfernung verschwammen ihre Konturen. Die weiter hinten stehenden Bäume des nahen Waldes konnte er kaum sehen, das Gebirge, das er in der Ferne wusste, waren nicht einmal mehr eine Ahnung. Sein Blick ging zurück auf dem Alten. „Wir sind über unserem Plan und Ren …“

„Ren“, entgegnete der Alte, sah auf und ließ die Arbeit kurz ruhen, „weiß selbst, was für ihn gut ist.“

„Deine Lippen sind blau ...“, begann Lu`Cyan.

„Cy“, unterbrach Ren seinen Freund, „ich bin alt genug, um selbst zu entscheiden. Du bist nicht meine Mutter …“ Er brach ab, begann zu husten und konnte nicht mehr aufhören. Die Blaufärbung seiner Lippen vertiefte sich und er ächzte unter dem Verlangen, Luft in die Lungen zu pressen, die ihm den Dienst zu verweigern drohten.

Lu‘Cyan nickte und war mit einer schnellen Bewegung bei seinem Freund, um ihn zu stützen. Dabei murmelte er: „Kaum zu überhören, wie gut du das kannst.“ Er hielt den Alten aufrecht und reichte ihm eine Flasche. „Hier, versuch einen Schluck Wasser.”

Der Mann nahm unter Husten einen Schluck Wasser. Das meiste lief wieder aus seinem Mund, als es ihn wieder heftiger schüttelte. Dann ebbte der Anfall zu einem pfeifenden Keuchen ab und Ren’Ard ließ sich erschöpft in Cys Arme sinken. „Schaff‘ es schon”, brachte er flüsternd hervor. Dabei musste er dreimal Luft holen.

Die beiden anderen Mitglieder der Gruppe waren zu ihnen getreten, standen nun betroffen da und wechselten einen Blick. „Du musst dich schonen, brauchst gutes Essen und Medikamente und darfst nicht mehr auf den Feldern arbeiten. Du bist zu alt”, sagte einer der zwei. Die Sorge spiegelte sich offen in seinem Gesicht. Er mochte den Alten und ihn so schwach zu sehen, machte ihn unbehaglich.

Ren'Ard ließ ein Schnauben hören. Wieder hustete er. Als er wieder Luft bekam, entgegnete er: „Ihr redet dummes Zeug. Ihr wisst so gut wie ich, dass es so etwas hier unten nicht gibt, nicht für uns. Für niemanden. Kein besseres Essen als das hier, keine Medikamente und Ruhe gibt es nur, wenn wir tot sind. Und das werde ich wohl ja bald sein. Ich bin schon weit über meine Zeit. Bin alt. Älter als mir zusteht.“ Er lächelte und sah nun Lu’Cyan an. „Tot wäre ich vielleicht schon längst, hätte längst aufgegeben ohne dich.“ Er fuhr dem Freund über den Arm, der ihn immer noch stützte. „Ich konnte dich nur nicht hier allein lassen. Wo immer du einst verloren gegangen bist, hier wärest du völlig verloren. Ohne mich.” Ren klang immer noch schwach, doch seine Worte entlockten Cy ein Grinsen. Der alte Umurrer hatte Recht. Ohne Ren wäre er heute wie damals verloren. Damals, weil der Alte ihm das Leben gerettet hatte, zumindest, soweit er wusste. Und heute, weil er keine Ahnung hatte, wie er hier auf Umurra ohne Ren bestehen sollte. Der alte Mann war sein Anker und Hafen in dieser Welt. Alles, was er war, alles, was er wusste, verdankte er ihm. Sogar seinen Namen. Ren hatte ihn aus verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt. „Lu’an“ stammte aus der alten Sprache und bedeutete „verloren“. „Cy“ war eine Silbe, die er angeblich in seiner Bewusstlosigkeit immer wieder gesagt hatte, oder vielmehr das, was Ren'Ard aus seinem Nuscheln heraushören konnte.

„Mag alles sein.“ Cy schüttelte den Kopf. „Aber jetzt gehen wir nach Hause.“ Er sah, dass Ren zum Widerspruch ansetzte und hob einen Finger. „Keine Widerrede.“

Als sie das Haus, das sich die beiden Männer seit vielen Jahren teilten, erreichten, hatte Rens Schwäche merklich nachgelassen. Ihre Hütte war ein großes Gebäude mit einem zentralen Raum, den sie als Wohnraum und Küche nutzten und zwei Schlafzimmer sowie einem Anbau, den sie gemeinsam im zweiten ihrer gemeinsamen Jahre begonnen und im dritten fertiggestellt hatten. Hier bewahrten sie ihre Vorräte auf, vor allem auch den besonders bearbeiteten Salb, den man rauchen konnte. Etwas zurückgesetzt am Ende des Grundstücks befand sich eine Latrine. Wie stets warf ihr Cy einen Blick zu und wandte sich dann angewidert ab. Seine Abneigung gegen diesen Ort hatte er nie ganz abgelegt. Ren sah es und schmunzelte, verkniff sich aber ausnahmsweise eine Bemerkung hierzu.

Kurze Zeit später war das Feuer entfacht und Lu’Cyan hängte den Topf über die Feuerstelle, eher ein Kamin an der Seite des Raumes. Er warf geschälten Wurzeln hinein und kurz darauf zog ein kräftiger angenehmer Duft durch die Hütte, den Ren einsog. Er hatte sich schwer in den bequemen weich gepolsterteren Sessel fallen lassen, der nahe beim Feuer stand und wärmte seine Knochen.

Tief in Gedanken dachte er an das erste Jahr zurück, das hart gewesen war. Cy war schwer verletzt in sein Leben geplatzt und er hatte kaum gewusst, wie er sie beide durchbringen sollte, mit Rationen, die über die Dunkelzeit kaum für einen reichten, geschweige denn für eine weitere Person. Cy hatte fantasiert und im Fieberwahn gesprochen. Manches hatte er so oft wiederholt, dass Ren es ihm gegenüber später wiederholen konnte. Nicht, dass es geholfen hätte. Cy hatte mit seiner eigenen Sprache nichts anfangen können.

Ren wechselte an den Tisch, dessen Holz glatt war von langem Gebrauch. Lu’Cyan stellte das Essen, einen Eintopf aus den Salbwurzeln, darauf. Dazu gab es einen Aufguss, den er aus dem Salbmark gebrüht hatte. Beide Düfte vermischten sich. Cy nahm auch Platz und sie tauchten fast gleichzeitig die Löffel in den dicken Eintopf, der hier auf Umurra das Standardessen darstellte. Er machte satt, schmeckte gut und lieferte alles, was man zum Leben brauchte. Es war allerdings eine eintönige Kost.

Die Freundschaft zwischen den beiden so unterschiedlichen Männern hatte sich über die vielen Jahre bewährt und war stetig gewachsen. Ren aß bedächtig und sah den jüngeren Mann nachdenklich an.

„Du hast dich kein bisschen verändert in all den Jahren, die vergangen sind. Ich bin älter und immer grauer geworden, aber du, mein Freund, du siehst noch aus wie an dem Tag, als ich dich im Wald fand.“ Er betrachtete den Jüngeren mit schräg gelegtem Kopf. Dieser überragte die meisten Bewohner Umurras um einen Kopf. Er war schlank, aber nicht ausgezehrt. Am auffälligsten waren seine Farben. Die Bewohner der Insel waren wie die Nebel. Ihre Haare, ihre Augen, ja selbst ihre Haut hatten diese undefinierbare Farblosigkeit, als sauge die Umgebung ihnen die Farben aus dem Leib. Bei Cy war es nicht so. Sein Haar war eher dunkel. Seine Haut war zwar blass, doch auf eine andere Art. Seine Blässe war von der Art, die durch ein paar Sonnenstrahlen leicht zu vertreiben war, nicht wie jene, die in die Knochen kroch. Doch das auffälligste an ihm waren seine Augen. Sie waren von einem strahlend intensiven Grün.

„Na ja, vielleicht nicht ganz.“ Ren dachte weit zurück. „Damals war alles verbrannt, Haut, Haare. Du sahst furchtbar aus. Nicht mal deine Augenfarbe war noch erkennbar.“ Er schüttelte sich. „Zum Glück ist alles verheilt.“ Er seufzte. „Wie entgehst du nur dem Alter? Ich spüre jedes Jahr und du bleibst einfach der Gleiche.“

Cys Augen verengten sich. Ren wusste nur zu gut, dass dies ein Thema war, über das er nicht reden, ja nicht einmal nachdenken wollte. Warum auch. Es führte zu nichts außer endlosen Grübeleien. Irgendwann würde er dann wieder zu genau den Methoden greifen, die Ren jedes Mal in Zorn versetzten, nur um ein bisschen Frieden und Ruhe zu haben. Dies führte unweigerlich zu einem neuen Streit und dann ... Er atmete schneller.

Ren, der die Vorboten, eines Rückzugs erkannte, seufzte und wechselte das Thema. „Husten tut zwar weh, Rauchen will ich trotzdem. Du auch?”

„Bleib sitzen und ruh dich aus, ich gehe”, und ehe Ren’Ard widersprechen konnte, war Lu’Cyan zur Tür heraus.

Er trat über die Schwelle und musste plötzlich blinzeln.

Es war taghell, das Licht brach sich auf seinen Armen und vor ihm breitete sich eine lichtdurchflutete Straße aus. Die nebligen Wege der Welt, auf denen er gerade noch mit Ren’Ard gegangen war, waren nicht mehr da. Panisch wandte er sich um, aber hinter ihm war nur ein großes weißes Gebäude. So hoch, dass er den Kopf in den Nacken legen musste. Über ihm strahlte blauer Himmel und es war angenehm warm.

Auf der anderen Seite waren weitere Gebäude mit großen durchsichtigen Wänden. Er sah Kleidung, andere Gegenstände, die er nicht genau erkennen konnte, Treppen, die sich nach oben und unten bewegten. Stimmengewirr. Gerüche. Nicht der feuchte Dunst des Nebels. Staub und darunter etwas anderes. Irgendwie steril. „Ein Desinfektionsmittel? Antiseptisch?“ Die Begriffe, die ihm da durch den Kopf schossen, waren ihm fremd.

„Was zum Teufel ist denn jetzt los?”, murmelte er und starrte in die Welt, in der er sich plötzlich befand.

„Du sollst doch nicht immer fluchen”, eine sanfte Stimme, leiser Tadel.

Er kannte diese Stimme. Er kannte auch diese Welt. Sie war vertraut und doch fremd. Er drehte sich um und sah in ein lachendes Gesicht, umrahmt von einer Flut langer Locken, die im Licht silbrig schimmerten. Er starrte sie an. „Allija.?“ Das Timbre der fremden Worte, ein vertrauter Geruch. Er kannte sie.

Sie lächelte und fragte: „Was ist jetzt mit den Ausfällen?

Und was war das für eine Explosion?“

Er erwiderte ihren Blick verwirrt. „Ausfälle? Allija, was ist hier los?“

Allija sah ihn an. „Der Teleporter. Beeil dich besser“, entgegnete sie knapp.

Eine Tür schlug ihm in den Rücken und eine barsche Stimme fragte: „Wie lange soll ich denn noch auf meinen getrockneten Salb warten? Rauchst du alles allein?”

Lu’Cyan fuhr zusammen. Er stand wieder in den Nebeln. Das Licht war fort. Als er kurz darauf mit dem Salb zurück in die Hütte kam, war er immer noch verstört. Er setzte sich wieder an den Tisch zu seinem Freund und gab ihm, wonach er verlangte hatte. Ren fragte sanft: „Was ist denn nur los mit dir? Hast du einen Geist gesehen?”

Lu’Cyan schüttelte den Kopf und versuchte in die Wirklichkeit zurückzukommen. „Ich glaube, ich habe mich gerade an etwas erinnert oder ich werde verrückt. Ich war auf einmal ganz woanders und dort war alles hell und klar und dort war eine Frau und sie war so …”, er brach ab.

„Na, das ist kein Zeichen von Verrücktheit, das ist ein Zeichen, dass du endlich bei den richtigen Menschen angekommen bist und deine Sexualität entdeckst. Das wird ja auch langsam Zeit. Ich dachte schon, du kommst niemals in die Pubertät”, kicherte Ren’Ard in sich hinein. Er sah seinen Freund von der Seite an. Dieser machte immer noch einen abwesenden Eindruck. Ren erinnerte sich noch gut an jene Nacht, als er ihn gefunden und aus diesem merkwürdigen, bereits brennenden Ding gezogen hatte. Das Ding war, unmittelbar nachdem er ihn endlich daraus befreit hatte, über den Rand in den Abgrund gestürzt und dann in einem grellen Blitz verschwunden. Ihm war damals schon bewusst gewesen, dass Lu’Cyan sicher nicht von Umurra stammte. Er musste von der Oberwelt kommen. Allerdings hatte er nicht den blassesten Schimmer, wie er in die Nebel gekommen war. Sicher nicht mit diesem Silberdings. Das hatte nicht nach einem Flugboot ausgesehen.

Als der Fremde nicht, wie erwartet, in jener ersten Nacht gestorben war, hatte er gehofft, dass er es bald erfahren würde. Doch das hatte sich als trügerische Hoffnung erwiesen. Zwar wachte der Verletzte wieder auf, erholte sich sogar erstaunlich schnell von seinen Verletzungen, nur erinnerte er sich an nichts. Er wusste nicht, wer er war, woher kam oder womit er gekommen war oder was er auf Umurra gewollt hatte. Die Sprache war kein Problem gewesen. Die Grundlagen des Zusammenlebens allerdings schon. Das war eine andere Sache gewesen. Wie bei einem Kleinkind hatte Ren’Ard fast bei null anfangen müssen. Nur gut, dass die Regeln auf Umurra so einfach waren.

„Allija?“, fragte Cy gedankenverloren.

„Wie meinen?“ Ren’Ard sah auf, „was ist das für ein Name?“

„Ihr Name. Das ist ihr Name. Ich kenne sie. Sie ist mir vertraut, aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer sie ist.“ Seine Antwort war nur ein Hauch. Dann schoss ihm durch den Kopf: Warum weiß ich nicht, wer sie ist, obwohl ich sicher bin, sie zu kennen. Ich war dort schon. Diese Welt im Licht kenne ich. Oder doch nicht. Was passiert hier mit mir? Er sog die Luft ein und drängte die Emotion mit Macht zurück. Er wusste aus Erfahrung, dass sie ihn überrollen würde, wenn er nachgab.

„Ja, das ergibt jetzt richtig Sinn“, unterbrach Ren’Ard und zwinkerte seinem Freund zu.

Lu’Cyan sah ihn an. „Spotte nur.“ Tief drin war er froh über den leichten Ton seines Freundes, der ihn half, sich vom Abgrund zurückzuziehen. Er ergänzte: „Ich weiß es doch selbst nicht. Ich weiß, dass ich sie unbedingt treffen wollte. Es war wichtig, sehr wichtig. Ich weiß nur nicht, warum.“ Nun kam es zurück, wenn auch weniger stark, so doch immer noch mit ausreichender Wucht und er schlug die Hände vor das Gesicht. Dann ließ er seinen Kopf auf die Tischplatte sinken. „Überlebenswichtig.“

„Du übertreibst. Das kannst du nicht wissen, du ...“ In dem Moment hätte sich Ren am liebsten auf die Zunge gebissen. Seinen Freund an dessen Amnesie zu erinnern, war selten eine gute Idee. „Es tut mir leid, ich habe es nicht so gemeint“, fügte er eilig hinzu. „Meinst du die Sache mit der Erinnerungslücke ist neu für mich?“ Lu’Cyans Stimme war beinahe tonlos. Er hob den Kopf. Seine Augen straften seinen ausdrucklosen Ton Lügen. In ihnen stand nun Verzweiflung.

Dann plötzlich Schmerz! Doch dieser war real. Ein Blitz fuhr durch seine Augen. Cy fuhr sofort mit einer Hand dorthin und stöhnte. „Au – da ist was in meinen Augen. Es sticht.“

Er war nicht schnell genug. Ren’Ard hatte gesehen, was dort stach, doch er versuchte zunächst es leugnen. Das war jetzt nicht wirklich passiert. Diese silbrigen Linien in den grünen Augen hatte er sich nur eingebildet.

Cy presste die zu Fäusten geballten Hände in die Augenhöhlen.

Ren schluckte und sagte zögerlich.

„Ja, da war etwas in deinen Augen. Silbern. Ein Leuchten? Wie Linien? Oder wie bei einem Gewitter?“.

„Hm“, unterbrach Cy seine Gedanken und nahm die Hände weg, Er öffnete die Augen. Diese waren jetzt wieder normal. „Jetzt ist alles wieder gut. Vorbei, ich spür nichts mehr. Als ob ich einen elektrischen Schlag bekommen hätte.“ Er schüttelte den Kopf.

„Einen was?“ Rens Augen wurden groß.

„Na, als ob man an die falsche Leitung fasst und einen gewischt bekommt.“ Lu’Cyan war immer noch abwesend und bemerkte nicht das wachsende Unverständnis in der Miene des Freundes. „Oder“, jetzt grinste er „wenn man mit der Zunge eine Batterie testet.“ Er sah hoch und bemerkte nun die Verwirrung seines Zuhörers. „Wenn man sich am Ellenbogen stößt?“, versuchte er es unsicher erneut.

Jetzt endlich nickte der Alte. „Das verstehe ich, ansonsten redest du den gleichen gequirlten Salb wie am Anfang, nur scheint es diesmal weitgehend unsere Sprache zu sein. War es doch, oder?“ „Ich denke schon. Ehrlich gesagt, weiß ich selbst nicht, was ich gemeint habe, es ergab Sinn, als ich es sagte, nur jetzt nicht mehr. Alles wieder purer Unsinn. Verdammt.“ Er fühlte sich, als risse ihn ein Fluss mit. Das Gefühl, verloren zu sein, überschwemmte ihn und nahm ihm die Luft. Er rang nach Atem und knallte seinen Kopf mit einem hörbaren Wums auf die Tischplatte. Er schloss die Augen und fragte sich zum gefühlt tausendsten Male, wie er nach Umurra gekommen war, denn er glaubte nicht, hierher zu gehören. Was tat er hier und wer oder was hatte seine Erinnerungen vollständig gelöscht? Wie lautete sein richtiger Name? Seit so vielen Jahren wartete er nun auf eine Erinnerung. Nichts. Heute nun das. So plötzlich, so real. Als ob er woanders gewesen wäre. Eine Frau, ein Name. Ihrer! Nicht seiner! Dann drängte sie ihn zur Eile. Nach so vielen Jahren. Hatte es einst schon so geeilt? War es dann nicht längst zu spät?

Ren’Ard beobachtete Lu’Cyan. Ich hätte es ihm erzählen sollen, dachte er, aber erst war keine Gelegenheit und dann – ach, ich habe doch selbst nicht geglaubt, was ich da gesehen habe, und er hat doch geblutet und alles war rot und die Schmerzen und das Fieber und die Verbrennungen. Ich hatte so etwas doch schon gesehen. Die kleine Stimme in seinem Hinterkopf konnte er nicht ausschalten. Nein, einiges hast du vorher eben nicht gesehen. Du hättest mit ihm reden sollen, ja müssen. Ich wusste die Worte nicht. Er hätte sie sowieso nicht verstanden. Ich hätte es sogar melden müssen. Aber du wolltest so kurz nach Lar’Ras Tod nicht wieder allein sein und später wolltest du auf seine Kraft und Ausdauer nicht verzichten. Und er ist mein Freund, widersprach sich der Alte selbst, er brauchte mich. Ich wollte nicht, dass er geht oder schlimmer. Er atmete tief durch. Verdammt sei das Gewissen, in die Leere damit. Er ist mein Freund. Ich muss es ihm sagen. Er atmete tief durch. „Cy?“ Er sprach seinen Freund, dessen Kopf immer noch auf der Tischplatte ruhte, zaghaft an, „in der Nacht, wo ich dich gefunden hab‘; das war denn doch ein bisschen anders. Es war nicht im Wald, da brannte nix. Es war an der Klippe, direkt zur Leere. Da, wo wir die Toten hinabwerfen, oder zumindest da in der Nähe. Ich habe so ein komisches Leuchten gesehen, einen Feuerschein und bin hingelaufen und da war so ein Silberdings und es brannte und du warst beinah draußen, nicht ganz, nur halb und als ich dich rauszog, fiel das komische Ding über die Klippe. Vielleicht hattest du es festgehalten mit deinem Gewicht oder mein Zerren hat es sich gelockert. Ich weiß es nicht.“ Er schluckte. „Ich weiß es einfach nicht. Jedenfalls ist es in die Leere gefallen und dann hat es einen lauten Knall gegeben und einen hellen Feuerball. Dann war es weg. Es tut mir leid. Ich bin schuld, dass es kaputt ist“

„Eine Explosion“, sagte Cy geistesabwesend und hob den Kopf. „Mein Schiff ist explodiert. Das ist unmöglich.“

„Dein Schiff ist was? Das war ein Schiff? Du bist ein Drachenflieger? Ich habe schon mal ein Drachenboot gesehen. Die sehen anders aus. Ich war noch ganz klein. Das war keines. Ich meine die Dinger brennen vielleicht mal oder stürzen ab, aber … explosionieren?“

„Explodieren“, jetzt erst fokussierte sich Lu’Cyans Blick. „Ich erinnere mich nicht, nicht an ein Silberding, nicht an eine Explosion – an gar nichts.“ Sein Kopf sank zurück und er verbarg sein Gesicht wieder in seinen Armen. Ein Schiff? Ist das dieses Teledings, das eben … ja was denn eigentlich. Habe ich geträumt oder war es eine Erinnerung?

Ren’Ard blickte ihn erstaunt an. Hatte er gar nicht bemerkt, wie selbstverständlich er die Begriffe verwandt hatte, die es in der Sprache Umurras gar nicht gab? Er hatte sogar voller Erstaunen die Unmöglichkeit der Explosion seines Schiffes kommentiert. Ganz ruhig, beinah besänftigend, sagte er: „Das kannst du auch nicht. Du warst bewusstlos. Ich habe dich rausgezogen und du hast dich dabei kein bisschen gerührt. Das war wohl auch besser so. Die Sachen, die du angehabt haben musst, waren nicht mehr erkennbar, weil alles schon brannte. Wärst du noch bei Bewusstsein gewesen, hättest du die Schmerzen wahrscheinlich gar nicht ausgehalten. Ich habe dich danach so mit Salb vollgepumpt, dass ich vielleicht schuld bin, dass du alles vergessen hast. Ich habe keine Ahnung, wie wir den Weg in meine Hütte geschafft habe – gut, ich war noch jung, aber … ich – eh egal, da ist alles weg.“

Lu’Cyan hob den Kopf. Er lächelte schwach. „Mein Beileid.“ Seine Stimme troff vor Sarkasmus. „Ich dagegen erinnere mich nur an nichts mehr aus der Zeit, bevor ich in deiner Hütte wach geworden bin. Nur, ein Gefühl, als sei alles falsch. Die Sprache, die Tatsache, dass ich nichts sehen konnte, dass ich in einer Hütte war.“ „Das mit dem nichts sehen, hat sich ja wiedergegeben, oder?“

„Das weißt du?“

„Das du noch sehen kannst, wenn es für uns bereits stockfinster ist? Ich mag nicht im Dunkeln sehen können, so wie du, aber blind bin ich auch nicht.“ Ren sah ihn missbilligend an. „Das war und ist in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist, dass du es mir verheimlichst! Das hat mich getroffen? Über dreißig Jahre hast du es mir nicht gesagt.“

Cy schluckte. Seine Wangen färbten sich zart rot.

Ren grinste. „Passt zu dir. Du behältst Dinge gerne für dich. Du bist ein Heimlichtuer. Ich weiß nicht, wer du vor deinem Unfall warst. Es kommt auch nicht darauf an. Doch ich vermute, du warst niemals jemand, der sich gut öffnen konnte.“

„Es tut mir leid. Du weißt das wirklich schon so lange? Du hast auch kein Wort darüber verloren.“ Lu’Cyan zog die Schultern zusammen. Über dreißig Jahre war er nun schon hier. Die Leute U-murras, die ihn aufgenommen und ihn behandelt, als gehöre er dazu, waren alt geworden und selbst ihre Kinder hatten bereits wieder Kinder. Er hatte zugesehen, wie alles um ihn herum sich veränderte. Nur er selbst nicht. Er war immer der Gleiche geblieben. Er hatte seinen Teil geleistet. Dem Dorf ging es gut und daran hatte er einen Anteil. Das war das Mindeste, was er hatte tun können. Er war größer, kräftiger und jünger. Er schluckte. Ihm war schon lange klar, dass hier was nicht stimmen konnte. Nur hatte er es verdrängt. Darin war er wirklich gut. Mindestens so gut wie darin, Ren nicht alles zu sagen. Es hatte keinen Grund gegeben, ihm nicht zu sagen, dass er im Dunkeln sehen konnte und doch hatte er es ihm nicht getan. Es nicht gekonnt oder nicht gewollt. Es hatte sich gut angefühlt, ein Geheimnis zu haben. Richtig. War dies vielleicht eine Eigenschaft seines eigentlichen Ichs vor diesem Leben. Wie alt mochte er wohl sein? Sicher viel älter als die Leute hier und man sah es ihm einfach nicht an. Wieder ging sein Blick ins Leere. Diese andere Welt aus seiner – ja was war das gewesen? Ein Traum? Eine Erinnerung? War das seine Heimat? Nein. Komischerweise war er sicher, dass, wo immer das gewesen war, es nicht der Ort war, wo er herkam. Und woher weiß ich das jetzt?

„Weißt du”, unterbrach Ren’Ard seine Gedanken, „wenn du so abwesend guckst, siehst du aus wie die Statue in der Hintergasse in der Stadt. Die guckt auch immer, als habe sie zu viel Salb, weißt du von dem schwarzem, geraucht.” Er kicherte.

Cy sah ihn irritiert an. „Ein Witz über Schwarzen Salb? Von dir? Ohne Vorwurf? Und welche Statue?”

„Ach die von der Frau, die früher Umurra regiert hat. Das war beinahe vor meiner Geburt. Na ja. Nicht ganz. Ich war noch sehr klein. Mein Vater hat immer erzählt, sie habe dafür gesorgt, dass es allen gut gegangen sei, habe Recht gesprochen, habe sogar Kraft ihres Willens dafür gesorgt, dass wir nicht in den Nebeln versinken. Mein Vater sagte, schon zu Zeiten meines Urgroßvaters habe sie für uns gesorgt. Sie war sehr mächtig. Aber dann war sie weg. Wahrscheinlich ist sie gestorben. Sie muss ja unglaublich alt gewesen sein. Er sagte, da kam ein Mann und sie sind weggegangen und dann irgendwann hat das Unglück angefangen. Die Insel begann zu sinken. Legenden.” Er schaute hoch. Sein Ton wurde tadelnd.

„Was Schwarzen Salb betrifft – ich sehe Sinn in dunkelbraunen Salb. Als Medizin, aber schwarzer und dann noch so wie du ihn verwendest!“

„Ich habe nie eine Statue dort gesehen.”

„Lenk’ nicht ab. Hättest du das Feld nicht vernichtet und das Zeug weiter genommen, hätte ich es eigenhändig in Brand gesetzt.“ Er wechselte das Thema.

“Was die Statue betrifft, wir waren dort hinten auch noch nie. Wir kommen ja immer nur zum Laden und dann zur Taverne.” Der Alte grinste. „Es ist nur,- ich weiß nicht genau, der Ausdruck in deinen Augen. Irgendwas, ich kann es gar nicht wirklich sagen, sie muss auch recht groß und schlank gewesen sein. Für eine Frau. Ich zeige sie dir das nächste Mal, wenn wir in die Stadt kommen.” Lu’Cyan schüttelte den Kopf.

„Morgen!” sagte er. „Morgen!”

In dieser Nacht passierte es wieder.

Er rannte durch den Wald. In der Ferne konnte er es silbern glitzern sehen. Dort lag sein Ziel. Er wollte weg und dafür musste er dorthin. Dann Yetaan. Wieso hatten sie das getan? Er hätte nicht einmal gedacht, dass es möglich sei. So eine blöde Idee. Als ob er das auch noch brauchte. Nun hatte er sein Schiff erreicht, er drückte die Knöpfe, aber seine Sicht verschwamm. Seine Aktionen interagierten mit den gerade übertragenen Informationen, die Sichtweisen überlagerten und verschwammen ineinander. Er konnte nicht mehr deutlich sehen oder besser, er sah anders. Da wo er sonst ins Dazwischen sah, waren jetzt zusätzlich Turbulenzen. Er kämpfte damit die vielen Informationen in Übereinstimmung zu bringen. Das war einfach zu viel. Er hörte ein lautes Zischen, einen Knall und dann …

Er saß aufrecht in seinem Bett. War das ein Traum gewesen oder wieder eine Erinnerung. Für einen Traum war das zu realistisch gewesen. Aber er hatte doch geschlafen oder etwa nicht? Was ging da nur mit ihm vor? Er versuchte wieder einzuschlafen, doch er war völlig aufgewühlt und so gab er nach einiger Zeit frustriert auf. Leise verließ er die Hütte, um Ren’Ard nicht zu wecken und lief zum Feld, um die die Arbeit vom Vortag zu beenden. Erst war er versucht gewesen, direkt in die Stadt zu laufen und die Statue auf eigene Faust zu suchen, aber so klein Uttoro auch sein mochte, es war wahrlich eher eine Kleinstadt, so wollte er doch nicht ziellos durch die Gassen streifen. Es war durchaus ungefährlich, denn die Menschen auf Umurra waren ruhig und friedlich. Alle standen zusammen und halfen sich gegenseitig. Wer auch immer diese Gemeinschaft ursprünglich geformt und ihre Werte geprägt hatte, hatte einen guten Job gemacht.

Ist das der Grund, warum ich nie wirklich versucht habe, meine Erinnerungen wiederzufinden. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als sei ich nach langer Zeit endlich mal zur Ruhe gekommen und hätte etwas gefunden, was ich so lange gesucht habe. War es Frieden oder etwas Anderes. Als sei ich endlich irgendwo angekommen? Die Tage sind so wunderbar gleichförmig. Ein jeder wie der andere. Man weiß schon am Morgen, wie der ganze Tag sein wird und Ren’Ard ist mir von Anfang an so vertraut gewesen. Als ob ich ihn bereits gekannt hätte oder jemanden, der so war wie er. Bodenständig, fokussiert, organisiert, geerdet. Er sorgt dafür, dass ich im Hier und Jetzt bleibe und das tut mir einfach gut. Vielleicht habe ich das gesucht und deshalb nicht den Wunsch, etwas zu ändern. Andererseits wer war die Frau und diese Erinnerung? Allija. Ich kenne sie und ich bin mir sicher, sie kennt mich. Mehr als gut wahrscheinlich. Anstatt mich zu rügen, hätte sie mir meinen richtigen Namen nennen können, das wäre mal hilfreich gewesen. Oder mein Alter. Oder woher ich komme. Oder wo der Traum spielt oder was mich hierher verschlagen hat oder was ich getan habe, bevor ich Salb geerntet habe oder woher wir uns kennen.

Er unterbrach sich mit einem Grinsen. Hör auf damit! Grübeln nützt nichts. Steigere dich nicht rein. Er brauchte Ren. Dieser würde nur die Augen verdrehen und ihn wieder auf das Wesentliche zurückholen. Er hatte einen Blick dafür.

Doch er musste diese Statue sehen. Falls es eine Chance barg, seine Erinnerung zurückzubekommen, musste er sie nutzen. Normalerweise kam er mit seiner Amnesie gut zurecht. Wie auch nicht. Seitdem hatte ein ganzes Leben stattgefunden. Der Anfang war anstrengend gewesen, doch hatte er sich arrangiert. Trotzdem war dort immer dieses Gefühl, dass ihm etwas Wichtiges entging, etwas Naheliegendes und seit gestern hatte er dieses verdammte Gefühl, dass ihm die Zeit davonlief.

In der Hütte setzte er Salb auf und goss sich eine Tasse voll, dann brachte er eine weitere nach hinten und weckte Ren’Ard. Dieser gähnte: „Ich sehe, der frühe Vogel ist schon auf. Kannst die Arbeit wohl nicht erwarten?”

„Die Arbeit ist bereits erledigt. Ich sagte doch, heute will ich in die Stadt.”

Der Alte sah ihn ungläubig an. „Seit wann bist du auf. Hast du überhaupt geschlafen?”

Cy nickte. „Schon, etwas. Ich habe geträumt. Irgendwas passiert und ich …”, seine Stimme verklang.

Ren gähnte herzhaft. „Gib mir ein paar Minuten, ich brauche etwas mehr Zeit, bis die Knochen wieder sortiert sind.”

Sie wanderten nebeneinander Richtung Uttoro. Der Weg durch den Wald zog sich hin und sie mussten darauf achten, nicht vom Weg abzukommen. Die Nebel machten die Orientierung um diese Jahreszeit bereits schwierig. Es war still. Außer den Schritten, soweit diese nicht von den weißen Schwaden verschluckt wurden, hörte man nichts. Auf Umurra sangen schon lange keine Vögel mehr und wenn es überhaupt noch Tiere geben sollte, so hatten diese sich weit in die tiefen Wälder zurückgezogen.

Ob ich ihm auch erzählen sollte, dass diese silbrigen Blitze damals nicht nur in seinen Augen waren, sondern über seinen ganzen Körper getanzt sind oder regt ihn das nur wieder auf? Er ist seit gestern sowieso so abwesend, wenn ich den Moment wieder verpasse, dann sage ich es wieder nicht. Auch diese komischen Wörter habe ich ihm nie gesagt, er hat sie so oft gesagt, dass sie sich eingebrannt haben. Warum habe ich es ihm nie gesagt. Na, weil sie sinnfrei waren, immer noch sind. Vielleicht weiß er trotzdem, was es bedeutet. Er wusste gestern auch so komische Worte.

Die Gedanken wanderten in Ren’Ards Kopf hin und her, doch er kam zu keinem Ergebnis. Plötzlich unterbrach Cy die Stille.

„Was grübelst du? Hast du vergessen, wo die Stelle ist?”

„Nein. Ich weiß es. Ich war früher oft dort. Es ist ein Platz, an dem viele von uns Blumen und Kleinigkeiten ablegen. Vielleicht habe ich dich deshalb nie mitgenommen. Es ist eine Art heiliger Platz für uns. Ein Altar”

Lu’Cyan nickte. „Und ich bin ein Fremder, trotz allem, ich verstehe.”

Ren’Ard errötete. „Vor allem ist es peinlich, dass wir so einem Aberglauben anhängen und hoffen, dass sie kommt und uns rettet, obwohl wir wissen, dass das nie passieren wird. Wir haben sonst eben nicht viel. Nicht mal mit den Göttern haben wir es so richtig. Sie aber”, er seufzte. „Sie war schon nah dran.”

„Du dachtest, ich verstehe es nicht?”

Ren nickte. „Wie solltest du auch? Du bist nicht hier aufgewachsen.“ Nun schmunzelte er. „Eigentlich doch. Immerhin habe ich dich erzogen. Denn wer immer das vorher getan hat, hat schlechte Arbeit geleistet.“

„Du fandest mich also ungezogen?“

Nun lachte Ren. „Unerzogen habe ich gesagt.“

Cy wechselte lieber das Thema und kam auf die Statue zurück. „Wie war sie? Gibt es Geschichten über sie. Ich vermute, du hast sie nicht gekannt. Sie lebte noch zu deiner Zeit? Was …”

Ren lachte. „Stopp. Ich sage dir, was ich weiß unter der Bedingung, dass du dann nicht weiter nachfragst.“ Als er sah, dass Cy zu einer Antwort ansetzte, lachte er. „Jetzt sage nicht versprochen. Dieses Versprechen hältst du sowieso nicht.” Er zögerte kurz. „Ich war noch sehr jung. Mein Vater hat mir von ihr erzählt. Er sagte, sie selbst habe sich nicht als Herrscherin über Umurra bezeichnet, sondern als Protektorin. Da gab es immer diese Legenden über die ZWÖLF. Aber ich erinnere mich nicht mehr so genau daran, ob sie eine davon gewesen ist oder ob sie von denen eingesetzt wurde. Ersteres wohl eher nicht. Die ZWÖLF sind immerhin Götter. Also war sie wohl eher eine Stellvertreterin. Sie war sehr schön und freundlich. Sie hat dafür gesorgt, dass wir im Licht leben und gegangen soll sie sein, um das Licht zurückzubringen. Weißt du, in meiner Kindheit, war es, dass Umurra in den Nebeln zu versinken begann. Ich kann mich noch an Licht und Sonne erinnern. Auch wenn ich wohl einer der letzten bin. Das aber eine Frau allein dafür gesorgt haben soll, dass die Insel versinkt oder eben nicht, das halte ich für ein Märchen. Eine einzige Frau über Generationen das kann doch nicht die Wahrheit sein. Aber seit ich dich kenne, weiß ich nicht mehr so recht. Es scheint doch recht unterschiedlich zu sein, wie manche altern.” Er seufzte. „Ich weiß also nicht, was für ein Wesen sie war. Vielleicht hatte es doch mit den ZWÖLF zu tun.“ Er machte eine kleine Pause. „Ich war nie jemand, der es so mit Göttern hat. Aber wenn es welche gibt, vielleicht gewähren sie manchen Sterblichen dann ein langes Leben. Immerhin sollen sie Götter sein. Heilkräfte vielleicht. Das würde auch erklären...“ Er brach ab, schluckte und dann gab sich einen Ruck. „Was damals mit dir war und dem Blitz in deinen Augen.“ Er biss auf seine Lippe.

„Ja?“ Cy lachte. „Hat sie auch geblitzt?”

„Nein, sie nicht. Aber du! Da waren viele von diesen Blitzen.” Wieder Schweigen.

„Was? Gestern?”

„Nein. Damals. Du warst sehr schwer verletzt. Diese Verbrennungen, die Knochenbrüche, Schnittwunden. Ich hätte nie gedacht, dass du den nächsten Morgen erlebst. Dass du überhaupt noch am Leben warst, war ein Wunder. Ich wollte dir eigentlich nur das Sterben leichter machen. Dann kamen die Blitze. Sie liefen über deinen Körper, den ganzen Körper, in jener Nacht und am folgenden Tag und in der Nacht darauf und danach, waren die schlimmsten Verletzungen geheilt. Ich habe sowas noch nie gesehen. Es war Magie. Du warst immer noch verletzt. Es hat noch Wochen gedauert, bis alles wieder in Ordnung war. Doch es ist alles geheilt und”, Ren’Ard blieb abrupt stehen, „es ist nicht eine einzige Narbe geblieben.”

„Und warum? Kriegt man diese Kräfte aus einem bestimmten Grund?“ Cy dachte an sein Gefühl der Dringlichkeit.

Ren zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Vielleicht? Andererseits hast du seitdem keine besonderen Fähigkeiten an den Tag gelegt oder Magie gewirkt.“ Er brach ab und betrachtete den Freund nachdenklich.

Sie erreichten die Stadt in einem Schweigen, dass nicht das Angenehme war, dass sich in einer langjährigen Freundschaft einstellen kann, sondern angespannt war. Es setzte Ren’Ard zu, obwohl er erleichtert war, dass er sich den Erlebnissen jener Nacht endlich gestellt hatte.

Auch Lu’Cyan war verwirrt. Wer war er oder musste die Frage eher lauten, was war er? Es war nicht ganz wahr, dass er gar keine Erinnerung an diese erste Zeit hatte. Er erinnerte sich an eine Explosion, an Feuer, dann an nichts. Dann an unglaubliche Schmerzen. Dann wieder an gnädiges Dunkel. Dann an eine beruhigende Stimme, die, das wusste er heute, Ren’Ards gewesen war und ein paar verirrte Gedanken, die für ihn völlig sinnfrei waren und wirr durch seinen Geist gehuscht war. Wollten irgendwelche komischen Götter, von denen er noch nie gehört hatte, etwas von ihm?

„Wollen wir nicht lieber in die Taverne gehen und einen trinken?” Der hoffnungsvolle Ton in Ren’Ards Stimme spiegelte den Wunsch wider, dass alles so sein möge wie vorher.

„Vielleicht danach. Erst die Gasse und die Statue.” Cy drehte sich um. „Bitte, es ist mir wichtig. Ich bin im Moment irgendwie verwirrt. Seit gestern erinnere ich mich an Dinge, die ich so lange nicht mehr wusste und jetzt will ich mehr.”

Der Alte nickte widerstrebend. Er hatte das Gefühl, dass jeder Schritt Richtung der Gasse ein Schritt war, der ihn weiter von seinem bekannten Lebensweg führte und weiter weg von Cy.

Sie wanderten durch die engen Straßen Uttoros, vorbei an den sich zusammendrängenden Häusern. Alles war sauber, als habe bereits jemand alles frisch gekehrt. Die Fenster waren geputzt. Die Scheiben mit sauber gesäumten Stoffen behängt, die das karge Tageslicht durchließen oder kunstvoll bemalt. Kinder spielten in den Straßen und entlockten Ren ein ums andere Mal ein Lächeln. Endlich erreichten sie eine kleine Gasse, an deren Ende eine Statue stand. Zu ihren Füßen fanden sich Blumen und kleine Opfergaben. Sie war lebensgroß gearbeitet. Sie sah aus, als könne sie jeden Moment von ihrem Sockel steigen und sich unter die Leute mischen. Sie war tatsächlich größer als der durchschnittliche Bewohner Umurras, sie war schlank, nicht zu sehr und in ein bodenlanges grünes Gewand gehüllt. Ihre schwarzen Locken reichten bis in die Taille. Ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den roten Lippen war nicht unbedingt hübsch zu nennen, jedoch durchaus apart. Sie wirkte sympathisch. Ihre Augen waren von einem dunklem Braun. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Lu’Cyan bestand tatsächlich. Nicht direkt im Aussehen, mehr in der Haltung und dem Ausdruck der Augen. Ren’Ard konnte nicht genau sagen, was es war. Es war da. Es war so ein Blick, der schon vieles gesehen hatte und vielleicht vieles davon nicht hatte sehen wollen, aber hatte sehen müssen. Wer immer der Künstler gewesen war, er war ein Meister seines Fachs. Lu’Cyan trat nahe an die Statue heran, er hob seine Hand zu ihrem Gesicht und strich sanft mit zwei Fingern über ihre Wangen. Dann sagte er beinahe tonlos:

„Kiara.“

2. Kantarra, Zweisee

Zila kotzte Gift und Galle. Schon wieder hatte ein Kunde einen Abzug vorgenommen, weil angeblich ihr Flugdrachen nicht die erforderliche und vereinbarte Leistung erbracht hatte. Ja, es stimmte, sie hatte jeweils nur einen Teil der Fracht liefern können. Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass MaPuce, ihr Flugschiff, mehr von Glück und gutem Willen als von den eigentlich erforderlichen Ersatzteilen, zusammengehalten wurde. Der Blödmann hatte doch alles bekommen, was er hatte haben wollen. Es hatte halt nur etwas länger gedauert. Sie hatte ihr Schiff nicht so schwer beladen wollen, naja, können. Ok, das hätte sie natürlich vorher klarmachen sollen. Das Leben auf Kantarra war sowieso hart und schwer und diese dämlichen Händler sagten ja auch nie die Wahrheit. Sie ein wenig über den Tisch zu ziehen, sollte eigentlich Anerkennung verdienen – nun ja vielleicht nicht gerade von dem betreffenden Händler selbst, aber – 50 Oklar Abzug wegen verspäteter Lieferung – das war mehr als die Hälfte dessen, was vereinbart war.

Sie fluchte immer noch ausdauernd und leise vor sich hin, als sie die Schenke „Zum toten Wasser“ betrat, in deren Gastraum sie ein Zimmer bewohnte. Noch immer war es hier vergleichsweise sauber und das Essen gut und reichlich. Ihr letzter Luxus – ein Zimmer, das sie nicht mit anderen teilen musste.

Früher hatte sie mal ein Haus gehabt. In einem guten Viertel Zweisees, der Hauptstadt des Fürstentums Ankoia, einem der zwei Fürstentümer der Insel Kantarra. Es war ein kleines Haus gewesen. Aber es hatte zwei separaten Schlafzimmer, ein Badezimmer und einem Raum, in dem man Kunden und Gäste empfangen konnte oder abends gemütlich sitzen konnte gehabt. Es hatte sogar eine richtige Küche und einen kleinen Garten. All das hatte sie schon lange verloren. Nach und nach alles für Ersatzteile versetzt. Was hätte sie schon tun sollen – ihr Schiff war alles was ihr wirklich wichtig war und, totes Stück Drachenschiffschrott hin oder her, sie liebte es.

Über Hinnek, den mittlerweile erheblich außer Form geratenen Wirt der Schenke, kursierte das Gerücht, er sei erfolgreiches Mitglied der Bruderschaft gewesen und habe selbst heute noch gute Kontakte zu dieser Gilde, einer Vereinigung ruchloser Diebe und Mörder, die jeden Auftrag annahmen, so sie dafür bezahlt wurden. Eine solche Verbindung würde erklären, wie er vor vielen Jahren aus dem Nichts hatte auftauchen, die Schenke übernehmen und tatsächlich auch noch streichen und säubern lassen können. Die Antwort auf die Frage, was mit dem Vorbesitzer geschehen war, wollte sie lieber nicht wissen.

Als sie versuchte sich an Hinnek, hinterrücks vorbeizuschleichen, um ungesehen auf ihr Zimmer zu gelangen, keimte in ihr erneut der Verdacht, dass er entweder Augen im Hinterkopf haben musste oder ein Gehör, dass beinahe übermenschlich war. Vermutlich war eher letzteres der Fall. Zu ihrem Pech war er nicht nur hellhörig oder hellsichtig, sondern trotz seiner Körperfülle auch flink.

„15 Oklar …“, hörte Zila seine Stimme dicht an ihrem Ohr „… oder du packst deine Sachen. Auch dann, bleiben 10 Oklar in meiner Obhut und ich biete ihnen ein schönes neues Zuhause.“

„Bist du irre? Ich schulde dir zwei Wochen und vereinbart waren 3 Oklar pro Woche, also 6, meinetwegen 9 für die laufende, aber 15, das sind weitere 2 Wochen im Voraus?“

„Das Zimmer kostet jetzt 5 Oklar, rückwirkend. Preise steigen, verstehste?“

Zila lief vor Wut rot an, der Tag wurde nicht besser. Erst der Händler, jetzt der Wirt, der gleichzeitig ihr Vermieter war und ihr Flugboot brauchte so dringend Ersatzteile. Sie hätte heulen können, helfen, würde ihr das auch nicht. Zahlte sie nicht, säße sie auf der Straße. Naja, sie könnte auf ihrem Boot schlafen, nur war das Übernachten im Hangar streng verboten. Alle hatten Angst vor Diebstählen, denn schließlich waren alle Drachenschiffe in mehr oder weniger bedauernswerten Zustand und jeder hatte Angst, dass sein Schiff als Ersatzteillager missbraucht würde. Allein der Verdacht oder die Möglichkeit reichte aus; wenn man sie dabei erwischte, ihr Schiff zu konfiszieren und ausschlachten. Andere Drachenflieger warteten nur auf eine solche Gelegenheit. Also fiel schlafen auf ihrem Schiff aus, es sei denn, sie nahm es aus dem Hangar und stellte es ins Freie. Ein Frevel. An Schlaf wäre dann auch nicht mehr zu denken; denn dann müsste sie ständig Wache schieben.

Sie seufzte und gab Hinnek von ihren soeben verdienten 45 Oklar 15. Nun hatte sie noch 30. Das reichte nicht mal annähernd für auch nur eines der Ersatzteile, die ihr Schiff so dringend benötigte. Dann konnte sie sich auch ein Essen leisten. Es kam darauf jetzt auch nicht mehr an.

Sie zuckte mit den Schultern und betrat den Gastraum. Dort war es warm und es roch nach ungewaschenen Menschen, nach Eintopf und dem sauren Bier, das auf dieser Insel gebraut wurde. Sie ließ sich an einem Tisch in einer Ecke in der Nähe der Feuerstelle nieder und bestellte bei der drallen blonden Maha eine Schüssel Eintopf und einen Krug Wein. Maha brachte ihr beides und lächelte als sie die gut gefüllte Schüssel vor sie stellte. Zila rührte ihren Eintopf und stellte erfreut fest, dass Maha dafür gesorgt hatte, dass die Schüssel nicht nur wohl gefüllt war, sondern auch mit reichlich Fleisch bestückt.

„Geht aufs Haus”, lächelte sie. „Der Dicke, so lieb ich ihn habe, hat es wirklich übertrieben. Du bist so eine ruhige Mieterin und nie müssen wir deinetwegen, Möbel ersetzen oder den Kammerjäger rufen.” Dann wurde ihre Stimme ganz leise. „Übrigens, danke deiner Freundin, dass sie die Ratten in der Vorratskammer erledigt hat.” Maha schob unter dem Tisch ein Stück rohes Dissifleisch in Zilas Hände, welches diese schnell in ihrer Tasche verschwinden ließ. Zila nickte und lächelte.

„Danke”, sagte sie.

„Ich hoffe, es schmeckt.” Maha wandte sich ab.

Zila tauchte den Löffel in ihre Schüssel und gab sich der warmen Mahlzeit hin. Normalerweise kaufte sie ihr Essen nur schnell im Vorbeigehen und immer das Billigste, das sie finden konnte. Alles Geld floss in ihr Flugboot. Es war nie genug davon übrig, um ihr Schiff in einen Zustand zu versetzen, der es ihr erlaubt hätte, mit guten Gewissen zu starten, zu landen und vor allem zu fliegen. Alles wurde immer teurer.

Damals, als sie ein junges Mädchen in der Ausbildung war, ja noch bevor sie zur Drachenfliegerin ausgewählt wurde, hatte sie immer vom freien unbeschwerten Leben der Drachenflieger geträumt. Immer wurde ihr gesagt, wie glücklich sie sein müsste auserwählt worden zu sein – ha, als habe ihr Vater nicht viel Gold für diese Auswahl gezahlt. Fliegen und ein Leben in Luxus oder zumindest ohne finanzielle Sorgen, das hatten die Drachenflieger immer geführt. Aber mit jedem Jahr wurden die Zeiten härter und schlechter, nicht nur für die Drachenflieger, für alle.

Nachdem sie den letzten Rest des wirklichen köstlichen Eintopfs mit dem Brot aus der Schüssel gewischt hatte, streckte sich Zila genießerisch, so satt hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Gutes Essen hob doch wirklich die Lebensgeister. Jetzt fehlte zu ihrem Glück nur noch ein heißes Bad.

Sie schloss ihre Zimmertür auf und überlegte, ob sie das Geld, das sie beim Abendessen gespart hatte, nicht im Badehaus ausgeben sollte, da lief ihr ein Schauer über den Rücken und eine plötzliche Abneigung gegen warmes Wasser erfasste sie.

„Hallo, meine Süße. Ich hatte ganz verdrängt, dass Maha ja schon angedeutet hatte, dass du die Vorratskammer besucht hast. Ich freue mich, dass du geblieben bist.” Sie zog das Dissifleisch aus der Tasche und schneller, als sie der Bewegung zu folgen vermochte, war es auch schon aus ihrer Hand verschwunden.

„Oh nein, das kann ja wohl nicht dein Ernst sein. Zabot, bitte nicht auf dem Bett – kannst du bitte das Fleisch auf dem Boden nochmal töten?”

Zabot ignorierte Zila geflissentlich und zeigte ihr demonstrativ das Hinterteil, nur das Peitschen des Schwanzes zeigte an, dass sie ihre menschliche Freundin sehr wohl gehört hatte, dieser aber derzeit keine Aufmerksamkeit widmen wollte. Mit drei schnellen Schritten war Zila am Bett und zog an der Decke, um die Katze vom Bett zu vertreiben. Zabot war eine Zebalkatze und auf Kantarra heimisch. Sie reichte der zierlichen Zila beinahe bis zur Brust und war in deren Augen mit ihrem gräulichen Fell, das silbrig schimmerte, wenn die Sonne darauf fiel, wunderschön.

Jetzt jedoch knurrte sie ungehalten und maß ihre menschliche Freundin mit einem Blick aus gelben Augen. Dann verzog sich Zabot mit einem kurzen Knurren in eine dunkle Ecke. Ihre Beute nahm sie mit und verbarg diese dort in dem Wäschehaufen, den die Wäscherin gerade erst vorbeigebracht hatte.

Resigniert ließ Zila den Kopf hängen – Katzen konnten einen den letzten Nerv rauben, diese ganz besonders, denn solche Aktionen – da war sich Zila sicher – waren pure Absicht. Zabot war einfach in ihren Handlungen oft zu zielgerichtet und zu sehr auf Krawall oder Unfug aus, um ihr noch unterstellen zu können, sie sei nur ein dummes Tier. Außerdem meinte sie gerade ein leises Schnauben zu hören. Wäre Zabot ein Mensch hätte Zila, Stein und Bein geschworen, dass diese gerade ein Prusten unterdrückte.

Zila zog sich schnell aus und schlüpfte in ihr Bett, nur um kurz darauf das vertraute Gewicht auf ihren Beinen zu spüren. Sie lächelte, auch wenn sie eben noch ein bisschen ärgerlich über die Sauerei gewesen war, die Zabot angerichtet hatte, so war sie doch froh, dass die große Zebalkatze offensichtlich vorhatte, eine Weile zu bleiben und seien es auch nur ein paar Stunden. Eine Welle von Zärtlichkeit rollte über sie hinweg und sie fühlte sich plötzlich geliebt und geborgen. Selbst als sie hörte das Zabot genüsslich auf ihrer Decke die Reste des Dissifleisches verspeiste, war sie nicht mehr bereit, die angenehme Wärme ihres Bettes aufzugeben und schlief ein.

Zila erwachte am nächsten Morgen als ihr eine warme raue Zunge mitten durch das Gesicht fuhr. Gleichzeitig schoss ihr der Gedanke an das gestrig gewünschte, aber dann nicht genommene Bad durch den Kopf.

„Igitt”, entfuhr es ihr, „Zabot, du kannst warmes kuscheliges Badewasser nicht durch eine Katzenwäsche ersetzen. Jetzt brauche ich erst recht ein Bad.”

Jetzt mussten sich beide vor Abneigung schütteln, die eine wegen der Vorstellung den eigenen Körper in Wasser zu tauchen, die andere es nicht zu tun und mit Katzenspucke beklebt den ganzen Tag durch die Stadt laufen zu müssen. Schließlich galt es einen Kunden zu finden, der ihr einen Auftrag erteilen und damit das notwendige Kleingeld für Unterkunft, Essen und vor allem – die Ersatzteile – einbringen würde. Zabot streckte sich und drehte die Ohren Richtung Tür. Kurz darauf klopfte jemand, als wolle er die Tür eintreten.

„Mach auf, ich habe einen Auftrag für dich.” Zila strich sich schnell die Haare aus dem Gesicht und öffnete die Tür.

„Du hast einen Auftrag für mich.”

„Hm, jo – falls du den nimmst, kriegst du 100 Oklar. Ist auch nichts Weltbewegendes – nur ein kleiner Transport eines Bekannten. Nach Arkana.”

„Nach Arkana? Jetzt? Um diese Zeit? Bist du irre? Bei dem Wind ist das extrem gefährlich. Ich muss einen Querkurs fliegen und das dauert leicht bis zu einem vollen Mond; und das jeweils für eine Tour; bei deinen Zimmerpreisen bleiben mir von den 100 Oklar gerade mal noch 70, wenn überhaupt und auch dann nur, wenn ich es überlebe. Was um alles in der Welt will jemand denn um diese Zeit auf Arkana? Da ist es jetzt eiskalt!”

Zila verkniff sich die weitergehende Frage, was man überhaupt auf Arkana wollen könnte – die Nachbarinsel war eine rückständige Einöde, in der die Menschen glaubten, sie seien zivilisiert, wenn sie das Wasser vor dem Trinken abkochten, so sie noch wussten, wie man ein Feuer entzündete. Naja, vielleicht übertrieb sie ein bisschen, aber seitdem dort die Diener des Heils ihre Lehre immer stärker durchsetzen, war die gesamte Wirtschaft und alles was Zila als zivilisiert ansah, zum Erliegen gekommen. Die religiöse Lehre der Diener des Heils schrieb vor, dass jeder nach Ablauf einer Tageslichtstunde für eine zweistündige Andacht die Gebetshäuser aufsuchen musste, um den Göttern zu danken. Nach Einbruch der Finsternis herrschte Ausgangssperre; dass sich das ganze religiöse Zinnober auf Handel, Landwirtschaft und Handwerk ausgewirkt hatte, war keine Überraschung. Insbesondere galt das für das Baumaterial von Flugdrachen oder Flugbooten.

„Bis du wieder da bist, brauchst du die Zimmer nicht zu bezahlen und ich halte sie dir frei. ”

„150 Oklar und zwei weitere Wochen, wenn ich wieder da bin.”

„Übertreib es nicht Zila. 120 und die zwei zusätzlichen Wochen. Mein letztes Angebot.”

Zila schluckte. Hinnek musste sie dringend anheuern wollen. Irgendwas stimmte mit dem Auftrag nicht, aber sie konnte das Geld so gut gebrauchen.

„Bezahlung im Voraus!” Gerade war ihr klargeworden, dass sie auf Arkana notwendige Ersatzteile für MaPuce bekommen könnte. Wahrscheinlich erheblich günstiger als in Zweisee.

„Die Hälfte”, er gab ihr einen Beutel, „Ihr trefft euch am Hangar”, mit diesen Worten drehte er sich um und stampfe die Treppe runter.

Hinter Zila schnaubte Zabot. Zila schloss die Tür und drehte sich zu ihr um. Die große Katze sah sie lange an und kniff dann die Augen zu. In Zilas Kopf entstand ein Bild.

Ein Wald, aber dort war es ganz still, kein Vogel sang, keine Insekten waren zu hören. Es war dort unnatürlich ruhig. Es war neblig, so neblig.

„Ich hasse es, wenn du das tust. Vor allem, weil ich keine Ahnung habe, wie du das tust. Du hast zwar Recht, ich habe eben auch gedacht, irgendwas an diesem Auftrag stimmt nicht, aber ich brauche das Geld so dringend. Ach Zabot, ich verspreche dir, ich komme zurück.”

Zila streichelte die Katze und diese schmiegte sich kurz an sie. Dann sprang Zabot auf die Fensterbank und war kurz darauf verschwunden. Zila lächelte und grinste. Jetzt würde sie erst einmal das Bad nehmen, das ihr Zabot gestern verleidet hatte. Hinneks Bekannter würde warten müssen. Zila nahm eine kleine Tasche und packte dort schnell ein paar frische Sachen ein. Leider hatten die meisten davon Fett- und kleinere Blutflecken, da Zabot gestern einen Teil ihres Abendessens dort verspeist hatte. Das musste nun so gehen. Die Zeiten, dass Drachenflieger immer wie aus dem Ei gepellt aussahen, waren vorbei. Heute war sie froh, dass sie Sachen zum Wechseln hatte und einige ihrer Sachen nicht verschlissen waren.

„Hm, ein paar warme Sachen könnte ich auch brauchen, Socken, einen Pullover – da draußen ist es wirklich kalt. Mit einem zusätzlichen Pullover passt meine Jacke nicht mehr”, Zila fluchte, „toller Auftrag, der mich so viel kostet – klar kaufe ich gerne ein, aber ich brauche auch den Winkelflügel. Was mache ich denn bloß?” Zila hielt inne.

„Zunächst fange ich mal damit an, nicht ständig Selbstgespräche zu führen. Irgendwann hört mich noch mal einer. Baden fällt auf keinen Fall aus.”

Zila packte Kleidung in eine Tasche und verließ ihr Zimmer. Im Flur begegnete sie Maha und wünschte ihr einen guten Morgen.

„Hinnek hat mir schon gesagt, dass du einige Zeit fort sein wirst, nur hat er mir nicht gesagt, wohin du gehst?”

Maha war immer verstimmt, wenn Hinnek ihr gegenüber Heimlichkeiten hatte. Zila hatte sich schon oft gefragt, auf welche Weise dieses Paar einst zueinander gefunden hatte. Maha war großzügig, warmherzig und so ehrlich wie nur jemand sein konnte. Hinnek hingegen hatte gerne seine Geheimnisse und war zudem der Inbegriff des gierigen Wirtes. Zila konnte nur zu leicht glauben, dass er mal zur Bruderschaft gehört hatte oder – da man diese eigentlich nicht verließ – immer noch gehörte. Maha behauptete immer wieder, dass unter seiner habgierigen, fiesen Schale ein weiches Herz schlummerte, dass durchaus in der Lage sei, auch etwas für andere zu tun, ohne eine Gegenleistung zu verlangen.

Was zu beweisen wäre, grinste Zila in sich hinein.

„Er hat mir einen Auftrag vermittelt, mehr weiß ich auch nicht”, wich sie aus. „Ich brauche jetzt erstmal ein Bad und dann kaufe ich Proviant, sehe, ob ich das eine oder andere Ersatzteil auftreiben …“, – und hoffentlich auch bezahlen, fügte sie im Gedanken hinzu, „kann“. Außerdem brauche ich ein paar warme Sachen, Socken einen Pullover, eine neue Jacke.”

„Komm nach dem Bad einfach noch mal her”, Maha grinste, „ich habe noch ein paar Sachen von früher aus meiner Jugend. Es ist unwahrscheinlich, dass ich da jemals wieder reinpasse”, sie schaute an sich runter und schmunzelte. „Naja Hinnek gefällt es so und mir schmeckt es halt immer so gut und niemand zweifelt an meinen Kochkünsten. Ich packe dir auch Proviant ein – aber psst, das bleibt unter uns. Ich kann auch Geheimnisse haben, wenn er mir nicht alles sagt, kriegt er das zurück.”

Die beiden Frauen lächelten sich verschwörerisch an und Zila nickte. Dann verließ sie das Haus und wandte sich Richtung Badehaus.

Sie wanderte die Straße nach Westen, überall waren schon die Marktstände aufgebaut. An einem davon kaufte sie schnell ein Stück Brot, und eine Tasse von einem Gebräu, das sich zwar Salb nannte, aber so dünn war, dass man das Wurzelmark nur entfernt ahnen konnte. Aus irgendeinem Grund gab es immer weniger und es wurde immer teurer. Aber das aus Getreidekörnern gekochte Getränk schmeckte einfach nicht und puschte auch weniger auf. Wahrscheinlich war der Salb nicht mal echt, sondern nur ausgekochte Rinde mit ein bisschen Salb für den Geschmack. Zila fragte sich, ob sie sich eine richtige Tasse Salb überhaupt leisten könnte. Sie reichte der Dame am Stand 60 Oklys und dachte wehmütig an die Zeit, als ein Brot noch wenige Oklys kostete und etwa doppelt so groß war. Jedes Jahr wurde alles teurer und weniger. Die Wirtschaft kam immer mehr zum Erliegen. Umurra, seit Jahrzehnten in den Nebeln versunken. Arkana, unterjocht von religiösen Fanatikern an der Macht war genauso verloren, als ob es selbst in den Nebeln versunken wäre.

Zila bog um die Ecke, nahm den letzten Bissen ihres Frühstücks und stand vor dem Eingang zum Badehaus. Sie zahlte ihren Eintritt und ließ sich kurz darauf in das wohlig warme Wasser sinken. Sie seufzte tief und wusch sich den Dreck der letzten Tage, nicht zu vergessen die Katzenspucke des heutigen Morgens, von Körper und Gesicht und streckte sich dann genüsslich und genoss die Wärme. Dabei bemühte sie sich, nicht daran zu denken, wie viele heute Morgen bereits vor ihr gebadet hatten. Das Wasser wirkte noch recht sauber und es war immer günstiger, morgens die Badehäuser aufzusuchen als am Abend. Normalerweise wurde das Wasser morgens gewechselt und die meistens badeten eher abends nach der Arbeit.

Während sie im warmen Wasser lag, dachte sie an den Winkelflügel. Sie hatte diesen bei einem Händler in der Westhälfte von Zweisee gesehen und der Händler hatte keine Ahnung gehabt, was der gebogene Winkel war. Wenn ich es richtig anstelle, kann ich das Ersatzteil dort erwerben, ohne meine gesamten Ersparnisse aufzubrauchen. Mal sehen, was ich ihm erzähle, was das Ding stattdessen ist. „Wenn ich mich nicht irre, solltest du längst am Hangar sein, um dort jemanden zu treffen?” Eine ätzende männliche Stimme, triefend vor Ungeduld.

Zila verschluckte sich fast, als sie versuchte im Wasser gleichzeitig unterzutauchen, um ihre Blöße zu verstecken und empört den Eindringling lautstark ihre momentanen Gedanken ins Gesicht zu schleudern, keiner davon freundlich oder jugendfrei. Dabei verfluchte sie, dass das Wasser eben doch noch relativ klar war und so gar nichts verbarg.

Ok, man kann es mir nicht recht machen. Laut sagte sie: „Was zum Teufel soll das? Ich bade! Wer hat dich reingelassen? Wer bist du überhaupt? Reich’ mir gefälligst ein Handtuch!”

Ein süffisantes Grinsen war die einzige Antwort, die sie bekam. Dann verdächtig langsam, langte er nach den Handtüchern, die auf dem Stapel am Becken lagen und reichte ihr eines, nicht ohne noch einen langen Blick auf ihren Körper zu werfen.

„Ich denke, dass wird eine durchaus angenehme Reise.”

Zila wurde rot bis in die Haarspitzen. Das konnte ja wohl nicht wahr sein. Dieser unverschämte …

„Wie war das bitte? Im Hangar? Wer bist du überhaupt? Was willst du schon davon wissen, wie eine Reise mit mir sein wird oder welchen Belang mag es für dich haben, ob sie angenehm … Oh”, jetzt schwieg Zila und das Rot vertiefte sich weiter. „Du bist der Kunde. Upps.”

Sie griff nach dem Handtuch und wickelte sich darin ein. Als sie nicht mehr nackt war, hatte sie sich auch wieder gefasst. Der Zorn, den sie als absolut gerecht empfand, kehrte in voller Stärke zurück. Sie griff nach einem zweiten Handtuch, wickelte es sich um den Kopf, zählte noch einmal langsam bis zehn und stellte fest, dass dies gar nichts half. Sie drehte sich um und brüllte den Besucher an:

„Raus hier! Ich will dich frühestens am Hangar wiedersehen und das ist mir eigentlich noch zu früh. Bis dahin mach dich nützlich und besorge lieber den Proviant und wage es nicht, ihn irgendwo auf meinen Namen anschreiben zu lassen. Du kannst ihn bezahlen. Ich habe meinen Teil ja gerade geleistet.”

Der Mann machte zunächst keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. Er war etwa zwei Köpfe größer als Zila und muskulös, das aschblonde Haar war so kurz geschnitten, dass es fast aussah, als habe er keine Haare. Am interessantesten an ihm war, dass seine Gesichtszüge so uninteressant waren, dass man Mühe hatte, sie