Nicht alle Tage - Markus Vinzent - E-Book

Nicht alle Tage E-Book

Markus Vinzent

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Beschreibung

Dass das Sterben zum Leben gehört, ist eine Binsenweisheit. Trifft der Tod jedoch einen geliebten Menschen viel zu früh, steht man unvermittelt vor unfassbarer Leere. Markus Vinzent verarbeitet diese allzu menschliche Erfahrung in Form des vorliegenden Romans. Die Dehnung der Zeit durch detaillierte Schilderungen ist dabei ebenso eindrückliches Stilmittel wie die Darstellungen von Nähe und Verlusterfahrungen. Vinzent liefert eine imposante Seelenanalyse der beschleunigten und globalisierten Gegenwart der Mittelschicht – und zugleich eine Meditation über ein gutes Leben und ein gutes Sterben.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 813

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Markus Vinzent

Nicht alle Tage

Band I

Markus Vinzent

Nicht alle Tage

Band I

©2025

der blaue reiter

Verlag für Philosophie

Siegfried Reusch e. K.

Göttinger Chaussee 115 • D-30459 Hannover

[email protected]

www.verlag-derblauereiter.de

Gestaltung: s+p mediendesign, Stuttgart

Umschlag: Unter Verwendung von: Adak Pirmorady: Ohne Titel. Acryl auf Leinwand, 2024 (Ausschnitt)

Lektorat: Jan Urbich

Druck: CPI Druckdienstleistungen GmbH, Ferdinand-Jühlke-Straße 7, 99095 Erfurt

ISBN: 978-3-933722-94-2

eISBN: 978-3-933722-98-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne schriftliche Genehmigung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Inhalt

Kapitel I Anika

Anika und Feeny

Urlaub auf Kreta

Geschichte von sich schütteln

Lichtschatten über Anika

Kapitel II Feeny

Es dämmert

Alles wird gut, Feeny

Mind the gap

Rhythmus

Wieder Anika und Feeny

Feenys Glatze

Feeny in Panik

Kapitel III Bruno und Anika

Im Paradies angekommen

Anika angefragt

Auf Ausflug nach Klein Breslau

Offene Wunden

Ausbildung und Flucht

Kapitel IV Abriss

Feeny bricht aus

Faszination Feeny

Durch die Nacht

Feenys Halbmarathon

Überraschung

Türen schließen sich, um sich zu öffnen

Laufsteg

Kapitel V Wege und Umwege

Anika und Feeny in Kenia

46 wird man nicht jedes Jahr

Pläne für die Insel

Was ist Ende, was ist Anfang?

Gehen, wenn wenig geht

Zum Roman

Personenverzeichnis

Erläuterungen

Kapitel IAnika

Nicht alle Tage nennet die schönsten der,

Der sich zurücksehnt unter die Freuden, wo

Ihn Freunde liebten, wo die Menschen

Über dem Jüngling mit Gunst verweilten.

Friedrich Hölderlin

Anika und Feeny

Anika schaute in ihren Kalender, Freitag, 12. Februar 1988 – den Nachmittag in München hatte sie sich freigehalten, Meetings standen keine an, keine Treffen mit Studierenden. Das Einzige, was sie sich für diesen Tag eingetragen hatte, war der Besuch bei der Modekünstlerin Feeny Achner in der Sendlinger Vorstadt. Sie hatte Feeny kontaktiert, weil sie Fotos von ihr als Model gesehen hatte. Feeny meinte am Telefon, sie habe einige neuere Werke in ihrem Studio hängen und Anika eingeladen, sie zu betrachten. Anika plante eine Ausstellung, bei der nicht nur die Fotografen, sondern auch die Models im Mittelpunkt stehen sollten.

Die Fotos hingen im Flur und in den beiden Räumen des Salons, meist Schwarz-Weiß-Akte von Feeny. Von Bild zu Bild erklärte Feeny die Posen, was diese für sie bedeuteten, und war gespannt, von Anika zu erfahren, wie eine Kunsthistorikerin die Werke betrachtete und erläuterte. Anika hatte Mühe, sich zu entscheiden, wohin sie schauen sollte, auf das Model in den Fotos oder auf die Erscheinung, die neben ihr in einem weiten, hauchdünnen und durchsichtigen Oberteil stand, das ihr knapp über die Hüfte reichte.

„Sieh, hier eine Studie mit einem Voilekleidchen, das ich entworfen und genäht habe und heute für dich trage, es wurde für Katalogaufnahmen abgelichtet!“ Das von ihr benutzte Du klang nicht nach Anbiederung, schien ernst gemeint, und Anika ließ sich darauf ein.

Feeny zeigte auf Kleid und Körper, drehte sich um und ging durch den Flur wie ein Model auf dem Catwalk. Anika verfolgte ihren Gang. Feeny setzte mit langen Schritten, gleichmäßig und fließend Fuß vor Fuß, bewegte sich entlang einer unsichtbaren Linie, überquerte diese leicht. Ihre Arme schwangen locker, natürlich, eher unmerklich. Nach einer Pose kehrte sie um, schritt auf Anika zu und schaute ihr geradewegs entgegen, auffordernd und entwaffnend zugleich. Anika wusste nicht, wie ihr geschah. Selbstbewusst kam Feeny auf sie zu, drückte sie an sich und fragte: „Darf ich Dir auch meinen Massageraum zeigen und dich verwöhnen? Ich lebe nicht nur von meinen Stoffen, Kleidern und den Bildern.“

„Welche Art Massagen bietest du an?“

„Medizinische, aber auch sinnlich-erotische, body-to-body, und, wenn du willst mit happy ending. Hast du schon die Erfahrung einer Tantramassage gemacht?“

Bevor Anika antworten konnte, führte Feeny sie in eine Umkleide und verschwand in einem Nebenraum, um sich vorzubereiten. Anika atmete durch, ihr blitzte kurz die Frage auf, ob es o.k. sei, sich auf Feenys Einladung einzulassen. Warum nicht, dachte sie dann, sie würde nicht nur Feeny als Modekünstlerin engagieren, sondern in ihrer ganzen Person – und eine Massage, Zeit für sich zu haben, ja warum nicht, dachte sie. Noch etwas unsicher, entkleidete sie sich, duschte und legte sich auf die bereitstehende breite Massagematratze.

Feeny trat zu ihr, strich mit ihren zarten Händen über ihren Rücken, um sich mit einem festen Griff in die ausgeprägten Schultermuskeln ihrer Klientin zu graben. Mit kräftigen Kreisbewegungen massierte sie diese hin zum Hals und vom Hals zurück zu ihrer Schulter. Anika stöhnte leicht, Feeny stretchte Haut und Muskeln, knetete sie mit beiden Fäusten entlang des Rückgrates, schob das lange, blonde Haar von Anika zur Seite, grub sich tiefer in ihren Körper ein. Anika spürte jede einzelne ihrer Wirbel. Feenys Finger tasteten, arbeiteten sich durch die dazwischenliegenden Hügel in die Tiefen, sie schienen durch die Haut hindurch bis in ihr Innerstes zu dringen und versetzten Anika in Trance, ihr wurde heiß und kalt, als sie meinte, Feenys Brustspitzen spüren zu können, die ihren Rücken rhythmisch streiften.

Während Feeny Anika mit ihren Händen und Fingern walkte, erzählte sie von ihren Erlebnissen aus der vergangenen Woche, von den Schwierigkeiten, ihren Massagesalon als Alleinunternehmerin zu erhalten. Anika versuchte sich zu konzentrieren, ihr zu lauschen. Feeny berichtete, dass sie Tage zuvor beim Brötchenholen an der Straßenkreuzung gegenüber der Bäckerei eine dunkle Gestalt stehen sah, von der sie sich beobachtet fühlte. Kaum sei sie mit der Brötchentüte in der Hand auf ihrem Heimweg gewesen, habe sie bemerkt, dass ihr eine stämmige Person zu folgen begann.

„Unaufhaltsam beschleunigte sich mein Schritt, aus einem entspannten Gehen wurde ein Wettlauf, doch der Mann blieb mir auf den Fersen. Hätte ich doch nur Hassia, den Schäferhund meiner Nachbarin, mitgenommen, den ich sonst die Woche ausführe“, sagte sie.

Völlig außer Atem habe sie ihre Haustür erreicht, von der mysteriösen Gestalt in ihrem Schatten keine Spur.

„Erleichtert verschloss ich die Tür hinter mir. Doch kaum hatte ich die Brötchen auf den Tisch gelegt, läutete die Türglocke. Plötzlich erschrak ich, hatte nicht den Eindruck, einen neuen Kunden vor der Tür zu haben. Schließlich trat ich zur Haustür und fragte: ‚Was wollen Sie?‘ Der Unbekannte, dessen Umrisse ich durch das trübe Milchglas nur schleierhaft ausmachte, antwortete mit drohender Stimme: ‚Es geht um deinen Schutz – dein Geschäft ist krass gefährlich. Und wenn du willst, dass dir nichts passiert, mach die verdammte Tür auf – dann sag ich dir, was du tun sollst.‘ ‚Ich brauche keinen Schutz – scheren sie sich davon!‘ war meine Antwort.“

Verächtlich lachte Feeny auf, als sie Anika diese Konfrontation erzählte, vielleicht, um ihre Panik zu überspielen.

„Als ob ich mich von irgendjemand Dahergelaufenem einschüchtern ließe!“

Anika hatte nicht den Details folgen können, sie war eingenommen von den zunehmend heftiger werdenden Massagebewegungen, die sich mit Feenys Erregung steigerten. Sie ahnte aber, welchen Herausforderungen Feeny ausgesetzt war, als alleinstehende Zweiundzwanzigjährige in der Vorstadt von München einen Massage-Salon zu betreiben.

„Er war nicht der einzige Typ und auch nicht der letzte, der mich bedrohte. Es sind diese Outlaw Motorradgangs, dreckige Blutsauger – ich hatte bald herausgefunden, dass er zu den Bad Angels gehört. Sie waren sicher von meiner Konkurrenz auf mich aufmerksam gemacht worden und wollten mich entweder auspressen oder vom Markt fegen. Doch sie haben nicht mit mir gerechnet.“

Feeny, obwohl von feiner Statur und grazilem Auftreten, war von zähem Charakter. Sie hatte sich zu Beginn ihres Modedesign-Studiums bei der Münchner Stadtverwaltung für einen Studierendenjob beworben und die ihr angebotene Arbeit als Nachtportierin in einem der städtischen Asylbewerberheime angenommen. Interessiert hatte sie nicht nur die Arbeitszeit: Vier Nächte pro Woche, um elf am Abend hatte sie sich dort einzufinden, um sieben am Morgen war Schichtende. Gefallen hatte ihr auch die Aussicht, mit Menschen anderer Kulturen in Kontakt zu kommen – begeistert von Kleidung, Naturstoffen und Wohnungsinterieurs, die aus Nordafrika stammten.

Von ihrer Nachtarbeit fuhr sie in der Regel direkt in die Fachhochschule, verbrachte die erste Stunde in der Bibliothek und besuchte dann ihre Vorlesungen. Am Nachmittag legte sie sich für ein paar Stunden schlafen. Schnell hatte sie sich an die Routine gewöhnt, wollte jedoch irgendwann aus dem Zweibettzimmer im Studierendenwohnheim ausziehen. Obwohl sie sich mit ihrer Mitbewohnerin bestens verstand, träumte sie schon lange von der Freiheit ihrer ersten eigenen Wohnung. Doch es fehlte ihr an dem nötigen Kleingeld. Auf der Suche nach einem weiteren Job wurde sie schließlich am schwarzen Brett ihrer Universität fündig – ein unscheinbarer Abreißzettel weckte ihre Aufmerksamkeit: „Masseuse gesucht – mit der Möglichkeit, angelernt zu werden, flexible Zeiten“. Das schien ihr passend, weil sie an zwei weiteren Tagen, an denen sie keine Nachtschicht hatte, vom Nachmittag bis in die Nacht dort arbeiten konnte, so dass sie ihre Vorlesungen am Morgen nicht verpasste.

„Weißt du, Anika, am Anfang waren mir die Arbeitszeiten des Salons schon etwas seltsam vorgekommen, auch wenn sie genau zu meinem Lebens- und Arbeitsrhythmus passten. Doch nachdem ich feststellte, dass das Team lediglich aus Frauen bestand, die Mehrzahl der Kunden Männer waren und die Massage mehr als nur Wellness bedeutete, dämmerte es mir. In den ersten Tagen gaben sie mir nur Kundinnen, auch wenn ich schnell verstanden hatte, dass diese nicht nur für eine medizinische oder kosmetische Anwendung kamen, sondern sinnliche und intime Massagen wollten. Vielleicht hätte ich mir diese Arbeit gar nicht zugetraut, wären nicht meine Kolleginnen gewesen und hätten sie mir den Start nicht derart erleichtert. Die Bezahlung für die zwei Tage Arbeit war erheblich höher als der Lohn, den ich von der Stadt für meinen ersten Job bekam – und, wenn ich verglich, herausfordernder und gefährlicher war dieser auch nicht. Außerdem rechnete ich mir aus, dass ich auf diese Weise bald die Nachtschichten reduzieren und damit konzentrierter studieren könne.“

Anika hörte ihr kommentarlos zu und ergab sich ihren mal zarten, mal heftigeren Handgriffen.

„Dreh dich bitte um“, bat Feeny. Sie begann, die Stirn, das Gesicht, den Hals und den Brustkörper ihrer Kundin zu lockern. Je tiefer sie kam, desto angespannter fühlte sich Anika. Nachdem Feeny ihr die Füße, die Unter- und Oberschenkel hin und her geknetet hatte, legte Feeny das seidene, vorne offene Kleid ab. Beherzt setzte sie sich auf ihre Oberbeine, ihre Knie rechts und links von Anika.

Aus den Massagegriffen wurde ein liebevolles und verspieltes Streicheln – nicht nur mit den Händen. Feenys Arme, Beine, Haare und Brüste, ihr gesamter Körper schmiegte sich an Anika. Etwas ungewohnt, feucht und anregend spürte sie Feenys Zunge sachte entlang ihres Schlüsselbeins hin- und herstreifen, bis sie sich entlang ihres Halses zu ihrem Ohrläppchen hin bewegte. Leise machte Anika Feenys Atem an ihrem Ohr aus – im Rhythmus ihrer Massagegriffe.

„Darf ich dich streicheln?“, fragte Anika schüchtern.

Feeny nickte, griff Anikas Hand, führte sie entlang ihrer Beine, hinauf zur Taille und zögerlich, aber ohne Halt weiter über ihren Unterbauch hinab. Der Tag wurde zur Nacht, die Nacht zum Traumflug. Anika entkam sich selbst und all dem, worin sie sich gefangen fühlte.

Feeny lag noch eine Zeitlang neben ihr, strich über ihre Haut. Mit ihren goldbraunen Haarspitzen kitzelte sie ihre Brüste. Anika genoss die Zeit.

Schließlich gab Feeny ihr einen Kuss, erhob sich und verabschiedete sich ins Bad. Anika blieb auf dem Rücken liegen, bis Feeny halb angezogen zurückkam und sie selbst das Bad aufsuchte. Mit einer herzlichen Geste wollte sie sich von ihr verabschieden: „Ob ich dich nochmals besuchen kann?“

„Gerne, wenn dir meine Massage gefallen hat? Heute warst du eingeladen, Massage auf Probe!“

„Du bist wunderhübsch! Ich liebe deine Fingerspitzen, deine sanfte und deine raue Seite, du hast mich von mir selbst entführt – ja, bitte, auch wenn ich noch nicht weiß, wann wir uns wieder sehen können. Jetzt zum Semesterende habe ich viel zu tun, muss noch einige Arbeiten korrigieren, Examensarbeiten lesen und etliches Administratives für den Professor tun, bei dem ich meine Doktorarbeit beginnen werde.“

Vor Anikas Augen blitzte ihr Kalender der nächsten Wochen auf, der sie abrupt in ihre Realität zurückholte. Sie hatte ein paar Tage Urlaub zu zweit auf Teneriffa gebucht, die sie zusammen mit ihrem Freund Bruno verbringen wollte. Doch auch diese freien Tage sollten nicht von den Nachwehen des auslaufenden Semesters unberührt bleiben. Auch eine sich direkt an den Urlaub anschließende Exkursion zu verschiedenen Orten der Erinnerung in Deutschland und Polen, die sie als Hilfskraft am Lehrstuhl zusammen mit Studierenden im Auftrag ihres Professors geplant hatte, stand ihr noch bevor.

Sie war in ihrem Institut im Bereich der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts tätig. Das Institut wurde von zwei Lehrstuhlinhabern geleitet – natürlich männliche Professoren –, wobei erstmals ein junger Professor aus den USA berufen worden war, aktuelle Themen zu bewegen. Zu sehr schien ihr das Institut in seiner langen Geschichte in traditionellen Herangehensweisen an Kunst und Kunstgeschichte verfangen zu sein. Dennoch genoss es weltweite Bekanntheit. In den Vorlesungen saßen in den ersten Reihen vor allem ergraute Häupter, alte, meist weiße Männer. Sie waren die ersten, die ihre Hände hoben und ihre Fragen gern als belehrende Vorträge verkleideten, bevor die jüngeren Studierenden, von ihnen eingeschüchtert sich überhaupt zu äußern wagten. In ihren eigenen Proseminaren rief Anika gewöhnlich abwechselnd Stimmen aus den verschiedenen Altersgruppen auf, um auch die Jüngeren zu Wort kommen zu lassen. Die älteren Teilnehmer reagierten mit Ungeduld und Unmut. Sie wusste, dass sie mit ihren langen, offenen, hellen Haaren von diesen als jung und unerfahren betrachtet wurde, auf sie weniger Autorität ausstrahlte als ihre gleichaltrigen professoralen und gesetzten Kollegen. Diesen hatte sie allerdings voraus, dass sie nicht nur in Deutschland, sondern auch in Cambridge studiert hatte. Sie konnte Veranstaltungen in Englisch halten und hatte eine internationale Hörerschaft. Weil sie keinen Wert darauf legte, mit ihrem Nachnamen angesprochen zu werden, durften Studierende sie unkonventionell per Du anreden. Nicht selten diskutierte sie den Umgang mit Studierenden kontrovers mit Bruno. Auch er war an derselben Universität, war ihr einige Jahre voraus und bereits Assistent am Lehrstuhl für Ethik. Anders als Anika legte er Wert darauf, den, wie er sagte, „akademischen Abstand“ zu wahren und Ansprüche an die Studierenden zu stellen, wie sie ihm zu begegnen hatten – eine Vorstellung, die Anika negativ an ihre Studienzeit in Deutschland erinnerte. Als sie sich im kunsthistorischen Institut derselben Universität, an der sie jetzt zu promovieren begann, als junge Studentin für die Teilnahme an einem Hauptseminar bewarb, erhielt sie keinen Bescheid. Auf Nachfrage wurde sie am Abend vom Professor ins Institut bestellt, hatte über eine Stunde mit Kommilitoninnen auf der Bank im Flur vor seinem Büro gewartet, bis sie als letzte bei ihm eintreten durfte. Da saß der berühmte, alte Herr, gedankenversunken hinter seinem schweren Schreibtisch in einem weiten, holzvertäfelten Studienraum, in der Mitte ein großer Tisch mit den jüngsten Publikationen von einer der Größen des Instituts, Hans Belting, und rundherum Regale mit schweren Bildbänden und Büchern. Er bot ihr keinen Stuhl an. Sie stand vor ihm und war sich nicht gewiss, ob sie seine Aufmerksamkeit eher durch ihre langen Beine als durch ihr Anliegen, an seinem Hauptseminar teilnehmen zu wollen, gewann. So hatte er sich nicht nach ihren Interessen, ihren Vorkenntnissen, ihrem Anliegen erkundigt, sondern eine vielleicht wohlgemeinte Bemerkung zu ihrer Erscheinung gemacht und gefragt, ob sie Kunstgeschichte im Hauptfach studiere und gewillt sei, bei der Exkursion im Sommer mitzukommen. Nachdem sie beides verneinte, weil sie ihr Geld für das Studium im Sommer verdienen müsse, außerdem Germanistik im Hauptfach und Philosophie und Kunstgeschichte nur im Nebenfach belegt habe, beendete er das Gespräch und verwies sie an seine Sekretärin, um sich um Nachrückplätze für das Seminar zu erkundigen. Ganz anders hatte sie den Umgang in Cambridge erfahren, wo sie selbst als Studentin von den Lehrenden den Eindruck vermittelt bekam, ein vollwertiges Mitglied der akademischen Welt zu sein. Sie hatte verstanden, dass es Bruno weniger um sich und die eigene Position ging, sondern darum, wie er meinte, seinen Gegenüber Selbständigkeit und Achtung entgegenzubringen und entsprechend selbstbewusstes Auftreten zu vermitteln.

Feeny saß neben Anika auf der Bettkante und wartete. Anika bemerkte, dass sie allmählich zurück in den Alltag gefunden hatte.

„Sollen wir uns in sechs bis acht Wochen sehen?“, fragte Anika.

„Wann immer du willst“, antwortete Feeny, „aber mir geht es ähnlich wie dir. Ich habe für einige Abschlusstestate zu lernen und muss neben einigen Seminararbeiten einen eigenen Modeentwurf erstellen und mit den entsprechenden Stoffen die Entwürfe umsetzen, die ich für meine Bachelorarbeit brauche. Dürfte ich dich für ein paar kunsthistorische Fragen dazu zwischendurch mal anrufen?“

„Selbstverständlich“, sagte Anika, „immer für dich da, du hast ja meine Nummer.“

Weil Anika wusste, dass Feeny noch Studentin war, hatte sie ein wenig Bedenken, was ihre Beziehung zu ihr betraf. Feeny studierte zwar an einer anderen Hochschule in München und sie war eine erwachsene Frau, die so über ihr Leben befinden konnte wie Anika mit ihren 29 Jahren, aber sie wollte ihre Vorbehalte nicht länger für sich behalten.

Bei dem ersten Telefonat, in welchem Feeny auf ihre kunsthistorische Expertise zu sprechen kam, hatte Anika sie auf eine mögliche Komplikation wegen ihrer beruflichen Stellung angesprochen. Feeny reagierte einfühlsam, verstand die Besorgnis, verdeutlichte Anika aber, sie sei professionell genug zu wissen, was sie mache. Sie sei verschwiegen, darauf könne sie sich verlassen. Das gelte nicht nur ihr gegenüber, sondern auch für eine Reihe von Anikas Kolleginnen und Kollegen – ja bis hinauf in die höheren Leitungsfunktionen ihrer Universität –, die ihre Dienste oder die ihrer Kolleginnen wahrnähmen, wie sie noch aus dem Salon wisse, in welchem sie gelernt hatte. Anika brauche also keine Bedenken zu haben. Außerdem, so hatte sie hinzugefügt, sei Anika ihr ja fachlich und finanziell behilflich, ihr Studium besser voranzubringen. Sie habe inzwischen sogar den Massagesalon verlassen können, in welchem sie angestellt war. Wenngleich mit manchen Hürden, auch als Selbständige funktioniere das Geschäft, wenn auch, wie sie wisse, nicht ohne Anfangshürden.

Dennoch blieb Anika die Frage: Hätte sie nicht die Distanz wahren sollen? Sie hatte die Ethikdiskussion mit Bruno vor Augen, der solch eine Dienstleistung als Erniedrigung einer Frau empfand und dem oder der Zahlenden Dominanz zuschrieb. Anika hatte ihm entgegengehalten, dass sie ein einvernehmliches Verhältnis jeder intransparenten Abhängigkeit vorzog und erwähnte Missbrauchsverhältnisse, die es etwa auch in der Universität gab. Außerdem hatte sie bei einem weiteren Besuch mit Feeny darüber gesprochen, wie sie das Verhältnis empfinde. Feeny hatte ihr mit Nachdruck versichert, sie wolle sich weder durch Frauen noch durch Männer definieren oder bevormunden lassen, schon gar nicht durch Modevorstellungen, die ihr erklärten, was eine Frau sei und wie sie sich zu verhalten habe. Ihre Arbeit im Asylbewerberheim sei oft viel härter als die Arbeit als Masseuse. Im Heim erlebe sie öfters gefährliche Situationen ohne Schutz durch die Stadtverwaltung oder die Polizei. Wenn sie bei Konflikten im Heim die Streife rufe, käme die zwar, aber meist reichlich spät. Dennoch habe sie sich auch im Asylbewerberheim ihre Rolle erkämpft. Sie trage keine andere Kleidung als die, in der sie sich sonst wohlfühle, und Anika konnte sich vorstellen, dass sie auch dort halbdurchsichtige Seidenshirts ohne BHs trug, dazu die von ihr geliebten kurzen Stretch-Röcke und gemusterte Netzstrümpfe.

„Natürlich“, sagte sie, „schauen die Männer mir nach, aber sie achten mich, achten auch auf mich – wozu studiere ich sonst Modedesign und produziere modische Outfits? Die Frauen aus den Asylländern sind öfter eher verstohlen, eifersüchtig auf die Männer, die nach mir schauen. Ob auch sie nach mir schauen, lässt sich an ihren Augen kaum ablesen. Es freut mich, dass ich ihnen und sie mir vertrauter werden, je länger ich dort arbeite. Meines Auftretens wegen hat sich noch keine oder keiner an mich herangewagt, ganz im Gegenteil!“

Rau ginge es vielmehr dann zu, wenn es unter den Bewohnerinnen und Bewohnern verschiedener Länder und Ethnien Hierarchiegerangel gäbe. Wenn Eifersucht oder auch Übergriffe zwischen diesen viel zu eng aufeinander lebenden Menschen entstanden und einzelne oder auch Gruppen aneinandergerieten, meist, weil Leute betrunken waren. Sie müsse gelegentlich zwischen Streithähne treten, weibliche wie männliche. Bei den Männern sei es für sie leichter, da helfe ihr das couragierte und selbstbewusste Auftreten.

Anika konnte sich eine solche Auseinandersetzung mit Feeny in der Mitte zwischen zwei Streithähnen zwar nicht recht vorstellen, leitete aber von Feenys Erzählung und ihrem Auftreten ihr gegenüber ab, wie sie kritische Situationen meisterte. Offenkundig war Feeny zugleich eine nicht nur sensible, sondern auch intelligente und redegewandte Frau, die ihr Studium und die praktischen Arbeiten trotz beruflicher Belastungen glänzend gestaltete. Anika wünschte sich, solche Studentinnen vor sich zu haben. Dass Feeny zupacken konnte, spürte sie in jenen Momenten, in denen sich ihre Hände in ihren Muskeln verloren. Stolz hatte sie ihr auch in ihrer Wohnung den Werktisch gezeigt, auf dem sie Stoffe verschiedener Art angehäuft hatte. Daneben stand ihre Singer-Maschine, die sie von ihrer Mutter, von Beruf Näherin, geerbt hatte, und an der Wand hingen verschiedene Designentwürfe und Schnitte, darunter auch ein paar vergilbte, die wie die ihrer Mutter aussahen.

„Würdest du mir den Gefallen tun, dieses rote Satin-Outfit anzuprobieren“, hatte Feeny sie gefragt, nachdem sie vom Bett aufgestanden war. Sie zeigte auf ihr jüngstes Produkt: „Du musst ein bisschen aufpassen, dass du dich nicht aufspießt, es ist am Rand noch mit Nadeln zusammengesteckt.“

„Was für ein großartiges Angebot!“, antwortete Anika, und bewegte sich auf das leuchtende Kleidchen zu, das mit passenden Netzstrümpfen und schwarzen Armstulpen auf einer der vielen Kleiderstangen im Flur hing.

Feenys Augen leuchteten. Vorsichtig nahm sie das Kleid herunter und reichte es Anika, die sich wieder auszog und es direkt über ihren nackten Körper streifte. Während Feeny selten beim Anblick ihrer Kundinnen in innere Bewegung geriet, bewegte sie der Anblick Anikas in ihrem Kleid. Vielleicht, weil sie dieses Kleid in ihren Nächten erträumt, dann entworfen, schließlich genäht und jetzt zum ersten Mal getragen vor sich sah. Vielleicht aber auch, weil sie entgegen ihren anderen Kundinnen Anika allmählich anders betrachtete.

Feeny näherte sich Anika vorsichtig, zog noch ein wenig hier und da am Kleid, achtete darauf, dass die Nadeln nach außen zeigten und sie sich nicht in Anikas Haut verfingen, überlegte sich, an welchen Stellen sie den Stoff noch etwas raffen müsse. Doch je länger sie an dem Kleid herumspielte, desto mehr verfiel sie der Anziehungskraft ihres eigenen Geschöpfes. Sie begann, Anikas Schulter zu streicheln, fuhr mit ihren Händen weiter über ihren Rücken nach unten, legte ihren Kopf in ihre Haare. Beide begannen sich miteinander zu bewegen, fanden einen gemeinsamen Rhythmus, tanzten, drehten sich weg voneinander, wieder aufeinander zu. Feenys Hände glitten zu dem langen Schlitz, den sie auf der Seite offengelassen hatte. Ihre Hände bewegten sich entlang dieser Öffnung, mit ihren Fingerspitzen kroch sie hinein, und beide Körper sanken sachte zurück auf das Bett, von welchem sich Anika nicht lange zuvor erhoben hatten. Was folgte, war unbeschreiblich. Feeny fühlte sich umfangen und Anika schwand der Sinn dessen, wo sie war und wie es ihr erging. Zeit war Musik und Raum war Rhythmus, die Welt schien unendlich.

Beiden war entgangen, wie lange sie beieinander gelegen waren, für- und miteinander geträumt hatten. Und das, obwohl Anika sich schon längst verabschiedet hatte. Doch ihr Blick, der langsam wieder fester wurde, war verzaubert von den verschiedenen Ständern, auf denen halbfertige Kleidungsstücke, Blusen, Tücher, Röcke und Kleider leuchteten. Elektrisiert stellte sie sich vor, wie diese Kleider an ihrem Körper lebendig würden.

„Kreierst du auch Stücke für Männer? Ich bin derzeit mit jemandem befreundet, den ich mit etwas Ausgefallenem überraschen möchte.“

„Gerne“, sagte Feeny, „auch wenn ich lieber Frauenkleidung gestalte. Zugegeben sind diese einfacher – für Männer etwas Besonderes zu produzieren, ist viel herausfordernder. Manchmal stelle ich mir schmunzelnd meinen Freund vor, frage mich, ob er das Stück auch tatsächlich tragen würde. Als konservativ würde ich ihn nicht bezeichnen, aber es fehlt ihm noch ein gutes Stück zum Avantgardisten.“

„Mir geht es nicht anders: Mein Partner ist eher zurückhaltend, doch gewiss teilt er einige meiner Vorlieben, etwa die für sinnliche Kleidung. Wenn es um ihn selbst geht – das ist nicht seine Stärke. Ob du etwas hättest, womit ich ihn zu seinem Geburtstag verblüffen könnte? Es darf ruhig frech sein, ich möchte ihn herausfordern.“

„Willst du wirklich etwas Freches für ihn?“

Die Frage traf Anika, weil sie Bruno gegenüber ab und zu skeptisch war. Er liebte es, wenn sie aufreizend gekleidet mit ihm ausging, was auch sie selbst als anregend empfand: kurze Röcke, durchsichtige Satinoberteile im Restaurant oder beim Tanzen. Doch er selbst gab sich bieder, was sie verunsicherte und ihr manchmal sogar peinlich erschien. Anders empfand sie die Begegnung mit Feeny, die sich im selben Maß für sie öffnete, wie sie sich ihr gegenüber geöffnet hatte. Bei ihr hatte sie einen Gleichklang empfunden, den sie sich mit Bruno so sehnlich wünschte – beide Körper in Harmonie und nicht als Objekt der äußeren Begierde, wie sie das im Elternhaus bis in ihre Pubertät erlebt hatte. Sie bewunderte Feeny als Rollenmodell, wie man selbst entgegen allen gesellschaftlichen und moralischen Zwängen zu leben vermochte.

Zugegebenermaßen, so empfand Anika, musste auch sie sich als Person mit Intellekt und Körper verkaufen. Seit Studienzeiten hatte sie sich innerhalb der akademischen Institution feilbieten müssen. Bei jeder Vorlesung und vor allem bei jedem institutionellen Meeting empfand sich Anika vorgeführt. Sie gestand, dass sie sich stärker verbogen und angepasst fühlte, als Feeny zu sein schien. Darum vielleicht ihre Rückenbeschwerden, die Schmerzen, die sie manchmal nachts nicht schlafen ließen und morgens beim Aufstehen plagten. Andere Menschen befanden über ihre Lebensweise, hatten Ansprüche ihr gegenüber, bestimmten ihre Kleidung. Wie hätte sie je in diesem roten Outfit von Feeny eine Vorlesung halten können? Diktiert wurde ihr der Terminkalender durch die Vorgaben der Hochschule, die Anweisungen des Dekans und den meist männlichen Kollegen. Ihr Umgang wurde bestimmt bis hinein in die Privatsphäre ihres Schlafzimmers. Dürften diese von ihrem Besuch bei Feeny wissen? Was würden sie sagen, wenn bekannt würde, dass sie mit einer Frau, zumal noch einer, die soviel jünger war als sie, ins Bett ging und daneben einen älteren Freund besaß? Sie gestand sich ein, in vielerlei Weise weniger souverän aufgetreten zu sein und auftreten zu können, als Feeny auf sie wirkte. Anika ertappte sich bei dem Gedanken, dass es ihr unangenehm sein könne, wenn Feeny ihr in der Stadt, in einer der Mensen oder der Staatsbibliothek begegnete. Termine in ihrem Massagestudio am wenig belebten Stadtrand – warum nicht, hier war ihr ein geschützter Raum geboten, aber könnte sie sich vorstellen, Feeny zum Essen in ein Restaurant einzuladen?

Als Anika später an diese Gedanken anknüpfte, erinnerte sie sich an einen gemeinsamen Spaziergang im Anschluss an eine Massagesitzung. Feeny hatte Anika aus heiterem Himmel gefragt: „Hast du Lust, Hassia mit mir auszuführen?“

Etwas überrascht hatte sie geantwortet: „Warum nicht? Dann muss ich dich nicht gleich verlassen.“

Feeny hatte Hassia an die Leine genommen, der vor lauter Freude und Erwartung bellte und an Feeny und Anika hochsprang, taumelte und vorwärtsdrängte.

Kaum vor der Tür angekommen, fragte Feeny kokett: „Ist es o.k., wenn ich mich bei dir einhänge?“

Anika war etwas perplex. Was würde passieren, wenn ihnen eine ihrer Studentinnen oder ein Student begegnen würde? Doch wünschte sie sich Feenys Nähe, ihren Griff, die Wärme ihres Körpers. Sie nickte und sie umarmten sich. Feenys Hand fügte sich in ihren Rücken mit einem nicht weniger festen Griff als mit dem, mit welchem sie Anika massiert hatte. Feeny schaute sie an, und Anika hatte das Gefühl, Feeny wollte sichergehen, dass sie sich wohl und sicher fühlte.

Feeny gab sich Mühe – sie muss meine Befangenheit spüren, dachte Anika, denn sie fasste sie noch fester und lud sie ein, auch ihren Arm um ihre Hüfte zu legen. Anika folgte der Einladung, war sich zunächst unsicher, aber fühlte, dass das Unwohlsein mit jedem Schritt und Tritt nachließ. Sie lehnte sich an Feeny und wusste sich getragen, ein Gefühl, das sie selten überkommen hatte.

„Hey, Anika“, rief plötzlich eine Stimme.

Vor ihnen standen zwei ihrer Kollegen, die offensichtlich mit einer Gruppe von Studierenden unterwegs waren. Anika ertappte sich, wie sie, wie vom Blitz getroffen, ihre Hand von Feenys Hüfte zurückzog und sich bloßgestellt fühlte, Feenys Hand weiterhin an ihrer Seite zu spüren. Ohne Worte war Feeny Anikas Unbehagen klar.

Kaum waren die Kollegen gegangen, lachte Feeny ihr lieb und ein wenig verlegen ins Gesicht:

„Entschuldige Anika, ich wollte dich nicht bloßstellen!“

„Hast du nicht – ich war nur erschrocken, du weißt, aber Hassia hat die Situation gerettet, mit seinem Sprung hatte er wohl die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen.“

„Ich weiß, dass du vorsichtig sein musst – und offensichtlich ist selbst eine Großstadt wie München ein kleines Fleckchen, kleiner als ein Dorf.“

Anika atmete auf und war dankbar, wie bemüht und rücksichtsvoll Feeny war, jemand, die sie in ihrer Situation zu verstehen und mit ihr zu empfinden versuchte. Solches Feingefühl war ihr aus der eigenen Institution fremd.

Anika war allerdings über ihre eigene Reaktion erschrocken. Warum konnte sie nicht zu Feeny und damit zu sich selbst stehen, warum zog sie ihre Hand, ihren Arm zurück, stand nicht zu der Beziehung, die sie mit Feeny hatte? Es war nicht der Altersunterschied, es war die Situation, in die sie sich in den vergangenen Jahren hineinmanövriert hatte.

War die Frage nicht schon ein Ausweis dafür, in welcher Zwangslage sie sich befand?

Feeny hatte Anika dazu ermuntert, ihrem Freund Bruno von ihr zu erzählen, zumal sie sich selbst in einer festen Beziehung befand – natürlich nur, wenn Anika es wünschte. Anika hatte Bruno von ihrem Treffen mit Feeny berichtet, ihm zu erklären versucht, wie und warum sie sich mit ihr eingelassen hatte. Ihr war eine offene Kommunikation wichtig.

Trotz spontaner Eifersucht hatte Bruno ihr Verhältnis zu Feeny akzeptiert, weil er wusste, welches Vertrauen Anika ihm gegenüber hatte, so transparent von ihrer Beziehung zu Feeny zu sprechen. Er hatte sich über sein neues Outfit gefreut, das er zu seinem Geburtstag von ihr erhalten hatte, ein barock gerafftes Hemd, ohne Knöpfe, vorn offen, dazu eine eng anliegende, schwarze Hose, ein Outfit, in dem er sich wie ein spanischer Torrero fühlte. Noch am selben Abend – entgegen Anikas Erwartungen – hatte er es prompt angezogen und sie in ihm ausgeführt. Doch wenn es dazu kam, Fotoaufnahmen zu machen, blieb er der Fotograf, während Anika posierte, sei es für romantische Bilder bei einer ihrer Wanderungen in den Alpen, sei es im Urlaub für erotische Aufnahmen, bei denen es einige Fotos gab, in denen sich Anika ausgezogen und ‚nuttig‘ fühlte.

Bruno spürte den Freiraum, den Anika ihm einräumte. Ohne irgendeine Klage ihrerseits konnte er sich beruflich entwickeln, wochenlang dienstlich abwesend sein, konnte selbst Beziehungen eingehen, ohne von einem schlechten Gewissen gegenüber Anika geplagt zu werden, verbrachte die eine oder andere intime Nacht mit Freundinnen, ohne ihr etwas beichten oder auch nur davon erzählen zu müssen. Andeutungen provozierten bei ihr keine kritischen Rückfragen, sondern eher umsorgendes Werben um ihn, was es ihm manchmal ermöglichte, auch Details gelungener oder weniger erfreulicher Erfahrungen zu offenbaren.

Urlaub auf Kreta

Für Bruno hätte sie so manches Gespräch auf sich genommen. Ihre Beziehung hatte an Intensität gewonnen und sie waren sich näher, wenn auch nicht so nahe gekommen, dass sie sich nur als Paar sahen. Er bot ihr die Nähe, die sie brauchte, den Landeplatz und ab und zu den Halt, auf den sie zurückfallen konnte, wenn ihr die Arbeit und die damit verbundenen Reisen und Risiken zu groß zu werden schienen. Andererseits war er ein Mann, von dem sie nicht den Eindruck hatte, dass er sie liebte, weil er sie brauchte, sondern schlicht, weil er sie liebte. Er lebte sein eigenes Leben, und sie hatte das Gespür, dass er dieses weiterleben würde, auch wenn sie von einer ihrer Reisen nicht zurückkehren würde. Er liebte sie. Punkt. Kein Grund. Kein Weil und kein Warum.

Er konnte romantisch sein, holte sie vom Flugplatz ab und hatte zuerst ein Ohr für sie, ohne sie gleich mit seinen Erlebnissen zu überfallen – und wenn sie am Wochenende Zeit füreinander fanden, war er es, der das Wochenende für sie geplant hatte, sei es eine ausführliche Bergwanderung mit einem sich anschließenden Abendessen, einem Schachabend und einer Übernachtung in einem ökologischen Gasthof, sei es ein Abend mit jungen Schriftstellerinnen, die sich einem kritischen Publikum stellten oder ein Jazzabend in einer der Kellerkneipen am Stadtrand. Sie durfte ausgepowert bei ihm ankommen und wusste, dass sie sich fallen lassen konnte, ohne groß erzählen zu müssen, umgekehrt konnte sie heiß auf ihn sein, und er würde sich auf das wildeste Spiel mit ihr einlassen. Dann wieder drängte er sie zu nichts, ließ sie kommen, auch gewähren, und war unendlich geduldig, wenn sie das Bedürfnis hatte, von dem zu berichten, was sie erlebt hatte, oder auch nur an seinem Arm vorm Fernseher nach wenigen Minuten einzuschlafen.

Andererseits stellte sie der Anfang ihrer Freundschaft zu Bruno vor Bewährungsproben, etwa ihr erster Urlaub, den sie gemeinsam im Jahr 1991 auf Kreta zusammen mit einem Paar verbracht hatten. Bruno hatte von Anikas Beziehung zu Feeny gewusst. Über die Jahre empfand sich Anika nicht mehr nur als Kundin bei Feeny, sie hatte das Gefühl, dass auch Feeny ähnlich wie sie empfand. Auch mit der größeren Bindung zu Feeny konnte Bruno umgehen, ja sogar Verständnis zeigen, wenn sie ihm von Feeny erzählte. Schwieriger war es, mit Bruno zusammen in Gesellschaft mit anderen aufzutreten. Anika hatte das Empfinden, er mied solche Gelegenheiten und war am liebsten mit ihr allein. Es war eine Zweisamkeit, die sie mochte, aber sie war auch gerne im größeren Kreis mit Freunden zusammen, wo sich Bruno eher unwohl fühlte, wie er ihr sagte. Ob er sich auf eine kleine, traute Runde einlassen würde? Die Einladung an Feeny und ihren Partner René war Anikas Versuch, ihr Bedürfnis mit dem von Bruno zu harmonisieren, ein Zusammensein zu Dritt und zu Viert auzuprobieren und gemeinsam Nähe und Ferne auszutarieren.

Anikas Anfrage bei Feeny, mit ihren Partnern zusammen einen Urlaub zu unternehmen, hatte diese zunächst verwirrt. Bisher hatte Feeny streng zwischen Kundinnen oder Kunden und ihrem Privatleben unterschieden. Auch nach drei oder vier Jahren, in denen Anika ihren Salon aufsuchte, wäre es ihr trotz freundschaftlicher Empfindungen zu ihr nicht in den Sinn gekommen, diese professionelle Nähe über diese Ebene hinauszuführen. Sie konnte sich Anika wie auch ihren anderen Kundinnen und Kunden widmen, auf sie eingehen, oft auch nur zuhören und mitfühlen, weil der Abstand gegeben und mit der Bezahlung die Grenze gezogen war. Anika war nicht die einzige Regelmäßige, wenn auch eine der wenigen weiblichen, während die Zahl der männlichen größer war. Dafür waren diese gewöhnlich erheblich älter. Anika war, das gestand sich Feeny ein, in verschiedener Hinsicht eine Ausnahme. Aber sollte sie die Differenz zwischen Dienst und Privatleben im Fall von Anika aufgeben? Mit ihrem Freund René wollte sie ihr Problem nicht besprechen, sie empfand, dass der Salon ihr Geschäft war, den sie aus ihrer Partnerbeziehung heraushalten wollte. Es war ihr Unternehmen – gewiss kleiner und weniger angesehen als die Unternehmungen, in denen René unterwegs war, aber es war das ihre. Sie hatte es von der Pike aufgebaut, sie investierte sich, und sie generierte aus ihm die Freiheiten und Möglichkeiten, mit denen sie ihr Modegeschäft wachsen lassen und aus eigenen Mitteln ab und zu René eine Freude bereiten konnte, auch wenn es nur eine Einladung in ein schönes Restaurant war.

Warum wollte Anika sie zu einem Urlaub einladen? Zudem mit ihrem Freund? Und sie sollte den ihren mit dazu bringen? Sie schwankte hin und her – wobei die Tatsache, dass Anika nicht nur mit ihr allein, sondern mit beiden ihrer Freunde reisen wollte, ihr die Sache weniger problematisch erscheinen ließ. Sie musste sich eingestehen, dass sich die Nähe zu Anika anders anfühlte als die zu den meisten ihrer anderen Kundinnen und Kunden, außerdem, überlegte sie, könnte Anika ihr zu Kunst, Literatur und Lebensgewohnheiten der Inselbewohner Auskunft geben, eine Möglichkeit, Inspirationen für neue Kollektionsstücke zu gewinnen.

Der Urlaub hatte mit der getrennten Anreise begonnen. Bruno war zusammen mit René unterwegs. Die beiden Männer waren von Frankfurt geflogen, während Anika zusammen mit Feeny von München aus eine Maschine gebucht hatte, die eine Stunde später als ihr Partner Heraklion erreichte.

Am Tag zuvor hatte sie noch einen Termin mit Feeny, der sie, wie so oft, aus ihrer eigenen Welt der Wissenschaft herauskatapultiert hatte, nur um bei sich selbst in der Nähe von Feeny anzukommen. Bruno war auf Dienstreise, aber ohne Rückfragen am Telefon einverstanden.

Anika war nicht überrascht gewesen, als sie Bruno in der Ankunftshalle in Heraklion warten sah, während René vor dem Flughafengebäude in einem offenen, weißen Jeep saß.

Sie ging gleich auf Bruno zu und gab ihm einen Kuss. Auch Feeny umarmte ihn kurz.

Dem Geschmack des Kusses und dem Atem nach zu urteilen, konnte sich Anika eine Bemerkung nicht verkneifen: „Ihr scheint beide schon eine lustige Anreise gehabt zu haben!“

„Wie schön, dass wir uns wiedersehen“, fügte Feeny hinzu, auch um die mitempfundene Kritik zu beschwichtigen.

„Und danke für die Einladung, Feeny“. Bruno blickte verschmitzt zu Anika: „Der Nüchternere sitzt draußen am Steuer.“

„O.k.“, antwortete Anika noch mit einem leichten Unterton der Skepsis.

Als sie mit ihren beiden Reisekoffern an den Jeep kamen, wurde schnell klar, dass der Wagen nicht genug Kofferraum bot. Also schaffte Bruno einen Koffer auf den Rücksitz. Anika begrüßte René, und Feeny schlug vor: „Setz du dich nach vorne, dann könnt ihr euch etwas kennenlernen“, während sie sich auf die Rückbank zu Bruno drängte.

Die Fahrt war atemberaubend, zunächst entlang der Küste, weg von Heraklion, dann zunehmend romantisch, mitten durchs Gebirge. Es war ein erhabenes Erlebnis der Natur, doch nicht nur. Im Fahrzeug ging es wild zu. Anika hatte weder Zeit noch Gelegenheit, sich umzuschauen, was sich auf dem Rücksitz abspielte, denn während von hinten lautes Juchzen nach vorne drang, fuchtelte René zwischen Anikas Beinen, als suche er nach einer verloren gegangenen Handbremse. Er grapschte stattdessen die Whiskeyflasche und trank aus ihr, während er fuhr. Anika überlegte, was klüger sei, aus dem Auto zu springen, die Beine zu öffnen oder René die Flasche zu entreißen und selbst daran zu nippen, bis sie leer sein würde.

Die Strecke von Heraklion führt nach einigen Kilometern auf solch schmalen und gewundenen Wegen durch die Berge, dass sie alle Aufmerksamkeit des Fahrers auf Straße, Löcher und Kurven erforderte.

Bruno und René hatten die beiden Ladies mit einer prächtigen Laune empfangen, befördert durch die aus dem Duty-free-Shop beim Abflug erworbene Jameson-Flasche, die sie bereits während des Flugs geöffnet hatten.

Es gibt wenig Komischeres, dachte Anika, als mit albernden Männern zusammen zu sein, wenn man selbst nüchtern ist. Außerdem sei es nicht mehr als verantwortlich, dafür zu sorgen, dass der Fahrer nicht noch mehr von diesem Alkohol zu sich nähme. Sie hatte deshalb gleich beim Einsteigen selbst einen kräftigen Schluck genommen. Feeny tat es ihr nach, und beide verfielen schnell in ein gemeinsames Giggeln, mit dem sie es den Männern gleichtaten.

Zugleich erleichterte der Alkoholgenuss das Arrangement des Partnertauschs im Jeep – zumal sich Anika vorne offensichtlich nicht schlechter mit René verstand als Feeny mit Bruno auf dem Rücksitz, zumindest klang es von der Rückbank nach reichlich Spaß und Lust. Die Flasche wanderte. Während die Straße mit jeder Kurve enger und gewundener wurde, öffneten sich Anikas Beine weiter. Die Flasche kreiste weiter. Kreta erschloss sich den Vieren auf eigene Weise.

Anika bemühte sich um die Konzentration des Fahrers, indem sie sich ihm intensiver widmete, sich bei stürmischen Manövern nicht nur an sein rechtes Bein, seinen Arm und an seine Schulter klammerte, sondern ihn auch zu ankern versuchte. René war sofort wieder wach.

Der heiße Sommerwind strich durch ihre Haare, über ihren Busen und über ihre Haut, sodass sie den Pullover und das Hemdchen, das sie darunter anhatte, auszog und nur mehr in ihrem lockeren T-Shirt an seiner Seite lehnte. Die lange Hose streifte sie von sich und zog anstelle der Unterwäsche die Tangabadehose an. René wurde sichtlich vergnügter, auch wenn er sich deshalb nicht stärker auf die Straßenkurven konzentrieren konnte, sondern auf andere Weise noch weiter abgelenkt wurde. Von der Rückbank wanderte ab und zu die Flasche nach vorne, ansonsten gab es herzliches Gestöhne und wieder die Freude daran, wild durch die südliche Sommerwärme zu brausen. Irgendwie hatte sich mit dem Raum auch die Zeit verloren – über eine fröhliche Stimmung neigte sich die Sonne, warf ihre letzten Strahlen auf die mediterranen Hügel, die Berge mit ihrem struppigen Bewuchs, die Szenerie eröffnete den Blick auf die dunkelblaue See, die fast gespenstig ruhig dalag. Irgendwann, die Nacht war längst über das fahrende Ungeheuer hereingebrochen, kamen sie am Stadtrand von Sitia an, dem Ort, in welchem sie ihr Quartier gebucht hatten. Doch bevor sie zu diesem in die Hügel abbiegen sollten, riss René das Lenkrad nach links, dirigierte den Jeep unter eine Zypresse und machte einen gewagten Sprung in den weichen Sand des Strandes. Anika wusste nicht mehr genau, ob sie nach rechts oder links aussteigen sollte, streifte das T-Shirt von sich und rannte oben ohne hinter René her. Bruno konnte kaum noch jemanden von ihnen wahrnehmen, so dunkel war es bereits geworden. Vielleicht, so bildete er sich ein, war er derjenige von den Vieren, der noch am nüchternsten war, und, da er die Felsen am Ufer erahnte, die aus dem Strand herauszuragen schienen, überkam ihn die Sorge, dass sich Anika und René an diesen verletzen könnten. Doch noch ehe er seine Bedenken äußern konnte, stürzten sich die beiden kopfüber in die Fluten, gefolgt von Feeny, die sich kurzerhand ihrer Unterwäsche entledigt hatte und den anderen nachgerannt war. Schließlich warf auch Bruno all seine Bedenken über Bord und, von seinen Kleidern befreit, stürzte er sich auf Feeny, den Wellen entgegen, griff nach ihr und freute sich, dass sie ihm ihre Hand entgegenhielt und ihn zu sich zog. Das Meerwasser war frisch, nicht kalt, aber Feeny wärmte ihn durch und durch, indem sie ihn umarmte und eng an sich drückte. Obwohl beide von dem schäumenden Nass hin und hergeworfen wurden und der Whiskey das seine zu den Turbulenzen hinzutat, spürten sie, wie sie zueinander fanden. Sie küssten sich, spritzten mit Meerwasser gegen die Nacht und hatten Mühe sich voneinander zu lösen, um den beiden anderen entgegenschwimmen zu können, die sich offenkundig nicht weniger amüsierten.

Die Erinnerungen an diesen Abend endeten mit einem abrupten Filmriss. Als Bruno am nächsten Morgen wach wurde, im Bett und in den Armen von Feeny, ahnte er, dass sie nicht an dem vorgesehenen Ort und nicht an dem von ihnen geplanten Platz angekommen waren. Wie sich beim Frühstück herausstellte, waren sie in einer anderen Ferienwohnung als der von ihnen gebuchten gelandet, aber wenigstens waren sie alle Vier in derselben Unterkunft, und auch ihr Jeep stand halbwegs ordentlich geparkt unter den Olivenbäumen auf dem Hof. Die Unterkunft musste in der Nacht offen gewesen sein, und sie hatten offensichtlich freie Betten und Zimmer gefunden. Dass die Behausung alles andere als unbewohnt war, zeigte sich an den Gästen, die schon auf der Terrasse frühstückten. Die lustigen, jetzt etwas zerknitterten Vier waren also nicht die einzigen im Gebäude, das mehrere Ferienwohnungen hatte. Bald dämmerte ihnen, dass es nicht die Unterkunft war, in der sie absteigen wollten und sollten.

Bruno rieb sich seine Augen, Feeny atmete noch selig, und auch Anika, die eng an René geschmiegt auf der Couch gegenüber lag, schlief noch fest. Bruno versuchte, den Abend zu rekonstruieren und herauszufinden, wo sie gelandet waren – ohne großen Erfolg. Der Duft von frisch gebackenem Brot belebte ihn langsam. Tatsächlich drangen ihm Stimmen entgegen. Er blickte auf und sah vor dem Fenster Gestalten, die sich gut gelaunt unterhielten und frühstückten. Feeny wurde unruhig, griff nach Bruno und blinzelte ein wenig, mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Sie fuhr ihm durch die lockigen Haare und streichelte seine Wangen. Bruno, noch erschöpft von der Gewalttour des Vorabends, ließ sich treiben, tauchte ab und wärmte sich an Feenys Körper.

„Ob du weißt, wo es einen Kaffee gibt?“

„Keine Ahnung, aber da draußen scheinen Leute zu frühstücken – ich schau mal.“

Bruno kroch von dem fremden Sofa, lugte aus dem Fenster und fragte nach draußen – in Englisch, weil er meinte, englische Wortfetzen gehört zu haben: „Do you think we can get a coffee around here?“

„Just join us“, schallte es ihm entgegen.

Mit einer liebevollen Geste löste er sich von Feeny und schlich nach draußen. Nur wenige Minuten später kam er zurück mit vier Tassen in seiner Hand, die nach schwerem, griechischem Kaffee rochen. Er stellte sie an der Couch und am Bettrand gegenüber ab, gab Anika einen Kuss, deren schwere Augenlider ein wenig zu blinzeln begannen, und ging nochmals nach draußen. Bald darauf kam er wieder zurück, mit vier Tellern und frisch duftendem Pitabrot. Er kannte Anika bereits so gut, dass er vermutete, sie würde bei Kaffee- und Brotgeruch wach werden. Und tatsächlich öffnete sie, geblendet von der hellen Morgensonne, die Augen. Sie sah zwar etwas zerknittert und zerschlagen aus, lächelte ihn aber zuversichtlich an.

„Danke, du bist so lieb“, setzte sie hinzu. René machte nicht den Anschein, dass ihn Kaffee oder Stimmen wecken könnten.

Anika setzte sich im Bett auf, schob das Bettlaken zur Seite, mit dem sie sich zugedeckt hatte, denn die Morgensonne hatte den Raum bereits deutlich gewärmt. Mit der Tasse in der Hand, unbedeckt und unbekleidet, prostete sie Feeny und Bruno zu.

„Was für eine Fahrt! Und was für eine Landschaft!“

Bruno hatte eher sagen wollen: „Glücklich, dass wir gut angekommen sind“, doch die Stimmung der beiden Frauen nahm ihn mit, und er schlug vor, gleich nach dem Frühstück an den Strand zu gehen, um auszumachen, wo sie in der Nacht ihre Schutzengel ausprobiert hatten.

Auch René kam allmählich zu sich – suchte erst seine Brille, blickte um sich und war zufrieden, die drei Freunde wieder zu erkennen. Er schien sich sichtlich orientieren und sortieren zu müssen. Anika lag bei ihm, glücklich, dass Bruno sich offenkundig in diesem Kreis amüsierte, und, die Tasse Kaffee in der Hand, reichte sie René einen Schluck und bedankte sich bei ihm für die Fahrt durch die Nacht. Er erfreute sich ihrer Nähe, schaute aber auch nach Feeny, die ihm gegenüber auf dem Sofa mit Bruno lag. Bruno war schon halbwegs angezogen, auch er mit einer Tasse Kaffee und dem halben Brot in der Hand.

„Ihr seid schon früh unterwegs“, war Renés Kommentar. „Danke für den Kaffee, ein echt griechischer Trunk, der weckt jeden Langschläfer auf.“

Bruno reichte ihm auf einem Teller griechische Oliven, Tomatenscheiben und Schafskäse, die er von draußen organisiert hatte.

Die Idee, gleich zum Strand zu gehen, um bei Tage zu sehen, wo sie sich in der Nacht zuvor im Meer abgekühlt hatten, fand er gut. Was darauf folgen sollte, war jedoch eine Mischung aus anfänglichem Schreck und späterer Verwunderung: Wie konnten sie ohne Blessuren den nächtlichen Mut überstanden haben? Über Trunkene wacht das Schicksal, dachte René mit einem Lächeln auf den Lippen.

Später am Nachmittag hatten sie ihr gebuchtes Quartier gefunden, eher eine Strandhütte als eine Ferienwohnung, dafür aber mit genügend Platz für vier Personen. Beide Pärchen hatten ihren Bereich, dazu gab es eine kleine gemeinsame Küche mit einem rustikalen Tisch in der Mitte. Die Hütte lag einige hundert Meter vom Strand entfernt auf einer Anhöhe inmitten von Olivenbäumen. Die Nacht war bald hereingebrochen, beide Pärchen hatten sich in ihre Bereiche zurückgezogen. Anika und Bruno lagen nah beieinander, waren erschöpft vom Vortag oder vielmehr vom Vorabend und der Nacht und versuchten einzuschlafen, doch ein konstantes Klopfen und Ächzen störte. Fragend schauten sie sich an. Von irgendwoher drang ein intensives, sich steigerndes Klappern, Rasseln und Stöhnen. Es war kaum zu fassen, die Geräusche wollten nicht abbrechen, wiederholten sich, es war, als ob sie Stunden anhielten.

Beim Kaffee am folgenden Morgen und mit heftigem Gelächter erzählten sich beide Pärchen ihre Nachterfahrung. Keines von beiden konnte glauben, wie ausdauernd das jeweils andere in der Nacht gewesen war, bis sie gemeinsam herausfanden, dass nicht sie, sondern der stürmische Wind vom Meer her es war, der die Fensterläden und das Holzhäuschen zum Stöhnen und Krächzen gebracht hatte, während jeder der Vier – noch vom Nachtexzess des Vorabends erschöpft – ein wenig mit Neid die Ausdauer der anderen bewundert und vergeblich die eigene Nachtruhe gesucht hatte.

Für Anika und Bruno war es ihre erste, längere gemeinsame Zeit zusammen. Sie waren so stark in ihre beruflichen Verpflichtungen eingebunden, dass ihnen in den vergangenen Jahren keine Zeit für einen solchen Urlaub geblieben war. Nach dem Frühstück hatten sich Feeny und René, die sich offensichtlich auch schon länger kannten, mit Badetüchern ausgestattet und zum Strand begeben. Anika schaute Bruno fragend an.

„Hättest du etwas dagegen, wenn ich den Morgen für mich verbrächte?“

Nicht willig, nicht unwillig nickte Bruno, denn der Gedanke, dass Anika den Morgen getrennt von ihm und den Freunden gestalten wollte, entsprach ganz seinem eigenen Wunsch, dass die vierzehn Tage, die sie sich als Ferienzeit gönnen wollten, nicht ausschließlich gemeinsam und nicht unbedingt gänzlich am Strand verbracht werden sollten. Er selbst hatte sich die Zeit freigeräumt, doch in seinem Nacken lastete der Abschluss seiner Habilitationsschrift, welche die Voraussetzung bildete, sich für Professorenstellen bewerben zu können. Auch wenn er diese vierzehn Tage bei seinem engen Terminplan hatte verkraften können und sich darauf gefreut hatte, sich von seiner Arbeit gedanklich freizumachen, empfand er Anikas Anfrage als Befreiung seiner selbst. Ob sie nur gefragt hatte, um ihm etwas Freiraum zu gewähren? Weil sie den Druck auf ihm gespürt hatte und diesen von ihm nehmen wollte? Oder war es doch nur ihr eigener Wunsch?

Bruno packte seine Sachen aus dem Koffer aus und richtete sich an dem Küchentisch mit seinem Computer ein. Zugleich packte Anika ihre Reisetasche aus, in die sie die Kleider fein und knitterfrei eingerollt hatte. Sie wählte einen Tanga, darüber einen knapp reichenden Minirock. Als Top wählte sie ein T-Shirt, das an den Ärmeln weit ausgeschnitten war, sodass die Meeresbrise durchwehen konnte. Sie gab Bruno eine feste Umarmung, presste ihren Busen an seine Brust: „Bis später – ich liebe dich.“

Bruno war über diese Liebeserklärung überrascht, zumal sie der Abschied für die nächsten Stunden war, die ersten gemeinsamen Stunden, die sie am Tag ihres ersten wirklichen Urlaubs miteinander verbrachten. Es war eine Vorausschau auf das, was sie als Zusammensein miteinander definieren wollten. Bruno schaute ihr nach, wie sie selbstbewusst in das Olivenwäldchen eintauchte und sich in den Hain verlor.

Sollte er ihr folgen? Hatte sie ihn einladen wollen, sich auf sie einzulassen? Oder hatte sie es ernst gemeint, dass sie den Morgen, den ersten Morgen hier auf Kreta, allein verbringen wollte? Fast wäre er der Versuchung erlegen, ihr nachzulaufen, sie einzuholen und sie mühevoll zu umgarnen. Vielleicht hatte sie genau diese Zuneigung und Anhänglichkeit herausfordern wollen. Doch der Wunsch, den Freiraum, der ihm von Anika zugestanden wurde, zu nutzen und gleichzeitig den ihren zu respektieren, hielt ihn zurück. Sollte sie eine Freundin sein, die sich nicht über ihn definiert, sondern sich selbst zu leben vermochte und gleichzeitig ihm ermöglichte, sowohl Urlaub als auch Wissenschaft unter einen Hut zu bringen? Bisher hatte er nur Beziehungen erlebt, die auf Ausschließlichkeit drängten und seine persönliche Situation samt seiner Passion für seine Arbeit nicht respektieren konnten. Anika schien anders – zugleich stellte sie erstmals eine Herausforderung für Bruno dar, der sich eigentlich diese vierzehn Tage für sie reserviert hatte, eine Vorstellung, die Anika bereits am ersten Morgen über den Haufen geworfen hatte. Fast verstimmt und etwas dröge öffnete Bruno seinen Laptop, legte sich die wenigen mitgebrachten Bücher zurecht und begann, sich in den Text auf dem flimmernden Monitor zu vertiefen, mit dem er den Laptop in glücklicher Urlaubsvorfreude zuhause zugeschlagen hatte.

Anders als sonst brauchte er geraume Zeit, bis er sich wieder in seine Gedanken eingefunden hatte der fast fertigen Abhandlung und die griechischen Texte zu verstehen begann, um an seinem Kommentar zu Denken und Ethik des christlichen Neuplatonikers Apolinarius und dessen Beziehung zu dem mittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart und dem Philosophen und Dichter Friedrich Hölderlin weiterzuschreiben. Doch er blieb unkonzentriert, hörte wieder das Stöhnen der Fenster, schaute nach draußen, ob jemand auftauchte und seinen Kopf hereinstrecken würde. Außer Grillen, die von draußen zirpten, dem spätsommerlichen Wind und dem Gebell von Hunden aus der Ferne drang nichts an sein Ohr. Die Tür öffnete sich nicht. Weder René oder Feeny noch Anika trat über die Schwelle. Aus Ungeduld bereitete sich Bruno einen grünen Tee zu, den er mitgebracht hatte – eines der Stimulanzien, mit denen er zuhause am Schreibtisch den Einstieg in die Arbeit zelebrierte. Doch auch das heiße, sonst wohltuende, nach frischem Gras riechende Gebräu konnte ihn an diesem Morgen nicht zur Einkehr bringen. Stattdessen sah er weiter Anika in ihrem Outfit vor sich, ihr Körper ließ ihn nicht los. Ihr Schritt. Ihre Bestimmtheit. Ihre Nähe in der Nacht und noch mehr ihr Weggehen, ohne dass sie zurückgeblickt hätte.

Es war Nachmittag geworden – Bruno war irgendwann in seinen Trott gekommen, hatte Kreta und die Welt um sich vergessen, war in seine griechische, neuplatonisch-stoische Texte eingetaucht und hatte versucht, den Weg durch deren Dickicht zu weiten, als die Tür zur Küche aufschlug. In ihr stand Anika, strahlte und warf schon das T-Shirt von sich, zog sich den Bikini an: „Gehst du mit zum Strand – entschuldige, dass es etwas später geworden war, als ich geplant hatte.“

Bruno blickte auf, hatte gar nicht wahrgenommen, dass die Sonne schon weit über den Zenit war und sich bereits zu senken begann. Irgendwie fand er sich herausgerissen, wollte sich aber dennoch auf Anika einlassen. Sein Blick schien nicht gerade begeistert zu sein, jedenfalls empfand er, dass er nicht aufmerksam genug war. Überrascht und getroffen, aber auch berührt war er, als Anika ihn darauf ansprach: „Bruno, entschuldige, dass ich so bei dir hereinplatze – wenn du noch ein paar Minuten brauchst, lass dir Zeit. Ich gehe schon mal zu Feeny und René an den Strand, komm einfach nach, wenn und wann es bei dir passt.“

Sie drehte sich auf der Achse, warf ihm noch einen lieben Blick zu und verschwand so schnell, wie sie in die Tür getreten war.

Bruno war sprachlos. Über seine eigene Inkompetenz, Anikas Eintreten, ihre Anwesenheit und dass er ihre klare Ansage wie ihren Abgang nicht recht wahrgenommen hatte. Er ertappte sich dabei, sich wie ein Statist auf der Bühne benommen zu haben, der gerade seinen marginalen Einsatz verpasst hatte. Und das, ohne dass der Regisseur einen Einwand hatte oder die Szene nochmals üben wollte. Zugleich spürte er, dass die Szene an ihm vorbeizugehen schien, wenn er sich nicht selbst seiner Rolle bewusst werden würde. Noch nie hatte er den Laptop so schnell zusammengeklappt – erstmals, ohne die Arbeit der vorangegangenen Stunden ausdrücklich gespeichert zu haben. Plötzlich war ihm das Geleistete keinen Deut wert. Er zog seine Badehose an, griff sich ein Badetuch und rannte hinunter zum Strand.

Anika hatte, auch wenn es Bruno nicht bemerkt zu haben schien, mehrmals zur Ferienbehausung geschaut. Sie wollte die Coole spielen, ihm schon gar nicht zeigen, dass sie auf ihn wartete, und doch hatte sie Sehnsucht nach ihm. Der Morgen war zwar ganz nach ihrem Wunsch verlaufen, sie konnte ihr Eigenes tun, aber wohl darum war sie desto heißer auf ihn. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, weil sie den Eindruck hatte, dass er ihr die Zeit nicht nur leidlich zugestanden hatte, sondern in seine eigene Passion versunken war.

Es war dieses Ringen um ihn, was sie schon im Augenblick elektrisierte, als sie in die Tür getreten war. Desto mehr hatte sie sich angestrengt. Schon am Morgen. Sie hatte sich nicht für die alten Männer, die an ihren Tischen in einem der Cafés saßen, reizend angezogen, sondern sie wollte Bruno zeigen, worauf er an diesem Morgen zu verzichten hatte. Nicht umsonst hatte sie das Kürzeste und Knappste ausgesucht, was sie mitgenommen hatte. Andererseits hatte sie es nicht weniger genossen, als sie die Blicke auf dem Weg durch das Städtchen auf ihr spürte. Sie waren weniger unangenehm als die Erfahrung, die sie im Bus in Rom gemacht hatte. Dort warf ihr sogar der Busfahrer eine Bemerkung zu ihren Beinen und ihrer Kleidung entgegen, noch bevor er ihr das Ticket verkauft hatte – ihre Freundin, die zwischen den sieben Hügeln einen mehrwöchigen Sprachkurs absolvierte, hatte ihr Erstaunen beobachtet und sie später daraufhin angesprochen.

„Wieso bist du erstaunt – ist doch völlig normal“, meinte die Freundin, „Italienerinnen mokieren und ärgern sich darüber, wenn ihnen Busfahrer oder Polizisten kein Kompliment zuwerfen.“

Anika war die Reaktion befremdlich. Der Umgang hier auf Kreta war anders, mit Respekt gefüllt. Männer wie Frauen grüßten sie auf Griechisch, worauf sie zwar nicht antworten konnte, doch nickte sie ihnen freundlich zu.

Unmittelbar am Hafen hatte sie ein Café gefunden, bei dem die meisten Gäste keine Touristen, sondern einheimische Bewohner zu sein schienen. Anika dachte sich, hier müsse es den besten Kaffee am Platz geben. Und tatsächlich – man offerierte ihr ein Gläschen mit goldenem Rand und einer tiefschwarzen Flüssigkeit, ungefiltert, stärker als Espresso, mit feinem Kaffeestaub, der sich langsam auf dem Boden des Glases abzusetzen begann. Dazu reichte man ihr reichlich Zucker und zugleich ein kleines Schälchen mit Ziegenkäse und verschiedenen Oliven. Ein älterer Mann wies ihr einen Tisch an, nahm seinen Stuhl und setzte sich zu Seinesgleichen an den Nachbartisch. In gebührender Distanz saßen die Männer und rauchten. Sie waren bald wieder in ihr Portes vertieft, tranken Kaffee, manche auch Tee, andere bereits Rotwein oder Ouzo. Anders als bei Backgammon oder selbst bei der griechischen Variante Tavli spürte sie, dass die Portes spielenden Männer schon während dieser frühen Tageszeit erregt und hitzig beim Spiel zugange waren. Sie selbst hatte etwas Mühe, weil sie noch leichte Kopfschmerzen von ihrer wilden Tour durch die Berge Kretas verspürte. Sie konnte sich nicht mehr recht an die Anreise erinnern, wusste nur noch, dass sie immer lustiger wurden, sie und René am Steuer, den sie nur durch Hörensagen von Feeny kannte und als Entertainer und zugleich Philosophen und Literaten auf dieser Fahrt kennenlernen durfte, auch noch in anderen Eigenschaften. René hatte wohl von Bruno im Flugzeug erfahren, dass Anika außer Germanistik und Philosophie auch Kunstgeschichte studiert hatte, und, soweit der Whiskeykonsum noch klare Gedanken zugelassen hatte, diskutierten sie über Nikos Kazantzakis. René sah ihn zu sehr in der orthodoxen Welt verfangen – sie bewunderte Kazantzakis, den von vielen seiner Zeitgenossen heftig kritisierten, aber inzwischen berühmtesten kretischen und griechischen Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts. Seine nicht theistische Position sprach Anika aus dem Herz.

Sie öffnete am Tisch im Café ihren mitgebrachten Laptop, suchte erfolgreich eine Steckdose und machte sich an ihre Arbeit. Auch sie arbeitete an ihrer Habilitation, war aber noch ganz am Anfang ihrer Recherche. Nachdem sie in ihrer Doktorarbeit über eine Schriftstellerin geschrieben hatte, die während der Nazizeit in die Niederlande geflüchtet war, wollte sie ihren Horizont ausweiten. In der Habilitation untersuchte sie Künstlerinnen und Künstler, die damals zur Emigration gezwungen wurden. Seit ihren ersten Anfängen im Studium hatte sie sich für die Verbindung zwischen westlicher und nichtwestlicher zeitgenössischer Kunst interessiert und sich die Frage gestellt, wie die westliche Moderne Einfluss auf andere Gegenden dieser Welt genommen hatte. Sie fragte sich, wie sich die Exilierung gerade der Avantgarde auf Großbritannien, auf Afrika und auf Asien ausgewirkt hatte und umgekehrt, wie sich die Kunstvorstellungen in der westlichen Welt durch die Begegnung in diesen Kontinenten verändert hatten. Ihr war schon lange bewusst geworden, dass Menschen schneller Kleider wechseln konnten als etwa Essgewohnheiten, aber traf dies auch für die ästhetischen Bedürfnisse zu? In welchen Gebäuden wollten Menschen leben? Mit welcher Kunst wollten sie diese ausstatten, womit sich auseinandersetzen? Wie würden Frauen diese gestalten, wie sich selbst repräsentieren?