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Die pensionierte, ledige Lehrerin Linette lernt nach dem Tod ihres Vaters, den sie bis zuletzt gepflegt hat, den verwitweten Bauern Ruedi kennen. Sie organisiert Treffen und Ausflüge, und beide geniessen die neue Freundschaft. Aber warum ist sein Bruder, der Götti, immer da, wenn Linette mit Ruedi allein sein möchte? Die Erzählung handelt vom Bedürfnis nach Liebe, von Nähe und Einsamkeit. Davon, wie Beziehungen gelebt werden, worüber man sich verständigt und was ungesagt bleibt. ‹Nicht allein› ist ein Text, der lange nachhallt.
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Seitenzahl: 81
Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
© 2018 Zytglogge Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Angela Fessler
Cover: Malvina Lubec
Bild: Annual catalogue and price list of the Royal Palm Nurseries, 1888
E-Book: Schwabe AG, www.schwabe.ch
ISBN: 978-3-7296-0983-9
eISBN (ePUB): 978-3-7296-2222-7
eISBN (mobi): 978-3-7296-2223-4
www.zytglogge.ch
Für Maja
Sie steht am Grab.
Die kleine Hagrose, die sie im Frühling gepflanzt hat, trägt jetzt Butten. Hübsch, die orangen Beeren vor dem grauen Stein. Unbehauen, aus dem Valser Steinbruch.
Sie und ihre Geschwister hatten etwas Rechtes gewollt für den Ätti.
Traurig ist sie nicht, eher erleichtert.
Nie mehr die Angst, ihn auf dem Boden zu finden, zusammengekrümmt im Bad, in der Küche, im Gang, wenn sie von der Arbeit heimkommt. Nie mehr die Nummer der Ambulanz wählen, nie mehr nachts mit ihm zum Notfall-Eingang des Spitals fahren, nie mehr einen Nachmittag drangeben für Arztbesuche, zu denen sie ihn begleiten muss.
Nie mehr den Groll gegen die verheirateten Geschwister, die es mit ihren Teenager-Kindern selbstverständlich fanden, dass die ledige Schwester sich um den Vater kümmert, ihn zu sich in die Wohnung nimmt.
Und sich auch jetzt nicht um das Grab kümmern.
Doch da gibt es kaum etwas zu tun. Die Hagebutten sind einstweilen Schmuck genug. Der Ätti hätte es nicht anders gewollt. Und für den Winter wird sie bald Tannäste bestellen.
Wohltuend die Stille. Von den Birken lösen sich Blättchen, segeln goldzittrig vor dem dunkeln Nadelholz durch. Es riecht nach feuchtem Moder.
Kein Mensch auf dem Friedhof. Zumindest kein lebender.
Wie sie sich vom Grab abwendet, entdeckt sie hinter der Trauerweide in der Reihe der vorletzten Jahrgänger etwas, das sich bewegt. Ein Mann kniet vor einem Grab, steht jetzt, mit Hilfe der Hacke, mühsam auf. Ein grosser Mann.
Neugierig geht sie näher, möchte wissen, wer es ist. Man kennt sich eigentlich, hier im Tal.
Erfreut schaut er ihr entgegen, zeigt stolz auf das Grab.
Es leuchtet kräftig und bunt.
– Was?, sagt sie, blühende Astern, noch so spät im Jahr?
– Wir haben noch keinen Frost gehabt, sagt er.
Seine Frau sei eine Blüemlere gewesen, gestorben vor zwei Jahren. Das Grab mache er, von den Jungen habe halt niemand Zeit.
Sie kennen einander nicht, haben sich noch nie gesehen. Das Tal ist lang, er kommt aus dem oberen Teil, sie von weiter unten, der Friedhof liegt in der Mitte.
Er stellt sich vor als der Ruedi von der Hofmatt, dem Bauernhof, von dem er kommt, wie es so üblich ist auf dem Land.
Sie sei die Eichenberger Linette, Lehrerin, schaue zum Grab des Vaters.
– Weisst du etwa, wo ich Tannäste kaufen könnte?
– Kaufen? Die kann ich dir bringen, so viel du willst. Vielleicht so in zwei Wochen, meine Astern machen es auch nicht mehr lang.
Monica eilt zum Bahnhof. Die Verbindungen nach Bern sind gut. Im Zug die Reden abhören und Notizen machen über die Vernissage im Gertsch-Museum. Der Artikel muss vor acht Uhr auf der Redaktion sein. Es sollte reichen. Patrik holt die Kinder aus der Kita und hütet. Es ist sein Tag.
Die Frau, die ihr auf dem Bahnsteig mit Reiseköfferchen entgegenkommt, sollte sie kennen. Weiss nicht woher, noch wie sie heisst. Hat sie nicht etwas mit Schule oder der Kirche zu tun? Ja doch, die Lina, sie hat sie vor Jahren an einem Kirchenbazar interviewt. Ein Brunnen vor der Kirche, Stände mit Gebäck, Gestricktem und Genähtem, Lina, die Lehrerin, hatte ihn organisiert.
– Hallo, Lina.
– Linette heisse ich jetzt, lacht sie.
– Bist schon pensioniert, dass du so gut aussiehst?
– Seit April.
– Und jetzt machst Reisen, mit einer Gruppe oder allein?
– Mit mym Ruedi. Wir treffen uns in Zürich und fahren dann nach Vals.
Sie wartet auf den Zug nach Zürich, ist offenbar viel zu früh da.
Der Berner kommt eher, Monica verabschiedet sich.
Im Zug schützt sie sich vor Gesprächen mit den Stöpseln im Ohr, stellt das Gerät aber nicht an. Mag nicht arbeiten, träumt lieber Linettes glücklichem Gesicht, ihren Worten – mit mym Ruedi – nach.
Hat sie jetzt doch noch einen Partner gefunden? Bei jenem Interview hatte sie gesagt, ihr Schicksal sei halt das Ledig- sein, natürlich hätte sie gern einen Mann und Kinder gehabt, aber das habe sich nicht ergeben, dafür habe sie jetzt ihren Ätti zu sich nehmen können, er wäre so ungern ins Altersheim gegangen.
Der ist wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Die Linette wird frei sein und mit ihrem Freund in die Ferien fahren, wann es ihr beliebt.
Neid? Ja, vielleicht ein wenig. Pädu und sie gingen auch gern mal zu zweit in die Ferien, ohne Kinderwagen und Trottinett, ohne Pampers, Teddybär und Bilderbücher, ohne einen Berg Holle-Gläschen.
Einfach Arm in Arm.
Christian braucht keine Taschenlampe. Auch bei weniger Mond fände er den Weg zurück. Nach der Tagesschau ist er noch einmal auf die Weide gegangen. Seit er Vater und Götti überzeugen konnte, es mit Mutterkuhhaltung zu probieren, ist ihm die Kontrolle nun doppelt wichtig. Man hat weniger zu tun. Kein Melken, kein Stallputzen, aber wie’s den Tieren geht, weiss man weniger gut. Sie bleiben Tag und Nacht fern.
Die Maiennacht ist noch kalt, doch beim Atmen spürt man schon etwas Vorsommer.
Im Finstern tauchen jetzt die Umrisse vom grossen Bauernhaus auf. Im Stöckli ist das Küchenfenster noch erleuchtet. Wie oft muss er im Dorf den Spott anhören über die zwei alten Männer im grossen Bauernhaus und der jungen Familie im Stöckli. Üblich wäre es umgekehrt, aber sie mögen nicht stürmen, und solang die Kinder noch klein sind, geht es ja mit dem Platz.
Wenigstens spottet jetzt keiner mehr über das Stadtmeitschi, das er geheiratet hat. Daniela hat es ihnen gezeigt, potz, die schaut besser zur Sache als manche Frau, die auf einem Bauernhof aufgewachsen ist.
Auch in der Wohnung über dem Schopf ist noch Licht. Die sind immer bis spät auf und gehen trotzdem am Morgen früh fort. Doch das geht ihn nichts an, vermietet ist vermietet.
In der Stöckli-Küche hat Daniela den Schlaftrunk bereit. Goldmelissen-Tee. Sie macht den grossen Garten vor dem Bauernhaus, hat dort Kräuter angepflanzt, auch Goldmelisse, und schwärmt von der beruhigenden Wirkung ihrer Blätter.
Er hätte lieber ein Glas Roten, aber so mitten in der Woche eine Flasche aus dem Keller holen mag er nicht.
– Wie’s wohl dem Vater geht, heute Abend, sinniert er vor sich hin.
– Höchste Zeit, dass er die Zürcher einmal besucht, er war ja noch nie bei ihnen, sagt Daniela.
– Doch, vor ein paar Jahren, als die Mutter noch gesund war.
– Und nach Hause kommen sie ja auch nicht, seit die Mutter gestorben ist.
– Hast du dem Vater beim Packen geholfen?
– Nein, was denkst du! Das hat bestimmt der Götti getan. Von Zürich gehe Vater dann weiter nach Vals mit jemandem aus dem Kirchenchor.
– Weisst mit wem?
– Nein, ich kenne die Leute nicht, er singt ja erst seit kurzem mit.
– Früher hat er im Jodelchörli mitgemacht. Während meiner Kindheit sang er bei den Jodlern, bei Konzerten war ich jeweils stolz auf den schönen Vater im Bernermutz und dem Sennenchäppi.
– Und der Götti? Hat der auch mitgesungen?
– Nein. Der Götti ging nie. Ich kann mich nicht erinnern, dass er einmal vom Hof ging.
– Deine Eltern ja auch nicht.
– Einmal haben wir Geschwister ihnen eine Reise geschenkt. Nach Wengen und auf den Männlichen. Aber am Abend waren sie schon wieder da. Nimmt mich wunder, wie lang Vater es diesmal aushält.
Auf das Weinen hin geht Daniela ins Kinderzimmmer, kommt mit dem kleinen Buben auf dem Arm zurück und hält ihm ihr Teeglas an die Lippen. Er windet sich weg und streckt die Händchen aus nach dem Vater.
Ruedi schaut an die gegenüberliegenden Hänge. So etwas hat er noch nie gesehen. So steile grüne Hänge. So weisse Bäche. Sie sprudeln über das Gras hinunter, als freuten sie sich am Leben.
Gestern bei der Ankunft war es schon finster.
Frühstück um neun, hat sie gesagt. Er ist natürlich wach seit fünf Uhr.
Jetzt kann er das Schauspiel in der Stille geniessen. Niemand spricht.
Zum Glück hat sie zwei Zimmer gebucht. Man kennt sich ja kaum, da geht man gewiss nicht ins selbe Zimmer. Gut, im Kirchenchor sieht er sie jede Woche. Sie hat ihn gebeten, mitzuhelfen, im Chor seien die Männerstimmen so rar geworden. Er hat immer gerne gesungen, aber seit die Frau krank wurde, ging er nicht mehr zu den Jodlern und jetzt mag er dort nicht noch einmal anfangen, da sind Jüngere nachgekommen, die er kaum kennt. Warum also nicht in den Kirchenchor?
Nach dem Frühstück würden sie zum Steinbruch gehen. Zu Fuss. Gondeln gebe es keine hier, hat Linette gestern lachend versichert.
Er hatte ihr von der Gondelfahrt auf den Männlichen erzählt. Ein Geschenk der Kinder zu seinem und der Mutter Sechzigstem. Schrecklich. Nie mehr in eine Luftseilbahn. Der Mutter hatte es auch nicht gefallen. Sie hatte sich an ihm festgehalten und leise gestöhnt. Schau nicht hinunter, sagte er. Er selbst musste es tun, ob er wollte oder nicht. Tief unten zwischen senkrechten Felswänden eine Teufelsküche, brodelnde Nebel, schräge Tännchen, die gleich in den Kessel stürzten, wie die Gondel, wenn das Seil risse, an dem sie hingen. Bleich waren sie oben ausgestiegen, hatten sich kaum an der Aussicht erfreut, so hatte es ihnen vor der Rückfahrt gruuset.
Heute würden sie also am Boden bleiben und wandern.
Der Stein auf dem Grab ihres Vaters hatte ihm gefallen. Und sie hatte angefangen, von Vals zu erzählen. Hinten im Tal sei ein Steinbruch, dort würden auch die Platten für den neuen Bundesplatz gehauen. Ob es ihn nicht interessiere, diesen Steinbruch einmal zu sehen.