Nicht auf den Kopf! - Markus Breitscheidel - E-Book

Nicht auf den Kopf! E-Book

Markus Breitscheidel

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Beschreibung

Gewalt in der Familie ist ein Tabuthema - obwohl Jugendämter jährlich 45.000 Kinder deshalb in Obhut nehmen. Die Dunkelziffer liegt noch deutlich höher. Markus Breitscheidel wurde in seiner Kindheit und Jugend selbst Opfer von massiver Gewalt in der Familie. Mit diesem Buch liefert er uns einen emotional packenden Blick in den Alltag eines Kindes, das mit der allgegenwärtigen Angst aufwächst, geschlagen und gedemütigt zu werden. Und er beschreibt, wie Nachbarn, Lehrer, Ärzte, aber auch seine Großeltern jahrelang über die Gewaltexzesse seines Vaters hinwegsahen. Bestsellerautor Markus Breitscheidel stößt mit diesem sehr persönlichen Buch eine längst überfällige gesellschaftliche Debatte über das Tabuthema Gewalt in der Familie an.

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Das Buch

Gewalt in der Familie ist ein Tabuthema – obwohl Jugendämter jährlich 45.000 Kinder deshalb in Obhut nehmen. Die Dunkelziffer liegt noch deutlich höher. Markus Breitscheidel wurde in seiner Kindheit und Jugend selbst Opfer von massiver Gewalt in der Familie. Mit diesem Buch liefert er uns einen emotional packenden Blick in den Alltag eines Kindes, das mit der allgegenwärtigen Angst aufwächst, geschlagen und gedemütigt zu werden. Und er beschreibt, wie Nachbarn, Lehrer, Ärzte, aber auch seine Großeltern jahrelang über die Gewaltexzesse seines Vaters hinwegsahen.

Bestsellerautor Markus Breitscheidel stößt mit diesem sehr persönlichen Buch eine längst überfällige gesellschaftliche Debatte über das Tabuthema Gewalt in der Familie an.

Der Autor

Markus Breitscheidel, Jahrgang 1968, ist investigativer Journalist und Autor. Sein Buch »Abgezockt und totgepflegt«, ein Undercover-Bericht über die Zustände in deutschen Pflegeheimen, wurde zum Bestseller und löste eine breite gesellschaftliche Diskussion aus.

Markus Breitscheidel

Nicht auf den Kopf!

Meine persönlichen Erfahrungen mit Gewalt in der Familie

Econ

Einige Namen wurden gezielt verändert ...

Copyright-Angabe für das Lied »Dein Gesicht« von Herman van Veen: Musik: Hermannus J. Herman van Veen Text: Robert Rob Chrispijn, Thomas Woitkewitsch © Harlekijn-Music/Universal Music Publishing B. V./Universal Music Publishing GmbH

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ISBN 978-3-8437-1248-4

© 2016 © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: FHCM GRAPHICS, Berlin Umschlagfoto: © Stockphoto WEKWEK

E-Book: L42 Media Solutions Ltd., Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

DEIN GESICHT

Wer hat den Ernst in dein Gesicht gebracht?

Wer hat das Licht gelöscht in dir?

Wer hat die roten Wangen bleich gemacht?

Wer brach roh ein in dein Revier?

Wer nahm die Leichtigkeit, die Unbefangenheit?

Wer brachte dich um deine allerschönste Zeit?

Wer machte deine klaren Augen blind?

Wer trieb mit dir ein böses Spiel?

Wer tötete das unbeschwerte Kind?

Das immer aufstand, wenn es fiel.

Wer bremste deinen Drang? Wer lehrte dich den Zwang?

Wer brach die Flügel dir, bevor der Flug gelang?

Wer ließ dich einfach in der Ecke stehen?

Wer hat dein Spielzeug dir zerstört?

Zu wem hast du vergeblich aufgesehen?

Auf wen hast du umsonst gehört?

Wer hat nur unerlaubt die Zukunft dir geraubt?

Wem hast du vorbehaltlos bis zum Schluss geglaubt?

Wem hast du vorbehaltlos bis zum Schluss geglaubt?

Herman van Veen

Vorwort

Jede Begegnung ist eine Chance.

Er ist der Einzige, der nicht weiß, dass ich diese, unsere, meine Geschichte aufschreibe. Er wird davon vielleicht erst aus der Zeitung erfahren. Oder wenn ihm Nachbarn davon erzählen. Vielleicht findet er das Buch zufällig in der Buchhandlung. Vielleicht nimmt er es und feuert es zornig in die Ecke. Zerreißt und zerfleddert es. Tut ihm die Gewalt an, die er früher seiner Frau und seinen Söhnen angetan hat. Oder er versucht, das Buch zu ignorieren, schaut vermeintlich drüber hinweg. Oder er trinkt sich darauf einen. Oder besser: Er säuft. Der Alkohol war immer sein bester Freund. Mit ihm fühlte er sich stärker. Auf jeden Fall stark genug, um seine Frau und seine Kinder zu verprügeln.

Vielleicht liest er das Buch. Vielleicht sagt er solche Sätze wie: »Das ist viele Jahre her.« Oder: »Es muss doch auch mal Gras über eine Sache wachsen.«

Stimmt. Es ist lange her. Das letzte Mal geschlagen hat er mich vor 28 Jahren; das erste Mal vor vierzig. Dazwischen lagen zwölf schreckliche Jahre.

Und, ja, es ist Gras darüber gewachsen. Wer mir heute begegnet, sieht keine blauen Flecken, keine geschwollene Nase mehr. Es ist »was Ordentliches« aus mir geworden. Meine Brüder führen ein unauffälliges Leben. Wohnen sogar noch im selben Ort, wo alles geschah. Mein älterer Bruder hat das Haus unserer Kindheit, den Tatort, umgebaut und in sein Zuhause verwandelt, wo auch unsere inzwischen siebzig Jahre alte Mutter ihren sicheren Platz gefunden hat. Heile Welt. Die Wunden sind verheilt. Äußerlich.

Innerlich ist einiges geblieben. Vor allem die Erinnerungen an den Anblick meiner geschlagenen Mutter und meiner verprügelten Brüder. Den eigenen Schmerz habe ich, so gut es geht, verdrängt; ich habe fast vergessen, wie sich die Prellungen im Brustbereich, die geschwollenen Gliedmaßen, das Dröhnen in den Ohren angefühlt haben. Aber die Bilder von meiner verzweifelten Mutter, die sich schützend über ihre Söhne wirft, bleiben. Auch die von der berstenden Kinderzimmertür, durch die unser wutschnaubender Vater bricht, um sich gezielt an uns zu vergehen, sich eine perverse Form von Erleichterung zu verschaffen. Und auch die Bilder von der verlogenen Familienidylle mit gemähtem Rasen und sauber geschnittener Thuja-Hecke, die derselbe Mann vor seinen Nachbarn, Kollegen und Parteifreunden inszenierte.

Ich schreibe unsere Geschichte auf, weil ich weiß, dass sie auch heute noch in Familien passiert. Jeden Tag. Überall in der Republik. Unabhängig vom sozialen Umfeld wird geprügelt, verletzt, beherrscht, kontrolliert, gedemütigt, eingeschüchtert und verängstigt, was das Zeug hält. Und es wird weggesehen. Jeden Tag begegnen die geschlagenen Kinder und Frauen anderen Menschen: Lehrern und Lehrerinnen in der Schule, Trainerinnen und Trainern im Sportverein, Pfarrerinnen und Pastoren, Nachbarn, Ärzten, Busfahrern und Passanten, Müttern und Vätern von Mitschülern. Jede Begegnung wäre eine Chance: Gesehen zu werden. Verstanden zu werden. Gerettet zu werden.

Um über Jahre vier Menschen misshandeln zu können, braucht es nicht nur einen kranken Mann wie unseren Vater, sondern auch unzählige Menschen, die wegsehen. Erschreckenderweise werden im angeblich so hochzivilisierten Deutschland nicht immer weniger, sondern immer mehr Fälle wie der unsere gezählt.

Laut einer repräsentativen Untersuchung des Bundesministeriums für Familie, Frauen, Jugend und Senioren haben 37 Prozent aller Frauen mindestens schon einmal körperliche Gewalt erfahren. Viele dieser Frauen sind Mütter. Und auch deren Kinder bleiben von dieser Gewalt nicht verschont. Es gibt in Deutschland rund 350 Frauenhäuser und Frauenschutz-Wohnungen. Dort suchen jährlich etwa 40.000 Frauen und Kinder Schutz. Zu viele. Mehr als geschützte Plätze für sie vorhanden sind. Wegen Überfüllung werden Schutzbedürftige abgelehnt – und gehen »heim«. Zum Schikanierer.

Ich will, dass sich das ändert. Deshalb schreibe ich dieses Buch. Ich möchte für die sprechen, denen das Reden gewaltsam ausgetrieben wurde, oder für die, denen Mut und die Worte fehlen. Ich möchte aufrütteln, ermutigen, auffordern, bewusst hinzusehen. Oder einem Verdacht nachzugehen, wenn nebenan jemandem die Hand ausrutscht, Fäuste fliegen, getreten und geschrien wird. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie es ist, sich ausgeliefert zu fühlen: dem Vater, der Gewalt, den Umständen, den gesellschaftlichen Ansprüchen des Umfeldes. Perfide, komplex.

Wenn Kinder und Mütter selbst ohnmächtig sind, nicht um Hilfe bitten wollen oder können, könnten die Menschen drum herum eingreifen. Gewalt gegen Frauen und Kinder gehört zu den schweren Menschenrechtsverletzungen. Das Grauen der Gewalttaten meines Vaters war für meine Mutter, meine Brüder und mich erst zu Ende, als ich alt genug war und den Mut hatte, die Polizei zu holen und vor Gericht zu ziehen. Mein Vater kam nicht ins Gefängnis. Leider. Im Gegenteil: Er lebt noch als unbehelligter Bürger in seiner Heimatstadt, genießt seine stattliche Rente und wurde unlängst von seiner Partei für die langjährige Mitgliedschaft geehrt.

Er hat nie wieder etwas ausrichten können gegen uns. Hat es auch nie wieder versucht. Seither ist Ruhe. Es wird Menschen geben, die mir vorwerfen, dass ich mit diesem Buch genau diese Ruhe störe und alte Wunden wieder aufreiße. Meine Mutter und meine Brüder wissen, was ich tue, und unterstützen mich bei diesem Werk. Uns ist bewusst, dass alte Wunden aufreißen können. Bei uns, bei dem Täter und auch bei den Mitwissern und Wegsehern. Ich gehe das Risiko ein.

Vielleicht liest das eine oder andere Opfer das Buch und ist froh, dass mal jemand den Mund aufmacht.

In diesem Buch können Sie lesen, wie schwierig es ist, zu entscheiden, wann und wie ein Eingreifen von außen nützlich wäre und wann es leider auch gefährlich sein kann.

Wenn die Gewalt in unserer Familie irgendeinen Sinn hatte, dann vielleicht den, dass ich heute dabei helfen kann, dass sie in anderen Familien nicht mehr stattfindet oder so schnell wie möglich beendet wird.

Geburt in unruhigen Zeiten

Es waren unruhige Zeiten, als ich 1968 das Licht der Welt erblickte. In Vietnam tobte ein brutaler Krieg. In den USA protestierten die Studenten mit Sit-ins dagegen. Der Menschenrechtsaktivist Martin Luther King, der vier Jahre zuvor wegen seines Engagements für soziale Gerechtigkeit den Friedensnobelpreis erhalten hatte, war im April bei einem Attentat ermordet worden. Seither wurde in den USA wie nie zuvor gegen Rassentrennung demonstriert und erbittert gestritten. Auch Europa war in Bewegung: Märzunruhen in Polen. Pariser Mai mit den Studentenunruhen und dem wochenlangen Generalstreik in Frankreich. Die blutige Beendigung des Prager Frühlings im August. Schüsse auf den demonstrierenden Studenten Rudi Dutschke in Berlin.

Auch in deutschen Städten herrschte ein offener Konflikt zwischen der Kriegs- und der Nachkriegsgeneration. Die sogenannte 68er Bewegung kämpfte gegen den autoritären Geist der konservativen Gesellschaft, gegen den starken Einfluss des Staates und der Kirchen auf das gesellschaftliche Leben. Der Drang der jungen Generation, ein selbstbestimmtes und freies Leben zu führen, war auf der ganzen Welt deutlich zu spüren. Überall. Außer in dem erzkonservativen Moselörtchen, wo meine Mutter mich zur Welt brachte. Hier bestimmte noch der Dorfpfarrer, wie man sich zu verhalten hatte.

Wie stark der Einfluss der Kirche war, hatten meine Eltern drei Jahre zuvor am eigenen Leib zu spüren bekommen. Im Winter 1964/65 hatten sie sich in der nahegelegenen Kreisstadt kennengelernt. Meine Mutter arbeitete als gelernte Friseurin in dem Salon, in dem sich mein Vater als Student wöchentlich die Haare schneiden ließ. Sie fanden sich sympathisch, wollten sich näher kennenlernen. Doch um sich einfach mal zu treffen, hatten sie einige Hürden zu nehmen.

Da war zuerst die Familie meiner Mutter: An der Spitze stand ihr patriarchaler Vater, und unter ihm diente seine treue und gottesfürchtige Ehefrau. Ihre zwei Töchter waren während des Zweiten Weltkriegs geboren. Er war Soldat an der Ostfront und geriet nur durch viel Glück nicht in russische Gefangenschaft. Sie hielt sich und die Kinder durch den Tausch selbstgestrickter Kleidung gegen Lebensmittel der nahegelegenen Bauernhöfe am Leben. Seit Kriegsende arbeitete mein Großvater bei der Deutschen Bahn, und die vier lebten in dem kleinen Haus an der Mosel, das seit mehreren Generationen Familienbesitz war. Zurückgeschaut wurde nicht. Staatlich war angeordnet, nach vorne zu sehen.

Für die Familie meines Vaters bedeutete der Krieg auch Flucht und Vertreibung. Bis kurz vor Kriegsende lebte sie auf ihrem großen Bauernhof in der Nähe von Breslau im damaligen Schlesien. Meine Großmutter brachte zehn Kinder zur Welt, doch nur fünf überlebten den Krieg. Anfang 1945 flüchtete die siebenköpfige Familie, wie viele andere mit nur dem Nötigsten ihres Besitzes, von einem auf den anderen Tag gen Westen und landete in einem Auffanglager in Niedersachsen. Damals wurden die Flüchtlingsfamilien in ländlichen Gegenden wie Eifel oder Hunsrück angesiedelt. Die Familie meines Vaters bekam ein Grundstück an der Mosel zugeteilt. Trotz schwerer Kriegsverletzung baute mein Großvater ein Haus für seine Familie, verstarb aber schon 1960. Seither lebte meine Großmutter mit ihren fünf fast erwachsenen Kindern allein in dem Haus. Für die Ortsansässigen waren die Flüchtlingsfamilien mit ihren eigenen Sitten und Gebräuchen ein Dorn im Auge. So wurden die Schlesier eine lange Zeit lediglich geduldet. Anschluss an das gesellschaftliche Leben in der Gegend war eher selten.

Dass meine Mutter als Tochter einer einheimischen, alteingesessenen Familie sich ausgerechnet in einen dieser Schlesier verliebte, war an sich schon ein Drama. Die beiden trafen sich heimlich. Erst als meine Mutter im dritten Monat schwanger war, offenbarten sie sich ihren Eltern. Der Skandal war perfekt.

Ein uneheliches Kind galt als »Bastard«, und die werdenden Eltern sowie deren Familien verloren enorm an Ansehen. Unehelichen Paaren und ihrem Nachwuchs war es nicht erlaubt, an Gottesdiensten und kirchlichen Feiern teilzunehmen. Selbst eine Taufe und damit die Aufnahme des Kindes in die kirchliche Gemeinde wären unmöglich gewesen. Für meine Großeltern war deswegen erstes Gebot: den Ruf und den Stand der Familie in der Dorfgemeinschaft zu wahren. Selbst wenn meine Eltern ins nahegelegene Trier oder nach Koblenz gezogen wären, meine Großeltern hätten sich im Dorf nicht mehr blickenlassen können. Es musste also schleunigst eine kirchliche Trauung organisiert werden.

Der Dorfpfarrer lehnte es rigoros ab, eine Braut zu verehelichen, der die Schwangerschaft bereits anzusehen war. Nach langem Suchen erbarmte sich in einem fünfzig Kilometer entfernten Kloster ein Geistlicher, dem Brautpaar seinen Segen zu geben. Erst als sie getraut waren, durfte mein Vater offiziell ins Haus meiner Großeltern einziehen. Dort kam kurz darauf mein ältester Bruder Wolfgang zur Welt.

Fast drei Jahre später, mein Vater hatte sein Studium beendet und bereits eine Stelle als Bauingenieur im Straßenbauamt, offenbarte ihm meine Mutter die zweite Schwangerschaft.

Ich war erst neun Wochen in ihrem Bauch. Das war für meinen Vater schon Anlass genug, vollkommen die Beherrschung zu verlieren: Er riss meine Mutter an ihren Haaren zu Boden und begann mit beiden Füßen auf ihren Bauch einzutreten. Erst als mein Großvater, durch die lauten Schreie meiner Mutter aufgeschreckt, an ihre Tür klopfte, ließ er von ihr ab. Das Ganze wiederholte sich wohl mehrfach während der Schwangerschaft, und jedes Mal war es »nur« die Angst vor dem Großvater, die ihn bremste. Niemand sprach über die Gewaltausbrüche meines Vaters. Niemand. Keinesfalls wollten sie den Ruf der Familie schädigen. Das Wort Trennung oder gar Scheidung wurde nicht einmal in den Mund genommen. Nicht nur dass meine Mutter als »gefallene« Frau in der Dorfgemeinschaft ihr Ansehen verloren hätte, auch meine Großeltern hätten sich nicht mehr auf die Straße getraut. Stattdessen wurde der Alkohol zum eigentlichen Sünder erkoren. Mein Vater zeigte schließlich nach jedem Ausbruch wochenlang Reue.

Am 15. Oktober 1968 wurde ich geboren. Wenige Wochen später erhielt ich das erste Sakrament der römisch-katholischen Kirche und wurde auf den Namen Markus-Josef Breitscheidel getauft. Zwei Jahre später komplettierte mein jüngster Bruder Oliver die Familie.

Kindheit zwischen Weinlese und Christmette

Die ersten Jahre meines Lebens vergingen schnell und abwechslungsreich. Es war kein üppiges, aber doch ein geordnetes Leben, in dem für alle gesorgt war – zumindest in materieller Hinsicht.

Wir lebten gemeinsam im Haus meiner Großeltern, das längst aus allen Nähten platzte. Auf einer bescheidenen Grundfläche von 65 Quadratmetern fanden im Erdgeschoss eine Wohnküche und ein kombiniertes Wohn- und Esszimmer ihren Platz. Unter der steilen Treppe gab es für uns sieben Personen ein winziges Bad, das einzige im Haus. Im Obergeschoss waren die Schlafzimmer meiner Eltern und meiner Großeltern. Als Kinderzimmer diente ein vom Speicher abgetrennter, kleiner Raum, in dem neben einem Kleiderschrank nur ein Doppelbett Platz hatte. Darin schliefen wir drei Jungs; Wolfgang, der Älteste, im vorderen Teil; mein jüngster Bruder Oliver in der sogenannten Besucherritze; und ich im hinteren Teil.

Meine Mutter arbeitete als Friseurin in der nahegelegenen Kreisstadt, wo auch mein Vater auf dem Straßenbauamt tätig war. Noch bevor wir Kinder morgens aufwachten, verließen sie gemeinsam das Haus und kamen erst spät zurück. Meist reichte die Zeit noch für ein gemeinsames Abendessen, bevor uns unsere Großmutter, die weitestgehend unsere Erziehung übernommen hatte, ins Bett brachte. Jeden Sonntag wurde morgens gebadet und gemeinsam der Gottesdienst besucht.

Die meiste Zeit verbrachten wir in dem großen Garten, den meine Großmutter gepachtet hatte. Es gab eine Schaukel und einen Sandkasten, es wuchsen Kartoffeln, Bohnen und Möhren, wovon täglich etwas frisch zubereitet auf dem Mittagstisch landete. Aus Brombeeren, Erdbeeren und Himbeeren kochten wir frische Marmelade. Kirschen und Mirabellen wurden für den Winter in Weckgläsern eingekocht.

In der Nachbarschaft wohnten unsere zwei Cousins und vier Großcousinen, die alle etwa in unserem Alter waren. Im Herbst trafen wir uns alle täglich zur Weinlese. Damals hatte fast jede Familie des Dorfes noch einen kleinen Weinberg. Zur Erntezeit halfen sich alle gegenseitig, die Trauben in den meist steilen Moselhängen mit der Hand zu ernten. Zur Mittagszeit brachte meine Großmutter das Essen mit dem Fahrrad direkt an den Weinberg, und alle aßen gemeinsam. Jedes der Familienmitglieder hatte seine zugeteilte Arbeit zu erledigen. Wir Kinder standen den ganzen Tag in riesigen Wannen, in denen wir mit unseren nackten Füßen aus den frisch geernteten Trauben den Most stampften.

Den Winter verbrachten wir meist in der warmen Stube. Sehnlichst warteten wir auf Weihnachten, für uns das größte Fest im Jahr. Nach der großen Christmette gab es für uns Kinder die Bescherung, anschließend aßen wir Fisch. Ganz traditionell.

1974 – Indianer, Häuslebauer und Weltmeister

Das Jahr 1974 begann sehr ruhig. Erst im Herbst stand eine große Änderung für mich an: Mit dann sechs Jahren sollte ich eingeschult werden, und somit war klar, dass ich das letzte Jahr »in Freiheit« noch ausgiebig genießen würde.

Den Auftakt als Höhepunkt machte der Karneval, der endlich den langen Winter vertrieb. Wie jedes Jahr übernahm in der Woche vor dem Faschingsfest mein Großvater die Kinderbetreuung und zog mit uns Knaben zum Gemischtwarenhändler, der speziell für diese Zeit sein Sortiment mit Cowboy- und Indianerkostümen aufgestockt hatte. Das Fernsehen hatte damals nur zwei bescheidene Programme, aber wir alle schauten mit großer Begeisterung die Karl-May-Filme mit Lex Barker als Old Shatterhand und Pierre Brice als Winnetou. Somit war klar, wie das beste Karnevalskostüm auszusehen hatte: Mit großen Augen standen wir vor der Silberbüchse und den Spielzeugwaffen, die wir aus den Filmen kannten. Ich entschied mich für das Indianerkostüm und feierte meinen großen Auftritt als einer von vielen Häuptlingssöhnen bei der großen Kinderfaschingsparty.

Kurz darauf folgte der zweite Höhepunkt: Im Frühjahr erhielten wir, als eine der ersten Familien im Dorf, einen Farbfernseher. Eine echte Sensation, die auf Größeres verwies: die Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land!

Als großer Fußballfan und Anhänger des 1. FC Kaiserslautern hatte mein Großvater seine gesamten Ersparnisse in das neue Gerät investiert. Schließlich gab es bereits seit Wochen im gesamten Dorf kein anderes Gesprächsthema – egal ob ich beim Bäcker ein Brot oder das Suppenfleisch beim Metzger für meine Oma abholte. Überall waren Bilder von Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß oder Gerd Müller, dem »Bomber« der jetzt friedlich gewordenen Nation. Selbst für uns Kinder war spürbar, dass sich das ganze Land der Welt als friedliche Nation präsentieren wollte.

Doch damit nicht genug. Noch bevor der erste Ball gerollt war, überraschten uns meine Eltern mit der Nachricht, dass sie sich ein Grundstück gekauft hatten. Dank »Eigenheimzulage« und »Wohnungsbauprämie« und staatlichen Geldern zur Förderung des Wohnungsbaus sollte bis zum nächsten Sommer ein schmuckes Eigenheim für unsere Familie entstehen – und zwar in der nahegelegenen Kreisstadt.

Was für meine Eltern ein großer Gewinn war, brachte meinen großen Bruder tagelang zur Verzweiflung. Er ging schon in die zweite Klasse der örtlichen Grundschule. Und der Umzug bedeutete für ihn, dass er seine vielen Freunde verlor. Mich traf die Nachricht weniger heftig. Damit mir so was nicht auch passierte, ließen meine Eltern für ihr »Kann-Kind« die Einschulung um ein Jahr verschieben. Ein ganzes Jahr mehr ohne Schule. Ich fand das toll.

So stiegen wir eine Woche später alle gemeinsam in unser schon in die Jahre gekommenes Familienauto und machten uns auf den Weg nach Cochem-Brauheck. Dieser Ortsteil war erst nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge des Kasernenbaus für den Flugplatz Büchel entstanden.

Von oben betrachtet war die Siedlung Brauheck dreigeteilt: Ursprünglich hatte es nur die Kaserne und eine nahegelegene Wohnsiedlung für die Soldaten gegeben. Dann erweiterte der Bund in den 60er Jahren die Siedlung durch den Bau weiterer Mietwohnungen. Inzwischen lebten dort Familien, die von den Leistungen des Sozialamts abhängig waren und damals abwertend als »asozial« bezeichnet wurden. Und nun, Mitte der 70er Jahre, wurde ein anliegendes Waldstück gerodet und als Neubaugebiet für Einfamilienhäuser erschlossen. Für die sogenannten »Besserbemittelten«.

Ganz schön viel Phantasie brauchten wir, um uns vorzustellen, wie das mal aussehen sollte. Noch gab es nur einen Feldweg zu unserem Grundstück. Die Baugrube war bereits ausgehoben, und am Grundriss konnte man die Größe des zukünftigen Neubaus erahnen. Der sollte viel größer werden als das Haus, in dem wir jetzt lebten. Die Bauarbeiter waren gerade dabei, den Unterbau der zukünftigen Straße aufzubringen. Im gesamten Neubaugebiet waren erst drei Häuser errichtet. So konnte man alle drei Straßenzüge der Siedlung Brauheck gut überblicken. Hier würde es bald neben dem Buchenweg, in dem sich unser Grundstück befand, noch die Birken- und die Lindenstraße geben.

Wir Jungen sollten endlich jeder ein eigenes Zimmer bekommen. Diese Nachricht ließ selbst meinen großen Bruder die Trauer über den anstehenden Umzug vergessen. Auch meinen Großeltern war die Erleichterung deutlich anzumerken. Die tägliche Betreuung von uns drei Jungs war für meine Großmutter zu einer enormen Belastung geworden. Bald würden sie das kleine Haus wieder für sich haben. Alle waren so glücklich.

Die Freude hielt an. Am 13. Juni 1974 fand im Waldstadion zu Frankfurt am Main das Eröffnungsspiel zur zehnten Fußballweltmeisterschaft statt. Unser kleines Wohnzimmer war, wie das Stadion, bis auf den letzten Platz besetzt. Wir Kinder hockten unter dem Esstisch, als das Spiel zwischen Brasilien und Jugoslawien endlich angepfiffen wurde.

Einen Tag später schlug dann unser Team Chile mit 1:0, und auch die DDR bestritt ihr erstes Spiel gegen Australien mit 2:0. Weitere vier Tage später gewann die BRD gegen Australien mit 4:0, und erst der legendäre Jürgen Sparwasser ließ unsere Träume vom Titel im eigenen Land zunächst zerplatzen. Was war in unserem Dorf los, als unser Team das Spiel gegen das Team aus dem anderen Teil Deutschlands verlor!

Weltmeister sind »wir« trotzdem geworden. Der Titelgewinn trieb die männliche Jugend damals scharenweise auf die Sportplätze. Auch Wolfgang und ich waren nicht zu bremsen. Jeden Tag in diesem Sommer verbrachten wir beim Fußballspiel mit der gesamten Dorfjugend auf dem nahegelegenen Sportplatz. Wir würden auch die nächste WM gewinnen!

Ein folgenschwerer Unfall an der Schaukel

Dass im Jahr 1974 US-Präsident Nixon im Zuge der Watergate-Affäre zurücktrat, blieb im kleinen Moselörtchen ebenso unbemerkt wie der Rücktritt des beliebten Kanzlers Willy Brandt nach der Guillaume-Affäre. Mochten woanders die 68er Studenten das erzkonservative Leben ihrer Eltern abschütteln und in Kommunen neue Lebensformen erproben – bei uns ging das Leben noch seinen gewohnten Gang.

Ein guter, sonnenreicher Sommer bescherte der Moselregion in diesem Herbst einen hervorragenden Wein. In Brauheck war der Neubau bereits bis zum Richtfest fertiggestellt, und das letzte gemeinsame Weihnachtsfest unter einem Dach mit den Großeltern stand vor der Tür.

Kurz vor dem großen Fest war meine Mutter gemeinsam mit Opa und Oma in das nahegelegene Koblenz unterwegs, und mein Vater sollte auf uns drei aufpassen. Es war überhaupt das erste Mal, dass er allein mit uns einen Tag zu Hause verbringen sollte. Doch kurz nachdem meine Mutter das Haus verlassen hatte, war auch mein Vater verschwunden.

Meine Brüder und ich zogen zum Garten meiner Oma und spielten dort auf der Schaukel. Wolfgang, inzwischen acht Jahre alt, wagte Schwünge, die ich mit meinen sechs Jahren nicht nachmachen konnte. So gern ich das auch gewollt hätte. Und der kleine Oliver wuselte mit seinen vier Jahren irgendwo zwischendurch. Wir spielten wild und ausgelassen. Achteten nicht wirklich auf das, was um uns herum geschah. Plötzlich ein Schrei. Wir sprangen erschrocken von der Schaukel und sahen, wie Oliver fiel. Wir hockten uns neben ihn. Und schrien. Oliver bewegte sich nicht. Wir hatten ihn mit der Schaukel am Kopf getroffen. Unter seiner Nase klaffte eine Wunde und blutete. Nach ein paar Schrecksekunden fing Oliver an zu weinen. Gott sei Dank. Er lebte.

»Und was jetzt??«, fragte Wolfgang. »Hol jemanden!«, wetterte ich. Ich war selbst noch viel zu aufgeregt. »Ich bleib so lange bei Oliver!«

Wolfgang rannte los. Ich zog mein T-Shirt aus und drückte es auf die Wunde unter der Nase. Ich dachte, das hilft vielleicht. Was hätte ich sonst machen sollen? Kurz drauf tauchte Wolfgang mit meiner Tante auf. Die nahm Oliver vorsichtig auf den Arm und brachte ihn zum Haus, wo mein Onkel bereits mit seinem Auto wartete.

Wir fuhren zusammen ins Krankenhaus. Mir war schlecht. Wo war eigentlich mein Vater? Wir konnten ihn einfach nicht finden. Wie sich später rausstellte, saß er in der Kneipe, während wir mit Oliver im Krankenhaus waren. Er soll sich noch ein paar Schnaps genehmigt haben, bevor er nach Hause gewankt ist. Da traf er dann auf uns. Er trank weiter. Nun die Vorräte meines Großvaters. Unsere Tante blieb noch. Sie brachte Oliver ins Bett, und als der endlich schlief, fuhren mein Onkel und sie nach Hause.

»Kann man euch eigentlich keine fünf Minuten alleine lassen?«, brüllte er uns plötzlich an. Wir zuckten zusammen. Zogen die Köpfe ein. Sagten nichts. Hatten Angst. »Ihr seid echt für gar nichts zu gebrauchen! Nicht mal auf euren Bruder könnt ihr aufpassen!«, schrie er weiter. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. »Wir haben doch nur …!«, begann Wolfgang. Noch bevor er den Satz beenden konnte, schlug mein Vater zu. Mitten ins Gesicht. Wolfgang flog durch den Raum, unfähig, etwas zu tun. Mich packte die nackte Angst. So schnell ich konnte, raste ich die steile Treppe zum Speicher hoch. Mein Vater folgte mir und drohte:

»Bleib gefälligst stehen!« Ich hörte ihn auf den Treppen. »Wenn ich dich kriege!«

Ich schlüpfte durch die Speichertür und verkroch mich hinter dem alten Küchenschrank. Mein Herz raste vor Angst. Zum Glück hatte die Glühbirne der einzigen Lampe ihren Geist aufgegeben, und mein Großvater hatte sie noch nicht ausgewechselt. Mein Vater wütete im Dunkeln. Die Lücke zwischen Schrank und Dachschräge bot wirklich nur Platz für meinen kleinen Körper. Mein Vater passte hier nie hin. Der war zwar nicht sonderlich groß, aber dick. Mein Versteck war also gut gewählt. Ich hatte hier nichts zu befürchten. Aber was war mit Wolfgang?

In diesem Moment schlug die Tür zum Speicher auf, und mein Vater stand im Türrahmen. Ich stockte. »Wo hast du Bastard dich versteckt?«, rief er. Stille. Ich machte keinen Mucks. »Komm da raus! Sofort!«

In diesem Moment hörte ich die alte Eingangstür ins Schloss fallen und wusste, Wolfgang war entkommen. Ich hielt die Luft an und machte mich so klein, wie es eben ging. Kauerte mich zusammen, gab keinen Ton von mir. Mein Vater rüttelte kurz und heftig an dem Küchenschrank. Zwei Einmachgläser fielen heraus und zerschellten am Boden. Er wich zurück. »Bete zu Gott, dass ich dich nicht erwische!«, schnaubte er wütend und verließ den Speicher.

Es dauerte gefühlte Ewigkeiten, bis mein Herz nicht mehr bis zum Halse schlug und ich richtig durchatmen konnte. Trotzdem. Ich blieb einfach da sitzen. In meinem Versteck. Hinter dem Schrank. Erst als ich meine Großeltern hörte, traute ich mich wieder aus dem Speicher raus.

Mein Vater schlief auf der Wohnzimmercouch. Wolfgang hatte Zuflucht bei meiner Tante gefunden. Als er von da wiederkam und mein Großvater Wolfgangs geschwollenes Auge sah, begriff er, was passiert war. Er wurde richtig sauer. Energisch wies er meine Oma an, uns Kinder ins Bett zu bringen.

»Mach, dass du hier rauskommst!«, hörten wir ihn meinen Vater anschreien. »Schlaf deinen Rausch aus. Über den Rest reden wir morgen!«

Dessen Antworten konnten wir nicht hören; er sprach nicht laut genug. Und ob sie je geredet haben, weiß ich bis heute nicht.

Die Weihnachtszeit begann. Plätzchenbacken, der Einkauf der Weihnachtsgans beim Bauern oder das Schmücken des Weihnachtsbaums halfen mir, diese Erlebnisse einfach zu übertünchen. Wir Kinder haben tatsächlich gedacht, wir hätten die Schläge zu Recht bekommen. Quasi als Strafe für den Unfall an der Schaukel. War eben passiert. Tat weh. Heilte wieder. Dachten wir. Wir ahnten ja nicht, dass diese Brutalität bald zur Normalität unseres Lebens gehören sollte.

Das neue Haus: Taubenschlag und offener Kamin

Schon wenige Wochen später ging die behütete Zeit im Hause meiner Großeltern zu Ende. Der Innenausbau des neuen Familienwohnsitzes war schon so weit fortgeschritten, dass wir früher als erwartet die ersten Umzugskartons packen konnten.

Gespannt saßen wir im Auto auf dem Weg nach Brauheck. Bis auf meinen Vater, der selbst im Winter fast jedes Wochenende auf der Baustelle verbrachte, hatten wir unser Haus schon mehrere Monate nicht mehr gesehen. Uns Kinder interessierte nur, wie groß unsere Zimmer sein würden und wer welches Zimmer bekommt. Die Straße war mittlerweile bis zum Haus geteert, und die Häuser in den Nachbarstraßen wuchsen wie Pilze aus dem Boden. Bestimmt zwanzig waren zu diesem Zeitpunkt fast so weit wie unseres und für mindestens noch mal so viele die Baugruben bereits ausgehoben.

Mit großen Augen bestaunten wir das zweistöckige Einfamilienhaus – doppelt so groß wie das Haus der Großeltern. Das sollte alles für uns sein? Wahnsinn. Und dann noch dieses große Grundstück drum herum. Das sollte unser Garten werden. Platz für Fußball, Spielen und Feiern.

Über eine aus Baubrettern errichtete provisorische Treppe führte mein Vater uns zur Haustür. Stolz schloss er sie auf und lotste uns in den Flur. Marmorplatten am Boden. Eine schicke Holztreppe, die in die zweite Etage führte, direkt darunter eine Steintreppe zum Keller. Allein der Eingangsbereich war so groß wie ein Zimmer. Links führte ein Torbogen zum Badezimmer, das Platz für eine Dusche und eine Badewanne hatte und ein Klo und ein Waschbecken.

Alles in Grün. Spülkasten, Klobrille, Badeteppiche und Klorollenhalter, ja, sogar die Klobürste leuchtete in Giftgrün.

Von der Haustür aus nach rechts ging es in den größten Raum des Hauses, das Wohn- und Esszimmer. Die sogenannte gute Stube. Sie wurde nur an Feiertagen betreten, wenn Gäste kamen. Vor dem großen Panoramafenster standen ein massives Dreisitzer-Sofa und zwei schwere Sessel. An der Wand ein riesiger Wohnzimmerschrank in Eichenfurnier. Mitten im Raum – damals voll im Trend – ein offener Kamin, der allerdings mehr der Dekoration diente als zum Beheizen des Raums. Neben dem großen Fenster führte eine Terrassentür nach draußen. Davor stand ein Tisch mit Eckbank und vier Stühlen, das Holz passend zum Schrank und die Sitzpolster im gleichen Grün wie die Sofakissen. Braun-weiße Teppichfliesen, einzeln verklebt, verdeckten den Zementestrich. Zuerst sah das todschick aus. Doch als sich der Klebstoff an den Fliesenrändern löste, entpuppte sich das Ganze als unansehnliche Stolperfalle.

Zentrum des Alltags sollte die große Küche werden. Links stand eine moderne weiße Küchenzeile für Geschirr, Gläser, Tassen und Töpfe. Rechts befand sich neben der Kühl-Gefrier-Kombination der Herd, darüber eine Dunstabzugshaube, und eine Spüle mit darüber befindlichem Medikamentenschrank – alles technisch auf dem allerneusten Stand. Am Esstisch mit vier Stühlen vor dem Küchenfenster nahmen wir die meisten Mahlzeiten ein. Den benachbarten kleinen Raum nutzten wir alltags als Wohnzimmer. Dort stand zwischen Ecksofa und eichenfurnierter Vitrine der Schwarzweißfernseher – der Farbfernseher gehörte ja dem Großvater und war deshalb im alten Haus geblieben.

Richtig spannend wurde es im Obergeschoss. Als Erstes zeigte mein Vater uns sein mit Zeichenplatte und Schreibtisch bereits vollständig eingerichtetes Büro. Daneben war ein kleiner Raum, der später mal als zweites Bad dienen sollte, aktuell noch in der Rohbauphase – aber um es vorwegzunehmen: In den sechzehn Jahren, die ich in diesem Haus wohnte, kam der Raum niemals über diese Phase hinaus.

Drei etwa gleich große Räume waren jetzt noch übrig. Uns Kindern dämmerte, dass wir uns zu früh gefreut hatten: drei Räume, drei Jungen. Und das Elternschlafzimmer?

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