Nichts für Alle - Quinn Alexis - E-Book
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Nichts für Alle E-Book

Quinn Alexis

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Beschreibung

Juna hätte niemals hierherkommen dürfen. Deutschland, 2029: Mehr und mehr und noch mehr Menschen fehlt das Geld für die Miete. Sie leben unter den Vordächern von Juwelieren und Schuhgeschäften, in U-Bahn-Stationen und an Bushaltestellen. Dagegen unternehmen ein paar Regierende etwas, das entweder sehr klug oder sehr dumm ist: Sie erklären Polizei und Sozialarbeit zu einem Beruf. Ehemalige Polizeipatrouillen gehen nun gemeinsam mit ehemaligen Streetworkern auf Streife. Juna, 23 und frisch aus der Ausbildung, ist gespannt auf das Leuchtturm-Projekt. Doch zwischen der in ihrer Dienstwohnung entstandenen WG, der mysteriösen Besetzung einer Gartenkolonie und dem Verhalten ihres Vorgesetzten läuft nichts wie geplant ... Fern von inhaltsloser Action führt Nichts für Alle in den Alltag der Zukunft und erzählt ruhig, schlicht und klug von Regelbrüchen, Hoffnung und Widerstand.

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Dieses Buch wurde mit freier Software erstellt:

LibreOffice – Textbearbeitung

pandoc – Dateikonvertierung

inkscape – Graphikdesign

L

A

T

E

X – Textsatz

Frei bedeutet hier nicht (nur) kostenfrei, sondern frei in der Verbreitung: Das Ziel ist nicht, auf eine gute Idee ein lukratives Patent anzumelden, sondern die Idee so vielen Menschen wie möglich zugänglich zu machen. Tausend Dank an all die Hacker_innen, Haecksen, Nerds und Geeks, die ihre Programme unkommerziell verbreiten und immer bereit sind, Wissen und Ideen zu teilen.

Inhalt

1 Irrwege

2 Am nördlichen Rand

3 Hinter der Fassade

4 Beim Max-Larrk-Lesekreis

5 Bart Schereumer

6

Ab in die Mitte

7 Polizeimethoden

8 Aufgeflogen

9 Alles und nichts

10 Der Backup-Plan

11 Friendly Fire

Über die Autorin

KAPITEL 1

IRRWEGE

Wasser strömte die Treppen hinunter. Es schlug Wellen gegen die Wand auf der einen Seite, spritzte auf das Geländer auf der anderen, schwappte gegen die Beine der Menschen, die aus der U-Bahn kamen.

Juna kämpfte sich die Stufen hoch. Ihre Füße waren durchnässt. Musste ihr gerade heute diese Flut entgegenkommen? Wo sie ein einziges Mal schicke statt wetterfester Schuhe trug?

Sie hatte den Ausgang in der Mitte der Straße erreicht. Zwei Bäche flossen an den Rändern der Verkehrsinsel entlang. Davor drängte eine Traube aus Menschen, alle offenbar mit dem Gedanken beschäftigt, wie sie trockenen Fußes die andere Seite erreichen könnten.

Juna boxte sich einen Weg zum Rand des Gehwegs frei, streckte einen Fuß über das Wasser auf die Straße hinaus und zwängte sich zwischen den stehenden, hupenden Autos hindurch. Warum taten so viele Leute sich diesen Verkehr an? Sie zahlten ein halbes Vermögen, um den halben Morgen im eigenen Auto im Stau zu stehen.

Unter der ersten Markise vor der Ecke wurden Regenschirme verkauft. Einen großen blauen Schirm über sich gespannt, verfiel sie in einen ruhigeren Schritt, schob ein paar Touristen zur Seite, bog um eine Ecke, um eine zweite und hielt dann zielstrebig auf das größte Gebäude in der kleinen Seitenstraße zu. Seine Marmorfassade war in dem diesigen Licht kaum zu erkennen, die Aufschrift schien in der Luft zu schweben:

SOZIALE POLIZEI

Sie lief schneller. An der Fassade vorbei. Rechts in die Sackgasse. Dort führte ein Tor in den Hinterhof, in dem sie sich melden musste.

Der Hof bestand aus Schotter. In den Blumenkübeln neben den Pfosten am Eingang schwammen Zigarettenreste.

Juna warf einen Blick in alle Richtungen. Durch den Regenschleier konnte sie eine gläserne Schiebetür erkennen, die sich beim Näherkommen nicht öffnete, auch nicht, als sie mit ihrem Schirm direkt vor dem Bewegungsmelder herumwedelte. Von der Mauerecke aus war eine Kamera auf sie gerichtet. Sie drückte auf den Klingelknopf darunter.

Nachdem es eine Weile getutet hatte, krächzte eine Stimme: »Ja bitte?«

»Guten Morgen!« rief Juna. »Juna Pechstein, ich soll heute anfangen!«

»Personalnummer?«

»Ich glaube, ich hab eine.«

»Lautet?«

»Das weiß ich leider nicht.«

»Sie brauchen Ihre Personalnummer.«

»Ich kann bestimmt meinen Vorgesetzten danach fragen. Wenn Sie so freundlich wären, mir die Tür aufzumachen und mich ins Trockene zu lassen?«

»Aber Sie haben jakeine Personalnummer. Dieser Eingang ist nur für Personal.«

Knacks.

»Das ist doch jetzt nicht wahr«, sagte Juna laut. Sie drückte erneut auf den Klingelknopf.

Es tutete nur kurz, bevor die Stimme sich wieder meldete. Sie klang jetzt verhalten, als überlege sie, wie sie gleichzeitig ihre Pflicht als Pförtnerin erfüllen und sich auf möglichst wenig Kontakt mit der Fremden vor der Tür einlassen könnte.

»Juna Pechstein«, sagte Juna so beschwingt sie konnte.

»Ja?«

»Mir ist gesagt worden, ich solle mich hier melden.«

Nun war die Stimme irritiert. »Von wem?«

»Robert Gärmann.«

»Haben Sie einen Termin mit Herrn Gärmann?«

»Ganz genau.«

»Dann gehen Sie zum Vordereingang, aus dem Tor hinaus links.«

»Aber Herr Gärmann hat gesagt, ich solle durch den Personaleingang kommen.«

»Der Personaleingang ist für das Personal.«

»Ich gehöre zum Personal!« antwortete Juna und fügte dann, denn nun kam es sicher auf Schnelligkeit an, hinzu: »Herr Gärmann hat meine Personalnummer vorliegen!«

»Davon weiß ich nichts.«

»Ich kann nichts dafür.«

»Ich auch nicht!« blaffte es aus dem Lautsprecher. »Zeigen Sie mal Ihr Gesicht!«

Juna senkte den Schirm. Dicke Tropfen sickerten in ihren Kragen und das Revers ihres Jacketts. Erst durchnässt es mir die Schuhe, dachte sie, und jetzt wird auch von meinem Make-Up nichts übrigbleiben.

»Ich prüfe das ausnahmsweise für Sie«, sagte die Stimme.

Es dauerte dann gar nicht lange, bis hinter der Tür eine Bewegung zu sehen war. Juna schaffte es gerade noch ihr Lächeln zurechtzurücken, dann stand ihr Vorgesetzter, Robert Gärmann, im Eingang. Er trat nur soweit zurück wie gerade nötig.

Sie wollte das feuchte Jackett abstreifen, knöpfte es unter dem Blick ihres neuen Chefs aber hastig zu.

»Bin ein wenig nass geworden«, sagte sie und zwang ihre Mundwinkel, in Position zu bleiben. Gärmann nickte.

»Ich kann nicht jeden Tag herunterkommen, um Sie hereinzulassen«, sagte er.

»Ich dachte, die Pforte wüsste –«

»Die Pforte wusste nicht Bescheid. Ist egal« – er sah Juna zum ersten Mal ins Gesicht – »jetzt sind Sie ja da. Hier entlang.«

Juna machte den Hals lang, als sie an der Pförtnerloge vorbeigingen, aber das Licht hinter der Scheibe war ausgeschaltet. Alles, was sie erkennen konnte, war eine regenbefleckte Gestalt mit verwischter Wimperntusche und halb aufgelöstem Haarknoten am Hinterkopf.

»Entschuldigung«, sagte sie. »Vielleicht könnte ich als erstes meine Uniform bekommen und erfahren, wo die Umkleide ist?«

»Die Uniform wird erst wichtig, wenn Sie draußen tätig werden. Aber da wollen Sie heute sowieso nicht hin, oder?«

Juna rang sich zu einem Lachen durch. »Nicht so gern«, sagte sie. »Aber ich dachte, es gäbe auch eine Uniform fürs Büro.«

»Nach sechs Monaten im Dienst. Sie müssen erstmal genug Guthaben ansammeln. Haben Sie den Vertragszusatz 21 B unterschrieben?«

»Ich glaube.«

»Darin ist geregelt, dass ein Teil Ihres Gehalts aufs Ausstattungskonto überwiesen wird. Wenn Sie genug für die ersten Uniformteile zusammenhaben, werden Sie automatisch benachrichtigt. Das ist in der Regel nach sechs Monaten der Fall. Wichtiger ist dann aber, dass Sie die Uniform für den Außendienst kaufen.« Sie waren inzwischen um zwei Ecken gebogen und hatten den Aufzug am Ende eines Flurs erreicht. Juna sah sich um. Weiße Wände, brauner Teppichboden, silberne Aufzugtüren. Keine Bilder, kein Wegweiser. Na ja, sie waren auf dem Weg hierher einmal links und einmal rechts abgebogen, das würde sie wohl behalten können.

Bei ihrem Vorstellungsgespräch hatte die Runde aus fast einem Dutzend Abteilungsleitungen und darüber sitzenden Koordinationsmitgliedern bestanden. Nur drei von ihnen hatten ihr Fragen gestellt. An Robert erinnerte sie sich als schweigende Figur im Hintergrund.

Während jetzt der Aufzug nach oben fuhr, sah sie sich ihren neuen Chef genauer an.

Er war nur etwa einen halben Kopf größer als sie und ziemlich schlank. Bestimmt passte er in eine Uniform Größe S. Sein Gesicht war perfekt rasiert und zeigte keine Spur von Schatten unter den Augen. Er trug eine marineblaue Hose mit eingebügelter Falte und ein Hemd im selben Farbton. Auf seiner rechten Schulter war das Logo der Sozialpolizei eingestickt: ein Leuchtturm, dessen Lichtkegel sowohl nach rechts als auch nach links zeigte. Sein Haar war exakt in Form und etwas zu schwarz, um zu den Falten um seinen Mund zu passen. Kurz vor dem Ohr war eine schuppende, entzündete Hautstelle zu sehen – klein, aber auffällig in dem perfekt gepflegten Gesicht.

»Hier sind wir«, sagte Gärmann, als der Aufzug wieder zum Stehen kam. »Haben Sie sich bisher alles gemerkt?«

»Bisher ... wir sind in der vierten Etage. Auf dem Weg zum Aufzug sind wir zuerst links und dann rechts gegangen. Aber ich brauche unbedingt meine Personalnummer.«

»Die Personalnummer. Die holen wir Ihnen als Erstes.«

Er wandte sich nach links. Der Flur hier oben war breiter als im Erdgeschoss. Der Teppichboden war grau statt braun. An der fünften Tür zur Linken stand »Raum 407, Robert Gärmann, Teamleitung«.

Juna blieb auf der Schwelle stehen. Das Büro war weder groß noch klein, hatte ein Fenster, von dem aus man auf die Wand des Nachbargebäudes sah, und unter dem Fenster einen üppig wachsenden Zimmerfarn.

»Hier ist sie«, sagte Gärmann. Juna nahm die Mappe und betrachtete zum zweiten Mal den nach links und rechts leuchtenden Turm.

Nach allem, was am Morgen schiefgelaufen war, fühlte sich dieser Moment endlich richtig an. Der Tag bewegte sich!

Sie sah hoch und begegnete Gärmanns Lächeln. »Personalnummer, Visitenkarten, Zugangsdaten für Emailadresse und Workstation, Telefonnummern der verschiedenen Bereiche und ihre Zuständigkeiten«, sagte er. »Jetzt, wo du offiziell dazugehörst, können wir uns ja duzen. Herzlich willkommen, Juna.«

Juna lächelte zurück. »Danke, Robert.«

Der Regen hatte aufgehört. Am Himmel stand zwar immer noch eine Mauer aus grauen Wolken, aber die Sonne lugte darüber hinweg.

Hier draußen, fast am Stadtrand, fuhr die Bahn oberirdisch. Es waren nicht viele Leute in diese Richtung zu transportieren; außer Juna waren nur eine rotblonde Frau, etwas älter als sie, mit hochgesteckten Haaren und Trenchcoat, ein paar kaugummikauende Teenager und ein Hund übrig, dessen Herrchen am anderen Ende des Wagens vor sich hin schnarchte.

Sie lehnte an der Haltestange neben der hintersten Tür und sah durch die Rückscheibe auf einen alten Bahntunnel. Früher war hier eine andere Linie gefahren, die längst eingestellt war. Der Tunnel durfte aus Sicherheitsgründen nicht mehr betreten werden, war aber natürlich, wie jede einigermaßen überdachte Fläche, bewohnt. Neben dem Notausgang an der Seite war eine Zeltplane über eine improvisierte Küche gespannt.

»Entschuldigung, ist hier noch Platz?« Die Rotblonde war neben sie getreten. Juna ließ ihren Blick durch den fast leeren Wagen schweifen und nickte dann.

»Ich wollte hauptsächlich von ... dem weg.« Sie ruckte ihr sommersprossiges Kinn dorthin, wo das Schnarchen herkam. Juna sah hinüber. Der Hund, irgendeine Promenadenmischung mit gelblichem Fell, saß zu Füßen seines Menschen und erwiderte ihren Blick.

»Wir sind jeden Moment an der Endhaltestelle. Wahrscheinlich sollten wir ihn wecken«, sagte Juna. »Falls der Köter uns lässt.«

Die Rotblonde hatte sich vertraulich zu ihr vorgebeugt, zuckte bei diesen Worten aber zurück.

»Ich glaube nicht, dass das unsere Aufgabe ist«, antwortete sie. »Ich meine, das ist einer von diesen – wie nennt man die –«

»Weiß ich nicht«, sagte Juna. Sie marschierte den Gang hinunter. Der Hund knurrte, als sie sich seiner Sitzbank näherte. Sein Herrchen schlug die Augen auf.

»Entschuldigung«, sagte Juna. »Ich wusste nicht, ob du schläfst, ich wollte nur sagen, dass wir gleich an der Endhaltestelle sind.«

Der Mann winkte ab. Es roch tatsächlich etwas streng um ihn herum, dachte Juna, aber man musste sich schon sehr anstellen um deshalb ans andere Ende des Wagens zu flüchten.

Die Bahn hielt. Die Rotblonde eilte draußen am Fenster vorbei. Sie war bereits an der Treppe, als Juna auf den Bahnsteig hinaustrat.

Obwohl diese Frau im Grunde zum Lachen war, hatte die Begegnung ihr einen Stich versetzt. Wie oft hatte sie das selbst erlebt! Überforderung. Abgebrochener Blickkontakt. Hervorgestammelte Mitleidsbekundungen, auf die sie nichts antworten konnte. Wer Mitleid bekundete, meinte es gut und nahm eine Zurückweisung übel. Typen wie die rotblonde Prinzessin auf der Erbse, die beim geringsten Verdacht, jemand könne in Schwierigkeiten sein, das Weite suchten, waren vergleichsweise leicht zu ertragen. Die ergriffen die Flucht und man ließ sie fliehen. Diejenigen, die sich in der Rolle der krisenfesten, großmütigen Helferin gefielen, waren viel schwieriger. Oder erst die, die glaubten, sie hätten nach neunzig Sekunden Zuhören einen Lösungsvorschlag parat, auf den vor ihnen noch nie jemand gekommen sei!

Juna blieb für einen Moment stehen, um tief ein- und wieder auszuatmen. Es gab keinen Grund sich wegen ein bisschen Hochnäsigkeit in düstere Gedanken zu stürzen.

Sie schob ihre Tasche zurecht und ging weiter, die Treppe hinunter.

»Ich bin’s!«

»Hast du Hunger?«

Die Küchentür wurde geöffnet, und eine Wolke aus Aromen schwebte in den Flur. Juna erschnupperte gebratenen Knoblauch, Ingwer und Orangen. Sie ließ ihre Tasche zu Boden fallen und tauchte in den Geruch ein. Ihre Schwester lehnte an der Fensterbank neben dem Herd, genau gegenüber der Tür. Ihre Silhouette zeichnete sich klein und schmalschultrig gegen den Abendhimmel ab. Wenn sie so stand, dachte Juna, fiel die Beinprothese gar nicht auf.

»Ich dachte, du wolltest mein Homeoffice-Zimmer benutzen?« fragte sie. »Stattdessen hast du gekocht?«

»Wokgemüse mit Tempeh. Und Orangensaft. Mit meiner Arbeit bin ich längst fertig.«

»Du hast dir hoffentlich nicht zu viel Aufwand gemacht.«

»Zur Feier des Tages. Der wie war?«

»Hm?«

Juna hatte den Kopf in ihren Geschirrschrank gesteckt und tat beschäftigt. Sie schob die Tasse mit dem Hasen aus Zoomania zur Seite und zog eins ihrer Flohmarkt-Gläser hervor.

»Dein erster Tag bei der Sozpo«, sagte Diana. »Wie war’s?«

»Einarbeitung und so. Noch nicht viel passiert. Ist alles fertig? Dann setz dich! Ich kann den Tisch decken.« Während sie Teller und Besteck zusammensuchte, humpelte Diana auf den Flur hinaus. »Gehst du?« fragte sie.

»Was?« fragte Juna verdutzt zurück. Sie trat ebenfalls aus der Küche.

An der Wohnungstür stand eine junge Frau mit schwarzem Haar und hohen Wangenknochen, die gerade die Arme um Diana legte. Dabei lächelte sie Juna zu.

»Sorry, Anna hat mir nur schnell ein paar Unterlagen vorbeigebracht«, sagte Diana.

Juna lächelte automatisch. »Willst du mit uns essen?« fragte sie.

Statt einer Antwort öffnete Anna die Wohnungstür. Sie bewegte sich ein wenig ungelenk, wie ein Kind das zu schnell gewachsen ist und mit dem plötzlich verschobenen Körperschwerpunkt nicht zurechtkommt.

»Wir sehen uns morgen«, sagte sie und war draußen. Diana nickte nur. Sie humpelte in die Küche zurück, kaum dass die Tür sich geschlossen hatte.

»Tut mir Leid, dass ich sie eingeladen habe«, sagte sie, als sie am Tisch saßen. »Ich wollte dir Bescheid sagen, aber dann –«

Juna winkte ab, antwortete aber nicht. Sie starrte auf die Gemüseschale.

»Wie war dein erster Tag?« kam Dianas Stimme von irgendwoher. Juna registrierte, dass ihre Stimme so klang als würde sie bereits zum dritten Mal fragen. Sie häufte Reis und Tempehwürfel auf ihren Teller.

»Gibt nicht wirklich was zu erzählen«, sagte sie.

»Ach komm! Muss ich es dreimal wiederholen? Anna war nur ganz kurz hier, ich hätte nie einfach Besuch eingeladen ohne dich zu fragen!«

Juna strich mit der Fingerkuppe den Griff ihrer Gabel entlang.

»Ich bin nicht sauer. Ich hab gerade gedacht, dass es sich anfühlt als würdest du hier wohnen. Ich find’s schön. Aber es wäre noch schöner, wenn es immer so wäre.«

Juna ließ die Gabel los und sah ihrer Schwester ins Gesicht.

Diana, im Begriff Orangensaft einzuschenken, hielt in der Bewegung inne.

»Hast du mich gerade eingeladen einzuziehen? Hier?«

»Möglich.«

Diana stellte die Saftpackung auf den Tisch.

»Ist das denn erlaubt? Das Haus gehört doch der Sozpo, oder?«

»Oder irgendeiner Sozpo-Verwaltung. Niemand in der Ausbildung hat jemals was dazu gesagt. Oder gefragt. Soweit ich weiß, ist es nicht ausdrücklich verboten, ein Zimmer unterzuvermieten. Aber selbst wenn ... «

Juna hob die Schultern.

Dianas Augen weiteten sich.

»Ich meine nicht, dass du Miete zahlen sollst«, sagte Juna. »Wozu solltest du? Die Miete wird mit meinem Gehalt verrechnet. Also? Kannst du dir vorstellen ...?«

Diana strahlte genauso wie sie.

»Kann ich den Zweitschlüssel gleich behalten?«

Juna füllte ihre Gläser.

»Das war heute so«, sagte sie dabei. »Ich hab mich nicht für den Regen angezogen, sondern für den ersten Tag im Job. Dann war der Schlüssel zu meinem Büro nicht aufzufinden. Letztendlich hab ich den halben Tag im Besprechungsraum gesessen und sollte mich einarbeiten, aber der Ordner, den Robert, also meine Teamleitung -«

»Teamleitung Robert?«

»Er hat gesagt, ich soll mich einlesen. Aber alles, was er mir gegeben hat, waren Sachen die ich schon kenne. Ich glaube, wir hatten in der Ausbildung sogar aktuellere Texte.« Juna spießte ein Brokkoliröschen auf ihre Gabel. »Verstanden hab ich das nicht«, fügte sie hinzu. »Die haben eine große Kampagne gefahren. Von wegen sie würden neue Kräfte brauchen! Wegen der vielen Pilotprojekte! In der Ausbildung hieß es immer, wir müssten schnell fertig werden, wir würden sehnsüchtig erwartet. Aber die meisten in meiner Abteilung wussten nicht mal, dass ich heute anfange.«

»Absurd.«

»Außerdem würdest du dich kaputtlachen, wie es da aussieht. Die haben mechanische Türschlösser und alles ist auf Papier. Wie im vorletzten Jahrhundert.«

»Und was machst du jetzt?«

Juna schob das Brokkoliröschen ans Ende ihrer Gabel, um Platz für einen Tempehwürfel zu schaffen.

»Ich gehe halt morgen wieder hin«, sagte sie.

Diana stützte ihre Ellbogen auf den Tisch. Ihre Unterarme waren mal wieder mit Wellen und Kringeln voll gemalt.

»Wird das ein Problem?« fragte sie. »Wenn du sowieso schon deinen Job nicht kündigen kannst, ohne deine Wohnung zu kündigen, und ich dann auch noch –«

Juna stand auf, um den Wasserkocher zu füllen. »Lass uns einfach Tee trinken und den Abend genießen«, sagte sie. »Du könntest mir erzählen, in was ich eben reingeplatzt bin? Was läuft mit dieser Anna?«

»Nichts.«

»Ach komm!« sagte Juna, den Ton ihrer Schwester von früher nachahmend.

»Bisher jedenfalls«, sagte Diana. »Ich hab eine Stunde zum Teetrinken, dann muss ich zur Bahn. Aber hey, was deine Arbeit angeht. Es kann nur besser werden, oder?«

Es wurde besser. Jedenfalls ließ sich das denken, solange man keine allzu hohen Maßstäbe anlegte. Am Ende ihrer ersten Woche hatte sie ihren eigenen Büroschlüssel bekommen, sodass sie ein- und ausgehen und sich um ihre Aufgaben kümmern konnte. Zweifellos war das besser als am Tisch eines Besprechungsraums arbeiten zu müssen, der von drei verschiedenen Abteilungen genutzt wurde. Sie war nun an einem relativ ungestörten Arbeitsplatz, statt mehrmals am Tag ihre Anwesenheit in einem dringend benötigten Raum zu erklären. Aber die Freude über diesen Fortschritt – ein hinterer Winkel ihres Hirns flüsterte, es sei ohnehin absurd, sich über solche Selbstverständlichkeiten zu freuen – hielt nicht lange an.

Am vierten Tag der zweiten Woche fand sie ein von der Hauspost hingeworfenes Schreiben mit dem Briefkopf der Koordination auf ihrem Tisch.

»Arbeitsanweisung für Juna Pechstein«, las sie. »Zuteilung zum Dienst im Berichtswesen ...?«

Das Papier besagte in wenigen Sätzen, dass sie die Formulare, die die anderen Teammitglieder nach ihren Einsätzen ausfüllten, in Berichte zu überführen habe und dies bis auf weiteres ihre einzige Aufgabe sei.

»Oh ja«, sagte Robert, als sie, mit dem Schreiben winkend, in seiner Bürotür erschien. »War nicht meine Entscheidung. Sieh es mal so: Du bist jetzt unser A-Team hier im Büro. Die anderen werden dir unheimlich dankbar sein.«

»Das Schreiben ist kein Fehler? Ich soll Berichte verfassen über Einsätze, bei denen ich nicht dabei war?«

»Umformulieren«, antwortete Robert. »In Form bringen. Allen hier wächst der Papierkram über den Kopf. Wir hinken ständig hinterher.«

»Aber ich hatte mich auf den Außendienst beworben.«

»In den Außendienst geht man in Tandems, aber für dich fehlt die zweite Person.«

»Ich komme erst in den Außendienst, wenn ...? Was? Eine zweite Person für mich gefunden werden kann?«

»Oder die Tandems abgeschafft werden. Was auch immer zuerst passiert.«

Robert grinste, als er ihren Gesichtsausdruck sah. »Ich mache nur Spaß,« sagte er und zwinkerte dazu. »Ich dachte, du wüsstest, dass für unser Team hier zwei Stellen ausgeschrieben waren. Auf der einen bist du. Die andere ist noch offen.«

»Aber für wie lange?«

Robert runzelte die Stirn. »Du wirst dich schon in alles einfinden«, sagte er, eine Hand bereits am Türgriff. »Eigentlich finde ich es auch ganz gut, wenn eine so junge Kraft wie du nicht gleich mit allem konfrontiert wird.«

»Dann«, sagte Juna und hoffte, dass ihre Demonstration von Selbstbeherrschung anerkannt würde, »gehe ich jetzt an meinen Schreibtisch und warte darauf, dass die anderen mir ihre Formulare bringen, damit ich sie ins System einpflege?«

»Aber wenn du Fragen hast, kannst du zu mir kommen. Nur jetzt habe ich eine Besprechung.«

Damit winkte Robert sie hinaus und schloss die Bürotür.

Juna, zu verblüfft um etwas anderes zu tun, kehrte ohne Widerstand ins Teambüro zurück.

»Irgendwelche Fragen?«

Juna zuckte zusammen. Ich muss meinen Schreibtisch umstellen, dachte sie. Mit dem Rücken zur Tür zu sitzen bringt nur Nachteile.

»Juna?«

»Entschuldige, Robert, ich war in Gedanken. Über diesen Fall hier ...« Juna deutete auf den Monitor. »Vorgang 03-6-b-10199. Das Formular ist von Tobias, aber er ist gerade unterwegs. Der Angesprochene ist jemand mit Aufenthaltsauflagen. Er ist am Samstag vor drei Wochen hundert Meter vom für ihn zulässigen Bewegungsradius abgewichen.«

»Aha?«

»Er hat, als er angesprochen wurde, geantwortet, er habe den eine Straßenecke weiter entfernten Supermarkt aufsuchen müssen, weil dieser Markt ein Discounter ist und sein Einkaufsgutschein nicht gereicht hat um im näher gelegenen, teureren Markt einzukaufen.«

»Deine Frage?«

»Bekommt er eine Anzeige oder nicht?«

»Natürlich. Wir haben keinen Ermessensspielraum.«

»Aber kein Mensch mit allen Tassen im Schrank wird deshalb ein Verfahren aufnehmen«, kam eine Stimme aus der Tür.

Juna strahlte auf. »Agnes!«

Sie war Agnes Süßmilch, ihrer ältesten Kollegin, erst ein paarmal begegnet. Agnes schien stets in Eile zu sein, hatte jedoch immer einen Händedruck und ein Lächeln für sie und ihr mehrmals versichert, dass sie sich bei der ersten Gelegenheit in Ruhe unterhalten würden. Agnes war eine faszinierende Erscheinung, fand Juna; ihr Haar hatte die Farbe von Elfenbein, ihre Haut sah aus wie zerknitterte Seide. Ihre Bewegungen waren genau wie ihre Stimme kräftig und entschieden.

»Ich kann Juna helfen, Robert«, sagte sie jetzt. »Du hast sicher zu tun.«

»Das wollte ich gerade fragen, ob du das könntest«, sagte Robert. Er drehte sich in der Tür noch einmal um, schien nicht zu wissen was er weiter sagen sollte, und verschwand den Gang hinunter.

Agnes sah ihrem Vorgesetzten mit einem Gesichtsausdruck hinterher, den Juna nicht deuten konnte. Ironie? Widerwillen? Oder war ihr Blick nur nachdenklich?

»Was für eine Frage hast du?«

»Eigentlich nur die, wann ich endlich aus diesem Büro rauskomme«, sagte Juna.

»Sofort.« Agnes deutete auf die Uhr. »Es ist Freitagnachmittag. Robert verduftet gerade in seinen Feierabend, da kannst du Gift drauf nehmen. Es gibt keinen Grund, warum du bleiben solltest.«

»Ich bin noch dabei, meine unterste Schublade auszumisten«, sagte Juna. »Da ist alles mögliche Zeug drin.«

Agnes nahm ihr Jackett vom Haken. »Na gut, aber nur noch zehn Minuten. Nächste Woche um die Zeit trinken wir beide mal einen Kaffee. Spätestens!«

Juna winkte, tauchte unter den Tisch und begann an der Schublade zu ruckeln. Ein Piepsen auf ihrem Tisch ließ sie stocken.

»Was war das?« fragte Agnes vom Flur aus.

Juna richtete sich auf. Eine der Lampen an der Telefonanlage auf ihrem Schreibtisch blinkte gleichmäßig gelb.

»Sieht aus, als wäre eine Rufumleitung bei dir angekommen«, sagte Agnes, die wieder hereingekommen war. Sie deutete auf den Monitor. »Siehst du, das Symbol hier in der Ecke. Das bedeutet, dass die Rufe, die bei Robert eingehen sollten, bei dir eingehen. Robert muss die Rufumleitung falsch eingestellt haben, bevor er abgehauen ist. Die Meldungen für unsere Abteilung müssen jetzt eigentlich zum Bereitschaftsdienst.« Agnes schüttelte den Kopf. »Mach dir ein schönes Wochenende!«

»Warte mal, was mache ich denn jetzt mit dieser Rufumleitung?«

»So tun, als wärst du schon weg gewesen als sie eingestellt wurde. Bis Montag!«

Damit war sie hinaus.

Juna wandte sich wieder ihrer verstopften Schublade zu, als das Piepsen erneut einsetzte. Sie sah auf. Hatte Robert oder jemand anders den Fehler korrigiert?

Auf ihrem Monitor war eine Meldung erschienen. Sie beugte sich vor und las:

Vorgang 16-6-b-758, Subjekt nicht zu Anhörung erschienen, weder am Wohnort anzutreffen noch telefonisch zu erreichen, Briefkasten nicht geleert.

Das Datenfeld besagte:

Meileen Rabe, 47 Jahre alt, ebenfalls in der Wohnung gemeldet ihre Tochter Wanda, elf Jahre alt. Weiterleitung aus der Abteilung II mit der Bitte um Unterstützung.

Weiterleitung von Abteilung II? Das war, soweit sie die Strukturen bisher verstand, ungewöhnlich. Normalerweise wurden Fälle in die andere Richtung weitergereicht. Wenn Abteilung I, die sich mit Streetwork und anderen niedrigschwelligen Methoden befasste, nicht weiterkam, übernahm die Abteilung II und stattete Hausbesuche ab. Wer es sich auch mit denen verscherzte, bekam es mit Abteilung III zu tun.

Aber hier hatte jemand aus Abteilung II einen Fall zurückgeschickt! Um nicht unnötig zu eskalieren oder um den Papierkram loszuwerden? Juna rief die Details zur Meldung auf.

Das Feld, in dem die Vorgeschichte eingetragen werden sollte, war nicht ausgefüllt worden. Es enthielt nur die Bemerkung:

Fall zurück an Team Gärmann!

Wer immer das geschickt hatte, ging also davon aus, dass der Fall hier bekannt war? Und dass »Team Gärmann« sich selbst überlegen würde, welche Schritte als nächstes sinnvoll waren?

Juna tastete nach ihren am Hinterkopf zusammengedrehten Haaren, probierte ob sie ihren Zeigefinger durch eine Lücke im Haarknoten stecken konnte und hörte erst auf, als eine ihrer Haarnadeln in die Kopfhaut stach.

Eine Person, die weder an die Tür ging noch Anrufe entgegennahm und die über Tage oder sogar Wochen ihren Briefkasten nicht öffnete, konnte dafür einen komplett harmlosen Grund haben. Sie konnte auf Kreta in der Sonne liegen, sie konnte beschlossen haben Papierpost zu boykottieren, der Schlüssel zu ihrem Briefkasten konnte durch ein Loch in ihrer Tasche gefallen und bisher nicht zu ersetzen gewesen sein. Hatte man eine Anhörung bei der Sozpo versäumt, war das ebenfalls ein Grund, die Tür nicht zu öffnen.

Aber es konnte auch umgekehrt sein. Meileen Rabe – öffnete sie die Tür nicht, weil sie ihre Anhörung versäumt hatte, oder hatte sie die Anhörung versäumt, weil sie nicht in der Lage war ihre Tür zu öffnen?

Die Abteilung II schien der Meinung zu sein, dass jemand aus Roberts Team das besser beurteilen konnte.

Aber hier saß nun sie, Juna, und sollte eine Entscheidung dazu treffen! »Tu so, als wärst du schon weg gewesen« – würde Agnes den Rat wiederholen, wenn sie die Meldung sehen könnte? Und wie sollte es am Wochenende weitergehen?

Was hatte sie noch an Informationen? War Wanda in letzter Zeit zur Schule gegangen? Ein Blick in die Datenbank sagte ihr, dass keine Schulversäumnisanzeige gestellt worden war.

Juna bohrte wieder mit dem Finger in ihrem Haar. Es war nicht ihre Aufgabe, Fragen zu stellen oder Fälle zu überprüfen. Schon gar nicht am Freitagnachmittag.

Sie fischte den Ordner, den Robert ihr am ersten Tag gegeben hatte, von seinem Platz – mangels eines Regals lagerte er unter ihrem Schreibtisch – und blätterte durch die Telefonnummern der Sozpo. Abteilung I, Niedrigschwelligkeit. Abteilung II, Monitoring, Abteilungen III a und b, Interventionen, Abteilung IV, Ermittlungskommissionen. Es wäre hilfreich zu wissen, wer aus der Abteilung II den Fall überwiesen hatte.

Sie wählte die Zentrale der Abteilung II an. Es tutete zweimal, dann gab es eine Art Knacken in der Leitung, gefolgt von Warteschleifenmusik.

Sie wollte gerade auflegen und nach einer anderen Lösung suchen, als sich jemand meldete.

»Bereitschaft.«

»Entschuldigung«, sagte Juna. »Ich dachte, ich hätte bei – ich wollte jemanden in der Abteilung II erreichen.«

»Und zwar, weil ...?«

Juna erklärte ihre Situation. Als sie geendet hatte, blieb die Leitung für einen Moment still, als wolle die Person am anderen Ende sicher sein, dass sie mit ihrer Darstellung fertig war. Dann sagte sie: »Also müssen wir die Rufumleitung in Ordnung bringen. Das machen wir.«

»Großartig, danke«, sagte Juna, erleichtert über diesen Mangel an Komplikationen. »Können Sie mir noch sagen, wohin ich die Meldung weiterleiten soll, die schon hier eingegangen ist?«

»Die können Sie nicht weiterleiten. Das kann nur die Teamleitung.«

»Aber die Meldung ist hier bei mir. Wenn nur die Teamleitung sie weiterschicken kann, dann muss ich sie also erstmal dahin weiterleiten?«

»Nur die Teamleitung kann weiterleiten.«

»Bis ich meine Teamleitung sehe, wird es Montag. Wenn Frau Rabe in Schwierigkeiten ist, dann sollte sich darum heute noch jemand kümmern, oder? Kann ich Ihnen den Namen und die Adresse durchgeben?«

»Und dann?«

»Dann kann jemand von Ihrem Dienst hinfahren.«

»Das machen wir nur, wenn externe Rufe kommen. Sie rufen von intern an.«

Juna rieb sich die Stirn.

»Schönes Wochenende.« Knacks.

Sie starrte den Hörer in ihrer Hand einen Moment lang unschlüssig an, dann legte sie ihn in die Halterung, lehnte sich zurück und drehte ihren Stuhl im Kreis. Der Stuhl begann zu wackeln.

Sie konnte das Ganze bis Montagmorgen auf sich beruhen lassen, aber was, wenn dies wirklich ein Notfall war?

»Da bleibt nur eins«, sagte Juna laut, den Blick auf die Zimmerdecke gerichtet. »Ich gehe hin.«

KAPITEL 2

AM NÖRDLICHEN RAND

Die Türme der Vorstadt ragten vor Juna auf Sie sah an ihnen hoch, dann senkte sie ihren Blick aufs Straßenpflaster. Sie war nur eine Haltestelle vom Wohnblock der neuen Sozpos entfernt. Dort gab es keine gepflasterten Wege zwischen den Häusern, und der dominierende Farbton war Braun, nicht Grau.

Schwer zu sagen, welche Gegend vorzuziehen war.

Nummer 53. Sie war zweifellos am richtigen Haus, aber obwohl sie die Klingelschilder zweimal abgesucht hatte, war der Name »Rabe« nicht zu finden. Sollte sie einfach irgendwo klingeln? Es konnte nicht schwierig sein, ins Haus zu gelangen. Aber sollte sie?

Ein Windstoß fegte trockene Blätter über die Gehwegplatten. Die Tür knarrte. Juna sah genauer hin. Die Tür bewegte sich erst nur leicht und schwang beim nächsten Windstoß auf. Jemand hatte das Schloss durchgebohrt.

Kopfschüttelnd betrat sie den Hausflur.

Blauweiß gefliester Boden, einigermaßen weiße Wände, eine Holztreppe in die oberen Stockwerke. Wohin jetzt?

Laut der Meldung wohnten Meileen und Wanda Rabe im vierten Stock. Juna betrat die Treppe.

Während sie höher stieg, wurde ihr unbehaglich zumute. Es war zu ruhig. Kein Klappern von Geschirr hinter den Wohnungstüren, keine Rufe oder Gezeter im Hof, keine weggeworfenen Werbeprospekte auf den Treppenstufen ... keine Spuren von menschlichem Leben. Sie blickte hinter sich, um zu sehen ob sie Fußabdrücke im Staub hinterließ, und musste dann über sich selbst lachen. Das hier war doch kein Spukschloss.

Auf dem vierten Absatz waren vier Türen. Schmale Türen. Sie sahen alle gleich aus und waren gleich namenlos.

Juna entschied sich für die zweite von rechts. Die Klingel krächzte wie eine Krähe in dem leeren Treppenhaus.

Schwere, langsame Schritte näherten sich der Tür. Juna wich instinktiv zurück.

Der Mann im Türrahmen wirkte wie eine Kreuzung aus einem Walross und einer Bulldogge. Sein Gesicht war seltsam platt und schien hauptsächlich aus hängenden Wangen, hängenden Augenlidern und einem riesigen Schnauzbart zu bestehen. Er sah Juna an, ohne etwas zu sagen.

Juna versuchte es mit einem Lächeln. »Hallo«, sagte sie. »Verzeihen Sie bitte die Störung. Ich wollte zu Meileen Rabe, und wusste nicht an welcher Tür ich klingeln muss.«

»Und wat wolln Se von Frau Rabe?« fragte der Mann. Seine Stimme klang, als wäre sie lange nicht mehr benutzt worden.

»Ich ... ich wollte nach ihr sehen. Ich mache mir Sorgen.«

Der Mann erwiderte ihr Lächeln für keine Sekunde. »Will die Frau Rabe, dat Se nach ihr sehen?«

»Warum fragen Sie?«

»Wenn se Besuch wollte, hätte Se Ihnen wahrscheinlich jesacht wo se wohnt.«

Der Mann wartete einen Moment, kam offenbar zu dem Schluss dass Juna keine Antwort auf seinen Einwand hatte, und schloss die Tür.

Juna atmete durch. Na gut. Es war vermutlich besser, wildfremden Leuten, auf deren Unterstützung sie angewiesen war, entweder reinen Wein einzuschenken oder mit einer wirklich guten Geschichte zu kommen.

Sie konnte sich nicht erinnern, in der Ausbildung irgendetwas gehört oder gelesen zu haben, was jetzt hilfreich gewesen wäre. Die Szenarien, die der Dozent im Hörsaal geschildert hatte, hatten ganz anders geklungen. Aber sie konnte auch nicht einfach wieder gehen, also würde ihr wohl nichts anderes übrigbleiben, als die nächste Tür auszuprobieren.

An der Wohnung ganz links fehlte der Klingelknopf. Sie klopfte.

Die Tür wurde exakt den Spalt aufgerissen, den die Kette erlaubte. In dem dunklen Spalt konnte Juna nur eine Nasenspitze erkennen.

»Ja?«

»Guten Tag, entschuldigen Sie, ich suche Meileen Rabe. Sie ... sie hat seit zwei Wochen ihren Briefkasten nicht geleert, und sie geht weder an die Tür noch ans Telefon. Ich möchte nur wissen, ob es ihr gutgeht.«

»Dann sollten Sie vielleicht bei ihr klopfen und nicht bei mir!«

»Das habe ich versucht, aber –«

»Aber! Aber! Aber was?«

»Sie macht nicht auf.«

»Dann ist sie wohl nicht zu Hause. Was soll ich da dran machen?«

Juna stellte sich so, dass sie von dem Türspalt gut zu sehen war, und holte ihr bestes Lächeln hervor. »Könnten Sie mir sagen, wann Sie sie das letzte Mal gesehen haben?«

»Ich kenn die überhaupt nicht.« Damit fiel die Tür wieder zu.

Juna seufzte. Ohne lange zu warten, machte sie sich an die nächste Wohnungstür, aber dahinter tat sich überhaupt nichts. Sie streckte die Hand aus, um den letzten Klingelknopf, der übrig war, zu drücken, als die zweite Tür von rechts wieder geöffnet wurde. Der Walross-Bulldoggen-Mensch trat auf den Absatz hinaus, bewaffnet mit einem vollen Müllbeutel.

»Se loofen immer noch hier rum?«

»Okay«, sagte Juna und hob die Hände. »Ich verstehe dass Sie nicht mit mir reden wollen. Sie haben Recht, ich bin zwar in Zivil, aber ich bin von der Sozpo. Ich hab noch keine Uniform, die gibt es erst nach sechs Monaten.«

Der Mann griff ins Innere seiner Wohnung und nahm einen Schlüssel vom Haken.

»Ick bring meenen Müll runter«, sagte er auf Junas fragenden Blick. »Und ick lass nich die Wohnung offenstehen wenn jemand im Haus is. Wer hat dich jeschickt? Du bis nich die von vorher.«

»Frau Rabe hatte schon öfter Besuch von der Sozpo?«

Der Walrossmann knallte seine Tür zu.