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Als Jean-Christophe Rufin sich auf den Weg macht nach Santiago de Compostela, ist er weder Pilger noch auf der Suche. Eigentlich will er einfach nur auf dem seit Jahrhunderten und seit Hape Kerkeling bedeutenden Jakobsweg wandern. Doch unterwegs auf den 900 Kilometern des Camino del Norte kann er sich der Alchemie des »ewigen Weges« nicht entziehen.
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Seitenzahl: 305
Jean-Christophe Rufin
Nichts gesucht.Alles gefunden.
Meine Reise auf dem Jakobsweg
Aus dem Französischenvon Ralf Pannowitsch
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PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.
2. Auflage 2018 Copyright © 2013 by Éditions Guérin Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Albrecht Knaus Velag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlag: any.way, Heidi Sorg Umschlagmotiv: Shutterstock/slsphotography Redaktion: Margret Trebbe-Plath Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-24563-4V002
www.penguin-verlag.de
Inhalt
Die Organisation
Der Startpunkt
Warum?
Die Liebe auf dem Weg
Die ersten Kilometer
Ein Wilder in der Stadt
Die erste Nacht als illegaler Camper
Glück und Elend des zeltenden Pilgers
Spielarten der Einsamkeit
Vesper in Zenarruza
Marathon und Santiago: ein und derselbe Kampf
Bilbao
Auf den Fähren Kantabriens
Der Gott der Pipeline
Entweihte Schönheiten
In der Höhle des Gurus
Abschied von der Küste
Kantabrien: Lehrmeister in Genügsamkeit
Der Jakobsweg als Laboratorium
Aus grauen Vorzeiten: Asturien
Bacchus und Paulus
Eine schöne Scheibe Christentum
Auf den Spuren von Alfons II. und Buddha
Begegnungen
Auf dem Gipfelpunkt des Jakobswegs
Eine Erscheinung im Wald
Galicien! Galicien!
Römische Nacht
Vom Wege abkommen
Der französische Weg
Letzte Prüfungen
Die Ankunft
Die Organisation
Wenn man wie ich vor dem Aufbruch nichts über Santiago de Compostela weiß, stellt man sich einen alten Pfad vor, der sich durchs Gras schlängelt, und mehr oder minder einsame Pilger, die ihn instand halten, indem sie den Abdruck ihrer Schuhe darauf zurücklassen. Ein grober Irrtum, den man sehr rasch korrigiert, wenn man sich den berühmten Pilgerpass, die credencial, beschafft hat – ein unverzichtbares Dokument für jeden, der in die Pilgerherbergen aufgenommen werden möchte!
Denn dann entdeckt man, dass der Jakobsweg Gegenstand eines … vielleicht nicht gerade Kultes, aber zumindest einer Leidenschaft ist, welche von vielen Menschen geteilt wird, die ihn schon abgelaufen sind. Hinter dem alten Weg verbirgt sich eine ganze Organisation: Vereine, Publikationen, Führer, spezielle Bereitschaftsdienste. Der Jakobsweg ist ein Netzwerk, eine Bruderschaft, eine Internationale. Niemand wird gezwungen, ihr beizutreten, und doch macht die Organisation gleich zu Beginn auf sich aufmerksam, indem sie Ihnen den Pilgerpassaushändigt, jenen Ausweis, der viel mehr ist als ein folkloristisches Stück Pappe. Und sind Sie erst einmal ordnungsgemäß als zukünftiger ehemaliger Pilger registriert, werden Sie fortan Heftchen mit gelehrten Studien erhalten, Einladungen zu Wanderausflügen und sogar, für den Fall, dass Sie in bestimmten Städten wohnen, zu Versammlungen, bei denen man die Erfahrungen wiederaufleben lässt und in deren Mittelpunkt oft frisch heimgekehrte Pilger stehen. Diese freundschaftlichen Begegnungen bei einem Glas Wein nennt man Pilgerstammtisch!
Ich entdecke diese Welt, als ich eines regnerischen Nachmittags den kleinen Laden in der Pariser Rue des Canettes betrete. Er liegt im Viertel um die Kirche Saint-Sulpice und ist Sitz des Vereins »Freunde des Jakobswegs«. Inmitten von angesagten Bars und Klamottenläden fällt dieser Ort völlig aus dem Rahmen. Es riecht angenehm nach Pfarrsaal, und das verstaubte Durcheinander trägt das unverwechselbare Siegel sogenannter »Vereinsräume«. Ich werde von einem Diensthabenden begrüßt, der schon ein gewisses Alter erreicht hat – heute würde man ihn einen »Senior« nennen, aber dieser Begriff passt nicht ins Vokabular der Jakobspilger. Niemand sonst ist im Laden, und wenn sich der Mann nicht alle Mühe gäbe, vielbeschäftigt zu wirken, hätte ich das Gefühl, ihn aus dem Schlaf gerissen zu haben. Die Informatik hat von diesem Ort noch nicht Besitz ergriffen. Hier regieren noch immer die gelbliche Karteikarte, das hektografierte Faltblatt, der schmierende Stempel und das Stempelkissen im Metallrahmen.
Ich gerate ein wenig in Verlegenheit, als ich meine Absicht bekunde, auf dem Jakobsweg pilgern zu wollen, ein Plan, der, wie ich denke, noch gar nicht feststeht. Es ist eine Atmosphäre wie in einem Beichtstuhl, und ich weiß noch nicht, dass man mir die Frage nach dem Warum gar nicht stellen wird. Ich ergreife die Initiative und bringe Rechtfertigungen vor, die natürlich alle unecht klingen. Der Mann lächelt und kehrt zu praktischen Angelegenheiten zurück: Name, Vorname, Geburtsdatum.
Nach und nach lenkt er mich auf die große Frage hin: Möchte ich dem Verein beitreten und das Informationsmagazin beziehen – das wäre die teurere Variante – oder lieber auf das Heft verzichten und nur den Minimalbeitrag zahlen? Er nennt mir die Preise für beide Varianten. Die wenigen Euro Unterschied scheinen ihm so wichtig zu sein, dass er sich an eine weitschweifige Erklärung dessen macht, was beide Formen der Mitgliedschaft beinhalten. Ich schreibe es dem löblichen Wunsch nach Solidarität zu: Man will den Jakobsweg auch denen nicht verwehren, die in bescheidensten Verhältnissen leben. Später, als ich schon unterwegs bin, wird mir klar werden, dass es sich um etwas ganz anderes handelte: Die Pilger verbringen ihre Zeit damit, möglichst wenig zu bezahlen. Oft hätten sie das gar nicht nötig; es ist eher ein Sport, ein Zeichen der Zugehörigkeit zum Klub. Ich habe betuchte Wanderer erlebt, die endlos hin und her rechneten, ob sie in einer Bar ein Sandwich bestellen sollten (für vier Personen) oder lieber noch drei Kilometer weiterlaufen, um es in einer hypothetischen Bäckerei zu erwerben. Der Pilger auf dem Jakobsweg ist nicht immer arm – ganz im Gegenteil –, aber er benimmt sich so. Man kann dieses Verhalten mit einem jener drei Gelübde in Verbindung bringen, die seit dem Mittelalter den Eintritt ins geistliche Leben kennzeichnen: Keuschheit, Gehorsam, Armut. Man kann es aber auch schlicht und einfach Knauserigkeit nennen.
Wie dem auch sei, sobald Sie den Pilgerpass erworben haben, wird man Sie dazu anhalten, jenen Brauch zu respektieren und sich ihm zu beugen: Ob der Pilger Gott entgegenstrebt oder nicht (das ist seine Sache), den Annehmlichkeiten des Lebens muss er entsagen.
Natürlich werden Sie auch auf eine Vielzahl von Leuten treffen, die sich eine Komfort-Pilgerreise zurechtgeschneidert haben – von Hotel zu Hotel, vom Luxusreisebus zum stets dienstbereiten Taxi. Unter Jakobspilgern ist es üblich, scheinheilig zu behaupten: »Jeder geht den Weg so, wie er möchte.« Doch begreift man rasch, dass sich hinter dieser Bekundung von Toleranz eine handfeste Verachtung des »wahren« Pilgers für den »falschen« verbirgt. Den wahren erkennt man daran, dass er so wenig Geld wie möglich ausgibt. Ohne Frage kann es auch einem wahren Pilger widerfahren, dass er im Falle einer Erkrankung oder ausgebuchter Herbergen keine andere Wahl hat, als in einem Hotel abzusteigen – wenn möglich, in einem bescheidenen –, Seite an Seite mit den Luxusreisenden. Aber auch dann können Sie sich darauf verlassen, dass er seine Andersartigkeit bekunden wird, indem er beispielsweise alle Bonbons aufisst, die man an der Rezeption unvorsichtigerweise in einer Untertasse ausgelegt hat.
Da ich mich mit diesen Gebräuchen noch nicht auskannte, beging ich meinen ersten Fauxpas: Ich entschied mich fürstlich für die Mitgliedschaft samt Informationsmagazin und ließ zu alledem noch durchblicken, dass ich die zusätzlichen drei Euro nicht gerade für ein Problem hielt.
Der Diensthabende dankte mir im Namen des Vereins, doch sein feines Lächeln zeigte deutlich, dass er mich ein wenig bemitleidete: »Verzeih ihm, Herr, er weiß (noch) nicht, was er tut.«
Der vom Verein der Freunde des Jakobswegs ausgegebene Pilgerpassist ein Stück gelblicher Karton, der akkordeonartig gefaltet wird. Ehrlich gesagt, macht er wenig her, und der mutmaßliche künftige Pilger lacht sich auf dem Heimweg erst einmal ins Fäustchen. Dieses Dokument aus wahrscheinlich dreimal recyceltem Papier mit seinen großen Vierecken, in welche nach jeder Etappe die Stempel gedrückt werden sollen, erweckt nicht gerade einen besonders seriösen Eindruck. Aber mit dem Pilgerpass ist es wie mit allem anderen auch: Seinen wahren Wert ermisst man erst unterwegs.
Wenn man in seinem Rucksack hundertmal nach ihm kramt und ihn schließlich hervorzieht – er ist von einem Gewitterregen durchweicht und müsste erst einmal getrocknet werden, aber nirgendwo ist ein Heizkörper in Sicht –; wenn man schon fürchtet, ihn verloren zu haben, und unter dem misstrauischen Blick des Herbergsbetreibers fieberhaft nach ihm sucht; wenn man ihn nach einer anstrengenden Etappe siegessicher auf den Tisch des Angestellten vom Tourismusbüro legt, der ihn mit angewiderter Miene und spitzen Fingern schließlich mit seinem offiziellen Stempel vorsichtig streift, um den bloß nicht zu beschmutzen; wenn man dann in Santiago de Compostela angelangt ist und ihn vor dem Repräsentanten des Rathauses stolz auseinanderfaltet, damit er die Pilgerurkunde in lateinischer Sprache ausstellt – erst dann kann man den Wert dieser Reliquie ermessen. Nach der Rückkehr zählt die credencial zu jenen Objekten, die den Jakobsweg überlebt haben und noch die Spuren jener Prüfung tragen.
Ohne dass der Vergleich auch nur den geringsten Wert hätte: Bei meinem zerknitterten, fleckigen und sonnengebleichten Pilgerausweis musste ich an die Zettel und Papiere denken, die mein Großvater aus der Kriegsgefangenschaft mitgebracht hatte: Lebensmittelkarten oder Berechtigungsscheine für die Sanitätsstation. Für den Deportierten mussten sie von unermesslichem Wert gewesen sein, und ich kann mir vorstellen, mit welcher Sorgfalt er sie aufbewahrte.
Der Unterschied zum Jakobsweg liegt darin, dass Santiago de Compostela keine Strafe ist, sondern eine selbst auferlegte Prüfung. So glaubt man jedenfalls, auch wenn die eigenen Erfahrungen bald im Widerspruch dazu stehen. Jeder, der auf dem Jakobsweg wandert, wird früher oder später denken, er sei dazu verurteilt worden. Dass er das Urteil selbst ausgesprochen hat, ändert nichts daran: Die Strafen, die wir uns selbst auferlegen, sind oft nicht weniger streng als jene, die die Gesellschaft über uns verhängt.
Man bricht nach Santiago de Compostela auf mit einer Idee von Freiheit im Kopf, aber bald entdeckt man, dass man wie alle anderen nichts als ein Sträfling des Jakobswegs ist. Verdreckt, erschöpft und gezwungen, bei jedem Wetter seine Last zu tragen, erfährt der Galeerensklave die Freuden einer Brüderlichkeit nach Gefangenenart. Wie oft habe ich mich, wenn ich inmitten von anderen armseligen Gestalten vor einer Herberge auf dem nackten Boden saß, meine schmerzenden Füße massierte und eine zum Spottpreis erworbene übelriechende Pampe verzehrte, während die normalen, freien, gut gekleideten und beschuhten Passanten mich hochmütig keines Blickes würdigten, wie ein zek aus einem Buch von Solschenizyn gefühlt, als einer jener Hungerleider des Jakobswegs, die man Pilger nennt?
Dazu also verdammt uns der Pilgerpass. Nach der Rückkehr werden wir uns am meisten darüber wundern, dass wir auch noch Geld für ihn bezahlt haben.
Der Startpunkt
Allerdings muss man auch wissen, wovon man eigentlich spricht. Der »echte« Pilgerpassist in meinen Augen wie nach Meinung der Pilger, die eines solchen Namens würdig sind, ein Dokument, das Ihnen an Ihrem Wohnort ausgestellt wird und Sie dann über eine lange Strecke hinweg begleitet. Doch bald entdeckt man, dass es auch möglich ist, sich dasselbe Dokument auf jeder Etappe aushändigen zu lassen – sogar noch auf den allerletzten. Die authentischen Pilger betrachten es als Betrug, wenn sich Wanderer damit begnügen, gerade mal die letzten Kilometer zurückzulegen, und trotzdem die Unverschämtheit besitzen, sich einen Pilgerpass zu beschaffen. Als wäre der Wandertourismus über wenige Tage vergleichbar mit den endlosen Wegstrecken der in Frankreich oder anderen Ländern Europas aufgebrochenen Pilger! Das hat etwas von Snobismus. Und doch – wenn man auf dem Jakobsweg voranschreitet, begreift man nach und nach, dass in dieser Ansicht auch ein Stück Wahrheit liegt. Man muss nämlich anerkennen, dass Zeit eine entscheidende Rolle bei der Ausformung des »wahren« Pilgers spielt.
Der Jakobsweg ist eine Alchemie der Zeit, die auf die Seele wirkt.
Es ist ein Prozess, nicht etwas, das sich sofort erledigen lässt, ja nicht einmal schnell. Der Pilger, der Woche für Woche zu Fuß unterwegs ist, macht diese Erfahrung. Jenseits des etwas kindischen Stolzes darüber, sich im Gegensatz zu den Achttageswanderern einer beachtlichen Anstrengung unterzogen zu haben, wird ihm eine schlichtere und tiefere Wahrheit bewusst: Ein kurzer Marsch genügt nicht, um die eingefleischten Gewohnheiten abzuschütteln. Er kann die Person nicht radikal verwandeln. Der Stein bleibt roh, denn um ihn zu bearbeiten, braucht es ein längeres Bemühen, mehr Kälte und mehr Dreck, mehr Hunger und weniger Schlaf.
Dies ist der Grund, weshalb es bei der Reise nach Santiago de Compostela nicht auf den Zielort ankommt, der ja für alle gleich ist, sondern auf den Startpunkt. Er bestimmt die subtile Hierarchie, die sich unter den Pilgern herausbildet. Wenn sich zwei Wanderer begegnen, fragen sie einander nicht: »Wohin gehst du?«, denn die Antwort liegt ja auf der Hand, und auch nicht: »Wer bist du?«, denn auf dem Jakobsweg ist man nichts anderes mehr als ein armer Pilger. Stattdessen lautet die Frage: »Wo bist du losgegangen?« Aus der Antwort darauf aber kann man sofort ableiten, mit wem man es zu tun hat.
Hat der Pilger einen Startpunkt gewählt, der nur hundert Kilometer von Santiago de Compostela entfernt liegt, handelt es sich vermutlich um einen simplen Urkundenjäger: Diese Distanz ist mindestens erforderlich, damit man bei seiner Ankunft die berühmte compostela in lateinischer Sprache ausgehändigt bekommt, den Beweis also, dass man die Pilgerreise unternommen hat. Ein solcher mit Minimalaufwand erlangter Ehrentitel löst bei den »wahren« Pilgern kaum verhohlenen Spott aus. Im Grunde ist es so, dass sich nur jene Pilger gegenseitig als Mitglieder der Bruderschaft anerkennen, die von den Pyrenäen aus einen der großen spanischen Jakobswege erwandert haben. Saint-Jean-Pied-de-Port, Hendaye oder der Somportpass sind ehrenhafte Startpunkte. Dazu gesellt sich aufgrund geschichtlich begründeter Toleranz auch noch Oviedo. Obgleich der Camino Primitivo, der seinen Ausgang von der Hauptstadt Asturiens nimmt, wesentlich kürzer ist, wird er aus zwei Gründen mit Respekt betrachtet: Er durchquert sehr gebirgiges Gelände, sodass man größere Höhenunterschiede bewältigen muss, und vor allem ist es der ursprüngliche Weg, jene Route, die König Alfons II. von Asturien im neunten Jahrhundert einschlug, um die berühmten sterblichen Überreste des heiligen Jakobus zu sehen, die ein Mönch eben entdeckt hatte.
Die übergroße Mehrheit der Pilger nimmt einen dieser klassischen Wege, also entweder den Primitivo oder die von der französischen Grenze ausgehenden Routen. Doch man begegnet auch Pilgern, die von sehr viel weiter her kommen. Man sieht es ihnen nicht unbedingt an. Manche tun sich sogar ganz offensichtlich schwer. Beinahe könnte man sagen, dass sie von schwächlicher Konstitution sind. Im Übrigen setzen sie oft noch eins drauf, um die richtige Wirkung zu erzielen. Wenn ein Pilger, der am Fuß der Pyrenäen losmarschiert ist, sie selbstbewusst fragt: »Wo bist du gestartet?«, zögern sie kunstvoll einen Moment, schlagen bescheiden die Augen nieder und antworten dann: »In Le Puy« oder »In Vézelay«. Ein Triumph, der mit Schweigen quittiert wird. Wenn die Anwesenden Hüte trügen, sie würden sie vor Hochachtung ziehen. Haben die Ausnahmepilger erst einmal diesen Aufwärtshaken platziert, legen sie meist noch so lange nach, bis sie ihren Gesprächspartner endgültig k.o. geschlagen haben. »Hundertzweiunddreißig Tage«, verkünden sie. So lange haben sie jeden Morgen damit begonnen, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Ich bin ein Stück mit einem Studenten gegangen, der im belgischen Namur aufgebrochen war. Er trug einen riesigen Rucksack, der mit unnützen Gegenständen angefüllt war – Souvenirs, die er im Laufe der Reise gesammelt hatte. Ich bin Australierinnen begegnet, die aus Arles kamen, und einem Deutschen, der in Köln losgelaufen war.
Auf der Fähre über einen der kleinen Flüsse, die die kantabrische Küste wie Zebrastreifen überziehen, traf ich einen Mann aus Savoyen, der in seinem Heimatort Marignier gestartet war, noch hinter Genf. Später bin ich ihm noch häufiger begegnet. Er war kein besonders guter Wanderer, ging sogar ein wenig schief und verlief sich ständig. Nichtsdestotrotz stand er für mich auf einem Ehrensockel, blickte er doch aus der Höhe seiner zweitausend Kilometer auf mich herab.
Manche Pilger kommen offenbar von noch weiter her. Ich bin keinem solchen begegnet und glaube auch nicht, dass schon viele Leute dieses Glück hatten. Solche Pilger sind so etwas wie Fabelwesen. Sie gehören zu den Legenden des Jakobswegs, der an derlei Geschichten nicht arm ist. Die Pilger erzählen sie sich an den Abenden mit leiser Stimme. Diese Wesen aus Skandinavien, Russland oder dem Heiligen Land sind wundersame Schimären. Wenngleich die Pilgerfahrt an ihrem einen Ende durch Santiago de Compostela begrenzt ist, hat sie dank solcher Reisender keine Grenzen mehr, was den Ausgangspunkt anbelangt. Auf den Karten des Jakobswegs sieht man, dass die einzelnen Routen wie kleine Wasserläufe im großen Trichter der Pyrenäen zusammenfließen, um dann nach Spanien zu strömen. Sie durchfurchen die ganze Oberfläche Europas und lassen einen ins Träumen geraten.
Gewiss sagt der Startpunkt nicht alles, denn auch unterwegs gibt es noch Mittel und Wege zu tricksen. Das am weitesten verbreitete Täuschungsmanöver besteht darin, den Jakobsweg scheibchenweise zurückzulegen. So begegnet man zuweilen Wanderern, die im Spiel der Verkündigungen eine hohe Karte ziehen: Vézelay, Arles oder Paris. Bei ihrem Gegenüber machen sich Zweifel breit, denn sie sehen noch seltsam frisch und sauber aus, wo sie doch schon Hunderte von Kilometern zurückgelegt haben wollen. Um den Verdacht auszuräumen, braucht man bloß die eine mörderische Frage zu stellen: »Hast du das … auf einmal gemacht?« Der Angeber wird dann die Augen niederschlagen, hüsteln und am Ende eingestehen, dass er sich zehn Jahre Zeit nimmt, um die ganze Route zu bewältigen, und zwar in kleinen Happen von jeweils sieben Tagen. In Wahrheit ist er erst am Tag zuvor losmarschiert. »Jeder geht den Weg so, wie er möchte.« Einverstanden, und doch sollte man die Kinder Gottes nicht für dumm verkaufen!
Warum?
Warum eigentlich?
Das ist natürlich die Frage, die sich die anderen stellen, selbst wenn man sie dem Pilger gegenüber nicht vorbringt.
Immer wenn Sie nach Ihrer Rückkehr sagen: »Ich bin zu Fuß nach Santiago de Compostela gelaufen«, werden Sie in den Gesichtern den gleichen Ausdruck wahrnehmen. Er steht zunächst einmal für Verwunderung (»Was hat er da unten bloß gesucht?«), aber auch – Sie merken es an der Art, wie man Sie verstohlen mustert – für Misstrauen.
Rasch werden Schlüsse gezogen: »Dieser Typ muss ein Problem haben!« Sie spüren, wie sich Unbehagen breitmacht. Zum Glück leben wir in einer Welt, in der Toleranz eine Tugend ist: Ihr Gesprächspartner fängt sich bald wieder. Er zaubert ein begeistertes Mienenspiel auf sein Gesicht, um Freude und gleichzeitig Überraschung auszudrücken: »Was hast du für ein Glück!« Und weil man, wenn man schon lügt, es wenigstens mit Überzeugung und Nachdruck tun soll, fügt er noch hinzu: »Ich träume davon, das eines Tages selbst einmal zu machen …«
Die Frage nach dem »Warum« wird nach diesem Satz gewöhnlich zu den Akten gelegt. Wenn Ihr Gegenüber Ihnen eingesteht, dass er mit demselben Projekt liebäugelt, entbindet er Sie (und zugleich sich selbst) von der Erörterung der Gründe, die einen normalen Erwachsenen dazu bringen können, fast tausend Kilometer mit einem Rucksack auf den Schultern herumzumarschieren. Jetzt kann er gleich zum »Wie« übergehen. Warst du allein unterwegs? Wo bist du langgekommen? Wie viel Zeit hat es dich gekostet?
Es ist ein Glück, dass es so abläuft. Denn die wenigen Male, als man mir die Frage »Aber warum sind Sie nach Santiago gegangen?« direkt ins Gesicht gestellt hat, fiel es mir schwer, sie zu beantworten. Es war kein Zeichen von Scham, sondern vielmehr von abgrundtiefer Ratlosigkeit.
Anstatt seiner Verlegenheit Ausdruck zu verleihen, ist es immer noch besser, ein paar Anhaltspunkte preiszugeben, zur Not auch erfundene, um die Neugier des Fragenden abzulenken und ihn auf eine falsche Fährte zu locken: »Als ich klein war, gab es auf den Baudenkmalen meiner Heimatstadt diese Jakobsmuscheln« (Freudsche Spur), »Die großen Pilgerziele der Welt haben mich schon immer fasziniert« (ökumenische Spur), »Ich liebe das Mittelalter« (historische Spur) oder »Ich wollte der sinkenden Sonne entgegengehen, bis ich ans Meer komme« (mystische Spur).
»Ich brauchte einfach Raum zum Nachdenken.« Diese Antwort ist die, die am häufigsten erwartet wird, und zwar so deutlich, dass man sie gemeinhin als »richtige Antwort« betrachtet. Selbstverständlich ist sie allerdings nicht. Wäre es nicht auch möglich und sogar empfehlenswerter, zum Nachdenken zu Hause zu bleiben, im Bett zu verweilen oder im Sessel zu sitzen und höchstens ein paar Schritte auf einem nahen und vertrauten Weg zu tun?
Wie erklärt man denen, die es nicht erlebt haben, dass der Jakobsweg die Wirkung, wenn nicht gar die Tugend hat, uns vergessen zu lassen, weshalb wir uns auf ihn begeben haben? Die Verworrenheit und Vielzahl der Gedanken, die uns auf diesen Weg führten, ersetzt er durch die schlichte Evidenz des Pilgerns. Man ist aufgebrochen, das ist alles. So löst er auch das Problem des Warum: schlichtweg durch Vergessen. Man weiß nicht mehr, was vorher war. Wie bei jenen Entdeckungen, die alles zerstören, was ihnen vorausgegangen ist, löscht die Pilgerreise nach Santiago de Compostela auf tyrannische, totalitäre Art die Überlegungen aus, die uns dazu bewogen haben, diesen Marsch anzugehen.
Man ahnt jetzt schon, was die wahre Natur des Jakobswegs ausmacht. Anders als derjenige glaubt, der sich ihm noch nicht ausgesetzt hat, ist er nicht gutherzig. Er ist eine Gewalt. Er zwingt sich uns auf, packt uns, verletzt uns, modelt uns um. Er erteilt uns nicht das Wort, sondern bringt uns zum Schweigen. Die meisten Pilger sind denn auch überzeugt, dass sie selbst gar nichts beschlossen haben; die Dinge hätten sich ihnen vielmehr »aufgedrängt«. Nicht sie haben den Jakobsweg genommen – der Jakobsweg hat sie genommen. Ich bin mir bewusst, dass man sich mit solchen Äußerungen bei all jenen, die das nicht am eigenen Leib erfahren haben, verdächtig macht. Auch ich hätte vor dem Aufbruch nur die Schultern gezuckt, wenn ich solche Erklärungen vernommen hätte. Sie riechen doch meilenweit nach Sekte. Sie beleidigen die Vernunft.
Und doch habe ich sehr bald festgestellt, dass sie wahr sind. Immer wenn es darum ging, eine Entscheidung zu treffen, habe ich gespürt, wie der Jakobsweg in meinem Inneren mächtig arbeitete und mich überzeugte, wenn nicht gar besiegte.
Anfangs hatte ich einfach nur beschlossen, einen großen einsamen Marsch zu unternehmen. Ich sah darin eine sportliche Herausforderung, eine Art Vorbereitung auf die Wandersaison in den Bergen, ein gutes Mittel, um ein paar Pfunde zu verlieren, eine geistige Reinigung, bevor ich mein nächstes Buch in Angriff nehmen würde, die Rückkehr zur notwendigen Demut nach einer Zeit voller offizieller Aufgaben und Ehrungen …
Nichts von dem im Besonderen, sondern alles zugleich. Ich hatte mir gar nicht fest vorgenommen, auf dem Jakobsweg zu pilgern. Es war nur eine von zahlreichen Optionen gewesen, oder zumindest hatte ich das geglaubt. Ich befand mich noch in der Phase, wo man über Büchern und Reiseberichten ins Träumen gerät, wo man sich Bilder oder Internetseiten anschaut. Ich meinte, frei entscheiden zu können, glaubte, souverän zu sein. Was dann geschah, sollte mir zeigen, dass ich mich geirrt hatte.
Nach und nach wurde meine Wahl eingeschränkt, und siehe da, die Optionen zogen sich immer enger um Routen nach Santiago de Compostela zusammen.
Am Ende behielt ich nur zwei Möglichkeiten zurück: den Höhenwanderweg durch die Pyrenäen und den nördlichen Jakobsweg. Beide beginnen am selben Punkt, in Hendaye. Man konnte die Entscheidung also bis zum Äußersten hinauszögern. Notfalls konnte ich meine Wahl sogar erst in letzter Minute treffen, wenn ich schon vor Ort war. Die Ausrüstung, die ich mir zurechtlegte, war für den einen wie für den anderen Weg geeignet. Der Höhenwanderweg durchquert das Pyrenäenmassiv von West nach Ost. Mehrere Varianten sind möglich; man kann den Pfaden folgen oder auch »abseits der Piste« wandern. Er nimmt ungefähr vierzig Tage in Anspruch und ist gebirgiger und wilder als der Jakobsweg. Ich richtete mich also auf einen langen Marsch ein, bei dem ich in kalter Umgebung fast völlig auf mich gestellt sein würde. Wer über den Ozean kommt, kommt auch über einen Teich: Sollte ich mich letzten Endes für den Jakobsweg entscheiden, brauchte ich nur die Ausrüstung fürs Hochgebirge auszupacken, und die Sache wäre geritzt. Ich hielt das für besonders pfiffig und hatte mir scheinbar bis zuletzt meine Freiheit bewahrt.
Äußere Vorwände halfen mir dann, meiner endgültigen Entscheidung den Anschein von Rationalität zu verleihen: Der Höhenweg erwies sich im letzten Moment als unpraktikabel, denn »Es war noch zu früh in der Saison, manche Übergänge hätten heikel sein können« und so weiter und so fort. Ich wählte also den Weg nach Santiago de Compostela. Wenn ich es recht bedenke, habe ich nur einer geheimnisvollen Anziehungskraft nachgegeben, die immer stärker geworden war. Ich konnte alle möglichen Vernunftgründe ins Feld führen, aber in Wahrheit hatte nie ernsthaft zur Debatte gestanden, dass ich etwas anderes tun würde. Die Vielfalt der Projekte war nur ein Köder gewesen, ein bequemes Mittel, um das so unangenehm Offensichtliche zu verschleiern: Ich hatte nie eine Wahl gehabt. Der Virus des Jakobswegs hatte mich bereits im Innersten infiziert. Ich weiß nicht, durch wen oder was die Ansteckung erfolgt war. Aber nach einer schleichenden Inkubationsphase war die Krankheit nun ausgebrochen, und ich zeigte alle ihre Symptome.
Die Liebe auf dem Weg
Wie wählt man seinen Startpunkt? Es gibt zu diesem Gegenstand zwei große Philosophien, die man ganz banal so wiedergeben könnte: Entweder man geht von zu Hause los oder von woanders. Diese Entscheidung ist gewichtiger, als es den Anschein hat, und etliche Pilger haben mir anvertraut, dass sie ihnen schwergefallen ist. Das Ideal – wenn auch nicht meins – liegt offenbar darin, dass man wie der erwähnte Savoyarde aus seinem Haus tritt, Frau und Kinder umarmt, den Hund (der mit dem Schwanz wedelt, weil er mitgenommen zu werden hofft) noch einmal hinter den Ohren krault, das Gartentor hinter sich zuzieht und loswandert.
Wer jedoch diese Möglichkeit nicht hat, weil er zu weit entfernt wohnt oder über zu wenig freie Zeit verfügt, muss seinem Ziel vorab näher rücken, sich so weit wie möglich an die spanische Grenze begeben und die Route so verkürzen, dass sie auf ihn zugeschnitten ist. Er läuft also nicht von zu Hause los – aber von wo dann? Es gibt eine Menge Wege und unzählige mögliche Startpunkte. Die Entscheidung fällt schwer. Sie hängt von einigen objektiven Faktoren ab: Wie viel Zeit hat man? Welche Orte möchte man besichtigen? Welche Reiseführer hat man gekauft? Was haben womöglich die Freunde berichtet? Es kommen aber auch subtilere Faktoren ins Spiel, über die man bisweilen nicht so gern spricht.
Hier kann ich gleich eine Tatsache erwähnen, die der Leser früher oder später ohnehin entdecken wird und die ihn genauso wenig überraschen dürfte, wie sie mich überrascht hat: Der Jakobsweg ist ein Ort der Begegnung, um nicht zu sagen des Anbaggerns. Diese Dimension beeinflusst zahlreiche Pilger, besonders bei der Wahl ihres Startpunktes. Dabei muss man sich immer fragen, welchem Herzensbedürfnis die Pilgerreise entsprungen ist. Denn es gibt auf dem Jakobsweg verschiedene Gangarten des Gefühls.
Die erste ist jene der Frischverliebten, die ihren Seelenverwandten bereits gefunden haben. In diese Kategorie gehören Pärchen, Lebensgefährten, Verlobte. Sie sind oft noch ganz jung: Turteltäubchen mit Nikeschuhen, kerngesund und mit Kopfhörern auf den Ohren. Für sie geht es darum, ihrer Beziehung den letzten Schub zu geben, der sie vor den Traualtar, aufs Standesamt oder doch wenigstens hinter den Kinderwagen führen wird. Der Jakobsweg bietet Gelegenheit für eine zärtliche Annäherung. Sie wandern Hand in Hand am Rande der Fernstraßen entlang, und wenn ein Lastwagen vorbeibraust, rieselt ihnen ein köstlicher Schauer den Rücken hinab und bringt sie noch enger zusammen. Auf dem geheiligten Weg ziehen sie von Kirche zu Kirche, und der Verliebtere von beiden hofft, dass dies dem anderen bestimmte Gedanken eingibt. Abends in den Klöstern vermischen sich dann in den Waschräumen Lachsalven und nackte Haut zu einer fröhlichen Sarabande. Die Mönche, die sich damit auskennen, achten darauf, die Sanitäreinrichtungen nicht nach Geschlechtern zu trennen. Auf den Pritschen wird geflüstert und geturtelt, und weil man nicht so einfach zum Akt übergehen kann, verspricht man einander ewige Liebe und Treue.
Für diese Verliebten ist der Jakobsweg hilfreich, aber sie sollten nicht zu lange auf ihm unterwegs sein. Nach ein paar Tagen könnten bei solchen Paaren, die sich oft in Gruppen zusammenfinden, die Sinne auf Abwege geraten. Der Versprochene gerät in Versuchung, ein anderes Dekolleté als das seiner Anverlobten in Augenschein zu nehmen. Und was die in hartem Kampf eroberte junge Frau angeht, so wird sie womöglich Vergleiche anstellen, aus denen nicht immer der siegreich hervorgeht, der sie bis an diesen Ort geführt hat. Und so beschränken diese Pärchen ihre Anstrengungen auf die Schlusskilometer. Sie legen nur die allerletzten Etappen zurück. Man begegnet ihnen in großer Zahl in Galicien. Wie jene Vögel, die dem Reisenden das nahe Meer anzeigen, sind sie für den Pilger ein Hinweis darauf, dass Santiago de Compostela nicht mehr fern ist.
Ganz anders verhält es sich mit der zweiten Kategorie: den Wanderern, die nach Liebe suchen, sie aber noch nicht gefunden haben. Im Allgemeinen sind sie schon etwas älter. Sie kennen das Leben, manchmal auch die leidenschaftliche Liebe und sogar die Ehe. Dann ist das Glück zerbröselt, und jetzt müssen sie wieder ganz von vorn beginnen. Irgendwann kam ihnen der Jakobsweg als die Lösung in den Sinn. Er ist nicht so abgehoben wie eine Partnersuche-Website und ermöglicht es ihnen, Menschen aus Fleisch und Blut und Schweiß gegenüberzustehen. Die Erschöpfung nach dem Marsch macht das Herz weich. Der Durst und die Blasen an den Füßen bringen die Pilger einander näher und bieten Gelegenheit, dem anderen etwas Gutes zu tun oder selbst umsorgt zu werden. Zu manchen Menschen ist die Stadt unbarmherzig mit ihrem schrecklichen Konkurrenzdruck und ihren tyrannischen Leitbildern, die den Dicken ebenso verdammen wie den Dürren, den Armen, den Hässlichen oder den Arbeitslosen. Als Pilger aber entdecken sie eine Gleichheit, die jedem seine Chance lässt.
Besonders wenn die Natur sie nicht gerade begünstigt hat, ziehen es diese Pilger vor, in weiter Ferne zu starten, um sich alle Chancen zu sichern. Man begegnet ihnen über Hunderte Kilometer hinweg immer wieder und kann Beobachtungen anstellen: wie diese Fußkranken der Liebe einander näherkommen, sich beschnuppern, sich wieder voneinander entfernen oder aber zusammenfinden; wie sie ihr Ziel verfehlen und wie grausam sie bisweilen zu einem anderen sind, der ihnen gern sein Herz öffnen möchte, ihnen aber nicht gefällt. Man sieht, wie nach einigen Etappen die Illusionen zerbrechen, wenn derjenige, der die ersehnte große Liebe hätte sein können, beim Erklimmen eines Hanges schließlich eingestanden hat, bereits verheiratet zu sein und seine Frau zu lieben. Aber man sieht auch, wie sich richtige Paare bilden, und hofft, dass sie miteinander glücklich werden.
Frauen brechen oft in Gruppen auf, wahrscheinlich, um einander Mut zu machen. Ich bin welchen begegnet, die von weit her kamen und schon ganz Frankreich durchwandert hatten, ohne den zu finden, den sie sich erhofft hatten. Dann fielen sie beherzt in Spanien ein, und häufig verschwand eine von ihnen ein paar Etappen später. Sie folgte einer anderen Gruppe und suchte bei einem neuen Traumprinzen ihr Glück. Wenn ich solche Szenen beobachtete, musste ich dummerweise immer an den Ausdruck denken: Jeder Topf findet seinen Deckel.
Der Jakobsweg ist hart, aber manchmal hat er auch die Güte, die geheimsten Wünsche zu erhören. Man muss einfach durchhalten.
Es kursiert die Geschichte von einem Akkordeonspieler, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, dass er an jedem Etappenziel sein Instrument spielte. Er war frisch geschieden und sehr unglücklich; ich könnte mir vorstellen, dass er traurige Klagelieder spielte, die bei den Frauen nicht viel Erfolg hatten. Als er in Santiago de Compostela angekommen war, wurde er Mitglied einer Vereinigung von Musikern. Dort traf er auf eine Deutsche, die dieselbe Passion hatte wie er und ebenso viele Blessuren an der Seele. Sie haben geheiratet und kehren seitdem jedes Jahr gemeinsam zum Jakobsweg zurück. Die Musik, die sie nunmehr zusammen spielen, ist voller Fröhlichkeit und Charme. Die Geschichte ist wahrscheinlich zu schön, um wahr zu sein, aber mit derlei Legenden wird die Hoffnung all jener genährt, die ihr Schicksal in die Hände des heiligen Jakobus legen, um nicht länger unglücklich zu sein.
Die dritte Kategorie ist weniger romantisch, aber ebenso bewegend: Menschen, die die Liebe vor langer Zeit kennengelernt haben, den heiligen Bund der Ehe eingingen und dann deren Verschleiß erfuhren und an einen Punkt gelangt sind, an dem sie sich nichts mehr wünschen, als ihre Freiheit wiederzuerlangen. Es ist eine liebenswürdige Freiheit, die nicht alles kaputt macht und dem anderen nicht wehtut, sondern es einem dank des unverhofften Eingreifens des heiligen Jakobus erlaubt, ein wenig durchzuatmen.
Der ehrenamtliche Helfer vom Verein der Freunde des Jakobswegs, der mich in Paris empfangen und mir den Pilgerpass überreicht hat, gehörte selbst zu dieser Kategorie. Als ich ihn bat, mir von seiner eigenen Pilgerreise zu erzählen, tat er dies mit Tränen in den Augen. Trotz seines vorgerückten Alters hatte er die Mühen des langen Marsches sehr gut verkraftet. Seine wiedereroberte Freiheit hatte ihn dermaßen berauscht, dass er, einmal in Santiago de Compostela angelangt, gar nicht wieder aufhören wollte! Er war einfach weitergegangen auf einem Weg, der nach Portugal führte. Hätte es eine Brücke über die Wasser des Atlantiks bis nach Brasilien gegeben, hätte er sie, ohne zu zögern, betreten. Der Unglückliche berichtete von dieser Verrücktheit mit einem nostalgischen Lächeln. Als ich ihn fragte, wie die Sache ausgegangen sei, verzog er das Gesicht. Seine Frau hatte ein Flugzeug, einen Zug und zwei Autobusse besteigen müssen, um ihn wiederzufinden und mit nach Hause zu nehmen. Aber er hatte von der Freiheit gekostet und dachte nicht daran, ihr künftig zu entsagen. Schon im Jahr darauf war er wieder losgegangen, und noch immer lebte er in der Hoffnung, erneut aufbrechen zu können.
Er fragte mich nach meinen Absichten. Wo würde ich starten? Das hatte ich mir noch gar nicht überlegt. Da ich in keine der erwähnten Kategorien passte, konnten mich keine gefühlsmäßigen Erwägungen bei meiner Entscheidung leiten. Ich wollte einfach eine lange Strecke zu Fuß gehen, das war alles. Ich verriet dem Ehrenamtler meine Absicht, in Hendaye loszumarschieren, weil ich unschlüssig war, ob ich die große Pyrenäendurchquerung wagen sollte.
Er warf mir einen ironischen Blick zu. »Machen Sie es, wie Sie wollen«, sagte er.
Hinter dieser Antiphrase verbarg sich eine Gewissheit, die in ihm tief verankert war und es heute auch in mir ist: Wenn es um den Jakobsweg geht, tut man sowieso nie, was man will. Man mag alle möglichen Vernunftgründe ins Feld führen und Pläne aufstellen – am Ende trägt der Weg den Sieg davon, und so ist es dann auch bei mir gekommen.
Der Mann vom Verein hatte meine Zweifel beiseitegeschoben und ein einziges Wort zurückbehalten: Hendaye.
»Wenn Sie in Hendaye losgehen, nehmen Sie also den nördlichen Weg.«
Für Jakobspilger gibt es in Spanien zwei große Routen, die von der französischen Grenze ausgehen. Die erste heißt Camino Francés; abgesehen von der Etappe, auf der man am Roncevaux-Pass die Pyrenäen überquert, enthält sie kaum schwierige Teilstücke. Sie ist die mit Abstand meistfrequentierte. An manchen Tagen stürzen hundertfünfzig Pilger gleichzeitig von Saint-Jean-Pied-de-Port aus los …
Die andere ist der Küstenweg, den man auch »nördlichen Weg« nennt. Er steht im Ruf, schwieriger und schlechter gekennzeichnet zu sein. Er beginnt im französischen Baskenland und verläuft über die Küstenstädte San Sebastián, Bilbao und Santander.
»Der nördliche Weg …«, stammelte ich, »ja, das war meine Absicht … Was halten Sie davon? Sind Sie ihn schon einmal gegangen?«
Der Mann kramte in einem staubigen Wandschrank und zog einen kleinen Stapel hektografierter Blätter, Karten und eine Broschüre hervor. Als er sie mir reichte, zitterten seine Hände, und ich sah, wie seine Augen leuchteten.
»Der nördliche Weg!«, sagte er keuchend. »Man muss den nördlichen Weg nehmen. Ja, ich habe es schon gemacht … aber erst beim zweiten Mal. Vorher hat man es mir verboten.«
»Verboten?«
»Sage ich jetzt mal so. Als ich meinen Pilgerpass holen ging – so wie Sie heute –, bin ich an einen Mann geraten, der …«
Ich sah in seinen Augen ein Aufblitzen von Hass.
»… der mir gesagt hat, ich wäre zu alt«, stieß er hervor. »Ich würde unterwegs schlappmachen. Seinetwegen habe ich zuerst den Camino Francés genommen. Aber das hat mich wütend gemacht, Monsieur, richtig wütend! Im nächsten Jahr habe ich zu meiner Frau gesagt: Diesmal nehme ich den Norte. Und das habe ich auch getan.«
»Und dann?«
»Und dann hat es überhaupt keine Probleme gegeben, das war doch klar! Im Schnitt dreißig Kilometer am Tag! Und ich bin nicht gerade eine Sportskanone.«
Eine Weile sagte niemand etwas. Dieser Ausbruch von Leidenschaft hatte mich ein wenig verlegen gemacht. Ich kannte den Jakobsweg ja noch nicht. Plötzlich fuhr ich zusammen. Der Mann hatte mich am Arm gepackt.
»Gehen Sie dorthin, Monsieur!«, rief er. »Nehmen Sie den Norte! Das ist der schönste, glauben Sie mir, der allerschönste.«
Ich bedankte mich und ergriff die Flucht. Draußen sagte ich mir, dass diese Pilgerreise eine Sache für Fanatiker war und dass ich lieber auf meinen Wanderpfaden durch die Pyrenäen bleiben sollte. Ohne zu zögern, entschied ich mich für den Höhenwanderweg.
Und dennoch trat ich eine Woche später meine Wanderung auf dem nördlichen Weg nach Santiago de Compostela an.
Die ersten Kilometer
Bis Hendaye bin ich mit dem TGV