Nichts ist verborgen - Magid Barry - E-Book

Nichts ist verborgen E-Book

Magid Barry

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Beschreibung

Ein einzigartiger Dialog zwischen Zen und Psychoanalyse. Ein Dialog, in dem Barry Magid seinen Leserinnen neue Perspektiven auf ihre persönliche Praxis eröffnet. Er nutzt dafür die kurzen traditionellen Lehrgeschichten im Zen, den Koans und reflektiert diese auf dem Hintergrund moderner Selbstpsychologie, Bindungstheorie, relationaler Psychoanalyse und Sprachphilosophie. Dabei zeigt er für jede Tradition Erkenntnismöglichkeiten, Grenzen und die Früchte einer Begegnung miteinander auf. Nichts ist verborgen ( im Original: Nothing Is Hidden) erforscht ein breites Spektrum an Themen. So geht es z.B. um  - die Auseinandersetzung mit Unbeständigkeit und der Unvermeidlichkeit von Veränderungen,  - dem geschickten Umgang mit Verlangen und Anhaftung und  - die Frage, wann "Hingabe und Unterwerfung" befreiend sein können und wann sie in eine emotionale Vermeidungsstrategie übergehen.  Immer wieder kommt die Beziehung zwischen Streben nach spiritueller Verwirklichung und persönlichem Charakter mit seinen psychologischen Vorgaben und Bedürftigkeiten zur Sprache.  Anhand der Skandale bei der Integration des Zen in die westliche Welt zeigt Barry Magid auf, dass auch die alte Weisheitstradition des Zen dringend der Reflektion ihrer psychologischen Voraussetzungen bedarf - gerade wenn man ihre zwischenmenschlichen und institutionellen Praktiken betrachtet. Er verdeutlicht, welche Sackgassen sich ergeben und was es braucht, um Leiden zu verhindern.  Mit einem ausgefeilten und manchmal augenzwinkernden Blick auf die Rituale und Lehren des traditionellen Buddhismus, hilft Barry Magid uns zu erkennen, wie wir Meditation manchmal in eine weitere "Heilungsphantasie“ umwandeln, aber auch eine ungeahnte Befreiung erfahren können. 

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Barry Magid

Nichts ist verborgen

Die Psychologie von Zen-Koans

UUID: 61724114-f26e-4058-a68c-a25dff69eba2
Dieses eBook wurde mit Write (https://writeapp.io) erstellt.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1: Unmittelbar und ganz

Kapitel 2: Wer, ich?

Kapitel 3: „Wer hat dich in Fesseln gelegt?“

Kapitel 4: Motivation für die Praxis

Kapitel 5: Die Tradition und das Dritte

Kapitel 6: Idealisierung

Kapitel 7: Erscheinung und Wirklichkeit

Kapitel 8: Veränderung und Einheitlichkeit

Kapitel 9: Traumatische Dissoziation

Kapitel 10: Der Unbeständigkeit begegnen

Kapitel 11: Begehren und Anhaftung

Kapitel 12: Wechselseitige Anerkennung

Kapitel 13: Unterschiede

Kapitel 14: Das letzte Wort

Kapitel 15: Dinge mit Wörtern machen

Kapitel 16: Generationsübergreifendes Karma

Kapitel 17: Nutzlosigkeit

Kapitel 18: Ganzheit vs. Ganzwerdung

Kapitel 19: Ergebung und Unterwerfung

Kapitel 20: Aufopferung vs. Mitgefühl

Kapitel 21: Lebend oder tot

Kapitel 22: Ausklang

Fazit: Einsichten

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Danksagung

Vorwort

In seinem neuen Buch knüpft Barry Magid konsequent an seinen in der bisherigen Literatur einzigartigen Dialog zwischen Zen und Psychoanalyse an.

Er geht von Koans, den traditionellen kurzen Lehrgeschichten von Dialogen im Zen aus, um verschiedene Lesweisen auf dem Hintergrund moderner Selbstpsychologie, Bindungstheorie, relationaler Psychoanalyse und Sprachphilosophie zu reflektieren. Dabei zeigt er für jede Tradition Erkenntnismöglichkeiten, Grenzen und die Früchte einer Begegnung miteinander auf.

Nothing Is Hidden erforscht ein breites Spektrum an Themen, darunter die Auseinandersetzung mit Unbeständigkeit und der Unvermeidlichkeit von Veränderungen, dem geschickten Umgang mit Verlangen und Anhaftung und die Frage, wann "Hingabe und Unterwerfung" befreiend sein können und wann sie in eine emotionale Vermeidungsstrategie übergehen. Immer wieder kommt die Beziehung zwischen Streben nach spiritueller Verwirklichung und persönlichem Charakter mit seinen psychologischen Vorgaben und Bedürftigkeiten zur Sprache. Anhand der Verwerfungen und Skandale bei der Einpflanzung des Zen in die westliche Welt zeigt Barry Magid auf beeindruckende Art und Weise auf, dass auch die alte Weisheitstradition des Zen mit ihren zwischenmenschlichen und institutionellen Praktiken dringend der Reflektion ihrer psychologischen Voraussetzungen bedarf, um Sackgassen und Leiden zu verhindern.

Mit einem ausgefeilten und manchmal augenzwinkernden Blick auf die Rituale und Lehren des traditionellen Buddhismus, hilft Barry Magid uns zu erkennen, wie wir Meditation manchmal in eine weitere "Heilungsphantasie“ umwandeln, aber auch eine ungeahnte Befreiung erfahren können.

Dieses Buch eröffnet seinen Leserinnen neue Perspektiven auf ihre persönliche Praxis und oft überraschende Einblick in die Funktionsweise des menschlichen Geistes und Herzens.

Einleitung

Als Schüler wie als Lehrer habe ich keine einfache Beziehung zu Koans; eine, die vielleicht die vielen Drehungen und Schlenker ihres Gebrauchs in Amerika widerspiegelt. Als Dharma-Nachfolger von Charlotte Joko Beck gehöre ich zu einer Zen-Tradition, die sowohl Elemente von Rinzai- als auch Elemente von Soto-Zen, den beiden Hauptrichtungen des japanischen Zen, enthält. Rinzai-Zen wird im Allgemeinen mit der Koan-Praxis gleichgesetzt; Studierende beginnen typischerweise mit einem einführenden Koan wie Mu, und arbeiten sich dann durch eine Abfolge von Koans aus den kanonischen Sammlungen wie dem „Torlosen Tor“ (engl. „The Gateless Gate“, jap. „Mumonkan“) und dem „Buch von der smaragdenen Felswand“ (engl. „The Blue Cliff Records“, jap. „Hekigan Roku“), die vor fast tausend Jahren zusammengestellt wurden. Soto-Zen gründet sich auf Shikantaza oder „einfach nur Sitzen“, eine Form der Praxis, die im dreizehnten Jahrhundert von Eihei Dogen in Japan eingeführt wurde. Dogen gebrauchte ebenfalls Koans – oder hielt zumindest viele Vorträge, die auf Koans basierten. Aber Lehrer der Soto-Tradition benutzten sie typischerweise nicht in der systematischen Frage-und-Antwort-Art, die die Rinzai-Tradition charakterisiert und die von dem berühmten Meister Hakuin im Japan des achtzehnten Jahrhunderts wiederbelebt wurde.

Auch wenn es reine Rinzai- und Soto-Linien in Amerika gibt, ist die Linie, zu der ich gehöre, ein Hybrid aus beiden, wie es in der Tat die meisten Zen-Linien in Amerika sind. Dies geht vor allem auf den Einfluss eines einzigen, herausragenden Lehrers zurück, Hakuun Yasutani (1885-1973). Yasutani begann als Mönch in der Soto-Tradition und studierte unter einem Lehrer, der als einer der größten Dogen-Gelehrten seiner Zeit galt, Nishiari Bokusan, Aber als junger Mönch wurde Yasutani durch das, was er als Selbstgefälligkeit seiner Mönchsgefährten empfand, desillusioniert.

Die große Gründergestalt der Soto-Tradition, Eihei Dogen (1200-1253), hatte gelehrt, dass Zen-Meditation nicht Mittel für ein Ziel ist, nicht eine Technik, um Erleuchtung zu erlangen, sondern dass Praxis und Verwirklichung untrennbar ein und dasselbe sind. Dogen schrieb: „Das Zazen, von dem ich spreche, ist nicht eine Meditationspraxis. Es ist einfach das Dharma-Tor der freudigen Leichtigkeit, die Praxis-Verwirklichung des totalen Höhepunkts der Erleuchtung.“

Yasutani fand jedoch, dass das, was er im Kloster um sich herum sah, weder freudig noch erleuchtet war und dass der wahre Geist Dogens in Nishiaris Zen fehlte. Seine Verurteilung seines Lehrers war harsch: „Angefangen mit dem von Nishiari Zenji, habe ich die Kommentare von vielen modernen Menschen zum Shobogenzo [Dogens Meistewerk] genau untersucht, und obwohl es ungehörig ist, es so auszudrücken, haben sie alle heftig in ihrem Bemühen versagt, seine Hauptpunkte zu erfassen….es versteht sich von selbst, das Nishiari Zenji ein Zen-Priester von hoher Gelehrsamkeit und Tugend war, aber sogar ein grüner Priester wie ich kann sein Auge des Satori (der Erleuchtung) nicht bestätigen. Deshalb ist es mein ernsthafter Wunsch, bis zu einem gewissen Grad das Übel [von Nishiaris Zen] zu korrigieren, um sein Wohlwollen und das seiner Schüler zu vergelten, das sie viele Jahre lang verbreitet haben.“

Yasutani verließ Nishiaris Kloster, heiratete und wurde Grundschullehrer. Dennoch führte er seine Praxis mit einer Reihe von verschiedenen Lehrern fort, bis er auf Harada Sogaku Roshi traf. Harada war ebenfalls ein Soto-Priester gewesen, dessen eigene Suche ihn dazu gebracht hatte, mit Toyota Dokutan (1841-1919) zu studieren, dem Abt von Nanzenji, einem Rinzai-Tempel. Harada schloss sein Koan-Studium mit ihm ab und wurde sein Dharma-Nachfolger. Formal blieb er ein Soto-Priester und wurde schließlich Abt von Hosshin-ji, einem Soto-Tempel. Yasutani saß sein erstes Sesshin mit Harada im Jahr 1925 und erhielt zwei Jahre später im Alter von zweiundvierzig die Bestätigung, Kensho erlangt zu haben, eine erste Erleuchtungserfahrung. Über zehn Jahre später, im Alter von achtundfünfzig, beendete er sein Koan-Studium und erhielt am 8. April 1943 die Dharma-Übertragung von Harada-Roshi.

Yasutani kam erstmals 1962 in die Vereinigten Staaten auf eine Einladung von Philip Kapleau hin, der mit Harada Roshi im Hosshin-ji studiert hatte. Kapleau, dessen Buch „Die drei Pfeiler des Zen“ viele Amerikaner meiner Generation in die Zen-Praxis eingeführt hatte, wurde dann der Gründer des Zen-Zentrums Rochester. Andere Studenten von Yasutani waren Robert Aitken und Taizan Maezumi, die beide blühende Zen-Linien in den USA begründeten.

Während ich selbst schlussendlich mein Zen-Training und die Dharma-Übertragung in Charlotte Joko Becks Zweig der Yasutani-Maezumi-Linie erhielt, machte ich meine ersten Zen-Erfahrungen bei dem Rinzai-Lehrer Eido Shimano. Seine eigene Mischung aus Charisma, Einsicht und sexuellem Fehlverhalten lieferte einer ganze Generation amerikanischer Zen-Studierenden ihren ersten wahrhaften Koan. In vielerlei und wichtiger Hinsicht waren dieses und meine vorherigen Bücher Versuche, an diesem ersten Koan zu arbeiten, dem der Beziehung zwischen Verwirklichung und persönlichem Charakter mit seiner Psychologie: überschneiden sich diese beiden, oder verhalten sie sich allzu oft wie zwei Pfeile, die sich in der Luft verfehlen. Als ich 1975 nach dem Medizinstudium nach New York kam, um meine Ausbildung in Psychiatrie zu beginnen, suchte ich als erstes nach einem Analytiker und nach einem Ort, wo ich mein Zen-Training beginnen konnte. Eidos Zen Studies Society schien die einzige Wahl in der Stadt zu sein, was Zen anbelangte. Die Optionen für die psychoanalytische Ausbildung waren sehr viel diverser und komplizierter.

Damals fühlte es sich an, als ob meine psychoanalytische Welt in zwei Lager geteilt wäre, in die Anhänger von Heinz Kohut und die Anhänger von Otto Kernberg. Die Welt der Psychoanalyse war offensichtlich viel komplexer, mit Freudianern, Kleinianern, Sullivanianern, Horneyanern, Jungianern, und Winnicottianern – ganz zu schweigen von den populären nicht-analytischen Seitenzweigen wie der Gestalt- und der Transaktionsanalyse.

Kohut war berühmt dafür, eine empathische Haltung der Analytikerin zu befürworten, als Alternative zur klassischen freudianischen Neutralität des „unbeschriebenen Blattes“. Die Kämpfe der Menschen betrachtete er als Folge ihrer frustrierten und in der Entwicklung gehemmten, gesunden Strebungen nach Liebe und Aufmerksamkeit. Otto Kernberg betonte dagegen die Rolle der primitiven Aggression und war der Meinung, dass die Patienten tief drinnen versuchten, den Analytiker zu zerstören, getrieben von unkontrollierbarem Neid und einem Bedürfnis, ihre emotionale Welt in wettstreitende nur-gut und nur-böse-Parteien aufzuspalten. Obwohl ich mich zu Kohuts Bild hingezogen fühlte, ertappte ich mich dabei, wie ich dennoch das Kernberg-Drama inszenierte, indem ich Kernberg selbst zum psychoanalytischen Äquivalent von Darth Vader gegenüber Kohuts Obi Wan Kenobi machte. Kohut und Kernberg waren jeder auf seine Weise Pioniere in der Behandlung von narzisstischen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Diese wurden beide charakterisiert durch ein Gefühl innerer Leere und Depression, ein instabiles Selbstgefühl, das oft wild zwischen Größengefühlen und Wertlosigkeit schwankt, und dauerhaft schwierigen zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Borderlinerin übertrumpfte den Narzissten darin, dass sie in einem eher chronischen Zustand von Ärger und Groll darüber war, wie die anderen sie behandelten oder vernachlässigten, während die Größenphantasien des Narzissten ein etwas stabileres, wenn auch brüchiges Schutzschild gegen die Welt aufrechterhielten.

Mit großem Widerstreben und nicht geringer Angst musste ich mir eingestehen, dass ich das meiste davon jeden Morgen im Spiegel sah. Kohut bedeutete etwas Hoffnung für Menschen wie mich, während Kernberg nur die grimmige Warnung verkörperte, dass Individuen mit dieser Art von Persönlichkeitsstörung zwar möglicherweise behandelbar, aber ganz klar ungeeignet dafür seien, selbst Therapeuten zu sein. „Was, wenn ich ein Borderliner bin?“ war die Frage, die im Hintergrund meines Geistes nagte, als ich meine Karriere als Psychiater und mein psychoanalytisches Training begann. Diese Schlussfolgerung war unannehmbar, aber ich konnte ihr nicht entkommen. Sie diente als Verbindungsglied für alle meine Selbstzweifel, meinen Selbsthass, all meine Ängste, dass mein professionelles Selbst ein Betrug war und dass ich tief drinnen verrückt war. Ob meine Selbstdiagnose als beginnender Psychiater korrekt war oder nicht, spielt hier keine Rolle (Medizinstudentinnen sind berüchtigt dafür, sich vorzustellen, dass sie sich alle Krankheiten zugezogen haben, die sie gerade lernen.) Die Frage versetzte mein Innerstes in Aufruhr und ließ meinen Geist mit endlosen, ergebnislosen Argumenten für und wider durchdrehen. Ohne dass ich mir darüber im Klaren war, war dies mein erstes Koan.

Als ich eines Tages – und ich erinnere mich fünfunddreißig Jahre später noch dran – den Union Park Square überquerte im Begriff, die U-Bahn zu bekommen, um meinen Analytiker zu sehen, gab ich plötzlich auf. „Gut, dann bin ich halt ein Borderliner. Dann ist es eben so“. Eigentlich hatte ich bei dieser Schlussfolgerung damit gerechnet, in Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zu versinken, ganz zu schweigen vom bevorstehenden Kollaps meiner psychiatrischen Karriere. Doch ich fühlte erstaunlicherweise, dass sich eine enorme Last von mir hob. Ich kämpfte nicht mehr mit mir selbst, ich versuchte nicht mehr, den Teil meines Selbst abzuwehren oder zu leugnen, der mich in Angst und Schrecken versetzt hatte.

Die traditionellen Zen-Koans bieten uns die Gelegenheit, dem zu begegnen, was wir bewusst oder unbewusst als „Nicht-Ich“ betrachten und uns darauf einzulassen. Manchmal ist es so wie in meinem Fall ein Teil von mir, der als beschädigt, beschämend oder unvereinbar mit der Person, die ich zu sein versuche, erlebt wird. Aber die Spannbreite der Selbsterfahrung, von der wir uns abschneiden, kann viel größer sein. Wir können unsere animalische Natur leugnen oder zu minimieren versuchen, indem wir es darauf anlegen, eher vernunftbetont als emotional zu sein, eher die Kontrolle zu behalten als den Unwägbarkeiten des Lebens ausgeliefert zu sein. Wir können versuchen, unsere Sterblichkeit zu leugnen und das, was wir das „Spirituelle“ nennen, zum Tor für ein anderes, vielleicht unsterbliches Leben jenseits des Todes zu machen. Wir leugnen vielleicht den Teil von uns, der mit den Anderen verbunden und von ihnen abhängig ist, indem wir Autonomie und stoische Selbstgenügsamkeit anstreben. Und schließlich können wir uns von unserer eigentlichen Ganzheit und Vollkommenheit abschneiden, indem wir Lehrer oder Buddhas idealisieren, die wir für total und qualitativ anders halten als uns selbst, als Wesen einer anderen Art, deren Errungenschaften wir nie wirklich erreichen können.

Manchen, die mit der traditionellen Methode des Koan-Studiums vertraut sind, mag die Art, wie ich Koans benutze, unzulässig, oberflächlich, trivialisierend erscheinen - oder alles drei. In diesem Buch nutze ich „persönliche“ wie auch traditionelle Koans dazu, sich auf psychologische Sackgassen einzulassen und sie durchzuarbeiten. Als ich mein Zen-Training begann, hatte die Bezugnahme auf das, was als „psychologisch“ galt, fast immer das Wörtchen „bloß“ davor. Zen ging „tiefer“ als das. Koans galten als der einzigartige Schlüssel des Zen, um zum „Absoluten“ durchzubrechen. Es war das Sitzkissen – das Zafu, nicht die Couch des Analytikers, wo man die wahre Befreiung vom Selbst finden würde. Aber die Früchte dieser Durchbrüche, die versprochene Befreiung vom leidenden Selbst, erwiesen sich als schwerer zu fassen und viel weniger transformativ für den alltäglichen Charakter, als angepriesen.

Es stellte sich heraus, dass sogar die scheinbar intensivsten transzendentalen Erfahrungen verblassten und kein Verlass darauf war, dass ihr Nachglühen die Nischen unseres unbewussten Geistes ausleuchtete. Noch mehr und größere Verwirklichungen waren nicht von sich aus die Antwort. Die Verwirklichungen versagten nicht nur darin, die tiefen Spaltungen in unserem Charakter zu heilen. Statt dessen schien die Praxis bei vielen Menschen und besonders bei vielen Zen-Lehrern immer tiefere Risse zwischen einem idealisierten mitfühlenden Selbst und einem Schattenselbst hervorzubringen, in dem abgespaltene und verleugnete sexuelle, kompetitive und narzisstische Phantasien die Oberhand bekamen.

Das traditionelle Koan-System wurde uns so angepriesen, als ob es genau dafür konzipiert wäre, uns vom hundert Fuß hohen Mast des verderblichen Eins-Seins (des Gebrauchs von spirituellen Erfahrungen aller Art, um „über allem“ zu stehen) herunterzuholen. Sein Vermögen, charakterliche Störungen in der Feuerprobe der Verwirklichung durchzuarbeiten, schien jedoch stark begrenzt. In psychologischen Begriffen würde man sagen, dass es zwar das Versprechen einer Einsicht beinhaltete, im Prozess des Durcharbeitens und bei der Integration der Verwirklichung mit unseren tief verankerten Charakterstilen jedoch versagte.

Genau dieses Versagen im Durcharbeiten hoffe ich mit dieser Arbeit anzugehen. Meine eigene Lehrerin, Charlotte Joko Beck, erklärte, dass Koans schlichtweg darin versagten, Gefühle in einer bedeutungsvollen und systematischen Weise anzusprechen. Sie sprach aus Erfahrung und ihre Einschätzung war zweifellos richtig, wenn man sich die außergewöhnliche Fähigkeit ihres Lehrers im Unterrichten mit Koans und seine ebenso außerordentlichen Schwächen als menschliches Wesen ansah. Ich gebrauche die Koans nicht in der traditionellen Art, bei der die Studierenden im Dokusan ihre Erkenntnisse präsentieren. Stattdessen habe ich versucht, ihre Bilderwelt so zu öffnen, wie ich es mit Träumen tun würde, und diese Bilderwelt emotional aufzuschließen. Damit sollen die untergründigen psychologischen Spaltungen erhellt werden, die angegangen werden müssen, soll die Verwirklichung tatsächlich alle Facetten unserer Persönlichkeit durchdringen.

Als Zen-Studenten können wir zwar Momente erleben, in denen sich unsere alltäglichen dualistischen Grenzen zwischen Selbst und Welt dramatisch aufzulösen scheinen – es zeigt sich aber, dass diejenigen Dualismen, die in unserem Leben die größte Rolle spielen, sehr viel hartnäckiger, schwerer zu fassen und tiefer im Unterbewussten verankert sind.

Das Buch „Ordinary Mind“ benutzte Heinz Kohuts Psychologie des Selbst als psychoanalytische Hintergrundtheorie. Dieses Buch geht über die konzeptionelle Basis hinaus, indem es die weitere Perspektive der relationalen Psychoanalyse einbezieht, und zwar besonders die Arbeiten von Philip Bromberg zu Dissoziation, von Jessica Benjamin zu Intersubjektivität, von Emmanuel Ghent zu Unterordnung und Ergebung sowie die Bindungstheorie nach John Bowlby und Mary Ainsworth.

Diese erweitere Perspektive wird gut von GrahamGreene im Epitaph seines ersten Romans Brighton Rock illustriert: „Da ist ein anderer Mann in mir, und er ist böse auf mich". Der andere Mann in mir – jemand, der gleichzeitig mein Selbst und nicht Ich ist; jemand, der mich beurteilt nach Standards, die nicht ganz die meinen sind, die nicht ganz zugänglich für meine genaue Erkundung sind, denen ich mich aber auch nicht entziehen kann. Bemerkenswert ist, wie verschieden Greene‘s Fassung verglichen mit der simplen Feststellung „Ich bin böse auf mich“ ist. Auf sein Selbst böse zu sein spiegelt einen gewöhnlicheren Konflikt wieder, wie zum Beispiel nicht das getan zu haben, was man eigentlich hätte tun sollen. Aber „einen anderen Mann im Inneren“ zu haben gibt das mysteriöse Phänomen der Dissoziation wieder, bei dem man einen Teil im Selbst hat, der in Bezug zu einem anderen Teil anders ist. Dissoziation bedeutet, emotionell von Aspekten von uns selbst abgeschnitten zu sein, die sich wie „nicht ich“ anfühlen, ob es unsere Verletzlichkeit, unsere Sexualität, unsere Aggression, unser Bedürfnis nach Liebe, unser Gefühl von innerer Verletzung oder innerer Ganzheit ist. Dies sind die Dualismen des Alltagslebens, die das Leiden verursachen, von dem die Praxis uns erlösen soll.

Wie ich in meinen früheren Büchern diskutiert habe, sind diese Spaltungen in unserem Selbst die schmerzhaftesten Manifestationen des Dualismus in unserem Leben. Im buddhistischen Jargon wird Dualismus zu schnell zu einer metaphysischen Abstraktion, zu einem philosophischen Prügelknaben. Und dann sind wir uns alle einig, dass dies ja eine falsche Dichotomisierung der Wirklichkeit darstellt - eine wahnhafte Perspektive, von der wir natürlich mit Lippenbekenntnissen abrücken.

Diese allzu zungenfertige Absage an den Dualismus ignoriert sowohl seine hartnäckigen unbewussten Wurzeln, als auch seine Allgegenwärtigkeit im Organisieren unserer alltäglichen Erfahrungen. Uns wird nicht bewusst, wie die dissoziativen Aspekte des Dualismus unser emotionales von unserem spirituellen Leben spalten. Andererseits pflegen wir eine schuldbeladene Beziehung zu all den komplexen Strategien, mit denen wir persönlich, kulturell und politisch unsere Erfahrungen organisieren. Denn unser Bezugsrahmen ist dualistisch: männlich und weiblich, Selbst und Andere, Familie und Fremde, Vorlieben und Abneigungen, lebensspendende Arbeit und seelentötende Plackerei, und so weiter. Wir sollten auch an die Erkenntnis von Simone de Beauvoir denken, dass alle berühmten Dualismen der westlichen Historie als Konsequenz der Gegenüberstellung von männlich und weiblich betrachtet werden können, und dass alle männlichen Seiten der Polarität (Autorität, Stärke, Handlungsmächtigkeit) wertgeschätzt wurden, während all diejenigen, die als weiblich galten (Abhängigkeit, Verletzlichkeit, Passivität) abgewertet wurden.

Ungleichheit von Geschlecht, Einkommen und Macht sind nicht Dichotomien, die nur in unserer Vorstellung existieren und die in einer persönlichen Erfahrung auf dem Kissen aufgelöst werden können. Diese Ungleichheiten wurden kulturell in Asien viele Jahrhunderte lang in den Buddhismus eingepflanzt und erst jetzt in Frage gestellt, da er nach Amerika verpflanzt wird.

Mein vorrangiges Anliegen in diesem Buch ist es jedoch aufzuzeigen, wie unsere individuelle Meditationspraxis von unhinterfragten persönlichen Prozessen verzerrt werden kann, die traditionelle Konzepte wie Dualismus in den Dienst unserer unbewussten Abwehr stellen. Ich habe zum Beispiel gesehen, wie buddhistische Praktizierende sich sehr bemühen, jegliche Annehmlichkeiten in ihrem Leben zu eliminieren, und gleichzeitig blind gegenüber ihrem zugrundeliegenden Glauben sind, dass alle Anderen, nur nicht sie selbst, ein Anrecht auf Liebe, Fürsorge oder Glück haben.

In den folgenden Kapiteln will ich den psychologischen Mechanismen von Verleugnung, Dissoziation und Idealisierung nachgehen, die solche Spaltungen begünstigen. Ich will dies aus der theoretischen und klinischen Perspektive eines Psychoanalytikers tun, so wie ich im Verbund mit Zen in meinem ganzen Berufsleben gearbeitet und praktiziert habe. Mir ist klar, dass die Psychoanalyse für manche Leser ein scheinbar endloser und altmodischer therapeutischer Zugang ist, der rasant von kognitiv-behavioralen Kurzzeittechniken überholt wird. Ich habe hier nicht die Absicht, die relativen Verdienste verschiedener therapeutischer Zugänge zu diskutieren – ich hoffe vielmehr aufzuzeigen, was ein psychoanalytisches Verständnis in den Bereich der Überschneidung von Zen-Praxis und Persönlichkeitspsychologie einbringen kann, und überlasse den Erfolg dieser Darstellung den Leserinnen und Lesern zur eigenen Beurteilung. Ich versuche zu zeigen, wie die lebendige Bilderwelt der Koans einen metaphorischen Weg aufzeigt, uns mit den Spaltungen in unserer Psyche auseinanderzusetzen. Der Weg weist auf eine Rückgewinnung unserer Ganzheit hin, einer Ganzheit, die bei weitem größer und umfassender ist, als wir es uns je vorgestellt haben. Meine Auswahl folgt keiner Standardabfolge, noch soll sie in irgendeiner Weise ein umfassender Führer zum traditionellen Koan-Studium sein. Mit Ausnahme von Mu habe ich mich bemüht, Koans zu wählen, die ich nicht in meinen vorherigen Büchern diskutiert habe. Wenn meine Interpretationen manchmal vom traditionellen Weg abweichen, dann möge es so sein. Da ich die Wahl habe, möchte ich es lieber „neu machen“ (in den Worten von Ezra Pound), statt den ausgetretenen Pfaden zu folgen, für die andere traditionellere Führer verfügbar sind.

Kapitel 1: Unmittelbar und ganz

„Das bin ich.“

Die Psychoanalyse fängt mit Freuds Entdeckung des Unbewussten an. Er postulierte, dass dieses Unbewusste mit Gedanken, Phantasien und Wünschen angefüllt sei, die unterdrückt werden müssten, da sie für unseren alltäglichen bewussten Geist zu verstörend seien.

Der Buddhismus hingegen beginnt mit Shakyamunis Erfahrung von Ganzheit und Vollkommenheit; mit seiner Erkenntnis, dass das, was wir uns vorenthalten, nicht nur eine Vision der verbotenen und erschreckenden Seite der menschlichen Natur ist, sondern genauso das Wundervolle an ihr. Im breiteren kulturellen Kontext des Zen in Amerika haben die beiden Traditionen immer wieder darin versagt, synergistisch miteinander umzugehen, sie haben aneinander vorbeigeredet und sich wechselseitig beschuldigt, das zu übersehen, was das Wesentlichste in der menschlichen Natur ist.

Meine persönliche Erfahrung von mehr als drei Jahrzehnten könnte als Versuch charakterisiert werden, diese beiden Ausgangspunkte in eine Dialektik von wechselseitigem Engagement und wechselseitiger Einflussnahme zu bringen. Die Seite von mir, die zum Psychoanalytiker ausgebildet ist und die gelernt hat, verborgene Traumata und Verletzlichkeiten aufzuspüren, muss fortwährend daran erinnert werden, das auf der essentiellsten Ebene nichts fehlt und nichts verborgen ist. Gleichzeitig muss die Seite von mir, die sich an der innewohnenden Ganzheit erfreut, ständig an die Versuchung erinnert werden, dadurch den ungelösten Konflikten im Lichtschatten der Verwirklichung aus dem Weg zu gehen.

Zu akzeptieren, wer wir wirklich sind, stellt uns vor zwei Herausforderungen. Die erste Herausforderung besteht darin, unsere Verletzlichkeit und all die Teile unseres Selbst zu akzeptieren, für die wir uns im Erwachsenwerden geschämt und schuldig gefühlt haben und die wir möglicherweise verleugnen. Die zweite Herausforderung besteht darin, uns dem Paradox unserer Vollkommenheit mitten in einem Leben voller Leiden zu stellen. Die westliche Psychotherapie hat sich traditionellerweise auf die erste Herausforderung konzentriert, die buddhistische Praxis auf die zweite. Während beide Ansätze Wege für den Umgang mit diesen zwei Seiten unserer Natur gefunden haben, ist Psychotherapie typischerweise in Gefahr, unsere Verfehlungen, Symptome oder Defizite in den Mittelpunkt zu stellen, und ihre Praxis medikalisiert sie als nie endende Behandlung psychischer „Krankheit“. Der Buddhismus stellt das Realisieren der Perfektion in den Vordergrund, indem er in eine Art tiefen Brunnen des „Nicht-Selbst“ hineinreicht, in einen Ort ohne Gewinn und Verlust. Dieser Zugang läuft Gefahr - besonders so wie er sich im Amerika des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt hat - die tief sitzenden, gefühlsbedingten Probleme und Charakterpathologien emotional zu umschiffen; er gibt vor, dass diese einzig und allein durch eine hinreichend tiefe Verwirklichung weggewaschen werden könnten, ohne dass die psychologischen Probleme jemals direkt angegangen werden müssten.

Es ist meine Hoffnung, dass in der Diskussion der folgenden Koans beide Seiten zusammengebracht werden können und dass sich ein psychologisch orientierter Zugang zur traditionellen Zen-Praxis herausbilden kann.

Ich werde beginnen mit den Anfängen, mit dem, was wir vom Leben des Buddha und von der Natur der Erkenntnis, die er uns überliefert hat, wissen.

Die kurze Geschichte vom Leben des Shakyamuni Buddha in der „Transmission of the Lamp", einem Bericht über die Leben der buddhistischen Meister, der 1004 nach Christus zusammengestellt und ein buddhistischer Ur-Text für die späteren Koan-Sammlungen wurde – ist eine Mischung aus Parabel und Hagiographie. Von der Person, die später als Buddha bekannt wurde, lässt sich nur schwerlich mehr als ein kurzer Blick erhaschen. Die mythologische Qualität dessen, was in jenen Tagen als Biographie durchging, lässt sich durch das Baby belegen, das unmittelbar nach seiner Geburt verkündet: „In den Himmeln oben und in den vier Richtungen der Erde ist nichts heiliger als ich“.

Die Geschichte des Kindes Siddharta beinhaltet jedoch auch den frühen Tod seiner Mutter. Auch wenn er laut Darstellung in einer behüteten und privilegierten Welt aufwuchs, kann man sich diesen Verlust gut als treibendes Element für sein späteres Suchen vorstellen. Vielleicht zeigt es das Ausmaß aller historischen, kulturellen oder hagiographischen Lücken, dass der Tod seiner Mutter nie als Auslöser für seine spätere Suche nach dem Geheimnis von Leben und Tod erwähnt wird, so wie es bei Dogen, dem großen japanischen Zen Meister des 13. Jahrhunderts, der Fall ist. Sein Vater bereitete ihm ein beschütztes Leben, aber nachdem er als junger Mann plötzlich mit dem Anblick eines alten Menschen, eines Kranken und eines Leichnams konfrontiert wurde, wurden Leiden und Tod für den jungen Prinzen plötzlich real. Er lässt sein Zuhause, seine Frau und seinen jungen Sohn hinter sich, um sein Leben der Suche nach Sinn im Rahmen der asketischen esoterischen Praktiken seiner Zeit zu weihen. Dieses paradigmatische Verlassen des Heims passt zum Modell der Entsagung, das das Kennzeichen aller spirituellen Praktiken seiner Zeit war und das nach wie vor eine Vorgabe ist, mit der wir uns heute auseinandersetzen müssen.

Wir können uns heute nur schwer vorstellen, wie die Arten von Praxis aussahen, die Siddharta gemeistert haben soll. Die „Lampe“ berichtet: „In den ersten drei Jahren praktizierte er das Samadhi (die tiefe Meditation) des Nicht-Handelns, aber er befand es nicht für gut und gab es auf. Die nächsten drei Jahre studierte er …das Samadhi des Nicht-Denkens, aber das war auch nicht gut und er gab es auf.“ Ich finde es nützlich, sich diese Praktiken als unterschiedliche Arten der Beherrschung von Geist und Körper vorzustellen, als Bemühungen, einerseits die Gedanken vollständig zu stoppen oder zu kontrollieren, und andererseits alle körperlichen Bedürfnisse und Empfindungen zu beherrschen. Die „Lampe“ fährt fort: „Dann ging er zum Gaya-Berg und verbrachte die nächsten sechs Jahre mit dem Praktizieren asketischer Disziplinen zusammen mit vielen Häretikern, trug nur Sackleinen und aß täglich nur ein bisschen Roggen.“ Es ist wahrscheinlich nicht zu klären, ob diese extreme Askese tatsächliche Praktiken beschreibt, die damals existierten, oder ob sie Teil des Mythos einer Verpflichtung auf Leben und Tod ist, um die Mönche späterer Zeiten anzufeuern. Doch das Modell, sich im Namen der Praxis an den Rand des Todes zu bringen, hat seitdem im Guten wie im Schlechten unsere Vorstellung darüber geprägt, wie man Erleuchtung zu suchen hat.

In diesem Teil der Geschichte gibt es nicht viel, mit dem ich mich identifizieren könnte oder was ich nachahmen wollte. Vor langer Zeit wurde mir intuitiv klar, was immer es über Leben und Tod zu erkennen gibt, ist etwas, das in aller Offenheit versteckt ist. Wir kämpfen darum, die Wahrheit zu akzeptieren, die schon die ganze Zeit vor unserer Nase war. Bevor er sich auf seine Entdeckungsreise begab, soll der junge Prinz Siddharta von Alter, Krankheit und Tod bis in den Kern erschüttert worden sein und sich gesagt haben, dass diese Dinge „ein für alle Mal verworfen werden müssten.“ Und dennoch bestand das Wesen seiner Verwirklichung nach all diesen Jahren des Kämpfens genau darin, dass Alter, Krankheit, und Tod unausweichlich sind, dass Vergänglichkeit fundamental ist, und dies nicht nur in Bezug auf unser menschliches Leben, sondern auf alles im Universum. Die Intensität seiner Praxis war proportional zu seinem Widerstand gegen diese grundlegende Tatsache, und die Tiefe seiner Verwirklichung deckte sich schlussendlich mit der Gründlichkeit seiner Akzeptanz dessen, was so völlig unannehmbar war, als er sich ursprünglich auf den Weg machte.

In der Version der „Lampe“ wird zum unmittelbaren Augenblick seiner Erleuchtung nur festgestellt, dass „der Bodhisattva ein Buddha wurde, als der Morgenstern erschien“. Nach anderen Berichten verkündete er, dass in diesem Augenblick er und alle anderen Wesen zusammen Buddhaschaft erlangt hätten. Ich konnte mir nie vorstellen, dass jemand spontan so etwas verkündet. Ich war deshalb dankbar, die Version dieser Geschichte zu finden, wie Shodo Harada sie erzählte. Demnach schaute Shakyamuni hoch zum Morgenstern und sagte einfach: „Das bin ich“. Wenn ihr den Satz „Das bin ich“ hört, stellt ihr euch vielleicht vor, dass der Buddha sein „Einssein“ (was immer ihr euch darunter vorstellt) mit dem Stern und mit allem im Universum verkündete. Ich reagiere anders darauf. Ich stelle mir vor, dass er nach all diesen Jahren des Kämpfens, um seinen Geist und seinen Körper zu beherrschen und das Geheimnis von Leben und Tod in den Griff zu bekommen, unter dem Baum sitzt. Plötzlich sieht er den Stern, der am Himmel funkelt, und erkennt, dass der Stern überhaupt nicht darum gekämpft hat, um das zu sein, was er ist, um perfekt zu sein, wie er ist. Und er dachte: ich bin auch genau das, was ich bin, ich bin genauso wie dieser Stern und bringe meine Natur jeden Augenblick perfekt zum Ausdruck. Und alles in der Welt drückt seine eigene Natur vollkommen und perfekt aus, so wie ich, so wie der Stern. Alles ist in diesem Moment ein Buddha, ein vollkommen verwirklichtes Wesen. Was für ein Jammer, das nicht zu erkennen, was für ein Jammer, sich vorzustellen, dass ein Stern – oder irgendein anderes Wesen – mehr werden muss, als er bereits ist. Was der Stern bereits ist, ist jedoch nicht irgendeine platonisch reine oder ewige Essenz des „Stern-Seins“, sondern immer in Wandlung begriffen. Vollkommenheit und Wandel sind keine Gegensätze, sie erweisen sich als Synonyme. Wir müssen uns nicht nur nicht verändern, um perfekt zu werden, sondern unsere Vollkommenheit äußert sich Moment für Moment im Wandel selbst.

Shakyamunis tiefe und vollständige Verwirklichung der Buddha- Natur drückt sich fortwährend durch die ganze Schöpfung aus als eine Ganzheit, an der wir alle teilhaben. Aber paradoxerweise wird hier wissentlich oder unwissentlich eine neue Kluft der Trennung geschaffen. Wir sind so voller Ehrfurcht vor Buddha und seiner Erleuchtung, das wir aus ihm und ihr etwas Außerweltliches machen, etwas Transzendentes und praktisch Unerreichbares. Von "nicht zu verfehlen“ geht es irgendwie direkt zu „unerreichbar“.

Als ich als Medizinstudent in der Psychiatrieausbildung war, saß ich eines Tages während der Gruppentherapie in einem Kreis von Patienten und Therapeuten in der Gruppentherapie. Plötzlich fiel mir auf, wie alle Person im Raum, Patienten wie Therapeuten, perfekt ausdrückten, wer sie waren, in jedem Augenblick, bis ins kleinste Detail. Wie sie angezogen waren, ihre Haltung, mit der sie im Stuhl saßen, wie sie ihren Kopf geneigt hielten, wie sie etwas sagten oder den Mund hielten, jede Geste, jede Intonation der Stimme legte ihren Charakter fest, als ob sie Schauspieler wären, die ihre Rollen total beherrschten. Es war völlig überraschend! Wie konnten sie alle so perfekt sie selbst geworden sein, so perfekt richtig? Wie hätten sie es auch falsch machen können? Wer oder was sonst hätten sie sein oder tun können, wenn nicht genau das, was sie taten? Dies war eine meiner ersten Kostproben einer „Perfektion“ ohne Inhalt, einer „Richtigkeit“, die nicht erworben oder näherungsweise erreicht war, sondern total und immer richtig da, vor meinen Augen, egal wie ich mich drehte und wendete.

Es war auch eine Offenbarung, dass nichts verborgen ist. Jeder hat vollkommen demonstriert, wer er ist. Es gab nichts „hinter den Kulissen“, das hätte aufgedeckt oder entziffert werden müssen, wie es mir meine übliche psychoanalytische Denkweise nahegelegt hätte. Jede Person war mit Klarheit und Akzeptanz genau die, die sie war. Bemerkenswerter Weise geriet die ganze Unterscheidung, wer Patient und wer Therapeutin war, völlig in Vergessenheit. Vielleicht reduzierte sie sich auch nur auf eine wertfreie, nicht hierarchische Unterscheidung – wie etwa auf die, welche Person grün trug und welche blau.

Ich maße mir nicht an, diese kleine persönliche Einsicht mit der Erleuchtung Buddhas gleichzusetzen. Zum einen gehen solche Momente schnell vorbei. Zum anderen verschafft sich unser altbekanntes Gefühl rasch wieder Geltung, dass etwas fehlt, etwas falsch ist. Aber solche Momente geben uns einen kleinen Einblick in eine andere Art, uns selbst zu sehen, die uns zu weiterem Üben anspornen kann. Wir stellen uns vor, dass die Erleuchtung Buddhas total und durchschlagend war, dass problematische Aspekte seines früheren Charakters behoben, alle Anhaftungen oder Täuschungen aufgelöst, alle Fragen beantwortet waren. Für den Rest von uns kommt die Verwirklichung nie ein für alle Mal. Alte Zweifel und alte Gewohnheiten werden immer wieder an die Oberfläche kommen, so dass wir uns unser Leben lang immer wieder mit ihnen auseinander setzen müssen.

Aber unsere Zweifel und alten Gewohnheiten gehören dazu, wie wir als Sterne funkeln. So wie Krankheit, Alter und Tod. Und Täuschung und Freude – das ganze Spektrum des Lebens, so wie es ist. Die folgenden Koans können uns helfen zu sehen, wer wir wirklich sind, vor allem die Teile unseres Selbst, von denen wir uns trauriger Weise aus dem einen oder anderen Grund versucht haben abzuwenden. Wir haben die Augen verschlossen vor Teilen des Lebens, die wir reflexartig zu schmerzhaft fanden, um sie zu wahrzunehmen oder direkt anzuschauen.

Wie Shakyamuni müssen wir in der Lage sein, aufzublicken und zu sagen: „Das bin ich.“

Kapitel 2: Wer, ich?

Mu

Ein Mönch fragte Chao-Chan (jap. Joshu): „ Hat ein Hund Buddha-Natur oder nicht?“ Chao-Chu antwortete: „Mu“.

In der Zen-Überlieferung heißt es, dass Shakyamunis große Erleuchtung wiederum von seinem Dharma-Erben Mahakashyapa verwirklicht wurde, der sie daraufhin an Ananda weitergab, und so weiter bis in unsere Zeit. Während die Tradition einer ununterbrochenen Transmission von einer Person zur nächsten historisch nicht belegt werden kann, glauben wir im Zen, dass Shakyamunis ursprüngliche Offenbarung tatsächlich für jeden von uns verfügbar ist. In den klassischen Koansammlungen wurden Geschichten von dieser Einsicht und ihrer Weitergabe zusammengestellt. Sie sind ein Zeugnis für die Möglichkeit von Realisation und ein Werkzeugkasten dafür, diese Erfahrungen in unseren eigenen Leben zu reproduzieren. Für Generationen von Zen-Schülern war das Koan Mu das erste und oft auch wirkmächtigste dieser Werkzeuge.

Die Praxis von Mu wird uns in „Chao-chou’s Hund“ vorgestellt, dem ersten von achtundvierzig Fällen im Mumonkan, einer Koan-Sammlung aus dem dreizehnten Jahrhundert. Robert Aitken übersetzt Mumonkan als „Die torlose Barriere“. Frühere Übersetzer haben es „Das torlose Tor“ genannt. Um unsere Praxis, und besonders die Praxis von Mu, beginnen zu können, ist es sehr wichtig, diesen Titel richtig zu verstehen. Was sagt er uns?

Wenn wir zum ersten Mal von einer torlosen Barriere hören, stellen wir uns vielleicht vor, dass es sich um eine undurchdringliche Schranke ohne jegliche Öffnung handelt. Meister Wu-men, der das Mumonkan zusammengestellt hat, nennt sie „die Barriere der Ahnenlehrer“ und fordert uns heraus, durch sie hindurch zu gehen. Es ist so, als ob die alten Lehrer diese Barriere um ihren Eliteclub der Verwirklichung gezogen hätten und keiner, der nicht das Passwort besitzt, eintreten dürfte. Immer und immer wieder fordert uns der Lehrer heraus: „Was ist MU?“. Wir probieren jeden Spruch aus, der uns einfällt, von Abracadabra bis Zen, aber nichts funktioniert, jede Antwort wird abgelehnt. Solange wir davon überzeugt sind, dass das Tor verschlossen ist, können wir es nie öffnen.

Aber eigentlich meint die Torlosigkeit von Mu genau das Gegenteil von undurchdringbar: das Tor und das Leben selbst sind genauso wie sie sind, weit offen für uns – und tatsächlich ist da wirklich nirgendwo eine Barriere. Und warum gibt es dann ein Problem? Warum ist es so schwer, durch Mu hindurchzukommen? Einfach weil wir diese Offenheit in unserem Leben nicht erfahren. Wir haben die Empfindung, dass es überall Barrieren gibt, innen und außen – Barrieren, die wir nicht anschauen oder durchschreiten wollen, Barrieren von Furcht, Ärger, Schmerz, Alter, und Tod. Wir denken, dass all diese Arten des Leidens unseren Weg blockieren. Wir begreifen nicht und vertrauen auch nicht darauf, dass sie selbst Tore sind. Alles ist ein Tor und wir können von überall aus eintreten.

Dieser Lernprozess ist die harte Arbeit unserer Praxis: zu erkennen und uns einzugestehen, dass wir uns selbst diese Barrieren ausgedacht und aufgerichtet haben. Nur wenn wir wirklich bereit sind, das Territorium zu betreten, vor dem sie uns abgeschottet haben, werden wir uns in diesem weit offenen, schrankenlosen Leben wiederfinden, das Wu-men uns zeigen möchte. Auf der grundlegendsten Ebene dreht sich diese alte Geschichte um Chao-chou, einen Mönch, und einen Hund. Es geht um das Problem der Trennung, um die künstlichen Barrieren, die wir in uns selbst und zwischeneinander erleben und die uns vom Leben, so wie es ist, abschneiden. Und Wu-men bietet uns als Technik die Konzentration auf dieses eine Wort „Mu“ an, als einen Weg, diese Barrieren niederzubrechen. Indem der Schüler vollständig von Mu absorbiert wird, wird er damals wie heute zuerst gegen seine eigenen Barrieren stoßen, und indem er dann sein ganzes Bewusstsein, seine ganze Welt mit Mu füllt, werden diese Barrieren zusammen mit allem anderen in dieses eine Wort hinein verschwinden. Wu-men fasst diese verschiedenen Arten von Barrieren mit der einfachen Formulierung „hat und hat nicht“ zusammen und macht sie zum Paradigma unserer dualistischen Gedanken und Konzepte. Wenn Wu-men vom „großen Zweifel“ spricht, können wir die überwältigende Verwirrung und Perplexität des Mönchs nachfühlen, der versucht, ein intellektuelles Verständnis von Chao-chous wahrhaft unverständlicher Antwort zu erlangen. Warum antwortet Chao-chou „Mu“, was „nein“ bedeutet, wenn jeder buddhistische Novize weiß, dass die Antwort „ja“ sein sollte, dass jedes fühlende Wesen Buddha-Natur hat?

Das Paradox in Chao-chous Antwort entsteht aus dem Konflikt zwischen dem, was der Mönch intellektuell als richtige Antwort kennt, und seinem eigenen tief verwurzelten Gefühl, dass es eine unüberbrückbare Kluft gibt zwischen der exklusiven, spirituellen Welt der Buddha-Natur - Millionen von Meilen entfernt – und der realen Welt von Hunden und elenden, gewöhnlichen Mönchen wie ihm selbst. Diese Kluft scheint so real zu sein, aber sie wird dennoch von seinen eigenen Gedanken und seiner eigenen Voreingenommenheit von „haben und nicht haben“ erschaffen.

Heute sind wir besser dafür gerüstet, die emotionale Unterfütterung unserer Barrieren zu sehen. Wu-mens „rotglühende Eisenkugel“, die wir weder herunterschlucken noch ausspucken können, ist ein Bild dafür wie es sich anfühlt, dieses schmerzhafte Empfinden des Getrenntseins in den Griff zu bekommen. Wir wissen nicht, wie wir diesem Getrenntsein entkommen sollen. Wir praktizieren, indem wir uns auf all diese inneren Barrieren, eine nach der anderen, konzentrieren. Es sind besonders die emotionalen Barrieren von Angst, Schmerz, Leere und Ärger, die sich als harte Knoten körperlicher Spannungen manifestieren. Das sind wirklich rotglühende Eisenkugeln. Das sind Gefühle, von denen wir uns immer fern halten wollten, und um sie auf Abstand zu halten, haben wir Barrieren zwischen uns und dem Leben aufgebaut. Augenblick für Augenblick nehmen diese Barrieren im Zendo die Form von „Das ist es nicht“ an: Dieser Moment ist nicht das, was ich will, was ich erreichen will oder wer ich werden will. Nicht nur das ist es nicht, Ich bin es nicht. Ich bin nicht, wer ich sein will.

Wir sind unserer Ganzheit so entfremdet, dass wir es nicht hinbekommen daran zu glauben, dass ich schon die Antwort auf meine Frage bin. Als ich nach meinem medizinischen Examen meine Assistenzzeit im Krankenhaus antrat, konnte ich mich lange Zeit nicht daran gewöhnen, „Dr. Magid“ genannt zu werden. Wer, ich?

Mu ist emotionales Fliegenpapier. All unsere Probleme fangen an, darum herum zu schwärmen und irgendwann daran festzukleben. Mir ist klar, dass ein Streifen klebriges Fliegenpapier, das mit toten oder halbtoten kämpfenden Fliegen bedeckt ist, als Bild weniger großartig ist als die rotglühende Feuerkugel, die in deinem Schlund feststeckt. Aber es spricht einiges dafür, das Drama aus unseren Kämpfen herauszunehmen und sie besser kläglich und alltäglich zu finden als episch. Eine dieser Fliegen ist die Macho-Fliege - eine großtuerische, lärmige Bremse, die zäher als alle anderen ist, bereit, alles auszuhalten, unempfindlich gegen Schmerz und gierig nach jeder Herausforderung, je härter desto besser. Die traditionelle Sprache des Kampfes mit Mu lässt diese Fliege unweigerlich auftauchen. Dann gibt es eine zerbrechliche kleine Eintagsfliege, schwach und ängstlich, „Das kann ich nicht“, oder „Nie werde ich gut genug sein.“ Vielleicht steckt ein gewisser Nutzen darin, schwächliche Eintagsfliegen in angeberische Bremsen zu verwandeln, aber beide enden auf dem Fliegenpapier.

Wir sind im Griff unserer unbewussten Glaubenssätze gefangen – Glaubenssätze, die aus unseren Heilungsphantasien entstanden sind und formulieren, was unser Leiden beenden wird: „Wenn ich nur frei wäre von…Wenn ich das nur haben könnte…“. Diese Glaubenssätze können jahrelang außerhalb unserer bewussten Wahrnehmung bestehen und sich als gesunder Menschenverstand tarnen.

Ich habe oft gesagt, dass die Psychoanalyse paradoxerweise ein Prozess ist, in dem wir dahin kommen, unseren tiefsten Gefühlen zu misstrauen. Wir befragen alles, von dem wir dachten, dass es auf dem Spiel steht, wenn wir Teile von uns und unserem Leben nicht in Schach halten können. In der Analyse wie im Zen muss es uns möglicherweise schlechter gehen, damit es uns besser gehen kann. Was als therapeutische Regression bezeichnet wird, kann beinhalten, dass der Patient abgewehrte Gefühle von Verletzlichkeit, Abhängigkeit und Bedürftigkeit aufsteigen lassen kann. Die Fassade von Konformität und Anpassung, die wir der Welt zeigen, kann zu bröseln anfangen und wir fühlen uns vielleicht zunehmend nackt und ausgesetzt. „Großer Zweifel“ ist Wu-mens Name für den Prozess, all diese inneren Barrieren abzubauen. Lange Zeit haben wir vielleicht bloß das Gefühl, dass Mu – und unsere Unfähigkeit, es zu lösen – nach und nach alles abreißt, was wir kennen und worauf wir uns in der Vergangenheit verlassen haben. Aber genau in der Mitte von Zweifel und Nicht-Wissen passiert es, dass unser übliches, gewohnheitsmäßiges Denken und unsere Abschottung von der Welt ihren Klammergriff aufgeben. Wir können erst dann wirklich Mu werden, wenn wir schließlich mit dem Versuch aufgehört haben, es zu verstehen.

Das ist es, was der Zen-Lehrer vom Schüler erfragt, „was ist Mu“ – das ist genau dasselbe wie die Frage: „Was ist das Leben?“ Du kannst es nicht von außerhalb des Lebens beantworten, indem du es untersuchst und deine Beschreibung anbietest. Du musst selbst die Antwort werden.

Genau wie unser Leben ist auch unsere Praxis: sowohl einfach als auch schwierig. Wie wir wissen, sind die Schwierigkeiten zahllos und unendlich. Buddha fasste sie alle unter der allgemeinen Rubrik „Leiden“ zusammen. In der Therapie können wir ein gewisses Maß an Wohlbefinden und Erleichterung erreichen: indem wir jemanden haben, der untersucht und versteht, was wir durchmachen. Wir haben eine natürliche menschliche Sehnsucht, verstanden zu werden, und das Verstanden werden selbst gibt uns eine Art Stärke, uns den Schwierigkeiten zu stellen, die das Leben mit sich bringt. Wir haben eine ebenso menschliche Sehnsucht, unserem Leiden zu entkommen. Sich Verstanden fühlen bietet auch einen unterstützenden Rahmen, innerhalb dessen wir die Wirklichkeit des Leidens anschauen und erleben können, statt uns mit einer unserer üblichen Taktiken des Verdrängens oder Vermeidens abzulenken. Während Therapie gut dafür sein mag, die Schwierigkeit in unserem Leben zu erkunden, hat sie traditioneller Weise keinen Weg geliefert, die grundlegende Einfachheit unseres Lebens tief zu erfahren.

Ob wir Mu praktizieren oder nur sitzen, wir lassen uns nieder in die Einfachheit des Augenblicks, in die Vollkommenheit und Unmittelbarkeit dieses Moments. Dieser Moment, so wie er ist, ist alles was ist. Dieser Moment, so wie er ist, ist genau, vollkommen, was er ist. Dieser Moment, so wie er ist, passiert nicht mir oder in meinem Geist. Was passiert, ist die ganze Welt, von der ich ein untrennbarer Teil bin, genau hier, genau jetzt. Es gibt keinen Ort, an dem man außerhalb dieses Moments stehen könnte, außerhalb meiner selbst, außerhalb der Welt. Dieser Moment, dieses Selbst, diese Welt, alles ein Ding, alles Mu.

So oft stellen wir uns vor, wir bräuchten eine Erklärung dafür, warum die Dinge so sind wie sie sind. Wir wollen wissen, warum wir leiden, warum wir alt werden, warum wir sterben. Wir schauen uns unsere Praxis an und mögen uns fragen, warum wir sitzen, warum wir uns verneigen? All diese Fragen werden auf jeder Ebene in der Erfahrung von Mu aufgelöst. Wir finden heraus, dass überhaupt nichts hinter unserer Erfahrung steckt, was sie erklärt oder rechtfertigt.

Warum sind wir lebendig? Wir sind lebendig! Warum leiden wir? Wir leiden! Warum sterben wir? Wir sterben. Es ist, wie wenn man fragt: warum schwimmen Fische? Es sind Fische! Warum scheißt der Bär im Wald? Und warum ist der Papst katholisch?

Obgleich die grundlegende Praxis in unserem Zendo Shikantaza, oder „nur sitzen“, ist, biete ich Schülerinnen und Schülern manchmal die Gelegenheit, mit Mu zu sitzen. Ich behandle es aber nicht als ein Einstiegskoan oder gebe es unterschiedslos dem einen wie dem anderen. Ich behandle es nicht als Barriere, die durchbrochen oder durchschritten werden muss. Ich möchte die Studierenden nur mit Mu sitzen lassen, wenn sie geübtere Beobachter ihrer eigenen Prozesse sind, ob durch die Praxis des Sitzens oder die der Therapie. Ich möchte, dass sie in die Lage kommen, all die emotionalen Dualismen zu erleben, die Mu hervorruft, und sich mithilfe des Koans aktiv mit ihren Konflikten und ihrem Selbsthass auseinanderzusetzen.

Wir praktizieren Mu in einer Art, dass Mu alles in sich selbst absorbiert. Wir benutzen Mu, um tiefer in unsere Körper und unsere Gefühle zu gelangen, nicht um unsere Gefühle wegzustoßen. Es ist, wie wenn du dich von deinem Freund trennst, und während du all den Schmerz und das gebrochene Herz fühlst, brichst du in eine klagende und herzergreifende Version eines alten Patsy Cline Songs aus. Je mehr du deinen Verlust fühlst, desto nachdrücklicher singst du, und desto mehr beinhaltet und verstärkt der Song alles, was du fühlst. Jeglicher Unterschied zwischen dir, deinem Schmerz und dem Lied verschwindet. So ist es mit Mu. All der Schmerz und die Frustration und das Urteilen werden Mu. Mu wird alles, und gleichzeitig ist Mu einfach nur Mu. All unser Schmerz und die Gefühle und Gedanken sind einfach Schmerz, Gefühle und Gedanken. Jeder Moment ist das, was er ist. Es gibt nichts zu tun und nirgends hinzugehen. Keine Barriere und kein jenseits der Barriere.

Wir sehen, dass das „nein“ von Mu nicht das Gegenteil von „ja“ ist.

Es ist die Verneinung von Unterscheidung, die Verneinung der Gegensätze. Mu verneint die Unterscheidung von „hat“ und „hat nicht“. Mu leugnet, dass es einen Unterschied zwischen „Hund“ und „Buddha-Natur“ gibt. Mu löst alle Grenzen auf indem es die instinktive Tendenz unterläuft, unsere Erfahrungen in „mögen“ und „nicht mögen“ aufzuteilen, in Selbst und Andere, in das Bewunderungswürdige und das Beschämende, in das was wir sein möchten und das, was wir zu sein befürchten. Mu zieht alles in eine undifferenzierte Gegenwärtigkeit.

Mu ist eine machtvolle Praxis, die in der Tat die Augenbrauen aufeinander folgender Generationen von Zen-Studierenden miteinander verschlungen hat. Diese Macht kommt nicht ohne einen Preis oder eine Fallgrube daher. Es besteht die sehr reale Gefahr, dass Mu selbst benutzt werden kann, um die emotionale Realität eher zu vermeiden oder zu umgehen, statt sich direkt mit ihr auseinanderzusetzen. Wenn ein Studierender es als einspitzigen Fokus der Konzentration benutzt, kann er oder sie Jahre damit verbringen, alles außer Mu aus der Wahrnehmung auszuklammern. Statt dass alles hineinkommen und Teil von Mu werden kann, drängt sich Mu hinaus in die Welt, stößt alles zur Seite, füllt alles mit Mu aus. Wir sollten uns an Dogens Worte erinnern, dass „das Selbst vorzutragen, um die Myriaden von Dharma zu bestätigen, Täuschung ist; das Hervortreten der Myriaden von Dharma, um das Selbst zu bestätigen, Realisierung ist“.

Mu ist ein machtvoller Generator von Samadhi, ein Weg, in einen bestimmten Bewusstseinszustand zu kommen, der zeitweise den Schmerz und die Verwirrung des täglichen Lebens verbannt. In der Tat ist es großartig, in einen Zustand zu kommen, der Schmerz verbannt - aber wie alle Schmerzmittel kann er süchtig machen. Wir können stolz werden auf unsere Anstrengung und unsere Energie, in Samadhi zu kommen. Wir genießen die Freude, die es bringt, und nach und nach wird es immer mehr Ziel der Praxis, in diese selige Oase zu gelangen. Obgleich Mu eine Welt ohne Trennung und Unterscheidung aufschließt, kann die subjektive Erfahrung von Kensho, dem Moment, in dem alle Trennung abfällt, berauschend oder sogar gefährlich sein. Wegen der Intensität der Erfahrung selbst fassen die Studierenden das Erleben des Sich Öffnens fast unvermeidlich als eine „Erfahrung“ auf, die sie „gehabt haben“. Paradoxerweise kann eine momentane Erfahrung der Nicht-Trennung sofort in das Unterscheidungssystem einer Person eingebaut und zum Treibstoff für den ultimativen Dualismus zwischen Täuschung und Erleuchtung werden.

Plötzlich haben wir ein neues Modell, wie wir unseren Geist gern hätten, ein neues Bild von Freiheit von all den Aspekten unserer selbst, die zu spüren wir vermieden haben. Selbst wenn sich der Moment der Verwirklichung möglicherweise genau dann ereignet hat, wenn alle unsere Anstrengungen und Hoffnungen, ihn zu erlangen gescheitert sind und uns weit offen und verletzlich zurückgelassen haben, stehen unsere tief verankerten Systeme von Selbsthass und Selbstverbesserung nur allzu bereit, um diese neue Erfahrung in ihre zwanghaften Bemühungen einzugliedern.

Wir können uns in einem selbstgemachten neuen Dualismus verfangen, einer, der die Verwirrung, die wir außerhalb des Sitzkissens empfinden, stark gegen das Gefühl von Ermächtigung setzt, das wir fühlen, wenn wir sitzen. Unsere anfänglichen Versuche, dieses Gefühl der Ermächtigung weg vom Kissen hinein in unser Leben zu bringen, riskieren, eine Funktion unseres vorbestehenden Egoismus zu werden. Wir fangen vielleicht an, uns als besondere Menschen zu betrachten, mit einer mächtigen esoterischen Praxis, die nur einer kleinen Elite zugänglich ist. Und schließlich können wir uns vorstellen, wir seien in den ausgewählten Zirkel der alten Lehrer eingetreten. Arroganz und Narzissmus (in Form der Vertiefung in unsere Befindlichkeiten und unsere Errungenschaften) sind die allzu häufigen Nebenprodukte einer Praxis, die sich verloren hat. Mu ist eine machtvolle Medizin gegen die Krankheit der Selbstbezogenheit, aber wie bei jeder Medizin ist es gut, sich der möglichen Nebenwirkungen bewusst zu bleiben.

Unsere erste Erfahrung der Verwirklichung ist wahrscheinlich radikal widersprüchlich – ein „Durchschauen“ der Leerheit von Sitten, Regeln und sozialen Normen gegenüber einem befreienden Gefühl von ungezügelten, grenzenlosen Möglichkeiten. Obgleich dieser erste Schritt in einer Hinsicht radikal befreiend sein kann, kann er in einer anderen Hinsicht radikal entfremdend sein, wenn er uns abschneidet von einem Gefühl der Zugehörigkeit, der Teilhabe an all den positiven Aspekten der Tradition, der Verwandtschaft, und der Gemeinschaft. Wenn wir überall hingehören können (ein Sinn von „kosmopolitisch sein – ein Bürger des Universums), gehören wir eigentlich nirgendwo wirklich hin. In der Tat, als Diogenes der Zyniker erstmals erklärte, ein Kosmopolit zu sein, war das eine skandalöse Idee und nicht der Ausdruck eines liberalen Zugehörigkeitsgefühls zur ganzen Menschheit. Es hatte den Beigeschmack, keine Treue zu einem bestimmten Stadtstaat zu haben, ein Zustand tiefgehender Losgelöstheit von der Familie, der Sippe, und dem Herkunftsort. Diese Loslösung in eine entwurzelte Form der Freiheit ist das, was Alan Watts einst „Beat Zen“ nannte. Das ist kein Ort, an dem sich unsere Praxis aufhalten sollte, aber wie bei der Adoleszenz wäre es bedauerlich, wenn man es nicht wenigstens einmal erlebt hätte.

Wir sehen eine Version davon im Fall 4 der „Niederschrift von der smaragdenen Felswand“:

Als Tê-shan in Kuei Shan ankam, trug er sein Bündel mit sich in die Lehrhalle, die er von Ost nach West und von West nach Ost durchquerte. Er schaute um sich und sagte: „Da ist nichts, niemand“.

Aber als Tê-shan zum Tor des Klosters kam, sagte er: „Ich sollte aber doch nicht so grob sein.“ So ging er wieder zurück [in die Halle] mit der ganzen Zeremonie, um [Kuei-shan] zu treffen. Als Kuei-shan dasaß, hielt Tê-shan seine Sitzmatte hoch und sagte: „Lehrer!“ Kuei-shan griff nach seinem Stab, woraufhin Tê-shan einen Ruf ausstieß, seine Ärmel schüttelte, und fortging.

Da Tê-shan sich an seine Manieren erinnerte und zurückkehrte, um dem Meister formell seinen Respekt zu zollen, wollen wir ihn nicht ein für alle Mal der Kategorie des Beat Zen zuordnen. Und Kuei-shan selbst sagt vorher, dass sich dieser junge Schnösel eines Tages zu einem reifen Zen-Meister entwickeln wird. Aber wie der Kommentar zu diesem Fall sagt, war er in diesem Moment „vollkommen entblößt.“ Frei ja, aber auch in der Unkonventionalität verfangen, die ein Erkennungszeichen der Berauschung durch Leerheit ist.

Das Missverständnis bezüglich der Natur von Kensho, des Blickens durch die eigene Selbst-Natur, hat eine noch gefährlichere Nebenwirkung. Scheinbare Durchbrüche haben Rechtfertigungen dafür geliefert, im Prozess der Kultivierung einer eng fokussierten Ernsthaftigkeit psychologische Konflikte zu umgehen. Die Skandale und Fehlverhaltensweisen, die viele Zen-Gemeinschaften durchgeschüttelt haben, sollten retrospektiv als wichtige Hinweise auf die Natur und Begrenztheit so genannter Erleuchtungserfahrungen gesehen werden. Zu oft habe ich gehört, wie Studierende und Lehrende gleichermaßen versucht haben, die wiederholten Probleme auf eine Vielfalt verwandter Ursachen zu beziehen: die in Frage stehende Lehrperson war nicht „wirklich“ erleuchtet oder hatte ihr oder sein Training noch nicht ganz abgeschlossen, oder es gab irgendeine Unregelmäßigkeit, die die Legitimität seiner oder ihrer Autorisierung in Frage stellte. Die Implikation ist immer, dass diese Arten von Problemen gründlich ausgerottet wären, wenn dem traditionellen System rigoros gefolgt würde. Aber jeder, der die intime Geschichte des Zen in Amerika kennt, weiß, dass es nicht eine Handvoll schurkischer selbsternannter Lehrer war, die die meisten Probleme verursacht haben. Die Fehlverhalten wurde von den herausragendsten, untadelig ausgebildeten und offiziell ernannten Lehrern begannen.

Man kann nur die Schlussfolgerung ziehen, dass das traditionelle Zen-Training nie aus sich selbst heraus eine angemessene Behandlung für emotionale Konflikte, Charakterpathologie oder Substanzmissbrauch gewesen ist. Nur zu oft scheinen wir beides gleichzeitig haben zu wollen; kein Lehrender erhebt den Anspruch, dass Zen ein Allheilmittel ist, und gleichzeitig gehen viele Lehrer so vor, als ob ausreichendes Sitzen oder Koan-Schulung sich schließlich um alles kümmern wird und Psychotherapie nur denen verschrieben werden sollte, die unfähig sind, mit der Strenge des Trainings klarzukommen.

Viele persönliche Probleme, viele Arten des Leidens werden wohl im Lauf einer langen Praxis verschwinden, aber viele andere Arten von Problemen werden auch sicherlich auf jedem Niveau des Erreichten abgespalten, kompartimentalisiert, oder verleugnet.

In seiner Biographie beschreibt Jun Po Denis Keller eine Begegnung mit dem Dalai Lama, in der er und andere Lehrer dieses Thema des Fehlverhaltens von Lehrern aufbrachten. Der Dalai Lama behauptete, dass bei einem Lehrer, der ein solches Verhalten zeigte, die Verwirklichung einfach nicht tief genug wäre. „Wenn die Einsicht in deine wahre Natur tief genug ist“, erklärte er, „transformiert sie alle Teile von uns, so dass die grundlegende Güte und das Mitgefühl auf natürliche Weise aufsteigen. Das verhindert das verblendete Verhalten, das wir in solchen Fällen sehen“. „Bullshit“, sagte Jun Po und verwies auf die Jahrzehnte des Trainings von einem der Lehrer, inklusive zehn Jahre beim Dalai Lama selbst. Wie könnte irgendjemand behaupten, die Einsicht des Lehrers sei nicht tief genug gewesen? „Das ist, weil deine Einsicht nicht tief genug ist“ antwortete der Dalai Lama.

Ich neige dazu zu sagen, dass sie beide auf ihre Art Recht hatten. Die Aussage des Dalai Lama ist auf einer Ebene offensichtlich wahr; bei jedem, der aus selbstzentrierten Gründen heraus seine Studierenden sexuell ausbeutet, ist die Verwirklichung nicht ausreichend tief. Aber die Diagnose ist eine Tautologie, per Definition kann das Verhalten nicht mit wirklicher Realisierung zusammengehen. Das Problem, wie es Jun Po aufzeigte, besteht darin, dass es keine zuverlässige Korrelation gibt zwischen Jahren der Praxis und dem Erreichen aller anderen verfügbaren Kriterien (zum Beispiel Absolvieren des Koan-Studiums, Autorisation zur Lehre, oder irgend so etwas), und der Transformierung des Charakters, die garantieren würde, dass solches Fehlverhalten nicht auftaucht. Was sagt es über die Wirksamkeit der Trainingsmethode, wenn ein Lehrer mit Jahrzehnten der Praxis und Lehrerfahrung, mit von seinen Lehrern anerkannten Kensho-Erfahrungen keine „hinreichend tiefe“ Realisierung hat, damit seine Schüler sich bei ihm sicher fühlen können? Es fordert auch die Frage heraus, ob es nicht zuverlässiger wäre, die Fähigkeit, sich an die Gebote zu halten, also ethisches Verhalten, in etwas allgemeiner Verfügbarem zu begründen als vollständiger Erleuchtung.

Wenn der Grad der Realisierung, über den der Dalai Lama spricht, unser Kriterium ist, sieht es so aus, als ob wir es mit der spirituellen Variante einer Lotterie zu tun hätten, in der der große Preis nur an eine Person unter Millionen geht. Klar, viele von uns werden auch als Zweitplatzierte einigen Nutzen davon haben, aber das „wirkliche“ Ding ist so selten, dass es praktisch unerreichbar ist. Wir könnten sogar fragen, was die Rollenschulung überhaupt für eine Bedeutung dabei hat, jemanden wie den Dalai Lama hervorzubringen. Wie bei der musikalischen Ausbildung für Mozart könnte es eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung gewesen sein, damit sich sein Genie entfaltet. Nicht jeder könnte, unabhängig davon, wie lange und hart man übt, diese Genialität (oder Tiefe der Erleuchtung) erreichen. Ganz gleich wie lange und viel jemand übt – es macht aus Salieri keinen Mozart, aber es hilft dem Salieri in uns, zu akzeptieren, dass wir Salieri sind, und uns nicht damit zu quälen, dass wir kein Mozart sind.

Wir sollten in der Lage sein, unsere Praxis nicht am Vorbild von seltenen und außerordentlichen Individuen zu beurteilen. Wichtig ist, was sie für 08/15 Studierende und Lehrer, wie wir es sind, hervorbringt und was nicht. Ich wette darauf, dass eine synergistische Integration buddhistischer Praxis mit psychoanalytischer Therapie dazu beiträgt, den Nutzen für uns andere zu erhöhen.

Kapitel 3: „Wer hat dich in Fesseln gelegt?“

Seng-ts’an (jap. Sosan), der Dritte Patriarch, wurde von einem vierzehnjährigen Novizen gefragt: „Bitte, Meister, sei so gnädig und erlaube mir, dich nach der Lehre der Befreiung zu fragen“. Der Meister fragte: „Wer hat dich in Fesseln gelegt?“ Der junge Mönch antwortete: „Niemand hat mich gefesselt“. Der Meister fragte: „Warum suchst du dann immer noch nach Befreiung?“

Versionen dieser Frage können wir an vielen Orten und in vielen Traditionen finden. Sie würde in den Schriften von Epiktet oder anderen stoischen Philosophen nicht fehl am Platz erscheinen. Freiheit bedeutete für die Stoiker zuallererst unterscheiden zu lernen, was unter unserer Kontrolle ist und was nicht. Die äußere Welt wird von Zufall und Kräften regiert, die außerhalb unserer Kontrolle sind. Sie reichen vom rein Physischen (wie Krankheit und Naturkatastrophen) zu anderen Menschen und deren Urteilen über uns. Die Stoiker lehrten, die Domäne der wahren Freiheit sei unser inneres Leben. Das einzige, was in unserer Macht steht, sind unsere Gedanken und Urteile und die Fähigkeit, eine Behauptung für wahr oder für unwahr zu erkennen.

Dieser junge Mönch war bemerkenswert – er wurde durch diese Worte erweckt und wurde später der vierte Patriarch. Die meisten von uns wissen, dass niemand anderes als wir selbst uns in Fesseln gelegt haben. Aber dennoch sind wir nicht in der Lage, die psychologischen Knoten zu lösen, die uns so eng binden. Für die meisten von uns hat uns irgendetwas anderes, irgendein unzugänglicher Teil unserer selbst, gefesselt. Das Knüpfen der Knoten ist das Ergebnis irgendeines unbewussten Prozesses – eines Vorgangs, an dessen Schritte wir uns nicht erinnern und dessen Ergebnis wir nicht im Griff haben.

Die Arbeit der psychoanalytischen Therapie besteht darin, nach und nach aufzudecken, wie wir uns eingeengt fühlen und in welchem Zusammenhang von Emotionen und Beziehungen die Ketten geschmiedet wurden. Ein typisches Narrativ könnte sich auf die Ängste unserer Eltern beziehen, wenn sie mit dem natürlichen Ausdruck von Aggression, Verspieltheit oder reifender Sexualität ihrer Kinder konfrontiert sind. Nur zu oft vermitteln die Eltern die Botschaft, dass sie das spontane, überschwängliche Verhalten ihres Kindes nicht ertragen können und dass ihre Liebe davon abhängt, dass das Kind die Bandbreite seiner Gefühle unterdrückt. Um sich die sichere Bindung an die Eltern zu erhalten, lernen Kinder möglicherweise, nicht nur, keinen Ärger zu zeigen, sondern Ärger erst gar nicht zu fühlen. Sie lernen nicht nur, keine Verletzlichkeit oder Bedürftigkeit zu zeigen, sondern sich selbst erst gar nicht zu erlauben, irgendein Bedürfnis zu fühlen. Möglicherweise werden Ärger, Bedürftigkeit, Spontaneität der Kinder abgespalten, unterdrückt oder dissoziiert, so dass sie sich nicht länger als Teil ihrer selbst anfühlen. Weil sie in den Untergrund geschickt wurden, können diese Gefühle vor sich hin gären und in einem neuen Beziehungszusammenhang als verbotenes, perverses, suchterzeugendes oder zwanghaftes Verhalten wieder auftauchen. Wenn Abhängigkeit und das Bedürfnis nach Beruhigung nicht anerkannt und als unberechtigt zurückgewiesen werden, können sie sich in Form von Suchtverhalten und masochistischen oder submissiven Beziehungen mit Gewalt in unser Leben zurückkämpfen.

Wie das Gesetz der Erhaltung der Energie in der Physik formuliert die Psychoanalyse das Gesetz der Unausweichlichkeit. Jessica Benjamin beschreibt es so: „...etwas, das aus dem psychischen Raum herausgestoßen wird…muss woanders hin…ebenso taucht das, was man sich weigert außerhalb anzuerkennen, als ein gefährlich bedrohendes inneres Objekt wieder auf .“ Scheinbar streben wir unvermeidlich nach einer unerreichbaren Einheit, nach einem konfliktfreien Gefühl unserer selbst als gut, idealistisch, mitfühlend. Oder wir sprechen umgekehrt all diese idealisierten Eigenschaften jemand anderem zu, einem erleuchteten Buddha zum Beispiel, während wir in uns ein Bild unseres Selbst aufrecht erhalten, das von Täuschung, Begierden, Ärger und Anhaftungen beschmutzt ist. Wir spalten unsere immanente Ganzheit ab und projizieren sie auf einen idealisierten, erleuchteten Anderen. Das Bild unserer Perfektion verkleiden wir mit dem Deckmantel des Strebens, aber in Wirklichkeit erlauben wir diesem Bild, uns zur Bestrafung ständig daran zu erinnern, dass wir für immer zu kurz greifen, für immer hoffnungslos unser Ziel verfehlen. Alternativ können wir unsere Begrenztheiten und Ambivalenzen auf andere projizieren: auf die Partnerin, die nicht meditiert, auf die äußere Welt, die im Materialismus versinkt, auf den Anfänger, der auf dem Kissen neben uns einfach nicht stillsitzen kann.

All diese Versuche, unerträgliche Eigenschaften zu „nicht ich“ zu machen, vergiften letztendlich unsere Erfahrungen von den anderen und von der Welt. Im Versuch, auszuscheiden, wessen wir uns schämen, pinkeln wir in unser eigenes Schwimmbecken unserer Beziehungen und sind am Ende beschmutzt statt gereinigt. Genau das, was wir aus Schuldgefühlen, Scham oder Angst tief in uns zu vergraben versuchen, wird als innerstes, geheimes Selbst erscheinen, weil es jetzt in der Tiefe unserer Psyche steckt. Leugnung und Unterdrückung werden so zu selbsterfüllenden Prophezeiungen. Weil ich nicht über das sprechen kann, wofür ich mich am meisten schäme, wird es buchstäblich und metaphorisch unaussprechbar. Es wird das „Ich“, das niemand kennt, und so muss ich fürchten, dass es das „wahre“ Ich ist.

In der Therapie wie in der Meditation sind wir hin- und hergerissen zwischen zwei Bedürfnissen. Das eine Bedürfnis möchte, dass wir uns endgültig transparent machen, durch und durch gesehen und erkannt werden. Das andere ist eine ebenso mächtige und der ersten entgegenwirkende Phantasie, dass wir das beschämende und verborgene Ich ein für alle Mal ausgemerzt oder es im Triumphzug unseres idealisierten oder erleuchteten Selbst in noch tiefere Abgründe getrieben haben.

Die Lösung muss aus einer anderen Richtung kommen. Jessica Benjamin erläutert: „Differenz, Hass, Unfähigkeit zu lieben können nicht deshalb überwunden werden, weil das Selbst eins wird, sondern weil es seine Gespaltenheit tolerieren kann.“

Diese Toleranz entsteht dadurch, dass wir das, was wir ausgeschlossen hatten, wieder zu uns nehmen. Wir eignen uns wieder unsere Vollkommenheit und unser Versagen an. Wie Prospero in Shakespeares „Sturm“ müssen wir im Angesicht von Caliban in der Lage sein zu sagen: „…dieses Ding der Dunkelheit / erkenne ich als meines an“.

Wie können Koans diese unbewussten Prozesse thematisieren? Leider können sie es meistens eben nicht, und die Befreiung, die wir in einem Teil unseres Lebens spüren, lässt uns in einem anderen Teil in Fesseln zurück. Aber ganz sicher schließt das Koan für einen Prozentsatz von Menschen das Tor auf und wir können uns dort frei bewegen, wo wir uns früher eingesperrt gefühlt haben. Als der junge Novize Tao-hsin (jap. Doshin) den dritten Patriarchen nach der Befreiung fragte, stellte er in gewissem Sinne einfach nur eine Standardfrage, so wie viele der Mönche in den Koan-Geschichten als Komparsen für die Meister dienen. Aber damit die Antwort des Meisters den entsprechenden Erfolg haben konnte, musste das Gefühl des jungen Tao-hsin, in Fesseln zu sein, eine quälende Intensität haben. Er investierte in das, was nichts als ein Cliché hätte sein können, reale, persönliche Gefühle. Das ist die Herausforderung der Koan-Praxis: eine tausend Jahre alte Geschichte zum Vehikel der Konzentration und Ausformulierung unserer eigenen aktuellen Dilemmata zu machen. Wenn unsere Frage - egal, ob in unseren eigenen Worten oder in Worten, die wir übernommen haben – ernsthaft auf unseren emotionalen Kern zielt, dann kann eine Antwort in der Tat zu einem Wendepunkt werden und in einem Augenblick ans Licht bringen, was ein Leben lang in uns eingekerkert war.

Es bleibt die Frage, was genau als „Fesseln“ zählt, oder als ihr Gegenteil, als „Befreiung“. Ein vierzehnjähriger Mönchsnovize im China des sechsten Jahrhunderts war (nach unseren zeitgenössischen Standards) gefesselt von einem rigiden System materieller und kultureller Begrenzungen, die jeden Aspekt seines Lebens einschränkten. Wenn wir in unserer Vorstellung den Novizen durch ein vierzehnjähriges Mädchen ersetzen, wäre das Ausmaß der äußeren Zwänge in ihrem Leben noch offensichtlicher und dramatischer.

Aber die Fesseln, auf die sich der junge Mönch bezieht, sind nicht sozialer, kultureller, oder politischer Art, sondern vollständig im Inneren und psychologisch. Dieser Blick auf die „inneren“ Fesseln impliziert das Bild eines Geistes, der von seinen eigenen Begierden, Vorstellungen und Anhaftungen eingeschränkt ist, die sozusagen spontan ganz aus dem „Inneren“ der Person aufsteigen. Im buddhistischen Kontext können wir von unserer Konditionierung und dem Entstehen aller Phänomene in wechselseitiger Abhängigkeit sprechen. Doch unser Hang zu Täuschung und Anhaftung ist gewissermaßen angeboren und Teil dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

Wir haben es hier nicht mit einem Modell des Geistes zu tun, in dem das Innere durch die Beziehungen einer Person bestimmt wird. Es geht hier nicht darum, dass wir etwa unser Bild von uns selbst, von den anderen und von unserem Platz in der Welt dadurch verinnerlicht haben, wie wir in einer bestimmten Familie, mit bestimmten Eltern und Geschwistern aufgewachsen sind. Es geht nicht darum, ob die Atmosphäre liebevoll oder vernachlässigend war und entweder dafür aufmerksam war oder ignorierte, wer wir sind und was unsere entwicklungsbedingten Bedürfnisse waren. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass das buddhistische Bild des Geistes und seiner besonderen Neigung zur selbstverursachten Gefangenschaft ähnlich wie bei Freud mit seiner Triebtheorie aus unserer angeborenen biologischen und menschlichen Natur hervorgeht. Ausgehend von der Natur der Realität (die nach Freud unsere Phantasien frustriert und die für Buddha unbeständig und unkontrollierbar ist) führen unsere Begierden - ob sie sich um Sex, Anhaftung, Kontrolle oder Dauerhaftigkeit drehen – unvermeidlich zu dem, was wir als Leiden beklagen.

Wir können uns zumindest teilweise vorstellen, was den jungen Novizen quälte. Ich glaube nicht, dass die Vierzehnjährigen sich in tausend Jahren so verändert haben, dass sexuelle Phantasien und Masturbationsdruck nicht Teil ihrer inneren Kämpfe und Qualen waren. Durch die Masturbation bekommen Heranwachsende die ersten und klarsten Lektionen zu den zwei Wegen von Selbstkontrolle und Selbstakzeptanz.

Sehen sie, ihre Eltern und die Gesellschaft ihre Sexualität als etwas Normales, an dem man sich erfreuen kann, oder als den Prototyp einer schlechten Gewohnheit, als erstes Suchtverhalten, dass sie lernen müssen zu beherrschen? Reine Selbstakzeptanz kann leicht zur Genusssucht führen; kaum ein Jugendlicher dürfte spontan lieber Hausaufgaben machen, als sich mit Pornographie zu beschäftigen, wenn er die Wahl hat. Aber der alternative Weg der Selbstkontrolle kann bedeuten, dass er fortwährend im Krieg mit sich selbst liegt. Er kann vielleicht diesen Krieg gewinnen und auch stolz darauf sein, aber das Leben bleibt eine ständige Schlacht. Jeder Erwachsene, der je versucht hat, eine Diät durchzuziehen, kennt dieses Dilemma. Wählst du den Weg des ewigen Kämpfens und der fortwährenden Wachsamkeit, oder den Weg der Akzeptanz, auf dem du dir das Stück Kuchen und die Eiscreme gönnst und dein Gewicht so sein lässt, wie es ist?