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Ein Bauernhof, eine Kleinstadt, ein Haus am Fluss, eingebettet in das durch Eiszeitgletscher geformte Geländeprofil Süddeutschlands. Sie bilden den Erfahrungsraum dieser autobiografischen Erzählung, in dem sich die deutsche Geschichte spiegelt. Die äußere Gegend wird dabei zur inneren Landschaft. Aufgewachsen in einem Landstrich, der lange nicht alles preisgegeben hat, was im Nationalsozialismus etwas gegolten hat, vor allem Zucht, Unterordnung und Gehorsam, sind es besonders ältere Geschichten, die sich in der Landschaft wie im eigenen Leben Volker Demuths eingelagert haben, Geschichten von Aufbegehren, Freiheitsdrang und einem schwierigen Glück. Vom Bauernkrieg des 16. Jahrhunderts über den Zweiten Weltkrieg und die Adenauer-Zeit bis in die globalisierte Gegenwart führt die literarische Reise durch Erinnerungen, Bedeutungen und Mythen. Die Lebensorte werden dabei zum Fahndungsraster einer schmerzlichen und zuletzt befreienden Spurensuche und dem Versuch einer Antwort auf die Frage, wo man hingehört und wer man ist.
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Seitenzahl: 385
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Volker Demuth
Besichtigung einer Lebenslandschaft
Was tat, was suchte ich hier?
Wieder in einem Landstrich mit dem Großvaterbauernhof und der Kindheitskleinstadt zu leben, nachdem ich viel und weit weg gewesen war, das stellte mir irritierende Fragen.
War es womöglich das: meine Lebenslandschaft? Aber sofort meldete sich etwas in mir, das diesen Ausdruck unter einen Vorbehalt stellte.
Hier lebe ich.
Und wenn ich diesen Satz da und dort zu jemandem sagte, fügte ich manchmal hinzu, an meinem Ort. Aber selbst jetzt, selbst nach so vielen Jahren, wollte sich ein eigenartiges Gefühl nicht vollständig verlieren.
Das Fern-Weh überfiel mich von Zeit zu Zeit, dann ging ich auf Reisen. Aber das Nah-Weh, das mich selten verließ, was konnte man dagegen tun?
Der Dorfbauernhof
Randlage Kleinstadt
Das Haus am Fluss
Sätze am Fluss
Auf dem Großvaterbauernhof, wo es neben dem Großvater, der Großmutter und deren acht Kindern zwei Schweine, dazu ein paar Hasen und Hühner gab, außerdem drei Kühe, die Milch lieferten und, eingespannt ins Fuhrwerk, im Sommer den Heuwagen zu ziehen hatten, war von großen Angelegenheiten nie die Rede. Es ging um das, was das Alltägliche hieß, um die Dinge, die einem am nächsten lagen und die es brauchte, damit das Jahr in jener verlässlichen Gleichmäßigkeit vor sich gehen konnte, die fast alles war, was man sich erhoffte. Geschichte ist nicht, was man will. Geschichte ist, was man bekommt. Das war ein Wissen, von dem man nicht sprechen musste, um es doch an jedem neuen Tag und mit jeder Verrichtung, die der Bauernhof erforderte, zum Ausdruck zu bringen.
Davon gibt es nichts mehr. Es ist alles verschwunden, bis auf die Erinnerungsspuren, die ein paar Körper noch eine gewisse Zeitspanne mit sich herumtragen. Und doch macht dieses Verschwundene, das dabei ist, sich endgültig aus der Welt zu verlieren, lediglich einen winzigen Teil all dessen aus, womit sich die Vergangenheit Tag für Tag füllt. Trotzdem, es gibt in mir diesen Gedächtnisstaub, dessen Wirbel und Verklumpungen vermutlich nicht einer Ordnung von Ereignissen und Erinnerungen angehören, in der die Gespenster der Vergangenheit tatsächlich gebannt sind.
Wahrscheinlich begann mich deshalb die Frage von einem bestimmten Zeitpunkt an mehr und mehr zu beunruhigen, ob mein Gehirn bloß ein privates Souvenir aufbewahrte, ob ich nichts als sentimentale Spurensicherung betrieb, einen privaten Devotionalienhandel mit sinnlosen Bildern. Oder verbarg sich in jener Abwesenheit, der allein die eigene Erinnerung für eine Weile standhält, womöglich doch ein Erbe, das es wert sein würde, aufgespürt und ans Licht gehoben zu werden? Nur, mir war absolut nicht klar, worin jene eigentümliche Erbmasse bestehen könnte, nach der eine, sagen wir, Archäologie des Abwesenden hätte suchen sollen. Fragen, die nicht zuletzt von der Mutmaßung durchzogen und vielleicht auch angetrieben waren, bei meiner Nachforschung könnte sich etwas – ein dunkles, schmerzliches Wissen – von dem finden, der ich selbst bin. Das Bedürfnis danach jedenfalls wird spürbarer, und ich schäme mich nicht einzugestehen, dass die Selbstungewissheit mit jedem Jahr, das ich lebe, zunimmt.
Der Bauerngroßvater hinterließ mir zwei Dinge. Einen Sessel und eine Taschenuhr. Der Sessel, bezogen mit rotem Samt – er hatte in der Bauernstube gestanden, neben einem kleinen Holzofen, wo der Großvater am Sonntag stets seinen Stumpen rauchte, in einer feierlichen Untätigkeit –, diente der Katze in meinem Arbeitszimmer jahrelang als Schlafplatz, ausgenommen während jener Stunde, in der ich nachmittags Tee trank und irgendetwas überarbeitete, das ich gerade geschrieben hatte. Die Uhr, Marke Junghans, stammte aus dem Schwarzwald, wo sie um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert hergestellt worden war. Schon bevor sie auf mich überging, hatte sie lange niemand mehr aufgezogen. Sie ging nur noch ungenau und schließlich überhaupt nicht mehr. Um sie benutzen zu können, musste ich sie irgendwann in Reparatur geben. Seither habe ich das bereits mehrere Male wiederholt, so auch wieder vor einigen Wochen. Trotzdem kommt es weiterhin vor, dass die Uhr, bevor ein Tag verronnen ist, aufhört zu ticken oder dass sie plötzlich für eine Weile aussetzt und die Zeit in Form von zwei goldenen, hübsch verzierten Zeigern um Minuten oder eine ganze Stunde versetzt. Etwas Unschuldiges hängt ihr an, dieser Uhr, und eine dunkle Ahnung, die mich, gleich einem Memento, daran hindert zu vergessen, wie ungewiss es einmal war, die Zeit zu messen. Eine zuverlässige Komplikation von Genauigkeit.
Auf dem Großvaterbauernhof – diesen Satz hatte ich bereits seit längerem im Kopf, als Anfang einer Geschichte, von der ich nicht genau wusste, wohin sie mich führen würde –, wo es neben dem Großvater und der Großmutter noch zu meiner Kindheitszeit jene zwei Schweine, dazu ein paar Hasen und Hühner gab, außerdem drei Kühe, ging die Rede, dort hätten sich seinerzeit die ersten jener Gedrückten und Beschwerten getroffen, welche, bald von einer rasch wachsenden Anzahl Gleichgesinnter umgeben, eine erstaunliche Rolle innerhalb von Ereignissen einnehmen sollten, die in den Geschichtsbüchern bis heute unter der Überschrift »Bauernkrieg« geführt werden. Mein Gedächtnis hat eine lebhafte Erinnerung davon bewahrt, wie ich als Kind darüber reden hörte. Aus dem Mund des Bauerngroßvaters oder von irgendjemandem sonst. Aufmerksam folgte ich dem Bericht über jene Handvoll Verdrießlicher und Unwirscher, die hier im Bauernhaus, hieß es, sich zusammengefunden hätten.
Tatsächlich lebte man ganz selbstverständlich in dieser Geschichte – wie man auch in jener anderen lebte, die dem Schweigen angehörte, aus dem ich sie irgendwann, viel später, würde zu lösen versuchen müssen –, und jeder auf dem Hof schien über die Sache, die mich durch die Kindheit begleitete, im Bild zu sein. Dabei muss es wohl an dem in meinen Ohren ungewöhnlichen Ton gelegen haben, mit dem von all dem gesprochen wurde, wodurch sich meine Hellhörigkeit und Neugier endgültig geweckt und ich mich irgendwann veranlasst sah, genauer nachzufragen, was damals denn eigentlich vorgefallen sei und wie es sich verhalten habe, einst, als aus Bauern Aufständische geworden waren. Bald fiel mir auf, dass auf meine Fragen die fast gleichen Sätze geduldig wiederholt wurden, und ich, wie Generationen vor mir, auf diese Weise allmählich zum Träger einer Geschichte wurde, die auf dem Großvaterbauernhaus lag und nicht verstummen wollte. Weil sie hier, längst zum Teil der Familienlegende geworden, seit Jahr und Tag schon hauste.
Es hieß beim Erzählen: damals, früher, vordem. Oft auch: seinerzeit. Wörter, die, ähnlich wie in der Schule der Zeigestock des Lehrers auf die Tafel, sich auf etwas Rätselhaftes richteten, die Vergangenheit. Allerdings vermochten sie mir, den die Zeit, oder was auch immer, noch keine zehn Jahre mit sich führte, nicht viel zu sagen. So wenig wie die Jahreszahl 1525, falls sie, was ich nicht mehr mit Sicherheit sagen kann, je erwähnt wurde. Überhaupt waren Zahlen nicht so wichtig wie Erzählungen. Wobei mir heute vorkommt, es war gerade die zeitliche Unschärfe, die meiner Vorstellung jenen unerlässlichen Raum eröffnete, worin jene Dinge und Geschichten untergebracht werden konnten, die ich in dem Bauernhaus vorfand.
Auf solche Weise stattete ich, während ich in diesen Jahren dachte, da wäre noch etwas, das nur ich kannte, die Bühne der Familienüberlieferung mit realen Requisiten und Kulissen aus. Der abgetretene Küchenboden, die niedrigen Türen, die halbhoch mit dunklem Holz vertäfelten Wände. Darüber fleckige, hellgrüne Kalkfarbe. Mit der Zeit, in der das Rückwärtige mehr und mehr einen eigenen Raum einzunehmen begann, sollte ich merken, es war dies keineswegs einfach ein Theater oder eine Guckkastenspielerei. Das Haus, das ich nach und nach und Winkel für Winkel für mich entdeckte, war vielmehr noch immer jenes Haus von damals. Es war unnötig, dass ich es mit Fantasien ausstaffierte. Die Vergangenheit lebte noch immer darin, abwesend und gegenwärtig zugleich. Etwas, das von Zeit zu Zeit erwachte. Etwas Gespenstisches, das mein kindliches Gespür wahrnehmen zu können glaubte.
Natürlich war ich nicht ansatzweise imstande, dasjenige, was sich hier allmählich vor mir auftat, diesen dämmrigen, lebenssatten Raum, in Worte zu fassen. Irgendwie jedoch wusste ich, er umfasste Eindrücke, Gefühle, Ahnungen, die rein gar nichts mit jener mir schon damals in der Schule stumpfsinnig erschienenen Heimatkunde zu tun hatten, welche sich im Ausmalen von Kartenstempeln und Auswendiglernen von Berg- und Städtenamen erschöpfte. Tatsächlich begann ich im Bauernhaus der Großeltern ein Gespür für einen Ort zu entwickeln, an dem vieles verschwunden und unsichtbar geworden war, das dabei jedoch nicht aufgehört hatte, Teil und Wirkkraft der Gegenwart zu sein, selbst wenn ich mich nicht in der Lage sah, mir irgendetwas davon erklären zu können.
Ich weiß nur, für mich umschloss das Haus eine eigentümliche Erinnerung. Es bot sich mir wie ein großer Körper dar, in dem ich mich bewegen, worin ich herumgehen und dessen Innenleben ich betrachten konnte. Wie den Leib der aufgebrochenen Schlachtschweine im Hof. Das Haus war durchwoben von Gerüchen und Schatten. Es war belebt von Gegenständen, die ich kannte. Und auch von solchen, die ich nicht kannte, die mir rätselhaft blieben. Zusammen mit den Menschen, die sie gebraucht hatten, gehörten sie längst der Vergangenheit an. Gleichwohl wurde hin und wieder von dem einen und anderen erzählt, und dabei überkam mich nicht selten das Gefühl, jene Person kehre für die Dauer des Erzählens plötzlich hierher zurück.
Ganz ähnlich erging es mir mit den Dingen, die sich in den Zimmern des Bauernhauses befanden. Auch sie schienen mir von einem geheimen Leben erfüllt. Jedenfalls stellte ich sie mir als Teil des lebhaften Treibens vor, das hier herrschte und von jeher geherrscht haben muss- te. Jedes einzelne Ding nahm, und meine Fantasie kannte da kaum Grenzen, Anteil an der Umtriebigkeit und den täglichen Geschehnissen, wenn auch in der ihm eigenen stummen, beharrlichen Weise. Wartete der Mostkrug denn nicht den Nachmittag über auf dem Tisch geduldig auf den Großvater, der am Abend vom Feld hereinkam? Hob die Marienstatue, vom roten Flackerschein des Ewigen Lichts beleuchtet, nicht ihre Schutzhände beständig über alle? Und die Bodenklappe in der Küche, hielt sie nicht die klamme Dunkelheit des Erdkellers und alles, was sich dort an Unheimlichem aufhalten mochte, mit ihrer hölzernen Schwere zurück?
Es war die Zeit von Regen und Sommern, nicht von Geschichte. Aus dem Geruch gedämpfter Kartoffeln, von Rauchfleisch und der vermischt mit Krautgeruch aus dem Erdkeller aufsteigenden Mostsäure setzte sich die Atmosphäre einer Zeitlosigkeit zusammen, von der ich, sobald ich den ersten Schritt ins Bauernhaus machte, unwillkürlich umfasst wurde wie von einer vertrauten Umarmung. Zusammen mit dem schwachen Tageslicht in der Küche – es fiel durch ein kleines Fenster und erreichte kaum den Tisch an der gegenüberliegenden Seite – brachte das jene weiträumige Stille hervor, in der für mich alles vorstellbar wurde, sogar eine vollkommen andere Zeit. Und ich vermochte es mir nicht anders zu denken, als dass diese andere Zeit eine vergangene Zeit sein würde und in ihr jener Moment, als das Haus – wie hätte ich daran Zweifel hegen sollen? – seine besondere Rolle gespielt hatte, damals, als es, so wiederholten sich in mir jetzt die Sätze, Raum bot für jene, die nicht länger geschunden und leibeigen sein, die gegen ihr Untertanenleben aufbegehren wollten.
Es muss dieselbe Zeit von Regen und Sommern, von jahrein und jahraus gewesen sein, bevor die Geschichte einsetzte. Auf den Äckern und in der Kirche drehte sich das Jahr, von Ernte zu Ernte, von Allerheiligen zu Allerheiligen. Dann aber bricht etwas anderes durch. »Es ist Zeit.« Thomas Müntzer wiederholt diesen Satz zwei Mal, als er die thüringischen Bergleute am 26. April 1525 dazu aufruft, den Lauf der Dinge zu unterbrechen und eine andere Zeit zu beginnen. Jene der Geschichte, ihrer eigenen Geschichte. Müntzer weiß, dieser angespannte Augenblick, der mit seinen unerhörten Möglichkeiten alles Bestehende herausfordert, verlangt nach der prophetischen Ausdrucksweise von Verhängnis und Verheißung. Das zittert – was ich viel später mit einer sonderbaren Ergriffenheit las – noch in der Chronik des Johann Kessler nach: »Dann als die stund verhanden, so diß solt anzündt werden, hat sich begeben in der fasnacht (wie man es nennet), do man zusamenwandelns pfligt, sind iren by sechs oder siben buren in ain dorf by Ulm, Baltringen genannt, zusamen komen.« So soll sie begonnen haben, die Empörung der Bauern in Schwaben. Und die deutsche Ansteckung, der Brand.
Der Urgroßvater, er starb bereits lange vor meiner Geburt, hatte das Haus in dem oberschwäbischen Dorf Baltringen 1890 im Mannesalter von sechsundzwanzig Jahren erstanden. Kurz darauf heiratete er und gründete darin eine Familie. Damit hatte er den Schritt in eine neue Zeit als Hofbesitzer, in eine neue Stellung in der Welt gewagt. Das war nichts Geringes. Genügend Anlass hatte er immerhin, sich Gedanken und sicher auch Sorgen zu machen. Die Vorfahren, deren Reihe sich bis ins siebzehnte Jahrhundert zurückverfolgen lässt, waren Siebmacher und Tagwerker gewesen und nicht selten Armenhäusler. Und die Seele war durch das Aufwachsen geeicht worden von diesen lang zurückreichenden Erfahrungen.
Nie zuvor hatte es in dieser Genealogie von Deklassierten einen gegeben, der die Möglichkeit oder den dazu erforderlichen Mut besessen hätte, den Anfang der Eigenständigkeit zu machen, sei es aus störrischer Unbeugsamkeit oder plötzlich erwachtem Stolz. Trotzdem muss der Zukunftswille überwogen haben, die Hoffnung, aus etwas herauszukommen und ein Leben loszuwerden, in dem man viel zu lange festgesteckt hatte. Was also dachte er sich dabei, dieser junge, zum Gründungsmut bereite Mann? Hatte er sich vielleicht anstecken lassen vom Fortschrittsgerede der Zeit? Wo sah er seinen Platz in diesem Land der territorialen Fetzen, das Bismarck unlängst zum Kaiserreich vernäht hatte, jener knurrige Kanzler, der in diesem Jahr hatte abdanken müssen? Interessierte sich der frische Hofbesitzer denn dafür oder ergriff er nur den günstigen Augenblick, war die Zeit doch nicht immer so vielversprechend gewesen und sie würde es nicht immer sein?
Und beschäftigte er sich überhaupt mit der deutschen Frage, die nach der Eingliederung der süddeutschen Staaten in das neue Deutschland ein für alle Mal gelöst schien und in der Geschichte gewiss nie wieder auftauchen würde? Dachte er nach über die von Bismarck angestrebte »Emanzipation der Landgemeinden«? Was hielt er von dem prägenden Mann seiner Zeit, der, sosehr er sich als Europapolitiker und Reichskanzler sah, doch der altmärkische Landjunker blieb, dem zeitlebens »ein unabhängiges Familienleben auf dem Land« als Ideal vorschwebte, während das Kommunistische Manifest die »Idiotie des Landlebens« verächtlich gemacht hatte? Welcher Seite neigte der Mann vom Lande in seiner schwäbischen Provinz zu? Und dann, diese bäurische Dickköpfigkeit des Kanzlers, mit der er den Einfluss der Kirchen zu beschneiden anschickte, sich aber dabei unverändert als »Gottes Soldat« betrachtete, für den die Verwirklichung der christlichen Wertansichten der letzte und unverrückbare »Zweck des Staates« zu sein hatte, was für ihn auch hieß, Juden von höheren Staatsämtern auszuschließen.
Das Meiste davon hätte der Urgroßvater wohl gutheißen können, obgleich in diesem Landstrich am unteren Rand des zweiten deutschen Kaiserreichs der Argwohn gegenüber dem tonangebenden Preußen weiß Gott nicht verschwunden war. Und auch Bismarcks spätere Annäherung an die politischen Vorstellungen des Zentrums kann ihm kaum zuwider gewesen sein. Denn das Zentrum schloss in der Gegend Oberschwabens Mentalität, Glaubensgefühl und Politik so fest in sich ein, wie das keine andere politische Partei tat. Daran hielt man hier, wo man mit geschichtlichen Umbrüchen seine Erfahrung gemacht hatte, beharrlich fest, nicht nur in der Zeit vor der Jahrhundertwende. Und nicht ganz zufällig hatte gerade da jener Politiker seinen Wahlbezirk, der die Friedensresolution des Reichstags durchgesetzt und am 11. November 1918 den Waffenstillstand von Compiègne unterzeichnet hatte. Hier – und das hatte dann schon mit der Geschichte des Großvaters zu tun – wollte niemand dem Erzberger einen Dolchstoß anlasten, für den andere die Politik bald verantwortlich machen würden, nämlich dem gewiss in Kürze schon weltkriegssiegreichen deutschen Militär in den Rücken gefallen zu sein. Eine Beschuldigung, aus deren ideologischem Bodensatz fieberhaft die giftigen Keime eines neuen, diesmal faschistischen Militarismus gezüchtet wurden. Nein, in diesem Landstrich wurde Matthias Erzberger, der Minister der Weimarer Republik, noch lange nach seiner Ermordung durch Rechtsextremisten verehrt, jedenfalls in einem Grad, den man bei Politikern für angemessen halten wollte. Noch zu einer Zeit, als der Hof schon in zweiter Generation stand und an meinen Großvater übergegangen war.
Aber dachte der Urgroßvater über derartige Dinge nach, über die Winkelzüge einer Macht, auf die er keinen Einfluss hatte? Ich weiß es nicht, denn nichts davon hat sich bewahrt, weder schriftlich – denn wer schon hätte das aufschreiben wollen? – noch in mündlich weitergegebenen Erinnerungen. Falls er sich allerdings ähnliche Gedanken machte, wie ich sie ihm heute in meiner Vorstellung manchmal zuschreibe, so raubten sie ihm doch nicht die Zuversicht, etwas Eigenständiges zu beginnen, indem er diesen Bauernhof kaufte. Im Gegenteil. Der Urgroßvater schien sich etwas zu versprechen von jenen Jahren am Ende des Jahrhunderts, das anderswo in ein zukunftsmüdes Fin de Siècle austrudelte. Kaum anzunehmen, dass er einen Hauch jenes Raffinements verspürte, mit dem sich ein bürgerlich-städtischer Feinsinn seine ästhetische Ex- zentrik einredete und sich auf dekadente Genüsse kaprizierte. Dort, wo er sich entschieden hatte, seine Existenz in eine neue Bahn zu lenken, galt dergleichen nichts. Worum es auf dem Hof von jetzt an gehen würde, war die so viel schlichtere und so viel mühseligere Aufgabe, eine Grundlage fürs Überleben zu schaffen, die verlässlich war. Er brauchte dazu ein paar Tiere im Stall und einige Morgen Land. Es ging um nichts weniger als um eine arbeitsame Zufriedenheit und die Bewirtschaftung eines schwierigen einfachen Glücks.
Ich habe dann am Großvater, der schon ein paar Ackergeräte und einen Traktor angeschafft hatte, sehen können, wie das Tage und Jahre füllte, vom ersten Morgenlicht bis zum Abend, wenn die Kühe gemolken und die Milch schließlich zur Molkerei gebracht war. Der Großvater, die Großmutter, sie haben dem Hof, den Dingen, dem Erhalten gedient. Wie man in der Gegend sagte: der Sach. Sie, auch sie, waren zeitlebens sachdienliche Menschen. Umso mehr bewegt mich die Frage, ob der Urgroßvater im Tagwerk überhaupt die Ruhe finden konnte, womöglich an Sonntagen oder in einer späten Tagesstunde, sich mit irgendetwas anderem zu befassen, beispielsweise jenem gehässigen Tonfall, der zwischen den Ländern auf dem Kontinent eingerissen war oder dem, was als soziale Frage die Geister beschäftigte. Trieb ihn um, was da im Land passierte, in Schlesien etwa oder im Ruhrgebiet, diese mächtigen Streiks der Bergarbeiter? Und nicht bloß dort rumorte es, auch anderswo schlossen sich jene zusammen, die unten standen in der Gesellschaft. Bewegte das sein Denken, und wenn, sah er es als eine Gefahr oder als Zeichen des Aufbruchs, des Wandels? Debattierte er darüber am Sonntagmorgen nach dem Kirchgang in der Dorfwirtschaft?
Und wieder befällt mich das Gefühl einer deprimierenden Leere: Es existiert nichts, was mir über seine Gedanken Aufschluss geben könnte, was mir die Beweggründe mitteilen würde, die ihn von Tag zu Tag und darüber hinaus umtrieben. Und spätestens jetzt, da ich hier Satz an Satz füge, weiß ich peinigend genau, mehr als die ungefähre, brüchige und unbefriedigende Chronik einer verschwundenen Welt kann mir kaum gelingen. Und doch, auch das Wenige, die dünnen Spuren und einfachen Wegmarken, es soll hier seinen Platz bekommen. Was davon ist also wirklich verschwunden? Vieles, alles, denke ich fast immer. Doch kaum gedacht, kommt es mir falsch und irreführend vor. Es klingt wie etwas, das man vorgibt, wenn man Nachfragen aus dem Weg zu gehen trachtet und sich davon zu überzeugen versucht, dass sie keine Bedeutung mehr besitzen. Und vermutlich aus diesem Grund hat sich in mir die Frage nach und nach mit einer wachsenden inneren Unruhe verbunden, ob die Vergangenheit sich in Wirklichkeit nicht so sehr verloren als vielmehr verwandelt hat, in etwas, das, nicht immer leicht auszumachen, in der Gegenwart fortlebt. Tragen wir denn in uns das Vergangene nicht in die Zukunft weiter?
Gleichwohl ist der Urgroßvater – und seine Frau, was ist mit ihr, könnte ich mehr als ihren Namen hersagen? – einer unter so vielen, die stumm bleiben in der Geschichte. Wenn ich trotzdem an meinem Vorsatz mit so bewusster wie verfänglicher Sturheit festhalte, ein Erinnerungsbild heraufzubeschwören, dann hauptsächlich deswegen, weil jene Menschen, die wortlos hinter einer Geschichte verschwinden, die angeblich uns allen gehört und für uns alle gemacht ist, in Wahrheit gleich doppelt verschwinden. Zuerst vom Erdboden und ein zweites Mal aus dem Jenseits einer Vergänglichkeit, die allein im Erzählen Gestalt gewinnt und die imstande ist, die Zeit wie durch Bannzauber ein winziges Stück zurückzudrängen.
Ich sehe den Neubauern, der vieles noch zu lernen, auf eine Menge von Dingen zu achten hat, um die landwirtschaftlichen Erträge, die oft kaum die kleine Familie ernähren, auch in diesem Jahr – 1893, 1899, 1905, 1911 … – einzubringen und daneben seine bescheidene Schusterwerkstatt nicht zu vernachlässigen. Wie viel Klee durfte man den Hasen geben, damit sie zwar gut abwuchsen, doch nicht an der Trommelsucht starben? Wie war das Euter der Kühe mit Fett zu behandeln, um es vor Entzündungen zu schützen? Wie die Gerste mit Handwürfen zu säen, ohne dass sie zu dicht stand und faulte oder zu licht ohne Halt beim kleinsten Windstoß umfiel?
Aber sehe ich damit schon deutlicher, was den Urgroßvater anspornte, und komme ich ihm zumindest ein Stückchen näher, indem ich den Raum, der ihn umgab, schärfer zu sehen versuche? Es bleibt mir keine andere Wahl. Also: Besaß der Urgroßvater womöglich ein Interesse für politische Assoziierung? Es wäre denkbar, denn immerhin waren es nicht zuletzt die Baltringer Bauern gewesen, die, ausgehend von kaum mehr als einer Handvoll, sich Verbündete gesucht hatten – erzählte man sich noch auf dem Urgroßvaterbauernhof und später, unter meinen staunenden Augen –, als sie, »wie dann zu der zit der buren bruch, von ainem dorf zum andren als zu iren nachburen umbzogen«. Man habe, so Kessler im zeitgenössischen Bericht weiter, miteinander gegessen und getrunken, dann sei man vereint zum nächsten Dorf weitergezogen. So tat man sich zusammen. Bis am Ende ein großer süddeutscher Bund geschlossen werden würde, der sich vom Vorbild einer republikanisch verfassten Eidgenossenschaft leiten ließ.
Es gibt keine Antwort, ob dem Urgroßvater an dergleichen etwas lag. Gründe, ja, die hätte es dafür gewiss gegeben, sie lagen nahe. Obgleich es mit »der eigenen Sach« seit einiger Zeit etwas besser geworden war und man sich nicht bloß selber zu versorgen, sondern sogar vom Erwirtschafteten ein wenig zu verkaufen in der Lage sah. Aber das konnte sich von einer Ernte auf die andere schnell ändern. Schon bald nachdem er sich zum Bauern gemacht hatte, musste der Urgroßvater erleben, wie ein nahezu regenloser Sommer das Futter fürs Vieh verdorren ließ und die Tiere im weiten Umkreis geschlachtet werden mussten. Notgedrungen. Und wieder kam der Hunger in die Gegend, wie schon mehrfach während des Jahrhunderts, wo er nicht wenige in Oberschwaben dazu gezwungen hatte, auszuwandern, in andere Weltgegenden davonzugehen. Das Elend konnte sich hinter jeder Ecke verstecken und die Leute durch die Welt scheuchen.
Trotz einer bleibenden Unsicherheit, da nun bin ich mir sicher, vermochte die Gründung des »Bunds der Landwirte«, drei Jahre nach dem Hof kauf, auf ihn, den süddeutschen Kleinbauern, wenig politische Bindungskraft auszustrahlen, handelte es sich doch vor allem um eine Organisation preußischer Großgrundbesitzer. Es war nicht schwer zu durchschauen, inwiefern der »Bund« mit seinem württembergischen Ableger, dem »Bauernbund«, an erster Stelle dem Zweck diente, jene Interessen und »Stützpunkte des alten Grundadels« zu verteidigen, deren Fundamente ein klarsichtiger Beobachter wie Max Weber bereits 1895 stetig, wenn auch nur langsam, zerbröckeln sah. Damit – und also mit jenen Landherren, die Fontane in diesen Jahren als »beleidigend unangenehme Selbstsüchtler« beschimpfte – hatte einer wie der Urgroßvater im neuen und wie man sagte: erstarkten Deutschland wenig gemein. Eine agrarische Bewegung, wie er sie sich, glaube ich, gewünscht hätte und von der die Anliegen sämtlicher Landbewirtschaftenden hätten vertreten werden können, blieb in der politischen Realität des Kaiserreichs beschränkt auf die Einflusswahrung von Großbauern.
Als ich, der Nachgeborene und von der Zeit entfernte Verwandte, dann Genaueres in Erfahrung bringen wollte, blieb nur der Weg, mir die gesellschaftliche Macht- und Ordnungsstruktur jener Zeit näher anzuschauen, in der sich der Urgroßvater hatte behaupten müssen. Nach allem, was ich in Erfahrung brachte, legte sich die Einschätzung nahe, die Kleinbauern des Deutschen Reichs existierten in einer Art Zwischenraum. Das Bewusstsein und die Unterstützung von »Klassen als Trägern von Machtinteressen«, von denen manche scharfsinnigen Köpfe damals zu reden begannen, lagen ihnen naturgemäß fern. Die Weltpolitik, ein Begriff, der unter den drei Kaisern des Reichs zum Schlagwort wurde, war ebenfalls wenig dazu angetan, bei einem wie dem Urgroßvater große Begeisterung zu wecken. Da dürfte die Skepsis, zumal in Jahrzehnten massiver Aufrüstung und eines europäischen Vormachtstrebens nicht zuletzt des deutschen Staates, doch einigermaßen groß gewesen sein. Bisher hatte so ziemlich jede Generation von Untertanen am eigenen Leib erfahren, was Weltpolitik bedeutete. Die ehrgeizigen, hochgreifenden Machtfantasien traten in den Niederungen ihrer Umsetzung früher oder später als Krieg und Verwüstung, Hunger und Misere an den Tag. Und schaute man sich die geschichtlichen Ambitionen europäischer Herrscherpolitik auch nur ein wenig genauer oder mit dem Instinkt derjenigen an, mit deren Fleisch und Knochen sie umgesetzt wurden, so ließ sich mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen, dass solche Bestrebungen für ein Bauernhaus und ein Hofleben von der Art des Urgroßvaters im Normalfall nichts Gutes verhießen. Das war Europas Erfahrung, die die unteren Bevölkerungsschichten seit Jahrhunderten miteinander teilten.
Allerdings konnte sich einer wie der Urgroßvater auch nicht einfach den Arbeitern zurechnen, die in Fabriken und Kohlegruben zu gehen und den Anweisungen ihrer Arbeitgeber zu gehorchen hatten. So gesehen war der Hofbesitzer, wie klein sein Besitz auch sein mochte, zwar nicht ohne Pflichten und Sorgen, doch frei. Die Arbeiter hatten daraus ihre Schlüsse zu ziehen begonnen. Wer die Gründungssätze der Deutschen Sozialdemokratischen Partei in ihrem Wortlaut ernst nahm, verfasst in des Urgroßvaters Jugendjahren, der musste sich als Bauer der »reaktionären Masse« zugehörig fühlen. So konnte er sich weder zur Klasse des Kapitals zählen, dazu reichten ein paar Hühner und drei Kühe nicht aus, dafür hätte er schon über mehrwertschöpfende Produktionsmittel verfügen müssen. Noch durfte er, dessen Tag in fast jeder Stunde mit Arbeit gefüllt war, sich zur Arbeiterklasse rechnen, denn er besaß Haus und Hof und war nun mal sein eigener Herr.
Wenn ich mir das jetzt vergegenwärtige, wird mir klar, dass einer wie der Urgroßvater innerhalb der Wirtschaftseinheit des Hofs, der seine Besitzer mit dem Nötigen versorgte, in Deutschland im Zwischenraum lebte. Dort übernahm man ein hergebrachtes Leben, tat, was sich frommte. Es war freilich eine selbstbewusste Frömmigkeit, die Fleisch und Seele gleichermaßen ihr Recht ließ, sie zumindest nicht mit der in Kirchen und Universitäten praktizierten theologischen Schärfe voneinander abtrennte. Nicht im Haus jedenfalls, wo gezeugt und gestorben, gebetet und gespeist, gestritten und gefeiert wurde. Das vermischte sich, verwob sich zu dem dichten Gewebe von Sinnlichem und Seelischem, von Handfestem und gläubig Überweltlichem, das das Leben war. Zu einer Geschichte aus Gerüchen und Geräuschen, Zimmern, Straßen und den inneren Landschaften von geteilten Erinnerungen und versteckten Empfindungen. Im Übrigen lebte man strikt nach den Verhältnissen, in denen man eben lebte, nie aber darüber. Man war unabhängig. Und Unabhängigkeit, das galt viel. Zudem war jetzt etwas Eigenes zusammenzuhalten und weiterzugeben. Sieht man es vom Urgroßvater her, so war dieses Leben zum ersten Mal nicht grund- und bodenlos.
Ich habe keinen Zweifel, dass er nicht vergessen haben wird, wie noch seine Eltern in dem ungesunden Bodensatz der nahezu rechtlosen, besitzlosen Schichten hatten ihr Leben fristen müssen. Von den darin Geborenen war kaum einer durchgekommen. Die Daten im Geburts- und Sterberegister liegen bei den Vorfahren meist eng beisammen. Es blieb nicht viel anderes übrig, als sich daran zu klammern, dass es eine nächste Schwangerschaft, eine nächste Geburt geben würde. Oder sich davor zu fürchten. Denn es wurde oft rasch gestorben. Etwas von diesem Schicksal lag auch auf dem Bauernhaus, und man hätte es vielleicht für einen Fluch halten können. Den Fluch der Mittellosigkeit und der Not. Wie oft hatte es nicht allein im neunzehnten Jahrhundert den Besitzer gewechselt. Es hatte mehrmals verkauft, zeitweilig sogar geteilt werden müssen. Überliefert ist, im Jahrhundert davor hatte es den Hofnamen »Wiesenmausers« getragen, was nur auf Habenichtse hindeuten kann, die sich mit der Bekämpfung der Wühlmaus- und Maulwurfplage Geld verdienen mussten, wie das die Rechnungsakten der Gemeinde als bescheidene Ausgaben verzeichnen.
Das Haus, der Hof war Teil der deutschen Geschichte des Elends. Und doch existierte daneben noch jene andere Geschichte, zu deren Schauplatz das Bauernhaus einen historischen Moment lang geworden war. Obwohl dieser Augenblick weit in der Vergangenheit lag, muss er für den Urgroßvater doch so etwas wie ein Versprechen für die Zukunft beinhaltet haben. Deshalb hielt er an der Geschichte fest, deswegen erzählte er das seinem Sohn weiter und der wieder dem seinen, wie es seit Menschengedenken im Dorf erzählt worden war. Man sei, damals, über die Dörfer gezogen, andere hätten sich angeschlossen. »Und in solicher gesellschaft«, so stolz hört es sich im Lautfall der Zeit an, »sind sy alle dondstag herumb geraiset und teglich an der zal zugenommen, biß in die vierhundert man.« Der schwäbische Rumor nahm von Woche zu Woche zu. Man müsse, ließ Müntzer seine Mitstreiter wissen, gar mächtig Achtung haben auf die neue Bewegung der jetzigen Welt. Von Allstedt aus, wo Müntzer das Predigtamt versah, hatte er zunächst Gesandte – »Landläufer« – hierher geschickt, dann war er im Spätsommer 1524 aus Thüringen selbst nach Schwaben hergereist. Dass es die alten Zustände nicht mehr tun, wird er da, wie sonst auch, gesagt haben. Jene Verhältnisse, die den armen Ackermann, die Handwerker und alles, das da lebe, schinde und ausnehme.
Von jeher unter einem Dach, Wand an Wand mit den Menschen, lebten im Bauernhaus die Tiere. Das Vieh, wie man hier sagte. Von der Küche aus waren es bloß zwei Schritte über einen schmalen Gang, dann noch fünf Holzstufen hinab, um in den Geruch gehäckselter Rüben und frischen Futterklees hineinzugelangen. Ich brauchte, in den Spuren von Jahrhunderten, jetzt nur noch den Eisenriegel der Holztüre zur Seite zu schieben, und schon stand ich im Stall. Ich weiß noch, wie der Weg dorthin eine fast magische Anziehungskraft auf mich ausübte. Kam ich aufs Dorf und hüpfte ich durch die Werktagstür in die Küche des Bauernhauses – die Sonntagstür blieb dem Tag des Herrn vorbehalten –, verging kaum eine Minute, und ich stand im Stall. Vielleicht verdankte sich jener innere Drang, der mich hinüber zu den Tieren zog, ein Stück weit aber auch der besonderen Art und Weise, womit die Bauerngroßmutter das Futter für Kälber und Ferkel anrichtete, wenn sie Milch mit Weizenschrot oder zerstampfte Kartoffeln auf demselben Herd in der Küche und mit derselben Bedächtigkeit bereitete wie die Mahlzeiten der Familie.
Die Großmutter, eine hagere, harsch wirkende Erscheinung, war niemals anders als in Schwarz gekleidet. Stets tritt sie mir in meiner Erinnerung so entgegen und nie anders als mit einer Arbeitsschürze vor Brust und Schoß. In den Linien ihrer Handflächen, ich habe das später bei keinem Menschen noch einmal gesehen, hatte sich die Erde in einer tiefen Rille festgesetzt und war nicht herauszuwaschen, sodass mir, dem Kind, diese dunkelbraune Lebenslinie wie eine Ackerfurche vorkam. Viel später schrieb ich in einer Erzählung einmal darüber, da war sie schon nicht mehr am Leben. Ich schrieb über die Mutter des Vaters, wie ich sie sah, wenn sie am Bauernhausherd hantierte, wo sich mit einer dicken Dampfsäule der erdsatte, dumpf-süßliche Geruch verbreitete, der »aus dem Kartoffeldämpfer der Bauerngroßmutter unter der niederen Küchendecke emporstieg, bevor die aufgeplatzten Erdäpfel, deren Inneres wie ein krankes Auge gelb leuchtete, zu den Schweinen gebracht wurden«. Und wie da für Sekunden die Härte aus ihrem Gesicht wich.
Vom Urgroßvater an kaufte oder pachtete man Ackerland, teils in der Riedebene, wo der Boden schwarz, feucht und fruchtbar war, teils oberhalb des Dorfs nahe dem Steinbruch. Der Steinbruch ließ noch erkennen, dass man sich am Grund eines abgewanderten Meeres befand, wenn aus Molasse und Mergel kleine spitze Haifischzähne – wie der Vater sagte – hervorkamen, von denen ich als Kind, genauso wie der Vater, als er Kind gewesen war, einige freigeklopft und gesammelt hatte und von denen ich später erfuhr, dass sie von Ichthyosauriern stammten. Manchmal, wenn die Erwachsenen etwas zu erledigen hatten und ich in einer Ecke des Bauernhofs Fantasien nachhing, versuchte ich mir das vorzustellen, die Tiefe, das endlose, dunkle Wasser und die tödlichen Räuber, die es durchschwammen, jene Welt, die es einmal gegeben hatte und die so gewiss verschwunden war, wie es jetzt an ihrer Stelle mich gab, den es einmal nicht gegeben hatte, und in solchen Momenten begann ich zu ahnen, dass es für jedes Lebewesen zwei Zeiten gab, seine eigene und eine andere, fremde, mit der es auf eine undurchsichtige, grausame Weise verbunden war.
Im Bauernhaus, das nicht sonderlich geräumig war, hatten zumeist nicht weniger als zehn Personen ihren Platz zu finden. Sich zurückzuziehen, um allein zu sein, war da nicht einfach. Überm Stall befand sich der Heustock, wo man auf einer Leiter in den Duft trockener Gräser und Kräuter emporstieg. Gab es auf den Wiesen kein frisches Gras mehr zu mähen, wurde morgens und wieder am Abend von da aus das Viehfutter heruntergeworfen. Im Herbst, nach dem Öhmden, türmte sich das Heu bis unter die krummen, alten Eichensparren des Ziegeldachs. Es war die Jahreszeit, in der es mir leichtfiel, bis in den Giebel hinaufzuklettern. Mehrmals hatte der Vater mir erklärt, das Fachwerk dort sei mit geflochtenem Riedschilf ausgefüllt, und man habe darüber seinerzeit einen Verputz aus Lehm und Stierblut gestrichen. Das halte schon seit Jahrhunderten. Meine Erfahrung hatte mir bereits gezeigt, es gab enge und weite Wörter. Jahrhundert gehörte, wie früher und damals, zu den weiten Wörtern.
Dort im Heu störte ich junge, kränklich aussehende Herbstkatzen in ihrem Schlaf, irgendwo flatterte eine Taube auf. Ich lehnte mich im Halbdunkel des staubigen Lichts an die Giebelmauer, und das Schilf in meinem Rücken mochte der Grund sein, warum meine Gedanken anderswohin gingen. An jenen Ort, zu dem der Vater mich bisweilen mitnahm, in der Herrgottsfrühe eines Sonntags. Wir fuhren in jenes Ried, wo er, seit er als Junge in der Gegend herumzustreunen begonnen hatte, mit jedem der sumpfigen Pfade vertraut war. Wortlos gingen wir durchs Faulbaumgestrüpp und Totholz, durchstreiften in einer Art stiller Ehrfurcht diesen Ort. Einmal fanden wir Fasaneneier, ein andres Mal einen mit dem Geweih in einem Drahtzaun verhedderten und dort verendeten Rehbock. Der Vater redete da auch nicht über den Baltringer Haufen, der sich, wie ich schon wusste, hier zusammengefunden hatte, Bauern und andere aus weitem Umkreis, um die Klagen gegen ihre Herren und Oberen zu sammeln und zu beratschlagen, »durch was mittel sy ie zu milterung irer beschwerden komen möchtend«.
Da ließ es sich, seinerzeit, nicht vermeiden, dass den weltlichen und geistlichen Herren auf Fürstensitzen, in Klöstern und Reichsstädten, zusammengeschlossen im Schwäbischen Bund die Zusammenrottung zwölftausend Unzufriedener, die sich nicht mehr dreinfügen, die nicht mehr untertänigst, willfährig, ergeben und duldsam über sich verfügen lassen wollten, zu Ohren kam. Und niemand konnte sicher wissen, wie die Obrigkeit, gegen die man vor Gott, nicht aber vor einem der weltlichen Gerichte des Reichs, Beschwerde zu führen gedachte, sich zu dem Aufruhr in Schwaben stellen würde. Man musste, nach aller Erfahrung, mit dem Schändlichsten jedoch rechnen. Das Ried mit seinem schwankenden, sumpfigen Untergrund, wo sogar, wusste ich vom Vater, Pferde versinken konnten, bot einen gewissen Schutz gegen Überrumpelungen und überraschende Angriffe. Dem feudalen Regime war jedenfalls nicht zu trauen, man war gewarnt von den Aufständen, die es unlängst im Breisgau, am Oberrhein oder durch den Armen Konrad auch in Württemberg gegeben hatte. Sich vorsehen gegen die Obrigkeit, das war jedem Bauer in Fleisch und Blut übergegangen.
Angesichts der während der Kindheit so oft gehörten Sätze, die sich mir im Kopf festgesetzt hatten, war es nur natürlich, dass ich der Geschichte irgendwann nachgehen musste. Und bei meiner Spurensuche nach dem, was sich in die Landschaft eingelagert hatte, konnte ich an mir selbst beobachten, wie die Vergangenheit Form annahm, wie sie sich ausdehnte, verdichtete und immer wieder auch veränderte. Ich begriff, wie der Unmutstumult der Zusammenkünfte dazu führte, dass man mehr und mehr Ermutigung zu widersprechen erfuhr. Dass jeder sich in die Fragwürdigkeit des Bestehenden einübte: Warum, wozu und für wen am vorteilhaftesten war das denn so, wie es war? Das agrarische Leben, das Bücken und Beugen bei den meisten seiner Tätigkeiten mit sich brachte, wollte ebendas im politischen Leben, wie es mittlerweile unter einem Feudalismus geworden war, der die Bauern als Geldquelle aus Fleisch und Boden betrachtete und sie hemmungslos ausbeutete, nicht mehr länger hinnehmen. Jetzt hieß es: sich aufrichten, aufstehen. Man wollte Rechtfertigung verlangen als Vorübung für Gerechtigkeit und setzte damit etwas in die Welt, das viel später erst, in der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts, seine ganze geschichtliche Kraft entfalten würde. Zunächst aber galt es, die unbotmäßige Widerrede zu erlernen und sich ein gewisses Maß an Unerbittlichkeit zuzumuten.
Die kleinbäuerliche Unabhängigkeit, verankert im Dorf als ihrem gemeinschaftlichen Rahmen, ließ der Herrschaft das Ihre. Zu viel durfte sie nicht fordern. Doch sie tat es. Aus Herrschaft wurde zunehmend Gewalt. Was, auch andernorts, schließlich die Courage zum Ungehorsam herausforderte. Und den Wagemut, gegenüber der Obrigkeit eine eigene Meinung von gerechten Verhältnissen vorzubringen und dafür gemeinsam einzustehen. So entstand jenes Bündnis des Protests, dem sich zwischen Allgäu, Bodensee und der Schwäbischen Alb weit mehr als drei Viertel der gemeinen Leute, »mans vnd weibspild«, anschlossen. Man verlangte eine spürbare Verringerung der Frondienste, man forderte, die Aneignung von Wäldern und Gemeindeland durch die Herrschenden müsse rückgängig gemacht und gerichtliche Willkür bei der Bestrafung abgestellt, hingegen ein wahrhaft gerechtes Rechtssystem eingeführt werden. Man diskutierte und fasste zusammen. Was dabei herauskam, waren zwölf kurze Artikel, in denen die Sprengkraft einer Revolution lag.
Mit den »Grundtlichen Vnd rechten haupt Artickel aller Baurschafft« war die einzige gedruckte Programmschrift der Revolte von 1525 entstanden. Und mit dem ersten warmen Frühjahrshauch des Jahres ging die Flugschrift in nahezu alle deutschen Fürstentümer. Gedruckt und wieder gedruckt, in Nürnberg und Straßburg, Breslau und Magdeburg und noch anderen Städten. Fünfundzwanzigtausend Stück, die da herumflogen, durch allerlei Hände gingen, »anderer länder tütscher nation embörung« anfachten und die nicht mehr einzufangen waren.
Mancherorts begann man schon, sich darauf zu berufen, insbesondere auf jenen ganz unerhörten, jenen dritten der Artikel: »das wir frey seyen vnd wollen sein«. Einem späteren Zeitalter war es vorbehalten, darin die erste Deklaration menschlicher Freiheitsrechte zu erkennen. Tatsächlich wurde nun nicht allein das Recht auf Leibeigenschaft zurückgewiesen, man begründete diese Ablehnung zudem auf eine ungeheuerliche Weise damit, dass alle Menschen gleich seien. Es sollte noch zweihundertfünfzig Jahre dauern, bis die Virginia Declaration of Rights jene Forderung nahezu wörtlich wiederholen und zum Grundsatz der Menschenrechte und einer demokratisch verfassten Gesellschaft machen würde.
Doch bereits zu ihrer Zeit erwiesen sich die zwölf Artikel aus Schwaben als politisch einschlägig. Als Sprengsatz hinterließen sie einen Krater in der Landschaft der Macht. Noch ein Jahr, nachdem die Forderungen formuliert worden waren, debattierten auf dem Reichstag Kurfürsten und Reichsstädte über das älteste Grundsatzprogramm deutscher Freiheits- und Gleichheitsbestrebungen. Viel schneller allerdings war deren militärische Antwort erfolgt. Auch Luther konnte die Gefährlichkeit nicht entgehen, die für dasjenige, was er als Reformation begriff und anstrebte, von den anmaßenden Sätzen ausging. Zu genau kannte er die verändernde, bisweilen explosive Kraft von Sprache und Ideen. Schließlich hatte er selbst mit seinen Schriften gegen das Papsttum und die korrupte Machtkirche das Reich verändert und zu einer Zerreißprobe geführt, die ein Jahrhundert später im Dreißigjährigen Krieg verheerende Ausmaße annehmen und dabei auch die Dörfer Schwabens nahezu auslöschen sollte.
Umgehend beginnt Luther, an einer Entgegnung »auff die zwelff artickel der Bawrschafft ynn Schwaben« zu arbeiten, die kurz darauf in Wittenberg in Druck geht. Und es ist diese Erwiderung, die aus einer großen Hoffnung eine noch größere Illusion macht. Hatte Luther ein paar Jahre zuvor noch proklamiert, ein Christenmensch sei niemandem untertan, und unter Christen, gleichgültig ob Bischof oder Priester, ob »Fürsten, Herren, Handwerker und Ackerleute«, sei kein Unterschied, so wendet er sich jetzt eifernd und ordnungsbeflissen gegen einen politisch werdenden Glauben, der sich gesellschaftliche Verantwortung zumuten will. Tatsächlich war von ihm, dem Reformator, der Impuls ausgegangen, die feudale Doktrin grundverschiedener Klassen von Menschen abzuschütteln. Nun jedoch schreckt er vor den Folgen zurück. Stattdessen macht er klar, wie wenig er von dem »aufrührischen Geist« hält, der immer weiter um sich greift, vom Elsaß bis nach Franken, von Schwaben bis in den Odenwald und die Pfalz.
Ich las und forschte nach und begriff mehr und mehr, dass all das, unabhängig davon, ob die Sache ihren Ausgang im Großvaterbauernhof genommen hatte, einen Teil meiner eigenen Geschichte ausmachte. Denn es war, seinerzeit, eine historische Entscheidung gefallen, deren politische Auswirkungen bis ins zwanzigste Jahrhundert spürbar blieben und die einer republikanischen Entwicklung oder demokratischen Nationenbildung in Deutschland beharrlich entgegenstand. Sie verbaute den politischen Weg der deutschen Reformation. Und sie verhinderte, dass die protestantische zur breiten sozialen Protestbewegung mutierte. Bedrohlich musste Luther insbesondere der dritte Artikel vorkommen: »Es soll keyn leybeygener seyn / weyl uns Christus hat alle befreyet«. Seine machttheologische Entgegnung lässt folglich auch nichts an kanzelrhetorischer Schärfe vermissen: »Was ist das? Das heysst Christliche Freyheyt gantz fleyschlich machen. (…) Es will dieser artickel alle menschen gleich machen / und aus dem geystlichen reich Christs eyn welltlich eusserlich reich machen / wilchs unmöglich ist / denn welltlich reich kann nicht stehen wo nicht ungleicheyt ist ynn personen / das etliche frey seyn / etliche gefangen / etliche herren / etliche unterthan«.
Luthers theologischer Machtspruch, gestützt auf eine herrschaftsopportune Bibelauslegung, besaß eine unschöne Pointe. Wer seinen Körper der bestehenden Verfügungsgewalt der Herrschenden nämlich zu entziehen und gänzlich selbst darüber zu verfügen trachte, entwende, so Luther, unrechtmäßig Eigentum. Wer auf seinen Leib, jetzt im Besitz der Herren, selbst Anspruch erhebe, handle nicht anders als ein Räuber.
Man hatte auf die reformatorische Lehre und Standhaftigkeit Luthers gebaut, darum waren es mehr als alle Waffen, welche sich auf die Bauern richteten, diese Sätze, die lähmendes Entsetzen über den Landstrich Schwaben brachten, und nicht allein über ihn. Dunkel und bleiern wie Drucklettern dem Papier prägten sie sich Wort für Wort der Gegend ein. Sie zerstörten die Hoffnung, am Schreibtisch und auf dem Acker wären Gleichgesinnte am humanen Werk. Die Landschaft – im sechzehnten Jahrhundert zieht das Wort »landtschaft« die Gegend und die darin Lebenden ineins zusammen – hat das nie ganz zu vergessen vermocht. Und ich kann sagen, noch heute ist ein Schriftsteller und Intellektueller hier einer, der Misstrauen hervorruft, und die Gegend in diesem Sinne trostlos.
Zur Sprache kam auf dem Großvaterbauernhof davon nur weniges. Es wurde nichts ausgeschmückt, nichts heraufbeschworen, es wurde allenfalls mit Beharrlichkeit im Haus festgehalten. Doch so häufig ich von der Sache auch hörte, stets bildete sich in mir der Eindruck, in dem Echoraum jener gleichförmigen Sätze schwinge eine sehr viel umfassendere Geschichte mit. Das Schicksal einer Gegend, wo ein Wissen, das man sich auf Schulbänken und in Bibliotheken beibringen konnte, wenig galt, und wo das, was man sich stetig erzählte und nicht vergaß, wie die tägliche Arbeit auf die Körper einwirkte und in ihnen seinen wahren Widerhall fand.
Luther, der Karrierist der Gottesfurcht, war, wie mir dann viel später aufgehen sollte, brauchbar für die Macht und konnte die Macht gut gebrauchen. Und als die Rottengeister nicht sofort klein beigeben wollten, als man sich streitbar mit der Macht anlegte, zögerte Luther nicht, blutige Schonungslosigkeit zu fordern. Dem deutschen Freiheitswillen sind seine Worte im Gedächtnis geblieben, man solle die Bauern, welche »Teuffels werck treyben«, ohne Rücksicht heimlich oder öffentlich erwürgen, erstechen und totschlagen wie tollwütige Hunde. Sprach der Gottesmann.
Der andere Name, Melanchthon, begegnete mir bewusst zum ersten Mal – und dann über Jahre nahezu an jedem Tag – zu Anfang meines Studiums auf einer Tafel an der Alten Tübinger Burse, in der die Philosophische Fakultät untergebracht war. Dort hatte der gräzisierte Philipp Schwartzerdt studiert, bevor er, berufen zum ersten Professor für griechische Sprache, nach Wittenberg gegangen war. Dort, in der damaligen Hochburg des universitären Geistes, stritt er an Luthers Seite gegen »die artikel der bawrschafft«. Fußend auf einer Theologie, für die das »Christlich wesen furnemlich eyn ynnderlich wesen« bedeutet, wird jeder emanzipatorische Anspruch gegenüber weltlicher Obrigkeit auch von ihm strikt zurückgewiesen. Was man der Obrigkeit Gutes tue, tue man Gott Gutes. Leibeigenschaft und Unrecht solle, damit weiter Frieden herrsche, ertragen werden, und sogar »nicht alleyn von der oberkeyt, sonder von iederman«. Man denkt, infamer geht es nicht, aber man täuscht sich. Denn, gibt Melanchthon als Parole an die Mächtigen durch, »es wer von noeten, das ein solch wild vngezogen volck, als teutschen sind, noch weniger freyheyt hette, dann es hat«.
Die Botschaft war nicht misszuverstehen: Neben Gehorsam und göttlicher Gnade, die über jedem Recht auf freie Selbstbestimmung zu stehen hatten, sollte in Deutschland eine gläubige pathetische Innerlichkeit gelten, nicht aber die selbstbewusste politische Äußerung. Die Bibel lieferte, theologisch ausgelegt, wie schon für vieles so auch dafür die Rechtfertigung. Und es war, wie ich fand, ein geradezu klassisches Beispiel dafür, wie tief Texte in der Geschichte auf menschliche Gemeinschaften einwirkten. Sowohl in dem, was darin gesagt wurde, wie in dem, was eben nicht zur Sprache kam oder wofür es keine Sprache gab. Und die gab es weder im Alten noch im Neue Testament für Komik, Humor oder absurd-burleske Theatralik. Ich fragte mich daher, ob Nietzsche nicht doch recht gehabt hatte, wenn er die dem Abendland heiligen Schriften wegen dieses offenbaren Mangels für widerlegt hielt, weil dem menschlichen Leben nicht angemessen? Oder war die Sache mit dem Menschen einfach zu ernst? Jedenfalls bin ich, nachdem ich die Bibel in einer bestimmten Phase meines Lebens intensiv gelesen habe, bis heute überzeugt, dass darin die Geschichte und alles, was auf der Erde geschieht, als Zeit und Raum erscheinen, worin Menschen nichts zu lachen haben.
Dass das Leben ein Anrecht darauf habe, leicht, entlastet und fröhlich zu verlaufen, statt durch Mühsal und Arbeit, davon konnte nach rechtmäßiger christlicher Lebensauffassung nicht die Rede sein. Beten und arbeiten, das musste reichen. Und so musste es auch als Affront nicht bloß gegen die Herrschenden, sondern auch gegenüber Gott selbst anmuten, wenn sich die Bauern der unmenschlichen Beschwernis und Fron widersetzten, um unbeschwerter zu leben. Die schwäbischen Bauern wussten gut Bescheid um die herrschaftlichen Anwürfe. Ihre Empörung schien in der Tat christlich kaum weniger unentschuldbar, wie es ihre unverzeihliche Anmaßung war, die geistlichen zusammen mit den weltlichen Obrigkeiten grundlegend zu reformieren. Und es ist wahr, dass sie wussten, um mit ihren Anliegen durchzukommen, brauchte das ungezogene, rebellische Volk nicht bloß eine neue Theologie, es musste zudem Macht über das Wort – »das wort Gotes« – erlangen.
Orte verweben sich wie Flechten und Myzele. Straßen und Häuser werden zu Lebewesen, mit denen das eigene Dasein eine Symbiose eingeht. Jede Gegend, der sich ihre Geschichte einprägt, verschmilzt mit den inneren Landschaften von Erinnerungen und Empfindungen jener, die dort leben. Meine Kindheitswelt des Bauernhauses und eines bäuerlichen Lebens, wie es das nicht mehr gibt und nie wieder geben wird, bildete, wie ich erst heute ganz verstehe, den ersten Knoten eines Netzes, das sich im Verlauf meines Lebens immer weiter ausdehnte und in dem Geschichten, Erfahrungen und Gefühle, auf eine oftmals undeutliche Weise, miteinander verwoben sind.