Niemals aus Liebe - Miriam Suter - E-Book

Niemals aus Liebe E-Book

Miriam Suter

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Beschreibung

In der Schweiz wird alle zwei Wochen eine Frau von ihrem Ehemann, Lebensgefährten oder Ex-Partner getötet. Jede Woche überlebt eine Frau einen versuchten Femizid. Warum werden Männer zu Tätern von häuslicher oder sexualisierter Gewalt an Frauen? Warum töten sie?  Miriam Suter und Natalia Widla gehen dieser Frage nach im Hinblick darauf, was die Schweiz tut, um solche Verbrechen zu verhindern, und was noch getan werden muss. In Gesprächen mit verschiedenen Fachpersonen aus Justiz, Politik oder Psychologie und durch die Auseinandersetzung mit aktuellen Fällen von verurteilten Gewalttätern versuchen sie zu ergründen, welche Männer sich hinter dem Begriff «Täter» verbergen, welche psychologischen und gesellschaftlichen Mechanismen Gewalt befördern und welche präventiven oder kurativen Massnahmen bestehen.  Zu den Gesprächspartner:innen gehören Markus Theunert vom Schweizer Männer- und Vaterverband, die forensische Diagnostikerin Nahlah Saimeh, die Soziologin und Aktivistin Melanie Brazzell, die Strafrechtsprofessorin Nora Markwalder, Bundesrat Beat Jans und viele weitere.

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In der Schweiz wird alle zwei Wochen eine Frau von ihrem Ehemann, Lebensgefährten oder Ex-Partner getötet. Jede Woche überlebt eine Frau einen versuchten Femizid. Warum werden Männer zu Tätern von häuslicher oder sexualisierter Gewalt an Frauen? Warum töten sie?

Miriam Suter und Natalia Widla gehen dieser Frage nach im Hinblick darauf, was die Schweiz tut, um solche Verbrechen zu verhindern, und was noch getan werden muss. In Gesprächen mit verschiedenen Fachpersonen aus Justiz, Politik oder Psychologie und durch die Auseinandersetzung mit aktuellen Fällen von verurteilten Gewalttätern versuchen sie zu ergründen, welche Männer sich hinter dem Begriff «Täter» verbergen, welche psychologischen und gesellschaftlichen Mechanismen Gewalt befördern und welche präventiven oder kurativen Massnahmen bestehen.

Zu den Gesprächspartner:innen gehören Markus Theunert vom Schweizer Männer- und Vaterverband, die forensische Diagnostikerin Nahlah Saimeh, die Soziologin und Aktivistin Melanie Brazzell, die Strafrechtsprofessorin Nora Markwalder, Bundesrat Beat Jans und viele weitere. Die Autorinnen

Fotos Ayşe Yavaş

Miriam Suter, 1988 in Brugg geboren, aufgewachsen im Fricktal, lebt und arbeitet heute in Aarau und Zürich. Sie ist freischaffende Journalistin und produzierte zusammen mit der Slam-Poetin Lisa Christ den feministischen Podcast «Faust & Kupfer». Sie ist Co-Autorin des Buchs «Ich bin Sexarbeiterin», das 2020 im Limmat Verlag erschien.

Natalia Widla,1993 in Cham geboren, wohnt und arbeitet seit 2014 in Zürich. Sie ist freischaffende Journalistin und Textproduzentin und hat Politikwissenschaften und Gender Studies in Zürich studiert. Natalia Widla moderiert immer wieder Anlässe zu feministischen Themen.

Von Miriam Suter und Natalia Widla ist das Buch «Hast du Nein gesagt? Vom Umgang mit sexualisierter Gewalt» (2023) lieferbar.

Miriam SuterNatalia Widla

Niemalsaus Liebe

Männergewaltan Frauen

Limmat Verlag

Zürich

Inhalt

... oder doch?

Femizide in der Schweiz

Alma*: «Ich wusste von der ersten Sekunde an, dass mit ihm etwas nicht stimmt»

Weil wir Frauen sind: Warum die Schweiz Femizide als solche benennen und untersuchen muss

Fehlende Daten machen die Prävention schwierig

Femizide sind keine isolierten Taten

Die Lust an leidenden Frauen

«Das war doch nur ein Witz»

Wenig Redezeit und falsche Medikamente: Wie Kultur und Forschung Frauen ausgrenzen

Warum sollte eine «Pussy» schwach sein?

Frauen sind «ein bisschen mit Schuld»

Was machen die Kantone für die Prävention?

Gefährder direkt ansprechen: Die Kantonspolizei und ihre Bedrohungsmanagements

Ein Femizid sorgte dafür, dass Frauen heute besser geschützt sind

Woraus setzt sich ein Täter zusammen?

Auch der Regionalpolizist sollte genau wissen, was er bei einem Einsatz bei häuslicher Gewalt tun muss

Wer schlägt, der geht: Eine (vielleicht) wegweisende Gesetzgebung für die Schweiz

Elektronische Überwachung: Es braucht mehr als ein vermeintliches Sicherheitsgefühl

In Spanien ging 2004 ein Ruck durch die Gesellschaft – und in der Schweiz?

... und was ist mit der Notfallnummer?

Grosses Bedürfnis nach niederschwelligem Angebot

Die Täter

Fabienne*: «Hätte es die Polizei interessiert, wenn ich Anzeige erstattet hätte?»

Wie und warum wird ein Mann zum Täter?

Gewalt gegen Frauen und psychische Erkrankungen

Alkohol, Drogen, Schusswaffen und Herkunft

Eine verletzte Anspruchshaltung

Bitches be crazy

Eine andere Geschichte

Daniela Imbach: «Niemand sitzt vor mir und ist stolz auf das, was er getan hat»

Erjon*: «Wenn sie mich damals tatsächlich betrogen hätte, wäre das für mich ein Grund gewesen, sie zu töten»

Samuel D. Smithyman: «Für einige dieser Männer war die Vergewaltigung das wichtigste Ereignis in ihrem Leben»

Sexualisierte Gewalt: Analphabeten und Psychopathen

Rape by culture: Von Vergewaltigern und Fremden

Evolution, Macht oder Sex?

Opportunistisch, wütend, rachsüchtig

Es sind nicht die Anderen

Radikalisierung im Internet und neue Technologien der Gewalt gegen Frauen

Biotop der Misogynie: Die Manosphere

Incels: Frauenhass, Verschwörungen und Amok

Durch bildbasierte Gewalt zur doppelten Demütigung

Ausbruch aus der Manosphere

Big brother is watching you – oder dein Ex-Partner

Von «Sexgrüseln» und Familiendramen: Täter und Taten in der Berichterstattung

Täterarbeit

Lukas*: «Ich musste mir eingestehen, dass auch ich Täter sein kann»

Was, wenn ich zum Täter werde? Angebote für Täter in der Schweiz

«Auf die Frage nach dem Warum gibt es aus unserer Sicht keine plausible Antwort. Bloss Ausreden»

«Sie sind über Jahre innerlich eskaliert und haben nie gelernt, damit umzugehen»

Lernprogramme sorgen für Pause im Strafverfahren

Markus Theunert: «Das gewalttätige Verhalten von Männern gegenüber anderen spiegelt sich im gewalttätigen Verhalten gegenüber sich selbst»

Selbstorganisierte Täterarbeit: Der transformative Ansatz

(K)eine einfache Voraussetzung: der Wille zur Veränderung

Intersektionalität, Deutungshoheit und Parteilichkeit

Monika*: «Dass ich die Handlungs- und Deutungsmacht habe, wäre im Rahmen eines Strafprozesses nicht garantiert gewesen»

Transformative Arbeit im Strafsystem: Der Restorative-Justice-Ansatz168

Anwendung und Kritik

Melanie Brazzell: «Der Staat schaut auf die Verletzungen von Gesetzen, nicht auf die Verletzungen von Menschen»

Was wir brauchen (und was die Schweiz von anderen Ländern lernen kann)

1. Einführung eines umfassenden Gesetzes gegen häusliche Gewalt

2. Mehr Geld für Frauenhäuser und Beratungsstellen

3. Verpflichtende Schulungen für Polizei, Justiz und medizinisches Personal

4. Einrichtung einer zentralen Datenerhebungsstelle für Gewalt gegen Frauen

5. Sensibilisierung der Medien

6. Einführung eines Straftatbestands für Stalking und Cyberstalking

7. Schweizweite Einführung von Krisenzentren

8. Mehr Ressourcen für die Weiterbildung von Lehrpersonen, Sozialarbeiter:innen und anderen im Umgang mit antifeministischen und misogynen Tendenzen bei Kindern und Jugendlichen

9. Finanzierung staatlicher Kompetenzstellen im Umgang mit digitaler Überwachung, Deepfake-Pornografie und Stalkerware und detaillierte Erhebung entsprechender Zahlen sowie eine nationale Strategie zum Umgang damit

10. Keine Armeewaffen mehr zu Hause

11. Ein Ende der rassistischen Ausschaffungspraxis bei Gewalt gegen Frauen

12. Gesellschaftliches Umdenken – zusammen

Endnoten

Dank

Für euch

In diesem Buch werden Szenen von physischer und sexualisierter Gewalt gegen Frauen beschrieben.

... oder doch?

Während wir dieses Buch geschrieben haben, wurden in der Schweiz 31 Frauen getötet. Sie mussten sterben, weil sie ihren Ex-Partner verlassen wollten. Weil sie zu erfolgreich in ihrem Job waren. Weil sie abends alleine unterwegs waren. Weil sie schlichtweg in einer patriarchalen Gesellschaft lebten.

So könnte dieses Buch beginnen. Aber wir möchten es so anfangen: Während unserer Arbeit an diesem Buch haben in der Schweiz 31 Männer Frauen getötet. Sie haben sie umgebracht, weil diese Männer ihre Ex-Partnerin als ihr Eigentum ansehen, das sich nicht von ihnen trennen darf. Weil sie ihren Selbstwert über ihre Karriere definieren, weil sie unter dem Druck, Alleinernährer zu sein, zerbrechen und mit niemandem darüber sprechen. Oder weil in ihren Augen ihre Partnerin nicht erfolgreicher sein darf als sie. Weil sie schlichtweg in einer Welt leben, die von Männern für Männer geschaffen wurde.

Wir schreiben dieses Buch in einer Zeit, in der auf Social Media gerade Videos mit der Frage viral gehen, ob Frauen nachts allein im Wald lieber einem ihnen unbekannten Mann oder einem Bären begegnen würden. Eine grosse Mehrheit entscheidet sich für den Bären. Das Tier, so der Tenor, sei berechenbarer. Einem Bären könne man klar signalisieren, dass man in Ruhe gelassen werden möchte, und wenn diese Grenze einmal etabliert ist, wird sie respektiert. Bei einem Mann sei man sich da nicht so sicher.

Vor der Bärenfrage gab es bereits einen anderen Trend auf Social Media. Frauen erzählten davon, wie sie einander nach dem Ausgang die Nachricht schickten: «Schreib mir, wenn du zu Hause bist», um sicher zu sein, dass die Freundin unversehrt daheim angekommen ist. Dass ihr auf dem Weg dorthin niemand etwas angetan hat. Ganz normal halt, das gehört zu einem Frauenleben dazu. Genau wie die Screenshots von Instagram-Profilen von Männern, die Frauen einander vor einem One-Night-Stand schicken. Um sich zu vergewissern: Der würde mir doch sicher nichts antun – oder?

Erinnerungen:

Mit 15 nachts auf der Parkbank der Schulanlage einen Finger in dir spüren, obwohl du mehrmals Nein gesagt hast. Trotzdem weitermachen, weil: Du hast ja am Anfang Ja zum Knutschen gesagt. Dich danach so lange waschen, bis die Haut rot wird.

Mit 16 zitternd im Bus sitzen, während eine Gruppe jungerMänner den Ausgang blockiert.

Wie heisst du?

Ich habe einen Freund.

Sag deinem Freund, ich ficke dich schon noch, du Schlampe.

Mit 17 in einem menschenleeren Wäldchen zwischen Club undBahnhof morgens um vier hochgehoben und geküsst werden, obwohl du das nicht willst. Merken, dass du noch schwächer bist, als du dachtest. Denken: Im Notfall gebe ich nach.

Mit 24 im Auto eines Hotelangestellten sitzen, der dich nur schnellan den Bahnhof fahren wollte, dann aber anfängt, dir zwischendie Beine und an die Brüste zu fassen. Und wie versteinert dasitzen, weil du weisst, dass er die Tür verriegelt hat und es schlimmer für dich enden würde, wenn du dich jetzt wehrst.

Immer, jedes einzelne Mal denken: Ach was, das ist doch keinÜbergriff. Unterbewusst wissen: Das würde ihn zum Täter machen. Und einer wie er ist doch kein Täter. Und: Was bin ichdann?

Kein Opfer sein wollen. Kein Opfer sein können.

Mit 23 erzählt die Freundin vom Blick aus dem Kinderzimmerauf die Mutter mit ihren gebrochenen Knochen und den blauenHandgelenken.

Mit 24 den Hashtag #metoo auf Facebook teilen und sehen, wieihn alle Freundinnen teilen, jede einzelne. Denken: Das kann dochnicht sein. Realisieren: Doch, kann es.

Mit 25 von der Freundin hören: Er hat unserer Mutter gedroht, dass er uns umbringt. Zahlen will er aber auch ein Jahrzehntspäter immer noch nicht.

Mit 28 mitbekommen, wie die Nachbarn streiten. Schläge hörenund Schreie. Oder bilde ich es mir ein? Ich will nicht übertreiben.Aber sie schreit. Oder doch nicht? Dann Stille. Endlich Stille.

Mit 29 erfahren, dass die Frauenhäuser in der Schweiz voll sind.

Mit 30 im Gerichtssaal sitzen und denken: Das könnte mein Vater sein, mein Partner, mein bester Freund. Der sieht aus wie sie, der spricht wie sie, der ist kein Monster. Oder doch?

Mit 34 vor einer Lesung an einer Wand einen Sticker sehen:«stealthing is abuse»1. Endlich ein Wort gefunden haben für das, was passiert ist. Was er getan hat. Oder?

Wie sieht ein Täter überhaupt aus? Ein Mörder, ein Vergewaltiger, einer, der seine Ehefrau spitalreif prügelt? Von was werden diese Bilder beeinflusst? Und von wem? Vielleicht sehen wir mehrere verschiedene Figuren, wenn wir an Sexualstraftäter denken, an Mörder, an Frauenschläger. Vielleicht sind sie völlig unterschiedlich und vielleicht haben sie auch etwas gemeinsam, vielleicht haben sie vieles gemeinsam.

Die Bilder, die wir vor unserem inneren Auge sehen, wenn wir an das Wort «Täter» denken, haben sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Nicht nur, aber vor allem mit der Arbeit an unserem ersten Buch «Hast du Nein gesagt? Vom Umgang mit sexualisierter Gewalt» und schliesslich noch einmal mit der Arbeit an diesem Buch.

Früher aber, da waren Täter für uns schwer greif bar. Abstrakt. Und sie waren mitunter auch gar keine Täter, sondern Protagonisten in Romanen, Filmen und Zeitungsartikeln: Helden und coole Typen.

Wir waren beide zeitweilig besessen vom Song «Where the Wild Roses Grow» von Nick Cave and the Bad Seeds und Kylie Minogue. Wir verloren uns in den schwülstigen Liedzeilen, die damit enden, dass der Ich-Erzähler die Frau, Eliza Day, nach drei Tagen voller intensiver Liebe und Sex an den Fluss hinabführt und mit einem Stein erschlägt, weil er ihre schiere Schönheit nicht erträgt – oder vielleicht auch die Tatsache, dass er diese Schönheit nicht besitzen kann:

On the third day he took me to the riverHe showed me the roses and we kissedAnd the last thing I heard was a muttered wordas he knelt above me with a rock in his fist […]and I kissed her goodbye, said, «All beauty must die»

Später trat Falco in unsere Leben und mit ihm natürlich «Jeannie», der Skandal-Hit, das Lied, das zumindest für uns und zum damaligen Zeitpunkt die äussersten Grenzen dessen absteckte, was Kunst darf und soll – und wir fanden das gut. In dem Lied besingt der Ich-Erzähler die Entführung eines Mädchens, Jeannie, und deutet auch den sexuellen Missbrauch an ihr an. Ein wohliger Schauder ergriff uns jedes Mal, wenn Falco am Ende des Lieds brüllte:

Jetzt hör’ ich sie, sie kommenSie kommen dich zu holenSie werden dich nicht findenNiemand wird dich finden, du bist bei mir

Noch später dann arbeitete Natalia in der Jugendabteilung eines grossen schwedischen Bekleidungsgeschäfts. Im hauseigenen Musikmix liefen grosse Pop-Hits und Deutschrap der 2000er- und 2010er-Jahre, Lieder, die Emotionen wecken und zum Shoppen anregen sollten, aber nicht anstössig oder provokativ sind. Zumindest nicht offenkundig. Zu keinem Lied hat Natalia mehr Teenagermädchen in den Garderoben und vor den Spiegeln auf der Ladenfläche die Wörter mitsingen hören als zum Megahit «Love the Way You Lie» von Eminem und Rihanna. Darin besingen der Rapper und die Sängerin eine toxische Paarbeziehung, die immer wieder in Gewalt eskaliert, gefolgt von Entschuldigungen, gebrochenen Versprechungen und Liebesschwüren. Gegen Ende des Lieds rappt Eminem voller Wut und Leiden(schaft):

You swore you’ve never hit ’em, never do nothing to hurt ’emNow you’re in each other’s faceIf she ever tries to fucking leave againI’m a tie her to the bed and set this house on fire

Die «andere Seite», also diejenige der geschlagenen Frauen, suchen wir in unseren musikalischen Erinnerungen derweil oft vergeblich. Bis auf ein Beispiel, das Miriam seit ihrer Teenie-Zeit begleitet: «Du hast den Farbfilm vergessen» von Nina Hagen. Getarnt als heiterer Pop-Hit über einen gemeinsamen Urlaub am Strand und die triste Einöde, die im ddr-Daheim auf einen wartet, könnte man den Songtext auch ein bisschen anders deuten. Zum Beispiel, wenn Nina melancholisch singt:

Hoch stand der Sanddorn am Strand von HiddenseeMicha, mein Micha, und alles tat so wehDass die Kaninchen scheu schauten aus dem BauSo laut entlud sich mein Leid in’s HimmelblauSo böse stampfte mein nackter Fuss den SandUnd schlug ich von meiner Schulter deine HandMicha, mein Micha, und alles tat so wehTu das noch einmal Micha, und ich geh

Dass Micha den Farbfilm vergessen hat, bedeutet auch, dass die Erinnerungen bloss in Schwarz-Weiss festgehalten werden konnten. Und auf Schwarz-Weiss-Fotos kann man blaue Flecken nur schlecht sehen:

Alles blau und weiss und grün und später nicht mehr wahr

Diese Beispiele sind uns geblieben, weil sie wie wenige andere verdeutlichen, wie sehr das Motiv der Frauentötung, der Tötung aus Rache, der romantischen Beziehungstat und auch der sexualisierten Gewalt aus Leidenschaft und Liebe ein Teil unseres Alltags sind.

Sie ist so deutlich da, so lesbar und unverhüllt, diese Gewalt. Und doch waren die hier porträtierten Männer für uns nie Täter. Sie waren leidenschaftlich oder verletzt, besessen oder etwas zu eifersüchtig. Sie waren zu sexy, um Täter zu sein. Zu cool. Und vor allem hatten sie allesamt ihre Gründe. Gute Gründe, wie es schien.

Während wir in der Musik mit charismatischen Typen konfrontiert wurden, hörten wir in der Medienberichterstattung von Monstern. Täter waren Fremde, Psychopathen, Choleriker. Täter waren als solche erkennbar – irgendwie, vermutlich am irren Blick. Und wenn wir sie im Alltag nicht erkannten, dann konnte das nur bedeuten, dass wir ihnen nicht begegneten.

Heute kennen wir die Statistiken. Heute wissen wir, dass die meiste Gewalt gegen Frauen von Männern verübt wird, die diesen Frauen nahestehen. Heute wissen wir auch, dass wir nicht nur Opfer, sondern auch Täter kennen und kannten.

Für dieses Buch besuchte Natalia Vergewaltigungsprozesse, Schändungsprozesse, Prozesse zu häuslicher Gewalt, versuchter Tötung und Kindsmissbrauch. Sah und hörte Zufallstäter, Intensivtäter und Täter, die ihre Unschuld beteuern – und einen einzigen, der sich entschuldigte.2

Für dieses Buch hat Miriam das gut eineinhalbstündige Bekennervideo eines Täters gesichtet und Angehörige von Femizid-Opfern getroffen.

Die Arbeit an diesem Buch hat etwas mit unserem Bild von Tätern gemacht, denn wir haben sie beide kennengelernt: die Täter aus der Popmusik, die nach eigener Aussage aus Eifersucht, Liebe oder Lust handelten – und die anderen, die Fremden, die lauern, sich verstecken, überfallen, Situationen ausnutzen, die mit dem irren Blick. Vor allem aber haben wir gelernt, was die Forschung schon lange weiss und wir als Gesellschaft doch immer wieder weit von uns wegdrängen: dass es nicht den einen Täter gibt. Oder zwei. Oder drei. Oder dreizehn. Dass es keinen singulären Faktor gibt, der dazu führt, dass ein Mann eine Frau belästigt, vergewaltigt, schlägt, stalkt oder umbringt. Dass niemand als Täter geboren wird und seinem Schicksal wie eine Art biologischer Zeitbombe ausgeliefert ist.

Dieses Vorwort verfassen wir wenige Tage, nachdem die «srf»-Rundschau über den Fall von Fabienne W. in Schaffhausen berichtet hat.3 In der Sendung war auf Videoaufnahmen zu sehen, wie eine Frau Ende 2021 brutal von mehreren Männern geschlagen wurde. So brutal, dass sie am nächsten Tag im Spital landete. Und es wird aufgezeigt, wie unsorgfältig die Strafverfolgungsbehörde den Fall aufgearbeitet hat: Wichtige Beweise wurden nicht oder unvollständig aufgenommen. In einer Szene ist zu hören, wie sich einer der mutmasslichen Täter – ein stadtbekannter Anwalt – und der Polizist unterhalten. «Das ist aber auch nicht ohne, dieses ganze Spiel», sagt der Polizist, während er das Handy des Anwalts mit der Filmaufnahme aus der Tatnacht abfilmt (anstatt die Aufnahmen direkt vom Computer zu sichern). Die Sendung löste ein grosses Echo aus: Rund fünfhundert Menschen fanden sich am Wochenende nach der Ausstrahlung in der Schaffhauser Innenstadt zu einer Demonstration ein. Auf den Schildern stand: «Bloss e chlini Stadt wo Menscherecht verkennt?» oder «Ihr seid die Metastasen des Patriarchats». Die Behörden weisen alle Vorwürfe zurück, man habe richtig gehandelt.

Wir leben also in einer Zeit, in der sich Männer sicher genug fühlen, Frauen vor Überwachungskameras spitalreif zu prügeln.

Es ist an der Zeit, Gewalt gegen Frauen als das zu benennen, was sie ist: ein Männerproblem. Mit diesem Buch versuchen wir, Antworten auf die Frage zu finden, weshalb Männer Frauen Gewalt antun. Warum sie sie töten, warum sie vergewaltigen. Wir haben versucht herauszufinden, wie es in ihren Köpfen aussieht und welche äusseren Faktoren diese Gewalt antreiben, schützen und begünstigen. Und welche Massnahmen und Möglichkeiten es gibt, Männergewalt an Frauen zu verhindern oder wenigstens einzudämmen. Wir verstehen dieses Buch als Puzzleteil eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses, denn es ist klar: Gewalt gegen Frauen bekämpfen wir nur alle zusammen. Dafür braucht es auch eine emanzipatorische Bewegung der Männer. Ein Reflektieren und Umdenken.

Mindestens jede fünfte Frau in der Schweiz erlebt mindestens einmal in ihrem Leben sexualisierte oder anderweitig physische Gewalt durch Männer, und alle zwei Wochen tötet ein Mann seine Freundin, seine Ex-Frau, seine Kollegin. Wir fokussieren uns als Gesellschaft auf sie, auf diese Frauen, auf die Opfer. Das ist wichtig und richtig, aber es reicht nicht. Für jedes Opfer gibt es einen Täter. Wo sind sie? Wie denken sie? Warum schauen wir nicht auf sie? «Täterarbeit ist Opferschutz» – diesen Satz hörten wir in den vergangenen Monaten immer wieder von verschiedenen Interviewpartner:innen. Und heute sagen wir ihn selbst: Täterarbeit ist Opferschutz.

Wir schreiben dieses Buch daher für euch. Für Männer, die diese Arbeit machen wollen.

Als Journalistin schreibt man aber auch immer für diejenigen, die keine Stimme haben. Oder vielmehr: keine mehr. Wir schreiben dieses Buch also auch für die Frauen, für die jede Hilfe zu spät kam. Ni una menos.

Femizidein der Schweiz

Alma*: «Ich wusstevon der ersten Sekundean, dass mit ihmetwas nicht stimmt»

Am Tag bevor Meret* stirbt, sitzt sie auf einem weichen Sessel neben Alma* und wählt eine neue Farbe für ihre Nägel aus. An diesem Nachmittag verwöhnt Alma ihre kleine Schwester, kauft ihr ein neues Sommerkleid, eine Halskette, Ohrringe und den Lippenstift in Merets liebstem Beerenton. Zum ersten Mal seit Langem verbringen die beiden Frauen wieder einen Tag zu zweit, früher telefonierten sie mehrmals täglich.«Heute», sagt Alma,«kommt es mir so vor, als hätte ich sie damals für ihre letzte Reise hübsch gemacht.»

Meret und Alma wachsen in einer Grossfamilie auf. Zwischen ihnen gesponnen dieser feine Faden, den es nur zwischen Schwestern gibt: jede für sich und doch unzertrennlich. Alma, die Vernünftige mit Geduld. Meret, die Zielstrebige mit dem unbeirrbaren Blick für ihre Zukunft. Zu dieser Zukunft gehört Joseph*, im Frühling vor sieben Jahren lernt sie ihn bei der Arbeit in einem Büro kennen. Er, 26 Jahre älter als sie, lädt Meret zum Abendessen ein, wünscht ihr per sms einen guten Morgen, sagt ihr, wie schön und klug sie sei. Eigentlich sucht Meret nicht nach einer Beziehung. Im Sommer sagt sie zu Alma: «Ich glaube, ich habe mich verliebt.» Und in Almas Bauch formen sich erste Knoten. So schnell liess Meret noch nie einen Mann an sich heran. Die Zweifel verdichten sich nach einem ersten Treffen mit der neuen Liebe ihrer Schwester: «Ich wusste von der ersten Sekunde an, dass mit ihm etwas nicht stimmt.»

Als Josephs Umzugskisten in Merets Singlewohnung stehen, werden die Anrufe an ihre Schwester und die Abende mit ihren Freundinnen mit jeder Woche spärlicher. Diese Ziegen seien eifersüchtig auf ihr Liebesglück, sagt Joseph, wenn Meret Selfies aus dem Ausgang bekommt mit der Nachricht: «Komm doch auch wieder einmal mit!». Und ihre Schwester, die habe kein eigenes Leben. Sowieso: Die sei mit ihrer eigenen Beziehung doch schon genug beschäftigt. Merets Zeit gehört jetzt Joseph. Er sagt, sie werden für immer zusammen sein. Ein Leben ohne sie an seiner Seite könne er sich nicht mehr vorstellen. Und er, momentan arbeitslos, braucht sie: immer Ende Monat, wenn Merets Lohn überwiesen wird. Meret hebt grosse Mengen Bargeld ab, mit dem Joseph angeblich die gemeinsamen Fixkosten und die Wocheneinkäufe im Supermarkt bezahlt. Für sie selbst bleiben wenige hundert Franken Taschengeld übrig. Möchte sie mehr ausgeben, muss sie bei Joseph darum betteln. Später findet Meret heraus: Joseph gibt das meiste Geld für sich selbst aus.«Meine Schwester hatte immer ein grosses Herz und wollte ihren Liebsten helfen», sagt Alma,«das hat er natürlich gespürt.» Meret verlässt die Wohnung kaum noch. Wenn Alma anruft, klingelt das Telefon ins Leere. In den seltenen Momenten, in denen Meret den Anruf entgegennimmt, versandet Almas gutes Zureden in Merets Hilflosigkeit.

Als Alma sich von ihrem Partner trennt, finden die Schwestern wieder näher zusammen. Alma zieht vorübergehend in die Wohnung von Meret und Joseph ein. Sie sei überrascht gewesen, dass er das zuliess. «Aber er war mir schon immer egal», sagt Alma, «ich wollte bloss bei ihr sein.» Endlich fühlt sich das Leben wieder so an wie früher, die Schwestern kochen zusammen, schauen Filme aus ihrer Kindheit. Alma sieht Meret zum ersten Mal seit langem wieder lachen. Joseph hat eine Stelle gefunden, arbeitet Nachtschichten und taucht nur selten zu Hause auf.

Meret blüht in den Wochen, in denen Alma bei ihr wohnt, regelrecht auf. Und sie öffnet sich ihrer Schwester gegenüber immer mehr. Erzählt Alma davon, wie lange sie die Beziehung mit Joseph schon unglücklich macht. Wie oft sie Sex mit ihm hat, obwohl sie eigentlich nicht mehr will. Dass er sie im Streit manchmal als Schlampe beschimpft. Und dass er sie schlägt. Von der rosaroten Brille sind nur noch Scherben übrig. Alma sagt: «Geh in ein Frauenhaus.» Meret sagt: «Ohne ihn habe ich doch nichts. Und was, wenn er mich findet?»

Eines Nachts steht Joseph im Zimmer, in dem Alma schläft:«Ich schreckte aus dem Schlaf auf, spürte genau, dass er vor meinem Bett steht und mich anstarrte.» Joseph sagt, sie solle verschwinden und Meret endlich in Ruhe lassen. Er werde schon dafür sorgen, dass sie sich hier nicht mehr wohlfühle. «Ich stand auf, ging langsam auf ihn zu und blieb schliesslich wenige Zentimeter vor ihm stehen. Ich sagte ihm ins Gesicht: ‹Du hast dich mit der Falschen angelegt.›»

Alma findet bald nach ihrer Trennung eine eigene Wohnung, diesmal reisst der Faden zwischen den Schwestern nicht ab. Meret hilft beim Umzug, stellt die Zimmerpflanzen in die richtigen Ecken, hängt Fotos von ihr und Alma an die Wand. Und merkt: Eigentlich hat sie auch ohne Joseph ein reiches Leben. Eine grosse Schwester, die ihr den Rücken stärkt. Freund:innen, die ihr zuhören. Eine von ihnen würde sie vorübergehend bei sich aufnehmen. Meret reicht Anzeige wegen Körperverletzung gegen Joseph ein und packt ihre Koffer. Bei der Polizei bietet man ihr Schutzmassnahmen an, Meret lehnt ab. Sie kann sich nicht vorstellen, unter Beobachtung zu stehen – davon hatte sie in den letzten Jahren genug. Auch in ein Frauenhaus möchte sie nicht. «Ich will frei sein, Alma», sagt sie zu ihrer Schwester. An einem Frühlingstag zieht sie zu ihrer Freundin, als Joseph auf der Arbeit ist. Sie schickt ihm eine sms: «Ich bin weg.»

Joseph zerbricht. Schickt Blumen an Merets Arbeitsort, wo man bald ein Hausverbot gegen ihn ausspricht. Er sendet ihr Dutzende sms, ihr Handy klingelt Sturm. Wenn sie ihn nicht zurücknehme, werde er sich etwas antun, schreibt er. Ohne sie sei sein Leben sinnlos und er werde es auf die harte Tour beenden – wenn sie das so wolle. Meret blockiert seine Nummer. Versucht, sich in Ruhe ein neues Leben aufzubauen. Eines ohne Kontrolle.

Nur Alma weiss, wo Meret wohnt, es besteht keine Gefahr, dass Joseph sie findet – oder? «Mir ist aufgefallen, dass er stets zu wissen schien, wo ich bin», erzählt Alma. «Auch wenn ich absichtlich andere Wege nach Hause genommen habe, tauchte er immer wieder hinter mir auf.» Später wird Alma in Josephs Wohnung Dutzende Notizbücher finden, darin fein säuberlich protokolliert sämtliche Kontaktdaten und Tagesabläufe von Menschen in Merets Leben.

Geschichten wie die von Meret folgen oft einem klaren Muster. Die britische Kriminologin Jane Monckton-Smith forscht im südwestlichen England an der Universität Gloucerstershire zu Stalking, partnerschaftlicher Gewalt und Femiziden. Monckton-Smith gilt auf ihrem Gebiet als Fachgrösse und untersuchte für ihre Studien über dreihundert Fälle von Femiziden. Aus ihren Erkenntnissen entwickelte sie 2020 ein Modell4, das die sieben Stufen bis zur Tötung der Frau beschreibt – besonders dann, wenn sie durch den Partner oder den ehemaligen Partner begangen werden.

1. Stufe – Gewalttätige Vergangenheit: Schon in früheren Beziehungen fielen die Täter durch Kontrollverhalten, Stalking oder psychische oder physische Gewalt gegenüber ihren Partnerinnen auf. Spricht man mit Angehörigen, die Schwestern, Freundinnen und Mütter durch einen Femizid verloren haben, zeigt sich immer das gleiche Bild: Zu Beginn war die Beziehung mit dem neuen Partner harmonisch, liebevoll, das Paar im siebten Himmel. Nach wenigen Monaten aber ziehen dunkle Wolken auf. Die Ex-Freundin sei eine «Psychopathin» gewesen, erzählen die Männer ihren neuen Partnerinnen, man habe wegen ihr ständig gestritten. Eifersüchtig sei sie gewesen, gleichzeitig habe sie aber ständig mit anderen Männern geflirtet. Später stellt sich nicht selten heraus: Der Mann hat schon seine ehemaligen Partnerinnen kontrolliert. Auch Josephs Ex-Partnerinnen beschreiben ihn nach der Tat als übergriffig, gefühlskalt und als Stalker.

2. Stufe – Rasche Nähe: Bereits zu Beginn der Beziehung fordern die Täter eine starke Bindung von ihren neuen Partnerinnen, bombardieren sie mit Liebesbezeugungen und werden besitzergreifend. Im Fachjargon spricht man hier auch von «Lovebombing»: Die neue Partnerin wird mit Komplimenten überschüttet, man ist praktisch ohne Unterbruch in Kontakt. Gleichzeitig fordern die Täter von ihren Partnerinnen schnell bedingungslose Treue und werden eifersüchtig auf andere Männer in ihrem Umfeld – sei dies auf der Arbeit oder im Freundeskreis.

3. Stufe – Starke Kontrolle und Isolation: In allen Beziehungen, die Monckton-Smith untersuchte, passten die Frauen ihren Alltag nach und nach dem toxischen Verhalten der Männer an. Sie brachen den Kontakt zu ihren Freund:innen ab oder gaben ihren Job auf. In dieser Phase sind die Partnerinnen bereits emotional vom späteren Täter abhängig und werden nicht selten von ihm überwacht, beispielsweise durch Spyware auf dem Handy oder durch das Fordern ständiger Updates via WhatsApp. Diese Phase kann sich über mehrere Jahre hinziehen: In der Studie von Monckton-Smith gibt es Beziehungen, die zwischen ein paar Wochen und fünfzig Jahren auf dieser dritten Stufe blieben.

4. Stufe – Der Auslöser: In der vierten Phase passiert eine Trigger-Situation: Die Frau zieht sich zurück, versucht, die Kontrolle über ihr Leben wiederzuerlangen oder trennt sich vom späteren Täter. Viele Männer, die ihre (Ex-)Partnerinnen umbringen, geben dies als Grund für die Tötung an. Dabei spielt es im Übrigen keine Rolle, ob die Trennung real stattgefunden oder der Täter sie sich eingebildet hat.

5. Stufe – Eskalation: Will sich die Frau trennen, verliert der Täter seine Macht über sie. Die Männer betteln die Frauen an, zurückzukommen, weinen oft zum ersten Mal überhaupt in der Beziehung. Sie stalken die Frau noch stärker und drohen damit, sich selbst oder ihr etwas anzutun. Hier geht es vor allem darum, zu manipulieren und so die Kontrolle über die Frau wiederzuerlangen. Laut Monckton-Smith ist dies die Zeit, in der das Umfeld am ehesten eine Chance hat, einzuschreiten und der Frau zu helfen.

6. Stufe – Wendepunkt: Gelingt es den Tätern nicht, die Kontrolle über die Frau wiederzuerlangen, wird in dieser Phase die Entscheidung getroffen, dass die Frau sterben muss.

7. Stufe – Der Plan: Femizide sind oft von langer Hand geplant und keine Affektmorde, wie es noch immer gerne dargestellt wird. Die Männer töten ihre (Ex-)Partnerinnen nicht, weil sie in diesem Moment «verzweifelt» waren. In dieser Phase googeln spätere Täter etwa nach möglichen Arten, die Frau umzubringen. Sie beschaffen sich Waffen, sollten sie noch keine besitzen. Diese Phase kann von wenigen Stunden bis mehrere Monate dauern.

8. Stufe – Der Mord: Der Täter führt seinen Plan aus, wobei die Art variiert: Manche Täter begehen zusätzlich Suizid oder töten die (gemeinsamen) Kinder. Manche sind sofort geständig, andere streiten die Tat ab oder schieben die Schuld der Frau zu. Häufig finden die Taten in der Wohnung oder auf der Arbeitsstelle des Opfers statt und nicht im öffentlichen Raum.

Vor dem Nagelstudio verabschieden sich die beiden Schwestern voneinander. Alma nimmt am nächsten Morgen einen frühen Flug in die Heimat der Familie. In der Nacht träumt sie von Meret, sieht sie weinen. Alma wacht auf mit einem schweren Gefühl im Bauch und ruft ihren Vater an. Es bedeute ja sicherlich nichts Schlimmes, aber seltsam sei dieser Traum schon, oder? Sie packt ihren Koffer und nimmt ein Taxi zum Flughafen.

Während Alma 12000 Meter über dem Boden in einem Flugzeug in Richtung Heimat sitzt, verschafft sich Joseph Zutritt zur Wohnung von Merets Freundin. Als die ersten Trams fahren, geht bei der Meldestelle Schutz und Rettung ein Notruf ein. Die Frau am anderen Ende spricht von einem Überfall, sie brauche sofort die Polizei. Man schickt mehrere Streifenwagen. Als der Anruf an die zuständige Stadtpolizei weitergeleitet wird, ist die Frau nicht mehr in der Leitung.

Zehn Minuten später treffen die Patrouillen vor dem Haus in einem ruhigen Wohnquartier ein, Joseph steht am Fenster. Von Meret fehlt jede Spur. Anwohner:innen erzählen später, sie sei von einer Männerhand vom Balkon in die Wohnung gezerrt worden. Nach der Tat weiss man: Zu diesem Zeitpunkt liegt Meret gefesselt auf dem Bett, Joseph schlägt immer wieder auf sie ein. Er sagt zu den Beamt:innen am Telefon, er wolle sich mit seiner Ex-Freundin unterhalten, die ihn vor zwei Monaten verlassen habe. Sollte die Polizei sich nähern, werde er sich erschiessen. Zwei Stunden Zeit fordert er am Telefon.

Zwei Stunden und neun Minuten später ist Meret tot. Neben ihr auf dem Bett liegt Joseph, der sich mit seiner Waffe selbst in den Kopf geschossen hat. Es war der Schuss ins Herz, der Meret tötete, ist sich Alma sicher. Der Mediensprecher der zuständigen Stadtpolizei beschreibt den Fall später als «Tragödie», man habe das nicht kommen sehen. Die Anzeichen vor der Schussabgabe hätten nicht auf eine Eskalation hingedeutet und man habe das Verhalten des Mannes als klares Signal dafür gesehen, abzuwarten. Meret wurde 34 Jahre alt.

Weil wir Frauen sind:Warum die Schweiz Femizideals solche benennenund untersuchen muss

Wir wollen mit diesem Buch den Blick auf Täter richten. Auf diejenigen Männer, die Frauen belästigen, sie misshandeln und töten. Mit diesem Buch versuchen wir auch abzubilden, weshalb Männer solche Taten begehen. Dafür müssen wir zuerst verstehen, wie sich männliche Gewalt gegen Frauen zeigen kann – und dass verschiedene Formen der Gewalt aufeinander auf bauen. Und dafür wiederum müssen wir zuerst ein bisschen ausholen.

Hochsommer 2023: Neben dem Baum, der den dringend nötigen Schatten spendet, werden T-Shirts und Jutebeutel mit dem Motiv des feministischen Streiks bedruckt. Die über 12000 Teilnehmer:innen der Demonstration versammeln sich auf dem Zürcher Helvetiaplatz, den feministische Aktivist:innen 2015 in «Ni-Una-Menos-Platz» umgetauft haben, nach der im selben Jahr in Argentinien gegründeten sozialistisch-feministischen Bewegung. «Nicht eine mehr» bedeutet der Slogan: Jede Frau, die ihr Leben lassen muss, weil sie eine Frau ist, ist eine zu viel. Nach jedem vollendeten Mord an einer Frau ruft das Kollektiv zu einer Protestkundgebung auf diesem Platz mitten in der Stadt auf. Damit will es zeigen: Diese Tötungen sind keine Privatsache, sie gehen uns alle etwas an. Sie geschehen nicht am Rand, sondern in der Mitte der Gesellschaft. Und sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten.

Wenige Schritte hinter dem Eingangstor zum Gelände, auf dem sonst einmal in der Woche der Kanzlei-Flohmarkt stattfindet, hat sich knapp ein Dutzend Aktivist:innen des Ni-Una-Menos-Kollektivs versammelt, sie stossen einen langen Schrei aus. Elf Sekunden lang, eine Sekunde für jede Frau, die dieses Jahr bereits Opfer eines Femizids wurde. Bis Ende des Jahres wird sich die Zahl auf 18 Tötungen erhöhen, darunter drei Mädchen. Die Zahlen stagnieren seit Jahren. Das bedeutet: In der Schweiz tötet im Schnitt alle zwei Wochen ein Mann seine (Ex-)Partnerin, seine Frau, Tochter, Schwester oder Bekannte. Jede Woche überlebt eine Frau einen Tötungsversuch.5

Trauriger Spitzenreiter im europäischen Vergleich ist Österreich: Femizide bilden hier 74 Prozent der Tötungsdelikte, im Jahr 2023 wurden 27 Frauen getötet. In der Schweiz machen Morde an Frauen im sogenannten häuslichen Bereich fast die Hälfte der polizeilich registrierten vollendeten Tötungsdelikte aus, zeigt die Kriminalstatistik6: Im Jahr 2023 haben 8044 Frauen und Mädchen häusliche Gewalt erlitten, 20 Frauen und Mädchen wurden getötet. Versuchte Tötungen gab es 42 Mal. Und das ist nur das Hellfeld. Die Bildungsstelle Häusliche Gewalt geht davon aus, dass die «Dunkelziffer der Gewalttaten sehr hoch ist»7. Viele Betroffene von häuslicher Gewalt zögern nämlich aus verschiedenen Gründen, ihre Situation bei den Behörden zu melden – etwa aus Angst vor Vergeltung, Scham oder Mangel an Vertrauen in das Justizsystem. Betroffene machen auch oft deshalb keine Anzeige, weil sie nach einer Trennung oder Scheidung finanziell von ihren Partnern abhängig und auf Sozialleistungen angewiesen wären – und sich deshalb nicht trauen, sich zu wehren oder ihren Partner zu verlassen. Zusätzlich zu diesen Schwierigkeiten haben Frauen ohne Schweizer Pass oft auch Angst hinsichtlich ihres Aufenthaltsstatus, da dieser häufig von ihrem Ehemann abhängt.8 Die volkswirtschaftlichen Kosten von häuslicher Gewalt in der Schweiz werden auf etwa vierhundert Millionen Franken pro Jahr geschätzt.9 Diese Schätzung umfasst die Folgekosten für medizinische Behandlung, Polizeieinsätze, Justizverfahren und Unterstützung für die Opfer wie Sozialhilfe und Opferhilfe.

Die Frau aus unserer ersten Geschichte, Meret, war 2019 eines von 19 Femizid-Opfern; damals nannte noch kaum ein Medium die Tat so. Dabei gibt es den Begriff femicide eigentlich schon lange: Der Ausdruck wurde Anfang des 19. Jahrhunderts in England geprägt, in Anlehnung an die lateinischen Ausdrücke femina (Frau) und caedere (töten) und 1976 von der Soziologin Diana E. H. Russell erstmals öffentlich beim historischen Internationalen Tribunal zu Gewalt gegen Frauen in Brüssel verwendet. Mehr als zweitausend Frauen aus vierzig Ländern kamen damals zusammen und schafften während vier Tagen Aufmerksamkeit für das weibliche Leiden weltweit. Laut der 2020 verstorbenen Aktivistin Russell sollte parallel zum Ausdruck homicide (Tötung) ein neuer Begriff geschaffen werden, der geschlechtsspezifische Gewalt sichtbar macht. Genauer noch: Russell prägte den Begriff femicide als Konsequenz von patriarchaler Gewalt an Frauen und Mädchen durch Männer, die aufgrund ihres Besitzanspruchs, zu ihrem eigenen Vergnügen oder aus Hass und Verachtung töten. Eine globale Definition des Begriffs gibt es zwar auch knapp vierzig Jahre später nicht, einen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten bietet aber die Vienna Declaration on Femicide der Vereinten Nationen. Sie schliesst auch sogenannte Ehrenmorde ein – also Tötungen von Frauen als Strafe für vermeintliche Verletzungen der Familienregeln durch das Opfer. Je nachdem reicht es also aus, dass eine Frau bei der Hochzeit keine Jungfrau mehr ist oder einen anderen Mann etwas zu lange angeschaut hat, damit sie sterben muss. Die Deklaration spricht aber auch dann von Femiziden, wenn Frauen und Mädchen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung getötet werden, also etwa im Iran, Somalia oder im Jemen, wo Homosexualität unter Todesstrafe steht. Zu Femizid-Opfern werden auch die jährlich etwa zweitausend Frauen gezählt, die an den Folgen von Genitalverstümmelungen sterben. Oder die zwei Millionen weiblichen Föten, die weltweit jedes Jahr abgetrieben werden, etwa aufgrund der Ein-Kind-Politik in China, die bis 2016 galt, oder weil sich Familien in Indien aufgrund der hohen Aussteuer bei der Hochzeit schlicht keine Töchter leisten können. Wie die österreichische Autorin Yvonne Widler schreibt: «Der Begriff umfasst also Ungleichheit, Unterdrückung und somit systemische Gewalt gegen Frauen.»10

Eine Erweiterung zu Femizid bildet der Ausdruck «Feminizid». Der Begriff, der erstmals von der mexikanischen Anthropologin Marcela Lagarde verwendet wurde, betont die strukturellen Dimensionen von Frauenmorden – und meint damit die Verantwortung und Mitschuld des Staates. Lagarde und andere lateinamerikanische Aktivistinnen prangern die Frauenmorde als Staatsverbrechen an, insbesondere in Bezug auf die Reihe von grausamen Frauenmorden in Ciudad Juárez in Mexiko seit Beginn der 1990er-Jahre. Die Verbrechen zeichnen sich durch ein Muster aus: Die Opfer, meist junge Frauen, werden entführt, misshandelt und nach Tagen oder Wochen tot aufgefunden. Die Leichen werden auf verlassenen Flächen am Stadtrand entdeckt. Trotz jahrzehntelanger Ermittlungen bleiben die meisten dieser Morde unaufgeklärt. Die Behörden vermuten, dass verschiedene Gruppen von Männern für diese Taten verantwortlich sind, konnten jedoch bisher keine umfassende Aufklärung erreichen. Während Femizid also das Phänomen und den Akt der gezielten Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts beschreibt, verweist Feminizid zusätzlich darauf, dass der Staat durch Untätigkeit oder sogar Mitwirkung, durch fehlende oder unzureichende Massnahmen zur Verhinderung der Tötungen an Frauen eine Mitschuld an diesen Verbrechen trägt. Beide Begriffe zielen jedoch darauf ab, die geschlechtsspezifische Dimension von Morden an Frauen sichtbar zu machen und zu bekämpfen und sind daher als ergänzend zueinander zu verstehen.

Fehlende Daten machen die Prävention schwierig

Was wir nicht benennen, können wir nicht analysieren, verändern oder im besten Fall verhindern: In der Schweiz sprechen wir bislang mehrheitlich von Femiziden und auch dieser Begriff gewann erst in den letzten paar Jahren an Popularität. In der polizeilichen Kriminalstatistik werden Femizide aber noch nicht als gesonderte Taten aufgeführt, auch juristisch existiert der Begriff nicht. Folglich kann in der Schweiz auch niemand wegen Femizids schuldig gesprochen werden. Entsprechende Vorstösse werden im Parlament immer wieder abgelehnt: Im Sommer 2020 forderte etwa die Tessiner sp-Ständerätin Marina Carobbio Guscetti in einer Interpellation, die Regierung solle den Ausdruck Femizid fördern, um dadurch zu verhindern, dass «Frauenmorde verharmlost oder als Tötung oder Verbrechen ‹aus Leidenschaft› abgetan werden»11. Sie stiess damit beim Ständerat auf Ablehnung. Ein Jahr später reichte auch die Berner sp-Nationalrätin Tamara Funiciello einen entsprechenden Antrag ein. Sie forderte nicht nur, dass Femizide vom Bundesamt für Statistik als solche gezählt werden, sondern verlangte zusätzlich, dass der Begriff ins Strafgesetzbuch aufgenommen wird. Der Nationalrat lehnte Funiciellos Anträge ab. Einzig das aktivistische Kollektiv Stop Femizid führt bislang öffentlich Buch: Auf ihrer Webseite dokumentieren die Literaturwissenschaftlerin Nadia Brügger und die Journalistin Sylke Gruhnwald so zeitnah wie möglich jeden Femizid in der Schweiz.12 Dafür lesen die Frauen Zeitungen und haben einen Google-Alert eingerichtet, durchforsten Polizeirapporte und tauschen sich mit anderen feministischen Kollektiven aus. Sie leisten damit also unbezahlt diejenige Arbeit, die in einer feministischen Utopie – und in manchen Ländern bereits heute, dazu später mehr – der Staat erledigt.

Die polizeiliche Kriminalstatistik in der Schweiz erfasst geschlechtsspezifische Gewalt aktuell weiterhin nur als Tötungen von Frauen und Männern im privaten Bereich, also als sogenannte häusliche Gewalt. Dabei bräuchte es dringend mehr Daten: etwa darüber, welche Geschichte den Morden vorausging und in welcher Beziehung Täter und Opfer zueinander standen. Es gibt zwar einige Kantone, die damit beginnen, diese Faktoren zu untersuchen, eine nationale Auflage für eine detaillierte Datenerfassung von Femiziden gibt es in der Schweiz aber nicht. Einen weiteren Anlauf haben die Autorinnen der «Studie zu Ursachen von Tötungsdelikten innerhalb der Partnerschaft» genommen, die im Auftrag des Eidgenössischen Büros für Gleichstellung (ebg) durchgeführt wurde und im Dezember 2021 erschienen ist.13 Die Studie fokussiert sich auf Tötungen von Frauen durch Männer. Das ergibt insofern Sinn, als dass der Anteil weiblicher Opfer bei Tötungsdelikten im Rahmen von partnerschaftlicher Gewalt in der Schweiz siebenmal höher ist als der Anteil männlicher Opfer. Die Mehrheit der Tötungsdelikte findet innerhalb bestehender Partnerschaften statt (58 Prozent), während sich Opfer und Tatverdächtige in einem Viertel der Fälle in Trennung befinden. In 17 Prozent der Fälle war die Trennung bereits vollzogen. Angesichts der vergleichsweise kurzen Zeitspanne zwischen Trennung und Tat kann die Anzahl der Opfer während dieser Phase als relativ hoch angesehen werden, die meisten dieser Tötungen finden drei Monate nach einer Trennung statt. Femizide passieren sehr oft nicht aus heiterem Himmel: In 42 Prozent der Fälle war das Paar der Polizei bereits wegen häuslicher Gewalt bekannt.

Die Autorinnen der Studie stützen sich in der Recherche auf die Daten des Swiss Homicide Monitor, einer Datenbank, die alle vorsätzlichen vollendeten Tötungsdelikte verzeichnet hat, die in der Schweiz zwischen 1990 und 2014 verübt worden sind. Versuchte Tötungen wurden nicht erhoben. Prof. Dr. Nora Markwalder ist seit dem 1.August 2023 Ordentliche Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität St.Gallen und eine der drei Autorinnen der Studie. Sie erzählt uns:«Wir konnten feststellen, dass einer der grössten Risikofaktoren bei einem Tötungsdelikt innerhalb der Partnerschaft eine bevorstehende respektive bereits eingetretene Trennung ist. Zudem bestand in fast der Hälfte der Fälle eine Vorgeschichte häuslicher Gewalt.» Daher sei die polizeiliche Erkennung von schweren Fällen häuslicher Gewalt sowie der Schutz der Frauen während der Trennungsphase eine wichtige Präventionsmassnahme: «In diesem Bereich hilft sicher auch der Auf bau eines Bedrohungsmanagements vonseiten der Polizei, um Hochrisikokonstellationen besser zu erkennen.» Auf dem Ausbau sowie der Qualitätssicherung solcher Bedrohungsmanagements in Bezug auf häusliche Gewalt liegt bereits heute in vielen Kantonen ein grosser Fokus. Sie werden auch in diesem Buch noch eine Rolle spielen.

Es sei jedoch wichtig, betont Markwalder, dass diese neuen Instrumente auch wissenschaftlich auf ihre Wirksamkeit getestet werden: «wenn möglich mittels experimenteller Forschung – sprich randomisierter Experimente, mit einer Kontroll- und einer Versuchsgruppe –, was bislang leider immer noch kaum gemacht wird. Ohne solche Evaluationen werden wir aber nicht wissen, ob diese Massnahmen wirken, keine Wirkung haben oder ob sie im schlimmsten Fall gar kontraproduktiv und damit schädlich sind.» Auch in diesem Bereich gebe es daher noch grosse Forschungslücken: «Wir haben zum Glück in der Schweiz auch im internationalen Vergleich immer noch eine sehr tiefe Rate an Tötungsdelikten an Frauen. Und obwohl diese Delikte zwar etwas seltener geworden sind als früher, werden sie heute intensiver medial und politisch aufgegriffen», so Markwalder. Allerdings erschwere die vergleichsweise geringe Anzahl der Fälle die Erforschung dieser Delikte, da durch diese Ausgangslage statistisch aussagekräftige Resultate in der Regel schwieriger zu erhalten seien: «Dafür bedarf es dringend Datenerhebung über mehrere Jahre.»

So sehr der Begriff des Femizids im politischen und medialen Umfeld seine Berechtigung habe, aus wissenschaftlicher Sicht sei er zu ungenau und bräuchte klarere Konturen, sagt Markwalder: «Momentan ist der Begriff schwierig operationalisierbar. Wenn er verstanden wird als Tötung einer weiblichen Person aufgrund ihres Geschlechts, dann müsste man bei der statistischen Erhebung der Fälle bereits das Motiv des Täters kennen – was aber gerade zu Beginn einer Untersuchung bei der polizeilichen Kriminalstatistik häufig nicht klar ist. Eine wissenschaftliche Erhebung dieser Fälle ist aber für das Verständnis und auch für allfällige mögliche Präventionsmassnahmen absolut zentral.» Für Markwalder wäre vorstellbar, dass diese Fälle bestenfalls retrospektiv erhoben werden, so wie das auch im Rahmen des Swiss Homicide Monitors gemacht wird: «Dort erheben wir sämtliche Tötungsdelikte in der Schweiz, sobald der Fall abgeschlossen ist, und haben darum umfangreiche Informationen zu Täterschaft, Opfern, Tatumständen und Tatmotiv. Daraus lassen sich dann auch Kategorien von Tötungsdelikten erstellen.»

Um weitere Zahlen und Daten kümmert sich derzeit Gian Beeli, Co-Direktor des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann. Zusammen mit dem Bundesamt für Statistik führt das Gleichstellungsbüro eine Zusatzerhebung bei sämtlichen Tötungsdelikten der letzten vier Jahre durch – sowohl für vollendete als auch für versuchte Tötungen. Aktuell gibt es aber noch keine verfügbaren Daten, geplant ist die Veröffentlichung für 2025. Zudem bekam das ebg vom Bundesrat den Auftrag, zusätzlich eine Hintergrundrecherche darüber zu verfassen, welche Männlichkeitsvorstellungen besonders gewaltbegünstigend sind und allenfalls bei Tötungsdelikten eine Rolle spielen. Diese Recherche ist Teil des nationalen Aktionsplans gegen Gewalt an Frauen, dessen Zwischenbilanz Ende 2024 veröffentlicht wird. Die Studie füllt eine wichtige Lücke in der Datenlage, erklärt Beeli. Es gebe zwar viele Untersuchungen zur Gewaltprävention und im Bereich der Geschlechterforschung zu Geschlechtervorstellungen und -stereotypen:«Wir müssen uns fragen, wie man auf gewaltbegünstigende Männlichkeitsbilder Einfluss nehmen kann, damit man gewaltpräventive Wirkung erzielen kann. Aber es gibt fast keine Forschung, die diese beiden Fragen kombiniert. Dabei wäre das extrem wichtig für uns als Bundesamt, um darauf Massnahmen stützen zu können.» Auch andere Gleichstellungsmassnahmen wie eine ausgeglichene Beteiligung von Frauen und Männern in entscheidenden Positionen oder bessere Vereinbarkeit sowie die gerechte Aufteilung von Care-Arbeit seien wichtige Faktoren, um ein diverses Bild von Männlichkeit zu fördern.

Beeli betont die Geschlechterverteilung, die sich aus der Recherche ergab: «Es sind hauptsächlich Männer, die sexualisierte und häusliche Gewalt ausüben, und überwiegend Frauen die Opfer.» Das Geschlecht wird auch bei Tötungsdelikten als grösster Einflussfaktor gewertet. Als zweitwichtigsten Faktor nennt Beeli die Trennungssituationen, die für Frauen extrem gefährlich seien. Zusätzlich spielten auch andere Faktoren wie Drogen- und Alkoholkonsum sowie die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen hinein. Der Migrationshintergrund sei ebenfalls ein bedeutender Faktor, der sowohl aufseiten der Opfer als auch der Täter eine Rolle spielt. Jedoch: Frauen aus allen Gesellschaftsschichten könnten von Gewalt betroffen sein. Zu sagen, Gewalt an Frauen stütze sich ausschliesslich auf kulturelle Faktoren, greife deshalb zu kurz.

Dass sich die Schweiz erst jetzt damit beschäftigt, Femizide gründlicher zu untersuchen und darüber nachdenkt, den Begriff offiziell einzuführen, gleicht dem Verhalten eines Schülers, der seine Strafaufgaben macht.2017 hat die Schweiz die Istanbul-Konvention ratifiziert, das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, und ist seit April 2018 zu deren Umsetzung verpflichtet. Behörden und Politiker:innen rühmen sich immer wieder gerne mit der Roadmap zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt, die der Bund 2021 ins Leben gerufen hat. Die bisher ergriffenen sowie die geplanten Massnahmen sind zwar wichtig und teilweise sehr gut ausgekleidet, die Schweiz wird aber trotzdem immer wieder für ihr unzureichendes Engagement gegen geschlechtsspezifische Gewalt gerügt. Für die Überprüfung der Umsetzung der Istanbul-Konvention in den einzelnen Ländern ist grevio zuständig, das unabhängige Gremium von Expert:innen des Europarats. Zu den Kritikpunkten des im November 2022 veröffentlichten Berichts14 gehört unter anderem, dass die Schweiz zu wenig Daten zu geschlechtsbezogener Gewalt, also auch zu Morden an Frauen durch Männer, erhebt. Eine Bevölkerungsbefragung ist diesbezüglich zwar geplant, wartet aber noch auf die Freigabe der Finanzierung. Und es bleibt abzuwarten, was eine solche Befragung wirklich zu einer detaillierten Datenlage zu Femiziden beitragen kann.

Die ausführliche Erhebung und Analyse von Femiziden tragen dazu bei, entsprechende Massnahmen für die Prävention entwickeln zu können. Aber es geht auch darum, eine Sichtbarkeit herzustellen, eine «Form der Anerkennung, es ‹wert› zu sein, in den Statistiken vorzukommen»15, schreiben Carina Maier, Judith Goetz und Kyra Schmied in «Femi(ni)zide – Kollektiv patriarchale Gewalt bekämpfen».

Femizide sind keineisolierten Taten

Wenn wir über Femizide sprechen, behandeln wir damit nur die Spitze des Eisbergs geschlechtsspezifischer Gewalt. Und zwar ziemlich wörtlich: Morde an Frauen stehen auf der letzten Stufe der sogenannten Gewaltpyramide. Dieses sozialpsychologische Erklärungsmodell, das extreme Gewalt wie Mord, Genozid und Terrorismus zu erklären versucht, zeigt auf, dass sich Radikalisierung in verschiedenen Stufen vollzieht: An der Basis stehen weitverbreitete Vorurteile und Einstellungen, besonders solche, die auf Sexismus und Fremdenfeindlichkeit basieren. Diese werden als Ursachen für problematische Denkweisen und weitere Formen der Diskriminierung angesehen, die zu Gewalt führen können. Die genauen Zwischenstufen können je nach Modell variieren, aber sie führen alle zur letztendlichen Gewalttat.

Morde an Frauen zu verhindern, bedarf also einer ganzen Reihe vielfältiger Massnahmen. Dafür ist es essenziell zu verstehen, dass verschiedene Formen geschlechtsspezifischer Gewalttaten aufeinander auf bauen. Anna-Béatrice Schmalz, Kampagnenleiterin von «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» und Präsidentin der Stadtzürcher Grünen formulierte es im Interview mit der «annabelle» so: «Natürlich ist ein frauenverachtender Witz nicht gleich schlimm wie ein Feminizid. Aber schaut man sich die Gewaltpyramide an, ist ihr Nährboden genau das – Sexismus, patriarchale Geschlechterrollen, Besitzansprüche, das Absprechen von weiblicher Selbstbestimmung über den eigenen Körper.»16 Die einzelnen Stufen sind in unserer Gesellschaft unterschiedlich normalisiert und sie alle bestimmen den Alltag von Frauen, natürlich auch in der Schweiz.

Die Lust an leidenden Frauen