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»Wir haben ein Hamletschicksal vor uns, ein tragisches Schicksal über die Kraft gehender Erkenntnis, das Ehrfurcht einflößt und Erbarmen.« Thomas Mann hielt seinen Nietzsche-Vortrag 1947 in Washington, New York, London und schließlich vor dem internationalen PEN-Kongress in Zürich. Der vielbeachtete Versuch steht am Ende seiner langen kritischen Auseinandersetzung mit dem Philosophen. Er beleuchtet Nietzsches Philosophie vor dem aktuellen zeitgeschichtlichen Hintergrund und geht vor allem der Frage nach, welche Bedeutung Nietzsche für den europäischen Faschismus gehabt hat. Manns Nietzsche-Verständnis ging auch ein in den Doktor-Faustus-Roman (ebenfalls 1947), dessen Protagonist Adrian Leverkühn Züge der Existenz Nietzsches trägt.
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Seitenzahl: 63
Thomas Mann
Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung
Essay/s
FISCHER E-Books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
Als zu Anfang des Jahres 1889 von Turin und Basel her die Nachricht von Nietzsches geistigem Zusammenbruch sich verbreitete, mag mancher von denen, die, über Europa hin verstreut, bereits ein Wissen um die schicksalsvolle Größe des Mannes hatten, Ophelias Klageruf bei sich wiederholt haben:
»O, what a noble mind is here o’erthrown!«
»O, welch ein edler Geist ist hier zerstört!«
Und auch von den Kennzeichnungen der nachfolgenden Verse, die das schauerliche Unglück bejammern, daß solche hochgebietende Vernunft, durch Schwärmerei zerrüttet, »blasted by ecstasy«, nun mißtönt wie verstimmte Glocken, treffen viele genau auf Nietzsche zu, – nicht zuletzt die Wendung, in welche die Trauernde ihre Lobpreisung zusammenfaßt: »The observ’d of all observers«, was Schlegel übersetzt: »Das Merkziel der Betrachter.« Wir würden dafür das Wort »faszinierend« gebrauchen; und wahrlich, nach einer Gestalt, faszinierender, als die des Einsiedlers von Sils Maria sieht man sich in aller Weltliteratur und Geistesgeschichte vergebens um. Es ist aber eine Faszination, derjenigen nahe verwandt, die von Shakespeares Charakterschöpfung, dem melancholischen Dänenprinzen, durch die Jahrhunderte ausgeht.
Nietzsche, der Denker und Schriftsteller, »the mould of form« oder »der Bildung Muster«, wie Ophelia ihn nennen würde, war eine Erscheinung von ungeheuerer, das Europäische resumierender, kultureller Fülle und Komplexität, welche vieles Vergangene in sich aufgenommen hatte, das sie in mehr oder weniger bewußter Nachahmung und Nachfolge erinnerte, wiederholte, auf mythische Art wieder gegenwärtig machte, und ich zweifle nicht, daß der große Liebhaber der Maske des hamletischen Zuges in dem tragischen Lebensschauspiel, das er bot, – ich möchte fast sagen: das er veranstaltete, wohl gewahr war. Was mich, den ergriffen sich versenkenden Leser und »Betrachter« der nächstfolgenden Generation, betrifft, so habe ich diese Verwandtschaft früh empfunden und dabei die Gefühlsmischung erfahren, die gerade für das jugendliche Gemüt etwas so Neues, Aufwühlendes und Vertiefendes hat: die Mischung von Ehrfurcht und Erbarmen. Sie ist mir niemals fremd geworden. Es ist das tragische Mitleid mit einer überlasteten, über-beauftragten Seele, welche zum Wissen nur berufen, nicht eigentlich dazu geboren war und, wie Hamlet, daran zerbrach, mit einer zarten, feinen, gütigen, liebebedürftigen, auf edle Freundschaft gestellten und für die Einsamkeit garnicht gemachten Seele, der gerade dies: tiefste, kälteste Einsamkeit, die Einsamkeit des Verbrechers, verhängt war, mit einer ursprünglich tief pietätvollen, ganz zur Verehrung gestimmten, an fromme Traditionen gebundenen Geistigkeit, die vom Schicksal gleichsam an den Haaren in ein wildes und trunkenes, jeder Pietät entsagendes, gegen die eigene Natur tobendes Prophetentum der barbarisch strotzenden Kraft, der Gewissensverhärtung, des Bösen gezerrt wurde.
Man muß einen Blick auf die Herkunft dieses Geistes werfen, den Einflüssen nachgehen, die an der Bildung seiner Persönlichkeit arbeiteten, und zwar ohne daß seine Natur sie im Geringsten als ungemäß empfunden hätte, – um der unwahrscheinlichen Abenteuerlichkeit seiner Lebenskurve, ihrer völligen Unvoraussehbarkeit inne zu werden. In mitteldeutscher Ländlichkeit geboren 1844, vier Jahre vor dem Versuch einer bürgerlichen Revolution in Deutschland, stammt Nietzsche von Vaters- wie Muttersseite aus angesehenen Pastorenfamilien. Von seinem Großvater gibt es ironischer Weise eine Schrift über »Die immer währende Dauer des Christentums, zur Beruhigung bei der gegenwärtigen Gährung«. Sein Vater war etwas wie ein Hofmann, Erzieher der preußischen Prinzessinnen, und verdankte seine Pfarrstelle der Gunst Friedrich Wilhelms IV. Sinn für aristokratische Formen, Sittenstrenge, Ehrgefühl, peinliche Ordnungsliebe waren denn auch in seinem Elternhause heimisch. Der Knabe lebt nach des Vaters frühem Tode in der kirchenfrommen und royalistischen Beamtenstadt Naumburg. Er wird als »ungeheuer artig« geschildert, als ein notorischer Musterknabe von gesittetem Ernst und einem frommen Pathos, das ihm den Namen »der kleine Pastor« einträgt. Man kennt die charakteristische Anekdote, wie er bei einem Platzregen gemessenen und würdigen Schrittes von der Schule nach Hause geht, – weil die Schulregeln den Kindern ein sittsames Betragen auf der Straße zur Pflicht machen. Seine gymnasiale Bildung wird glänzend vollendet in der berühmten Klosterzucht von Schulpforta. Er neigt zur Theologie, außerdem zur Musik, entschließt sich aber zur klassischen Philologie und studiert sie in Leipzig unter einem strengen Methodiker namens Ritschl. Seine Erfolge sind derart, daß er, kaum daß er seiner Militärpflicht als Artillerist nachgekommen ist, fast ein Jüngling noch, aufs akademische Katheder berufen wird, und zwar in der ernsten und frommen, patrizisch regierten Stadt Basel.
Man hat das Bild einer hochbegabten Edel-Normalität, die eine Laufbahn der Korrektheit auf vornehmem Niveau zu gewährleisten scheint. Statt dessen, von dieser Basis, welch ein Getriebenwerden ins Weglose! Welch ein Sich-versteigen in tödliche Höhen! Das Wort »verstiegen«, zum moralischen und geistigen Urteil geworden, stammt aus der Alpinistensprache und bezeichnet die Situation, wo es im Hochgestein weder vorwärts noch rückwärts mehr geht und der Bergsteiger verloren ist. Dies Wort anzuwenden auf den Mann, der sicher nicht nur der größte Philosoph des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sondern einer der unerschrockensten Helden überhaupt im Reich des Gedankens war, klingt wie Philisterei. Aber Jakob Burckhardt, zu dem Nietzsche wie zu einem Vater aufblickte, war kein Philister, und doch hat er die Neigung, ja den Willen zum Sich-versteigen und zur tödlichen Verirrung früh schon der Geistesrichtung des jüngeren Freundes angemerkt und sich weislich von ihm getrennt, ihn mit einer gewissen Gleichgültigkeit, die Goethescher Selbstschutz war, fallen lassen …
Was war es, was Nietzsche ins Unwegsame trieb, ihn unter Qualen dort hinaufgeißelte und ihn den Martertod am Kreuz des Gedankens sterben ließ? Sein Schicksal – und sein Schicksal war sein Genie. Aber dieses Genie hat noch einen anderen Namen. Er lautet: Krankheit – dies Wort nicht in dem vagen und allgemeinen Sinn genommen, in welchem es sich so leicht mit dem Begriff des Genies verbindet, sondern in einem so spezifischen und klinischen Verstande, daß man sich wiederum dem Verdacht des Banausentums und dem Vorwurf aussetzt, man wolle die schöpferische Lebensleistung eines Geistes damit entwerten, der als Sprachkünstler, Denker, Psycholog die ganze Atmosphäre seiner Epoche verändert hat. Das wäre ein Mißverständnis. Oft ist gesagt worden, und ich sage es wieder: Krankheit ist etwas bloß Formales, bei dem es darauf ankommt, womit es sich verbindet, womit es sich erfüllt. Es kommt darauf an, wer krank ist: ein Durchschnittsdummkopf, bei welchem die Krankheit des geistigen und kulturellen Aspektes freilich entbehrt, oder ein Nietzsche, ein Dostojewski. Das Medizinisch-Pathologische ist eine Seite der Wahrheit, ihre naturalistische sozusagen; und wer die Wahrheit als Ganzes liebt und willens ist, ihr unbedingt die Ehre zu geben, wird nicht aus geistiger Prüderie irgendeinen Gesichtspunkt verleugnen, unter dem sie gesehen werden kann. Man hat es dem Arzte Möbius sehr verübelt, daß er ein Buch geschrieben hat, worin er die Entwicklungsgeschichte Nietzsches als die Geschichte einer progressiven Paralyse fachmännisch darstellt. Ich habe an der Entrüstung darüber nie teilnehmen können. Der Mann sagt, auf seine Weise, die unbestreitbare Wahrheit.