Nikomachische Ethik - Aristoteles - E-Book

Nikomachische Ethik E-Book

Aristoteles

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Beschreibung

Das Glück ist das höchste Gut des Menschen – aber worin besteht ein glückliches Leben? Und wie wird man ein guter Mensch? In der zehn Bücher umfassenden "Nikomachischen Ethik" grenzt Aristoteles Tugenden von Affekten und von tadelnswerten Charaktereigenschaften ab, untersucht die Bedeutung von Werten wie der Freundschaft und gibt gewissermaßen einen Leitfaden für ein gutes, tugendhaftes und glückliches Leben. Als ein Hauptwerk der westlichen Ethik ist die "Nikomachische Ethik" ein zentraler Text im Philosophiestudium. Diese Ausgabe bietet eine gut lesbare Neuübersetzung in zeitgemäßer Sprache und einen neuen Kommentar. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 587

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Aristoteles

Nikomachische Ethik

Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger

Reclam

Griechischer Originaltitel: ΗΘΙΚΩΝ ΝΙΚΟΜΑΧΕΙΩΝ

 

2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2017

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961254-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019448-5

www.reclam.de

Inhalt

1. Buch2. Buch3. Buch4. Buch5. Buch6. Buch7. Buch8. Buch9. Buch10. BuchZu dieser AusgabeAbkürzungenLiteraturhinweiseNachwortAnmerkungen

[5]1. Buch

1[1094a] Jede Technik und jede Methode, desgleichen jedes Handeln und jedes Vorhaben zielt, wie es scheint, auf irgendein Gut ab; deshalb hat man1 das Gute treffend als das bezeichnet, worauf alles abzielt. Allerdings gibt es offensichtlich einen Unterschied zwischen den Zielen; die einen sind Tätigkeiten, die anderen sind darüber hinaus noch [5] irgendwelche Werke. Wo es über das Handeln hinaus noch irgendwelche anderen Ziele gibt, da sind die Werke naturgemäß von höherem Wert als die Tätigkeiten. Weil es nun aber eine Vielzahl von Handlungen, praktischen Fertigkeiten und Wissenschaften gibt, gibt es auch viele Ziele. So ist das Ziel der Heilkunst die Gesundheit, das der Schiffsbaukunst das Schiff,2 das der Kriegskunst der Sieg und das der Ökonomie der Wohlstand.3 Wo aber [10] solche Kenntnisse EINER bestimmten Kompetenz untergeordnet sind, wie die Anfertigung des Zaumzeugs4, und was es sonst noch an Reitutensilien gibt, der Reitkunst, diese wiederum und jedes kriegerische Handeln5 der Kriegskunst und ebenso andere anderen, da ist jeweils das Ziel der übergeordneten Kunst6[15] denen vorzuziehen, die untergeordnet sind. Denn seinetwegen7 werden sie ja verfolgt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob das Ziel der Handlung die Tätigkeit selbst ist oder etwas darüber hinaus, wie dies bei den genannten Wissensgebieten der Fall ist.8 Wenn es nun für unser Tun ein Ziel gibt, das wir um seiner selbst willen wollen, während wir das Übrige nur dieses Zieles wegen wollen, und wenn wir nicht [20] alles um eines anderen willen anstreben (denn so ginge es ja bis ins Unendliche weiter, sodass alles Streben eitel und zwecklos wäre), dann [6]wird offensichtlich dieses Ziel das Gut, ja sogar das höchste Gut9 sein.10 Ist seine Erkenntnis nicht auch für das Leben von ausschlaggebender Bedeutung, und könnten wir dadurch nicht wie Bogenschützen, die ein festes Ziel haben, leichter das Gebotene treffen?11 Wenn [25] dem so ist, dann muss man versuchen, wenigstens im Umriss zu erfassen12, was es denn ist und zu welcher Wissenschaft oder Kompetenz es gehört. Allem Anschein nach gehört es zur wichtigsten und im höchsten Maß führenden Wissenschaft, und das ist offenbar die politische Wissenschaft. Denn diese bestimmt, welches Wissen es im Staat geben [1094b] und welches und wie weit es der Einzelne sich aneignen soll. Wir sehen, dass ihr sogar die am meisten geschätzten Kompetenzen, wie die Kriegskunst, die Haushaltsführung und die Redekunst, unterstehen. Indem sie sich aller anderen [praktischen]13 Wissenschaften bedient [5] und ferner festlegt, was zu tun und was zu lassen ist, so wird ihr Ziel die Ziele der anderen mit einschließen, sodass dieses das für den Menschen angemessene Gut ist. Wenn dieses auch für den Einzelnen und für den Staat dasselbe ist,14 so scheint es doch wichtiger und vollkommener, das Gut des Staates zu erlangen und zu erhalten. Es ist zwar auch erfreulich, wenn das Gut für den Einzelnen erreicht wird, [10] schöner aber und göttlicher ist es, wenn das bei einem ganzen Volk und bei Staaten15 der Fall ist. Darauf also zielt unsere Untersuchung ab, betrifft sie doch in gewissem Sinne den Staat. Wenn die dem zugrunde liegenden Gegenstand entsprechende Klarheit geschaffen ist, dann sollte wohl genug gesagt sein. Denn man darf nicht bei allen Untersuchungen die gleiche Genauigkeit16 anstreben, wie man es ja auch nicht bei den handwerklichen Produkten darf. [7]Beim Werthaften17 und Gerechten, [15] womit sich ja die Wissenschaft vom Staate18 beschäftigt, gibt es so viele Unterschiede und Schwankungen19, dass es scheinen möchte, sie beruhten bloß auf Konvention und nicht auf der Natur.20 Ebensolches Schwanken gibt es auch bei den Gütern, da sie vielen Menschen zum Schaden gereichen. Denn so manchen wurde ihr Reichtum zum Verhängnis, anderen wieder ihre Tapferkeit.21 Also muss man sich schon damit begnügen, [20] wenn bei der Behandlung solcher Dinge und solcher Voraussetzungen die Wahrheit nur in groben Umrissen zum Ausdruck kommt;22 Derartiges ergibt sich auch bei der Erörterung dessen, was meistens der Fall ist und was die Voraussetzungen sind. In diesem Sinne also ist auch jede einzelne Aussage zu verstehen. Denn es zeugt von einem gebildeten Menschen, auf jedem Gebiet nur so viel Genauigkeit zu verlangen, [25] wie es die Natur der Sache gestattet; wenn man es akzeptierte, dass ein Mathematiker nur Wahrscheinlichkeitsargumente vorbringt, wäre es fast genauso verfehlt, wie wenn man von einem Redner strikte Beweise verlangte.23 Jeder urteilt darüber gut, von dem er etwas versteht, und auf diesem Gebiet ist er ein trefflicher [1095a] Gutachter. Auf den einzelnen Gebieten wird also der darin jeweils Gebildete, generell aber der Universalgebildete gut urteilen.24 Darum ist ein junger Mensch kein geeigneter Hörer der politischen Wissenschaft.25 Denn er ist unerfahren in den praktischen Dingen des Lebens; gerade diese aber sind Gegenstand und Ausgangspunkt unserer Untersuchungen. Indem er ferner dazu neigt, seinen Leidenschaften nachzugehen,26[5] wird er vergeblich und ohne Nutzen zuhören, weil ja das Ziel nicht Erkennen, sondern Handeln ist.27 Dabei macht es [8]überhaupt keinen Unterschied, ob einer nur jung an Jahren oder unreif in seinem Charakter ist. Denn sein Manko ist kein zeitliches, sondern kommt daher, dass er sich im Leben bei allem und jedem von seinen Gefühlen leiten lässt.28 Solchen Menschen nützt auch das Erkennen nichts, ebenso wenig wie denen, die unmäßig sind. [10] Für diejenigen aber, die ihr Streben vernünftig gestalten und auch danach handeln, dürfte das Wissen von diesen Dingen wohl von großem Nutzen sein. So viel also zur Einleitung über den Hörer, die Art, wie wir verstanden sein wollen, und was unser Vorhaben ist.

2 Kehren wir also zu unserem Ausgangspunkt zurück: Wenn jedes Erkennen und jedes Vorhaben irgendein Gut [15] zum Ziel hat, was können wir dann als das Ziel der Wissenschaft vom Staat bezeichnen und was ist das höchste aller Güter des praktischen Handelns? In der Benennung sind sich die meisten so ziemlich einig. Sowohl die breite Masse als auch die Gebildeten nennen es Glück und unterstellen dabei, gut leben und sich wohl befinden wäre dasselbe wie [20] glücklich sein.29 Was aber das Wesen des Glückes ist, darüber gehen die Meinungen auseinander, und die breite Masse urteilt darüber ganz anders als die Gebildeten. Die einen halten es für etwas Handgreifliches und Offenkundiges, wie Lust, Reichtum oder Ehre, wobei jeder etwas anderes darunter versteht; oft aber hält auch ein und derselbe Mensch das Glück bald für das eine, bald wieder für etwas anderes;30 ist er krank, ist für ihn die Gesundheit Glück, ist er arm, [25] dann der Reichtum; da sie sich dessen bewusst sind, dass sie nicht wissen, was denn das Glück sei, bewundern sie solche, die darüber große, ihnen unverständliche Worte machen.31 Einige32 aber meinten, es gebe [9]neben diesen vielen Gütern noch ein anderes Gut an sich, das auch für alle diese die Ursache dafür sei, dass sie gut sind. Alle diese Meinungen zu prüfen, dürfte sich nicht lohnen; es genügt wohl, wenn nur die [30] am meisten verbreiteten und einigermaßen vernünftigen Berücksichtigung finden. Dabei dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass es einen Unterschied gibt zwischen den Beweisführungen, die von den Prinzipien ausgehen, und jenen, die zu den Prinzipien hinführen. Schon Platon hat diese Frage zu Recht aufgeworfen und untersucht, ob der Weg von den Prinzipen her- oder zu den Prinzipien hinführe, [1095b] wie auf der Laufbahn von den Kampfrichtern zur Wendemarke oder umgekehrt.33 Ausgehen muss man von dem Bekannten. Bekannt aber kann zweierlei bedeuten: für uns bekannt oder schlechthin bekannt. Wir müssen wohl von dem uns Bekannten ausgehen.34 Daher muss [5] einer, der ein geeigneter Hörer des Werthaften und Gerechten und überhaupt des Staatswesens sein will, über gute Sitten35 verfügen (denn der Ausgangspunkt ist das »Dass«, und wenn dieses hinreichend geklärt ist, wird darüber hinaus ein »Warum« nicht mehr nötig sein). Wer so beschaffen ist,36 der ist bereits im Besitz der Prinzipien oder wird sie sich leicht aneignen. Auf wen aber keines von beiden zutrifft,37 der höre die Worte Hesiods:

[10] Der ist von allen der Beste, der selber alles bedenkt;

tüchtig ist aber auch jener, der einem guten Rat vertraut.

Wer aber weder selbst denkt noch sich zu Herzen nimmt,

was er von andern hört, der ist ein unnützer Mensch.38

[10]3 Wir aber wollen dort fortsetzen, wo wir abgeschweift sind.39 Das Gut [15] und das Glück scheint die Menge nicht ohne Grund aus ihrem Leben40 ableiten zu wollen. Die breite Masse und die Ungebildeten verstehen darunter die Lust; sie schätzen daher ein genussreiches Leben. Es gibt drei Arten der Lebensführung, die besonders hervorstechen: die eben genannte, die politische und drittens die betrachtende. Die breite Masse zieht es vor, wie das liebe Vieh41 zu leben, und zeigt dabei eine durchaus knechtische42[20] Gesinnung; sie können sich aber damit rechtfertigen, dass es vielen unter den Mächtigen ähnlich ergeht wie Sardanapal.43 Die gebildeten und aktiven Menschen wählen die Ehre. Denn diese ist ja in etwa das Ziel des politischen Lebens. Indessen scheint auch dieses Ziel oberflächlicher zu sein als das, wonach wir suchen, scheint es doch mehr bei denen zu liegen, die die [25] Ehre erweisen, als bei dem, dem sie erwiesen wird; das Gut aber ist unserer Vermutung nach etwas dem Menschen Eigenes und lässt sich nur schwer von ihm trennen. Außerdem scheint man der Ehre nachzujagen, um sich selbst für gut halten zu können.44 Denn man strebt danach, von den Klugen und von denen, die einen kennen, geehrt zu werden, und das wegen der eigenen Tüchtigkeit45. Es ist also klar, dass in ihren Augen [30] die Tüchtigkeit einen höheren Wert hat als die Ehre. Man könnte nun vielleicht diese46 eher als das Ziel des politischen Lebens betrachten. Aber auch sie erweist sich noch nicht als das eigentliche Ziel. Es scheint ja auch möglich, dass man, obwohl man im Besitz der Tüchtigkeit ist, träge und sein ganzes Leben lang untätig ist47 und dass man darüber hinaus noch [1096a] größtes Übel und Unglück erleidet. Wer so lebt, den wird wohl niemand glücklich [11]preisen, es sei denn, er möchte mit seiner Behauptung um jeden Preis48 Recht behalten. Aber genug davon; das ist ja in der populären Literatur ausführlich besprochen.49 Die dritte Art der Lebensführung ist die betrachtende; sie werden wir [5] weiter unten untersuchen.50 Wer auf Gelderwerb aus ist, steht irgendwie unter Zwang, und der Reichtum ist natürlich nicht das Gut, nach dem wir suchen; denn er ist nur ein nützliches Mittel für anderes. Deshalb könnte man sich eher für die vorher genannten Ziele entscheiden, denn sie werden um ihrer selbst willen geschätzt. Offenbar sind es51 aber auch sie nicht, obwohl zu ihren Gunsten schon viele Argumente [10] verbreitet worden sind. Also lassen wir das.

4 Besser ist es vielleicht, beim Guten das Allgemeine zu betrachten und zu fragen, wie es gemeint sei, mag uns eine solche Untersuchung auch schwerfallen, da es ja befreundete Männer waren,52 die die Ideen53 eingeführt haben. Zur Rettung der Wahrheit aber dürfte es allem Anschein nach besser, ja geradezu notwendig sein, [15] auch Eigenes aufzugeben, zumal wir ja Philosophen sind. Denn wenn uns auch beides lieb ist,54 so ist es doch heilige Pflicht, vor allem der Wahrheit die Ehre zu geben. Diejenigen, die diese Lehre aufgebracht haben, haben dort keine Ideen angenommen, wo sie von einem Vorher und einem Nachher redeten;55 daher haben sie keine Idee der Zahlen aufgestellt.56 »Gut« aber fällt sowohl in die Kategorie [20] der Substanz, als auch in die der Qualität und in die der Relation; das »An-sich«, die Substanz, geht seiner Natur nach der Relation voraus (denn diese gleicht einem Seitentrieb und einem Akzidens des Seienden). Daher kann es keine gemeinsame Idee für diese verschiedenen Gegenstände57 geben. Da ferner das Gute auf gleich viele Arten wie das Seiende [12]ausgesagt wird (denn es wird ausgesagt in der Kategorie der Substanz, wie zum Beispiel Gott und [25] die Vernunft, in der Kategorie der Qualität, wie die Tugenden, der Quantität, wie das rechte Maß, der Relation, wie das Nützliche, ferner in der Kategorie der Zeit, wie der rechte Augenblick, in der des Ortes, wie ein gesunder Wohnort, und anderes dieser Art), so kann es offenbar kein Allgemeines geben, das allen gemeinsam und Eines wäre. Sonst würde es ja nicht in allen Kategorien, sondern nur in einer einzigen ausgesagt werden.58 Da es ferner für Dinge, [30] die zu einer einzigen Idee gehören, auch nur eine Wissenschaft gibt, so dürfte es auch für alles, was gut ist, nur eine Wissenschaft geben. Nun gibt es aber viele, selbst von den Gütern, die unter eine einzige Kategorie fallen: So ist die Wissenschaft vom rechten Augenblick im Krieg die Strategie,59 bei der Krankheit die Heilkunst, die Wissenschaft vom rechten Maß in der Ernährung die Heilkunst und bei körperlichen Anstrengungen die Gymnastik. Man könnte aber auch fragen, was sie60[35] mit dem jeweiligen »An-sich«61 eigentlich meinen, ist doch in »Mensch-an-sich« [1096b] und in »Mensch« ein und derselbe Begriff, nämlich der des Menschen. Insofern es ja beide Male ein Mensch ist, unterscheiden sie sich gar nicht. Dasselbe gilt dann aber auch für das »Gute-an-sich«, insofern es gut ist. Auch wird das »Gute-an-sich« deshalb, weil es ewig ist,62 nicht in höherem Maß gut sein,63 ist doch auch ein dauerhaftes Weißes nicht weißer als [5] ein kurzlebiges.64 Überzeugender scheinen da schon die diesbezüglichen Lehren der Pythagoreer, die das Eine in die gleiche Reihe wie das Gute gestellt haben; ihnen scheint auch Speusippos gefolgt zu sein. Aber davon soll an anderer Stelle die Rede sein.65 Gegen das soeben Gesagte aber [13]könnte man Bedenken anmelden, weil bei ihnen66 ja nicht von jedem Gut [10] die Rede ist, sondern nur das an sich Erstrebte und Geschätzte nach EINER Idee benannt werde; das aber, was es hervorbringt, irgendwie bewahrt oder das Gegenteil davon verhindert, werde nur durch dieses und somit in einem anderen Sinne gut genannt. Das Gute hätte dann offensichtlich eine doppelte Bedeutung: Einerseits wäre es das Gute an sich, andererseits aber das, was durch dieses gut ist.67 Trennen wir also [15] das Gute an sich von dem, was vorteilhaft ist, und betrachten wir, ob es nach einer einzigen Idee benannt werden kann. Wie beschaffen müsste also das sein, was man als das Gute-an-sich annimmt? Soll es das sein, was man auch als für sich allein bestehend anstrebt, wie das Denken, Sehen, gewisse Freuden und Ehren?68 Wenn wir das auch wegen etwas anderem erstreben, so könnte man es gleichwohl zum Guten-an-sich rechnen. Oder wäre Letzteres nichts [20] anderes als die Idee allein? In diesem Fall wäre sie eine Form ohne jeden Inhalt. Wenn aber auch die eben genannten Dinge69 zum Guten-an-sich gehören, dann muss sich in ihnen allen der Begriff des Guten als ein und derselbe zeigen, wie der Begriff »Weiß« im Schnee und im Bleiweiß derselbe ist.70 Bei der Ehre, beim Denken und bei der Freude ist aber der Begriff, auf welche Weise diese Dinge gut sind, jeweils ein anderer und verschieden. Also ist »gut« nichts Gemeinsames und kann nicht unter eine einzige [25] Idee fallen. Wie aber wird das Wort »gut« dann gebraucht? Es meint doch offenbar nicht Dinge, die zufällig den gleichen Namen haben. Ist es etwa deshalb, weil die Dinge, die man gut nennt, von einem Guten herkommen und alle auf ein Gutes abzielen oder (nennt man sie)71 vielmehr aus Analogie (gut)?72 Denn [14]dem Sehvermögen im Körper entspricht die Vernunft im Geiste, und was es sonst noch an Analogien gibt. [30] Doch das sollten wir vielleicht jetzt lassen, da eine genauere Behandlung wohl eher in eine andere Sparte der Philosophie73 fällt. Dasselbe gilt auch für die Idee. Denn selbst wenn es ein Gutes gibt, das Eines ist und allgemein ausgesagt wird74 oder das getrennt und an sich besteht, so ist es doch klar, dass dieses für den Menschen weder in seinem Handeln zu verwirklichen noch zu erwerben ist. Gerade ein solches Gut aber [35] wird hier gesucht. Vielleicht könnte jemand glauben, die Kenntnis [1097a] jener Idee des Guten wäre im Hinblick auf jene Güter, die man erwerben und verwirklichen kann, förderlicher, weil wir sie dann gleichsam als Muster hätten und auch das für uns Gute besser erkennen und dadurch erlangen könnten. Die Überlegung ist zwar einigermaßen überzeugend, widerspricht aber doch offensichtlich dem Vorgehen in den Wissenschaften. [5] Denn diese zielen zwar alle auf ein Gut ab und suchen, was ihnen noch fehlt,75 die Erkenntnis des Guten-an-sich aber lassen sie beiseite. Doch dass alle Fachleute ein so bedeutendes Hilfsmittel ignorieren und es nicht einmal vermissen sollten, ist nicht wahrscheinlich.76 Andererseits ist es schwer einzusehen, welchen Nutzen ein Weber oder Zimmermann für sein eigenes Handwerk haben sollte, wenn er dieses Gute-an-sich kennt, [10] oder wie einer ein besserer Arzt oder Stratege sein sollte, wenn er die entsprechende Idee geschaut hat. Offenkundig richtet der Arzt sein Augenmerk nicht auf die Gesundheit-an-sich, sondern auf die des Menschen oder vielleicht besser noch auf die eines bestimmten Menschen;77 denn er heilt ja jeweils einen Einzelnen.78 So viel also darüber.

[15]5[15] Kehren wir also zu der Frage zurück, was denn das gesuchte Gut79 sein könnte. Offensichtlich ist es bei jeder Handlung und bei jedem praktischen Können etwas anderes, etwas anderes in der Heilkunst, anderes wieder in der Feldherrnkunst und so weiter. Was ist nun das jeweilige Gut? Nicht das, weswegen alles Übrige getan wird? In der Heilkunst ist es die Gesundheit, in der Feldherrnkunst [20] der Sieg, in der Baukunst das Haus und so fort; bei jeder Handlung und bei jedem Vorhaben ist es das Ziel, denn um seinetwillen tun alle ja das Übrige.80 Wenn es daher ein Ziel allen Handelns gibt, so wäre dieses das Gut, das durch Handlungen verwirklicht wird, und wenn es mehrere Ziele gibt, dann sind es diese. So ist unsere Überlegung auf einem anderen Weg an demselben Punkt81 angelangt; wir müssen aber versuchen, [25] das noch besser zu verdeutlichen. Da es sich zeigt, dass es viele Ziele gibt, wir aber von diesen einige um anderer Dinge willen wählen, wie etwa Geld, Flöten82 und überhaupt Werkzeuge, so ist klar, dass nicht alle Ziele Endziele sind. Das höchste Gut aber ist offenbar ein Endziel. Daher wird, wenn es nur ein einziges Endziel gibt, dieses das Gesuchte sein, wenn aber mehrere, dann das zielhafteste83 unter ihnen. [30] Was um seiner selbst willen erstrebt wird, nennen wir zielhafter als das, was um eines anderen willen erstrebt wird, ebenso das, was niemals um eines anderen willen gewählt wird, zielhafter als das, was sowohl um seiner selbst willen als auch wegen eines anderen gewählt wird;84 mit einem Wort: Das Endziel ist das, was an sich gewollt wird und niemals um eines anderen willen. Als solches Endziel gilt insbesondere das Glück. [1097b] Dieses wählen wir immer um seiner selbst willen und niemals um etwas anderes willen; Ehre, [16]Lust85, Vernunft und jede Tugend wählen wir zwar auch um ihrer selbst willen (denn wenn wir auch nichts von ihnen hätten, würden wir doch jedes von ihnen wählen), wir wählen sie aber auch wegen des Glücks,86[5] weil wir annehmen, wir würden durch sie glücklich sein. Das Glück aber wählt niemand wegen dieser Dinge87, ja überhaupt nicht um einer anderen Sache willen.88 Zum selben Ergebnis kommt man offenbar auch, wenn man von der Autarkie ausgeht. Denn das vollendete Gut gilt als autark. Unter »autark« verstehen wir nicht, was für einen Menschen, der allein und isoliert lebt, genügt, sondern was auch für die Eltern, [10] Kinder, Ehefrau und überhaupt für die Freunde und Mitbürger genügt, da der Mensch ja seiner Natur nach für die politische Gemeinschaft bestimmt ist.89 Hier muss man freilich eine Grenze ziehen; denn wenn man das auf die Vorfahren und Nachkommen und auf die Freunde der Freunde ausdehnen wollte, so käme man ins Unendliche. Doch das ist später zu untersuchen.90 Unter »autark« verstehen wir das, was für sich allein genommen [15] das Leben erstrebenswert macht, ohne dass es einer weiteren Sache bedarf. Und das, so glauben wir, ist das Glück. Ja mehr noch, wir halten es für das Erstrebenswerteste von allem, und zwar so, dass man ihm nichts mehr hinzufügen kann – könnte man ihm noch etwas hinzufügen, so wäre das dann offensichtlich noch erstrebenswerter, auch wenn man ihm nur das kleinste Gut hinzufügte; denn das Hinzugefügte würde ein Mehr an Gut ergeben, und das größere Gut ist immer erstrebenswerter. [20] Das Glück erweist sich also als etwas Vollkommenes und Autarkes und ist somit das Ziel unseres Handelns.91

6 Allein der Aussage, dass das Glück das höchste Gut ist, [17]wird wohl jedermann zustimmen, und doch bedarf es noch einer genaueren Erklärung, was das Wesen des Glücks ist.92 Diese dürfte uns wohl gelingen, wenn wir die Funktion93 des Menschen in den Griff bekommen. [25] Wie nämlich für den Flötenspieler, für einen Bildhauer und für jeden Künstler und Handwerker, kurz für jeden, der eine Funktion und Tätigkeit hat, »gut« und »auf gute Weise« in der Funktion zu liegen scheint, so sollte man meinen, dass das auch beim Menschen so ist, wenn er wirklich eine Funktion hat. Sollte nun der Zimmermann und der Schuster eine bestimmte Funktion und Tätigkeit haben, der Mensch als solcher aber [30] keine, sondern von Natur aus ohne Funktion sein?94 Sollte nicht vielmehr, wie offenbar das Auge, die Hand und der Fuß, kurz jeder Körperteil eine bestimmte Funktion hat,95 so auch der Mensch neben all diesen Funktionen eine besondere Funktion haben? Und welche könnte das nun wohl sein? Das Leben offenbar nicht, denn das besitzen auch die Pflanzen; gesucht wird aber das dem Menschen Eigentümliche. [1098a] Das Leben müssen wir also beiseitelassen, soweit es auf Ernährung und Wachstum beruht. Als nächstes käme dann das Sinnesleben, aber auch dieses teilen wir offenkundig mit dem Pferd, dem Rind und mit jedem (anderen) Tier.96 So bleibt also nur das tätige Leben des Vernunftbegabten97. Von diesem98 gehorcht ein Teil der Vernunft, ein anderer aber [5] besitzt sie und denkt. Da aber auch dieses Leben99 in doppeltem Sinn zu verstehen ist, so muss es sich hier um das Leben in Tätigkeit handeln; denn dieses100 scheint man im eigentlicheren Sinn so zu nennen. Wenn nun die Funktion des Menschen eine Tätigkeit der Seele gemäß der Vernunft oder zumindest nicht ohne diese ist und wenn wir [18]sagen, dass die Funktion eines bestimmten Menschen und die eines bestimmten guten Menschen derselben Art angehören, wie etwa die eines Kitharaspielers und die eines guten [10] Kitharaspielers und so überhaupt in allen Fällen, indem wir dieses Plus an Tüchtigkeit noch zur Funktion hinzurechnen – denn die Funktion des Kitharaspielers ist es, Kithara zu spielen, die des guten aber, dies auf gute Weise zu tun – wenn das also der Fall ist, [101wenn wir aber als Funktion des Menschen eine bestimmte Lebensweise ansetzen, und zwar eine Tätigkeit der Seele und Handlungen mit Vernunft, als Funktion des guten Menschen, diese gut und angemessen zu tun, [15] und wenn jede Handlung nach der (dem Menschen) eigentümlichen Tugend vollendet wird,] dann ist das Gut für den Menschen eine Tätigkeit der Seele gemäß der Tüchtigkeit; wenn es aber mehrere Arten von Tüchtigkeit gibt, dann gemäß der besten und der zielhaftesten;102 und das noch dazu in einem vollen Menschenleben. Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling, und auch nicht ein Tag. So macht auch [20] ein Tag oder eine kurze Zeit keinen selig und glücklich.

7 Auf diese Weise sei also das Gut umrissen. Man muss nämlich wohl zuerst eine Skizze entwerfen103 und diese dann später genauer ausführen. Ist das einmal gut skizziert, so darf man wohl annehmen, dass ein jeder imstande ist, es selbst fortzuführen und auszuarbeiten, und dass die Zeit dabei eine treffliche Entdeckerin und Helferin ist. So sind ja auch die [25] Fortschritte in Wissenschaft und Kunst zustande gekommen; denn jeder kann hinzufügen, was noch fehlt.104 Man muss sich aber auch daran erinnern, was wir schon früher105 sagten, und darf nicht überall die gleiche Genauigkeit suchen, sondern jeweils nur die der zugrunde [19]liegenden Materie gemäße und nur so weit, wie es der jeweiligen Verfahrensweise angemessen ist. Denn ein Zimmermann und ein Geometer [30] suchen den rechten Winkel106 auf unterschiedliche Weise: Der eine, soweit er ihm für seine Arbeit nützlich ist, der andere aber sucht nach seinem Wesen oder seiner Qualität; denn er betrachtet die Wahrheit. Ebenso muss man auch bei allem anderen verfahren, damit nicht die Nebensachen zahlreicher werden als die Hauptsachen.107 Man darf auch nicht [1098b] bei allem die Ursache auf die gleiche Weise suchen, vielmehr genügt es auf manchen Gebieten, wenn das »Dass«108 richtig aufgezeigt wird, wie etwa bei den Prinzipien; das »Dass« ist ja ein Erstes und ein Prinzip. Von den Prinzipien aber werden die einen durch Induktion, die anderen durch Wahrnehmung, die dritten durch eine Art von Gewöhnung und andere wiederum auf andere Art und Weise erkannt. [5] Man muss aber versuchen, den einzelnen Prinzipien nachzugehen, wie es ihrer Natur entspricht, und sich bemühen, sie richtig zu definieren; denn sie haben großen Einfluss auf das Folgende, sagt man doch, der Anfang sei mehr als die Hälfte des Ganzen109 und von ihm ausgehend würden viele Fragen geklärt.

8 Wir dürfen den Anfang110 aber nicht nur aufgrund unserer Schlussfolgerungen [10] und Prämissen untersuchen, sondern auch aufgrund dessen, was man so allgemein darüber sagt. Denn mit der Wahrheit stimmen alle Tatsachen überein, mit dem Falschen aber gerät das Wahre bald in Widerspruch. Man unterscheidet nun drei Arten von Gütern111: die sogenannten äußeren, die seelischen und die körperlichen Güter; die seelischen bezeichnen wir im strengsten und [15] höchsten Sinn als Güter;112 die [20]seelischen Handlungen und Tätigkeiten aber schreiben wir dem Bereich der Seele zu. Daher dürfte wohl richtig sein, was wir sagten, wenigstens nach dieser alten und von den Philosophen geteilten Ansicht. Richtig ist aber auch, dass gewisse Handlungen und Tätigkeiten als Ziel genannt werden; so nämlich gehört es zu den seelischen [20] und nicht zu den äußeren Gütern. Auch das stimmt mit unserer Definition überein, dass man vom Glücklichen sagt, er lebe gut und handle gut; denn das Glück wurde ja als ein auf gute Weise Leben und ebenso Handeln bezeichnet.113

9 Aber auch alles, was man vom Glück verlangt, scheint sich in dem von uns Gesagten zu finden. Denn für die einen ist das Glück offenbar Tugend, für die anderen Klugheit, für die dritten eine Art Weisheit, [25] wieder andere glauben, das Glück sei all dieses oder eines davon, verbunden mit Lust oder doch nicht ohne sie.114 Andere nehmen auch noch das äußere Wohlergehen hinzu.115 Einige dieser Ansichten werden von vielen seit alter Zeit vertreten, andere nur von wenigen und berühmten Männern; es ist aber unwahrscheinlich, dass beide sich ganz und gar geirrt hätten, vielmehr werden sie wenigstens in einem Punkt, wenn nicht gar in den meisten Punkten Recht haben.116[30] Mit denen, die sagen, das Glück sei die Tugend oder eine bestimmte Art von Tugend, steht unsere Überlegung im Einklang; denn zur Tugend gehört die ihr gemäße117 Tätigkeit.118 Es macht aber wohl keinen geringen Unterschied, ob man das höchste Gut nur im Besitz oder auch im Gebrauch ansetzt und es als Disposition oder Betätigung auffasst. Denn die Disposition kann auch [1099a] vorhanden sein, ohne dass sie irgendetwas Gutes hervorbringt, wie bei einem, der schläft119 oder auch sonst wie untätig ist, die [21]Tätigkeit aber nicht; denn sie wird mit Notwendigkeit handeln und wird gut handeln. Wie bei den Olympischen Spielen nicht die Schönsten und Stärksten bekränzt werden, sondern die Wettkämpfer (denn unter ihnen befinden sich ja die Sieger120), so erlangen auch das Schöne und Gute im Leben diejenigen, die richtig handeln. [5] Ihr Leben ist auch an sich erfreulich. Sich freuen gehört ja zu den seelischen Dingen; erfreulich aber ist für jeden das, wovon er Liebhaber genannt wird, zum Beispiel ein Pferd für den Pferdeliebhaber und ein Schauspiel für den [10] Liebhaber von Schauspielen; und ebenso auch das Gerechte für den Freund der Gerechtigkeit und überhaupt das Tugendgemäße für den Freund der Tugend. Bei der breiten Masse stehen die erfreulichen Dinge miteinander in Widerstreit, weil sie nicht von Natur aus erfreulich sind, für die Liebhaber des Werthaften aber ist erfreulich, was von Natur aus erfreulich ist; solcher Art sind die tugendgemäßen Handlungen, sodass sie sowohl für die Freunde der Tugend als auch an sich erfreulich sind.121[15] Das Leben dieser Menschen122 bedarf daher keiner weiteren Freude wie eines Umhangs, sondern trägt die Freude in sich selbst. Dazu kommt noch, dass, wer sich an werthaften Handlungen nicht erfreut, auch nicht gut ist; denn niemand wird wohl den gerecht nennen, der am gerechten Handeln, oder den großzügig, der an [20] großzügigen Handlungen keine Freude hätte, und ebenso auch bei allem anderen. Wenn dem so ist, dann müssen wohl die tugendgemäßen Handlungen an sich erfreulich sein, aber nicht nur dies, sondern auch gut und werthaft und beides im höchsten Maß, wenn wirklich das Urteil des sittlich Guten über sie richtig ist;123 er urteilt aber so, wie wir gesagt haben.124 So ist also das Glück das Beste, Werthafteste und [22]Erfreulichste, [25] und diese Dinge kann man nicht voneinander trennen, wie es die delische Inschrift tut:

Das Werthafteste ist die Gerechtigkeit, das Beste ist die Gesundheit,

das Erfreulichste aber ist, das zu erlangen, was man liebt.125

Denn all das kommt den besten Tätigkeiten zu; diese [30] aber oder eine von ihnen, nämlich die beste, nennen wir das Glück. Gleichwohl aber scheint das Glück, wie wir sagten,126 auch noch äußerer Güter zu bedürfen. Es ist nämlich unmöglich, oder zumindest nicht leicht, werthafte Handlungen auszuführen, wenn man keine Hilfsmittel dazu hat. Viele Handlungen verrichten wir durch Freunde, durch Reichtum127 und durch politische Macht, [1099b] gleichsam als Werkzeuge. Andererseits trübt der Mangel an einigen Dingen, so etwa an edler Herkunft,128 an braven Kindern oder an Schönheit129, unsere Glückseligkeit; denn wer von ganz hässlichem Äußeren oder von niederer Herkunft oder einsam und kinderlos130 ist, der ist durchaus nicht glücklich, [5] und noch weniger vielleicht der, der ganz schlechte Kinder und Freunde hat oder gute, die gestorben sind. Wie wir also sagten, um glücklich zu sein, bedarf es offenbar auch solch günstiger Umstände, weshalb auch einige die Gunst der äußeren Umstände mit dem Glück gleichsetzen,131 andere jedoch die Tugend.

10 Daher ergibt sich nun die Frage, ob das Glück durch Lernen oder durch Gewöhnung oder [10] sonst wie durch Übung erworben werden kann, oder ob es uns durch göttliche Bestimmung oder auch durch Zufall zuteil wird. Wenn [23]es nun überhaupt ein Geschenk der Götter an die Menschen gibt, dann ist wahrscheinlich auch das Glück gottgegeben, und zwar umso mehr, als es von den menschlichen Gütern das Beste ist. Aber das gehört vielleicht eher zu einer anderen Untersuchung. Auch wenn das Glück [15] nicht von Gott gesandt ist, sondern durch Tugend und eine Art von Lernen oder Übung erworben wird, scheint es doch zu den göttlichsten Dingen132 zu gehören; denn der Preis und das Ziel der Tugend ist offenbar das höchste Gut und etwas Göttliches und Seliges. Das Glück wird dann wohl auch vielen gemeinsam sein. Denn durch Belehrung und Bemühung können es alle erlangen, wenn sie nicht, was die Tugend betrifft, verkümmert sind. [20] Wenn es aber besser ist, auf diese Weise als durch Zufall glücklich zu sein, so ist anzunehmen, dass es sich tatsächlich so verhält, entspricht es doch der Natur der Dinge, dass sie so gut wie nur möglich sind;133 dasselbe gilt auch für die Dinge, die durch praktisches Können und jede andere Ursache134 entstanden sind, und am meisten für das, was durch die beste Ursache entsteht. Das Größte und Beste dem Zufall zu überlassen, wäre wohl leichtfertig.135[25] Das Gesuchte wird zugleich auch aus unserer Definition des Glücks ersichtlich; denn wir haben es als eine bestimmte Tätigkeit der Seele im Sinne der Tugend bezeichnet.136 Von den übrigen Gütern sind die einen notwendige Grundbedingungen des Glücks, die anderen aber ihrer Natur nach Hilfsmittel und nützliche Werkzeuge. Das dürfte auch mit dem eingangs137 Gesagten übereinstimmen; dort haben wir ja das Ziel der Politik [30] als das höchste Gut festgelegt; diese aber bemüht sich ganz besonders darum, die Bürger mit gewissen Eigenschaften auszurüsten, das heißt, sie gut zu machen und [24]fähig, sittlich gut zu handeln. Mit Recht bezeichnen wir daher weder ein Rind noch ein Pferd noch irgendein anderes Lebewesen als glücklich; denn keines von ihnen [1100a] ist imstande, an einer solchen Tätigkeit teilzuhaben. Aus eben diesem Grund ist auch ein Kind nicht glücklich; denn wegen seines Alters ist es zu solchem Handeln noch nicht fähig. Wenn man Kinder dennoch glücklich nennt, so preist man sie glücklich in der Hoffnung, dass sie es einmal sein werden. Denn zum Glück gehört einmal, wie gesagt, vollendete Tugend und ein abgeschlossenes Leben138. [5] Im Leben gibt es ja viele Veränderungen und allerlei Zufälle, und selbst derjenige, dem es sehr gut geht, kann im Alter noch in schweres Unglück stürzen, wie die trojanische Sage von Priamos erzählt. Wer ein solches Schicksal erlebt hat und so elend gestorben ist, den wird niemand glücklich preisen.

11[10] Darf man auch sonst keinen Menschen bei Lebzeiten glücklich preisen,139 und müssen wir mit Solon140 auf das Ende schauen?141 Aber auch wenn man das so gelten lassen wollte, ist der Mensch dann wirklich glücklich, wenn er gestorben ist? Oder ist das nicht völlig absurd, besonders für uns, die wir das Glück doch für eine Art von Tätigsein auffassen? Wenn wir aber nicht [15] den Toten glücklich nennen und wenn auch Solon das nicht so meint, sondern nur, dass man erst jetzt einen Menschen mit Sicherheit glücklich preisen darf, weil er schon jenseits aller Übel und Unglücksfälle ist, so steht auch das nicht außer Streit. Denn auch für den Toten gibt es, so meint man, Böses und Gutes wie für den Lebenden, wenn es ihm auch nicht [20] bewusst wird, wie Ehre und Schande, Wohlergehen und Unglück der Kinder oder allgemein der Nachkommen. Doch auch das ist nicht unproblematisch. Denn wer bis ins hohe Alter [25]glückselig gelebt hat und entsprechend142 gestorben ist, dem kann in seinen Nachkommen noch mancherlei Unglück widerfahren; die einen [25] können gut sein und ein Leben finden, wie sie es verdienen, während bei den anderen genau das Gegenteil der Fall ist. Natürlich kann es ihnen auch durch den Abstand zwischen Generationen in mancherlei Weise anders ergehen.143 Es wäre doch unsinnig, wenn auch der Tote sich mit ihnen verändern würde und bald glücklich, bald wieder unglücklich würde. Unsinnig wäre es aber auch, wenn das Schicksal der Nachkommen überhaupt nicht, auch nicht für eine gewisse [30] Zeit, die Eltern berühren sollte. Doch kehren wir zu der früheren Frage144 zurück. Von ihr aus wird sich vielleicht auch das, was wir hier zu ermitteln suchen, beurteilen lassen. Wenn man auf das Ende schauen muss und erst dann einen jeden glückselig nennen kann, nicht weil er jetzt glückselig wäre, sondern weil er es vorher war, ist es da nicht unsinnig, dass dann, wenn er tatsächlich [35] glücklich ist, das faktisch Gegebene nicht die Wahrheit über ihn sein sollte, weil man ja [1100b] wegen der Wechselfälle die Lebenden nicht glücklich preisen mag und weil man das Glück für etwas Dauerhaftes und keineswegs leicht Veränderliches hält, das Schicksal aber bei ein und demselben Menschen sich häufig dreht und wendet? Offenbar müssten wir, wenn wir uns nach dem Schicksal richten wollten, [5] denselben Menschen oftmals glücklich und dann wieder unglücklich nennen und würden so den Glücklichen zu einer Art Chamäleon machen, zu jemandem, der auf morschem Boden steht.145 Oder ist es überhaupt falsch, sich nach den Fügungen des Schicksals zu richten? Denn es liegt nicht an ihm, ob jemand gut oder schlecht lebt; das menschliche [26]Leben bedarf ihrer, wie gesagt,146 zusätzlich, doch entscheidend [10] für das Glück sind die tugendgemäßen Tätigkeiten, für das Gegenteil aber die gegenteiligen.147 Die eben behandelte Frage bestätigt unsere Definition des Glücks. Denn bei keiner menschlichen Leistung gibt es eine solche Beständigkeit wie bei den Tätigkeiten der Tugend; diese gelten sogar als dauerhafter als die der Wissenschaften;148[15] unter ihnen sind die am höchsten geschätzten die dauerhaftesten, weil die Glückseligen in ihnen ganz besonders und unablässig ihr Leben verbringen. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass sie nicht vergessen werden. Was wir suchen, wird sich also beim Glücklichen finden, und er wird sein ganzes Leben hindurch so sein; denn stets oder doch mehr als alles andere wird er das Tugendgemäße tun und betrachten, [20] er wird die Schicksalsschläge aufs edelste und in jeder Hinsicht ganz angemessen ertragen,149 er, der wahrhaft gut ist, »vierkantig und ohne Tadel«.150 Da aber vieles durch Zufall geschieht, verschieden Großes und Kleines, werden die kleinen Glücksfälle und ebenso auch deren Gegenteil151 klarerweise keinen [25] Ausschlag auf das Leben haben, dagegen werden große und häufige Ereignisse, wenn sie glücklich sind, das Leben glückseliger machen (denn sie sind ja von Natur aus dazu da, das Leben zu verschönern, und sie zu gebrauchen ist edel und gut), tritt aber das Gegenteil ein, so beeinträchtigt und schädigt dies das glückselige Leben; denn es bringt Leid und behindert viele Tätigkeiten. [30] Gleichwohl wird auch dabei das Werthafte hindurchleuchten, wenn jemand gelassen zahlreiche schwere Schicksalsschläge erträgt, nicht weil er gegen Schmerzen unempfindlich ist, sondern weil er edel und von erhabener Gesinnung ist. Wenn aber, wie wir [27]sagten,152 die Tätigkeiten für das Leben entscheidend sind, dann kann wohl keiner von den Glückseligen unglücklich werden; denn niemals [35] wird er tun, was hassenswert oder schlecht ist.153 Wir meinen nämlich, dass der wahrhaft [1101a] Gute und Verständige154 alle Schicksalsschläge mit Anstand erträgt und aus den jeweiligen Gegebenheiten stets das Beste macht, wie auch ein guter Feldherr das vorhandene Heer möglichst kriegsgerecht einsetzt und ein guter Schuster aus dem gegebenen [5] Leder den besten Schuh macht; und genauso ist es bei allen anderen, die über ein praktischen Wissen verfügen. Wenn das richtig ist, dann wird der Glückliche wohl niemals unglücklich werden, allerdings auch nicht glückselig sein, wenn ihn ein Schicksal trifft, wie das des Priamos. Er wird aber auch nicht wandelbar und anfällig für Veränderungen155 sein; denn er wird nicht leicht aus dem Glück zu vertreiben sein, [10] nicht durch gewöhnliche Unglücksfälle, sondern nur durch viele große; freilich kann er aus diesen in kurzer Zeit nicht wieder zu seinem Glück zurückfinden, sondern, wenn überhaupt, dann nur nach Ablauf einer langen Zeit, wenn er in ihr große und edle Dinge erlangt hat. [15] Was hindert uns also daran, denjenigen glücklich zu nennen, der im Sinne vollkommener Tugend tätig und mit äußeren Gütern hinreichend versehen ist, und das nicht nur eine gewisse Zeit, sondern sein ganzes Leben lang? Oder muss man noch hinzufügen: und der so leben und dementsprechend sterben wird? Denn die Zukunft ist uns ja verborgen, das Glück aber gilt uns als Ziel und als etwas, das in jeder Hinsicht ganz und gar vollendet ist. Wenn dem so ist, dann werden wir diejenigen [20] unter den Lebenden glückselig nennen, auf die das Gesagte zutrifft und zutreffen wird, [28]glückselig freilich als Menschen.156 So viel also darüber. Dass das Schicksal der Nachkommen und das aller Freunde überhaupt nichts zu unserem Glück beisteuern sollte, scheint nur allzu lieblos und widerspricht den allgemeinen Vorstellungen. Da aber die Dinge, die dem Menschen zustoßen, zahlreich und ganz verschieden sind [25] und einige uns mehr, andere wieder weniger berühren, wäre es ein langwieriges, ja endloses Unterfangen, alle einzelnen Fälle zu unterscheiden; es wird wohl genügen, allgemein und in groben Umrissen157 darüber zu sprechen. Wenn nun, so wie ein Teil unserer eigenen Unglücksfälle ein gewisses Gewicht und Einfluss auf unser Leben hat, ein anderer [30] aber leichter zu ertragen zu sein scheint und es sich genauso auch hinsichtlich der Unglücksfälle all unserer Freunde verhält, wenn ferner der Unterschied, ob das jeweilige Ereignis einen Lebenden oder Toten betrifft, viel größer ist als der, ob Gesetzwidriges und Schreckliches in den Tragödien wirklich vorher stattgefunden hat oder nur auf der Bühne dargestellt wird, dann müssen wir auch diesen Unterschied mit bedenken, eher aber vielleicht noch [35] die Frage, ob die Toten an irgendeinem Gut oder am Gegenteil davon Anteil haben können.158[1101b] Wenn auch etwas bis zu ihnen dringt, sei es nun Gutes oder das Gegenteil davon, dann scheint es aufgrund des vorher Gesagten, schlechthin oder in Bezug auf die Toten, nur etwas Schwaches und Geringes zu sein; wenn aber nicht, dann ist es nur so groß und so beschaffen, dass es weder die Unglücklichen glücklich macht [5] noch den Glücklichen das Glück entzieht. Das Wohlergehen sowie das Unglück der Freunde scheinen also doch einen gewissen Einfluss auf die Toten zu haben, aber nur dergestalt und so weit, dass sie [29]weder die Glücklichen unglücklich machen noch etwas anderes dieser Art.

12[10] Nach diesen Klarstellungen wollen wir überlegen, ob das Glück zu den lobenswerten159 oder eher zu den schätzenswerten Dingen gehört. Denn klar ist, dass es nicht zu den bloßen Vermögen gehört.160 Alles Lobenswerte scheint deshalb gelobt zu werden, weil es eine bestimmte Qualität oder Relation hat; denn wir loben den Gerechten, den Tapferen, kurz den [15] Guten und die Tugend wegen ihrer Handlungen und Werke; ebenso den Starken, den Wettläufer und so weiter, weil er von Natur eine bestimmte Qualität besitzt und irgendwie in einer Relation zum Guten und Vortrefflichen steht. Das wird auch aus den Lobreden auf die Götter klar;161 sie erscheinen lächerlich, wollte man sie auf uns übertragen, [20] und zwar deshalb, weil Lob, wie wir sagten, durch ein In-Beziehung-Setzen zustande kommt. Wenn sich nun das Lob auf Derartiges162 bezieht, so ist klar, dass es für das Beste163 kein Lob gibt, sondern etwas Größeres und Besseres, wie es ja auch der Fall zu sein scheint. Denn wir preisen die Götter selig und glücklich und ebenso die göttlichsten unter den Menschen. [25] Dasselbe gilt auch für die Güter; denn niemand lobt das Glück, so wie man die Gerechtigkeit lobt, vielmehr nennt man es als etwas Göttlicheres und Besseres selig. So scheint auch Eudoxos mit richtigen Argumenten der Lust den Siegespreis zugesprochen zu haben.164 Dass sie nämlich, obwohl sie zu den Gütern gehört, nicht gelobt wird, zeige, wie er meinte, dass sie höher stehe [30] als das Lobenswerte, und von solcher Art seien Gott und das Gute; denn auf diese würde alles andere bezogen. Das Lob kommt also der Tugend zu;165 denn durch sie werden die Menschen [30]befähigt, werthaft zu handeln, das Enkomion166 jedoch gilt den Leistungen, den körperlichen gleichwie den seelischen. Aber das sollte vielleicht eher von denen genau untersucht werden, [35] die sich mit dem Enkomion beschäftigt haben. Für uns geht aus dem Gesagten klar hervor, [1102a] dass das Glück zum Schätzenswerten und Vollkommenen gehört. Das scheint auch deswegen der Fall zu sein, weil das Glück ein Prinzip ist; denn um seinetwillen tut jeder alles Übrige, das Prinzip und die Ursache der Güter aber ist unserer Meinung nach etwas Schätzenswertes und Göttliches.

13[5] Da das Glück eine Art Tätigkeit der Seele im Sinne der vollkommenen Tugend ist,167 gilt es nun wohl die Tugend zu betrachten; denn vielleicht werden wir so eine bessere Auffassung vom Glück bekommen. Man glaubt, dass sich auch der wahre Politiker am meisten um die Tugend bemüht; denn er will die Bürger gut machen und gehorsam gegenüber den [10] Gesetzen.168 Als Beispiel dafür haben wir die Gesetzgeber der Kreter und Lakedaimonier169 und wenn es noch andere dieser Art gegeben hat. Wenn diese Untersuchung zur politischen Wissenschaft gehört, dann wird die Behandlung der Tugend klarerweise unserem ursprünglichen Vorhaben entsprechen. Die Tugend, die es zu untersuchen gilt, ist natürlich die menschliche170; denn wir fragten ja auch nach dem menschlichen Gut [15] und nach dem menschlichen Glück. Mit menschlicher Tugend meinen wir nicht die Tüchtigkeit des Leibes, sondern die der Seele; und auch mit Glück meinen wir eine Tätigkeit der Seele. Wenn dem so ist, dann muss offenbar der Politiker einigermaßen über die Seele Bescheid wissen, wie ja auch derjenige, der die Augen heilen will, [20] den ganzen Körper kennen sollte,171 und das umso mehr, je [31]schätzenswerter und besser die Politik ist als die Medizin; die Gebildeten unter den Ärzten bemühen sich sehr um das Wissen über den Körper. So sollte also auch der Politiker die Seele untersuchen, und zwar im Hinblick auf die gesuchten Dinge172 und nur soweit es für sie notwendig ist; [25] genauer darauf einzugehen lohnt sich hier wohl nicht. Über die Seele wird einiges hinreichend in den exoterischen Schriften173 gesagt, was wir auch hier heranziehen können: so zum Beispiel, dass der eine Teil von ihr vernunftlos ist, der andere aber Vernunft besitzt.174 Ob diese so getrennt sind wie die Teile des Körpers und wie alles [30] Teilbare oder ob sie nur der Definition nach zwei sind, der Natur nach aber untrennbar, wie bei einem runden Körper das Konvexe und Konkave, ist für die vorliegende Untersuchung unerheblich.175 Vom Vernunftlosen wiederum scheint der eine Teil allem176 gemeinsam, und dieser ist das Vegetative;177 ich meine damit die Ursache der Ernährung und des Wachstums. Denn ein solches Vermögen der Seele wird man wohl bei allem annehmen, was sich ernährt, [1102b] auch bei den Embryos, und dasselbe auch bei den ausgewachsenen Individuen; es ist doch das Logischste, dass es sich auch bei ihnen um dasselbe Vermögen handelt. Die Tugend dieses Vermögens ist allen Lebewesen gemeinsam und offenbar nicht spezifisch menschlich; denn dieser Teil, [5] dieses Vermögen, scheint besonders im Schlaf tätig zu sein,178 gerade im Schlaf aber zeigt sich am wenigsten, ob einer gut oder schlecht ist (weshalb man auch sagt, dass sich die Glücklichen ihr halbes Leben lang nicht von den Unglücklichen unterscheiden; und das mit Recht: Denn der Schlaf ist eine Untätigkeit der Seele, soweit man sie gut oder schlecht nennt),179 außer es dringen bestimmte Bewegungen in geringem [32]Ausmaß doch bis zur Seele durch [10] und bewirken so, dass die Traumvorstellungen der Guten besser sind als die der gewöhnlichen Menschen.180 Doch genug davon; lassen wir das Ernährungsvermögen auf sich beruhen, da es naturgemäß an der menschlichen Tugend keinen Anteil hat. Es scheint auch noch eine andere natürliche Seite der Seele zu geben, die zwar vernunftlos ist, aber doch irgendwie Anteil hat an der Vernunft. Beim Beherrschten und beim Unbeherrschten181 loben wir die [15] Vernunft und den vernunftbegabten Teil der Seele; denn er treibt ja in richtiger Weise zum Besten an; es zeigt sich aber bei diesen Menschen noch etwas anderes von Natur aus Vernunftwidriges, das gegen die Vernunft kämpft und sich ihr widersetzt. Genauso wie die gelähmten Glieder des Körpers, wenn man sie nach rechts bewegen will, entgegengesetzt nach links ausweichen, so ist es auch bei der Seele; [20] denn die Antriebe182 der Unbeherrschten gehen in die entgegengesetzten Richtungen. Allerdings sehen wir beim Körper die abweichende Bewegung, bei der Seele aber nicht. Nichtsdestoweniger müssen wir wohl auch bei der Seele etwas annehmen, das gegen die Vernunft ist, sich ihr widersetzt und widerstrebt. [25] In welchem Sinn es etwas anderes ist, spielt hier keine Rolle.183 Wie wir gesagt haben,184 scheint aber auch dieser Teil an der Vernunft teilzuhaben; wenigstens gehorcht er beim Beherrschten der Vernunft – beim Besonnenen und Tapferen ist er vielleicht noch gehorsamer; denn dort stimmt alles mit der Vernunft überein. Es scheint also auch der vernunftlose Teil etwas Zweifaches zu sein.185 Denn einerseits hat der vegetative Teil mit der Vernunft gar nichts zu tun, [30] andererseits aber hat der begehrende und allgemein der strebende Teil irgendwie Anteil an [33]ihr, insofern er auf sie hört und ihr gehorcht. So sagen wir ja auch, wir tragen dem Vater und den Freunden Rechnung, und meinen das nicht so wie in der Mathematik. Dass das Vernunftlose in gewisser Weise der Vernunft gehorcht, zeigen auch die Ermahnung und jede Art von Tadel und Ermunterung. [1103a] Wenn man also sagen muss, dass auch dieser Teil186 Vernunft besitzt, dann wird auch der Vernunft besitzende etwas Zweifaches sein: das eine besitzt die Vernunft im eigentlichen Sinn und in sich selbst, das andere hört auf sie wie auf einen Vater. Entsprechend dieser Unterscheidung wird auch die Tugend eingeteilt. Denn bei den Tugenden nennen wir die einen [5] Tugenden des Denkens, die anderen Tugenden des Charakters;187 Tugenden des Denkens sind Weisheit, Einsicht und Klugheit, die des Charakters aber Großzügigkeit und Besonnenheit. Denn wenn wir vom Charakter sprechen, sagen wir nicht, jemand sei weise oder einsichtig, sondern dass er sanftmütig oder besonnen ist; wir loben aber auch den Weisen wegen seiner Disposition; die lobenswerten Dispositionen aber [10] nennen wir Tugenden.

[34]2. Buch

1 Die Tugend ist also eine doppelte: eine Tugend des Denkens und eine Tugend [15] des Charakters. Die Tugend des Denkens entsteht und wächst größtenteils durch Belehrung, weshalb sie der Erfahrung und Zeit1 bedarf; die Tugend des Charakters hingegen geht auf Gewöhnung (ḗthos) zurück; daher nennt man sie fast genauso wie die Gewohnheit (Ethik).2 Daraus erhellt auch, dass keine der Charaktertugenden uns von Natur aus zukommt;3 denn nichts, [20] was von Natur aus gegeben ist, kann sich durch Gewöhnung ändern; so wird auch der Stein4, der von Natur aus nach unten fällt, nicht daran gewöhnt werden, sich nach oben zu bewegen, auch wenn man ihn durch tausendmaliges Emporwerfen daran gewöhnen wollte; ebenso wenig kann man das Feuer daran gewöhnen, sich nach unten zu bewegen, und auch sonst kann wohl nichts daran gewöhnt werden, sich gegen seine Natur zu verhalten. Die Tugenden entstehen also in uns weder von Natur noch gegen die Natur, vielmehr [25] sind wir von Natur dazu befähigt, sie aufzunehmen5 und durch Gewöhnung zu vollenden.6 Ferner bringen wir bei allem, was uns von Natur zukommt, zuerst die Fähigkeit mit7 und entwickeln daraus erst später die Tätigkeiten (wie das auch bei der Sinneswahrnehmung deutlich ist: Diese haben wir nämlich nicht durch häufiges Sehen oder Hören erlangt, [30] sondern umgekehrt, weil wir sie besaßen, haben wir von ihnen Gebrauch gemacht und sie nicht erst durch den Gebrauch bekommen).8 Die Tugenden aber erwerben wir, indem wir sie zuvor betätigen, wie es ja auch sonst beim praktischen Können der Fall ist. Denn was wir erst machen können, [35]wenn wir es gelernt haben, das lernen wir, indem wir es machen; so wird man zum Beispiel Baumeister, indem man Häuser baut, und Kitharaspieler, indem man Kithara spielt; ebenso werden wir auch [1103b] gerecht, indem wir Gerechtes tun,9 besonnen, indem wir Besonnenes, und tapfer, indem wir Tapferes tun.10 Eine Bestätigung dafür ist auch, was in den Staaten geschieht, denn die Gesetzgeber machen die Bürger durch Gewöhnung gut; das ist es ja, was jeder Gesetzgeber will.11[5] Wer das nicht richtig macht, verfehlt sein Ziel, und das bedingt auch den Unterschied zwischen einer guten und einer schlechten Verfassung.12 Ferner ist es ein und dasselbe, woraus und wodurch jede Tugend entsteht und wodurch sie vergeht, und genauso auch jedes praktische Können; denn durch das Kitharaspielen entstehen sowohl die guten wie die schlechten Kitharaspieler. Entsprechend ist es [10] auch bei den Baumeistern und allen Übrigen; denn wenn sie gut bauen, werden sie gute Baumeister sein, wenn schlecht, dann schlechte. Wäre das nämlich nicht so, bedürfte es keines Lehrers, sondern alle würden schon als gute oder schlechte Baumeister geboren. So verhält es sich auch bei den Tugenden. Denn durch unser Verhalten im Umgang [15] mit den Menschen werden die einen gerecht, die anderen ungerecht,13 und durch unser Verhalten in gefährlichen Situationen, unsere Gewöhnung an Angst oder Mut werden die einen tapfer, die anderen Feiglinge. Ebenso verhält es sich auch bei der Begierde und beim Zorn. Die einen werden besonnen und mild, die anderen unmäßig und jähzornig, [20] je nachdem sie sich in der entsprechenden Situation so oder so verhalten. Mit einem Wort, die Eigenschaften erwachsen aus den entsprechenden Tätigkeiten. Daher muss man die Tätigkeiten als [36]bestimmte Qualitäten auffassen;14 denn die Eigenschaften entsprechen deren Unterschieden. Es ist also nicht unwesentlich, ob man schon als Kind diese oder jene Gewöhnung erfährt; [25] davon hängt viel, ja sogar alles ab.15

2 Da nun die vorliegende Untersuchung16 nicht wie unsere anderen17 auf theoretisches Wissen aus ist (denn wir untersuchen die Tugend nicht, um zu wissen, was sie ist, sondern damit wir gut werden, da die Untersuchung ja sonst keinerlei Nutzen hätte),18 müssen wir nun die Handlungen ins Auge fassen [30] und überlegen, wie man sie ausführen soll. Denn diese sind, wie wir sagten,19 ausschlaggebend auch für die Qualität der Eigenschaften. Dass man nach richtiger Überlegung20 handeln soll, sei hier als allgemeiner Grundsatz vorausgesetzt.21 Wir werden später22 noch darauf zu sprechen kommen, was die richtige Überlegung ist und wie sie sich zu den anderen Tugenden verhält. In einem Punkt aber soll schon im Vorhinein Übereinstimmung herrschen, [1104a] dass nämlich jede Erklärung im Bereich des Praktischen23 nur im Umriss und nicht mit übertriebener Genauigkeit gegeben werden soll; wir haben ja schon eingangs24 gesagt, dass die geforderten Erklärungen sich nach dem Untersuchungsgegenstand zu richten haben.25 Der Inhalt des Handelns und das Nützliche haben nichts, was ein für alle Mal feststünde, so wenig wie [5] das Gesunde. Wenn das schon für die Erklärung des Allgemeinen gilt, dann kann die Erklärung des Einzelnen erst recht keine Genauigkeit bieten; sie fällt ja weder unter ein bestimmtes praktisches Können noch unter eine Vorschrift, sondern der Handelnde muss selbst stets bedenken, was der Augenblick erfordert; genauso ist es ja auch in der Medizin26 und [10] in der Schifffahrtskunst. Aber obgleich [37]die vorliegende Untersuchung solcher Art ist,27 so muss man doch versuchen, Abhilfe zu schaffen. Zuerst muss man bedenken, dass derartige Eigenschaften ihrer Natur nach durch Mangel und Übermaß zugrunde gehen, wie wir es auch bei der Kraft und bei der Gesundheit sehen können (man muss nämlich das Sichtbare als Beweis für das Unsichtbare heranziehen28). [15] Denn ein Zuviel an Körpertraining zerstört die Kraft genauso wie ein Zuwenig; genauso zerstört ein Zuviel oder Zuwenig an Essen und Trinken die Gesundheit; das richtige Maß aber schafft Gesundheit, fördert und erhält sie. So verhält es sich nun auch bei Besonnenheit, Tapferkeit und bei allen anderen Tugenden. [20] Wer nämlich aus Furcht vor allem davonläuft und nirgends standhält, wird ein Feigling, wer aber schlechterdings nichts fürchtet, sondern auf alles losgeht, wird ein Held; desgleichen wird, wer jede Lust genießt und sich keiner enthält, zügellos, wer aber jede Lust meidet wie die Leute ohne Kultur, wird in gewisser Weise stumpfsinnig. [25] Also gehen Besonnenheit und Tapferkeit durch Übermaß und Mangel zugrunde, durch ein Mittelmaß hingegen bleiben sie erhalten. Aber nicht nur Entstehen, Wachsen und Zugrundegehen haben denselben Ursprung und dieselbe Ursache, sondern auch ihre Verwirklichung wird in demselben Bereich stattfinden. So ist es ja auch bei den [30] anderen, besser sichtbaren Dingen, wie etwa bei der Körperkraft; sie entsteht ja dadurch, dass man reichlich Nahrung zu sich nimmt und viele Strapazen aushält, und dazu ist wohl am ehesten der Starke imstande. Nicht anders ist es bei den Tugenden; denn dadurch, dass wir uns der Lust enthalten, werden wir besonnen, und wenn wir es einmal sind, [35] dann sind wir am meisten imstande, uns [38]der Lust zu enthalten. Desgleichen [1104b] auch bei der Tapferkeit: Indem wir uns daran gewöhnen, Furchterregendes zu verachten und auszuhalten, werden wir tapfer, und wenn wir es einmal sind, werden wir am meisten imstande sein, das Furchterregende auszuhalten. Als Zeichen, an dem man die Eigenschaften erkennt, müssen wir Lust oder Unlust hernehmen, [5] die mit den Taten verbunden sind; wer sich der körperlichen Lust enthält und eben daran seine Freude hat, ist besonnen, wer es aber nur ungern tut, ist zügellos;29 wer Furchtbares erträgt und sich daran erfreut oder zumindest dabei keine Unlust empfindet, ist tapfer, wer dabei aber Unlust empfindet, ist feige. Denn die Charaktertugend steht in Beziehung zu Lust und Unlust.30 Wegen der [10] Lust tun wir das Schlechte, wegen der Unlust unterlassen wir das Gute. Daher müssen wir sofort von Kindheit an, wie Platon sagt,31 in bestimmter Weise dazu erzogen werden, dass wir Lust und Unlust dort empfinden, wo wir es sollen;32 denn das ist die richtige Erziehung. Wenn ferner die Tugenden mit Handlungen und Affekten33 zu tun haben und jedem Affekt und jeder Handlung [15] Lust oder Unlust folgen, dann wird auch deshalb die Tugend im Zusammenhang mit Lust und Unlust stehen. Das zeigen auch die Bestrafungen, die damit arbeiten; sie sind ja eine Art von Heilung, und Heilungen entstehen naturgemäß durch das Entgegengesetzte.34 Wie wir vorhin35 sagten, ist ferner jede Eigenschaft der Seele ihrer Natur nach auf das bezogen und mit dem verbunden, wodurch die Seele [20] schlechter oder besser wird. Durch Lust und Unlust werden die Menschen schlecht, indem sie diese jeweils suchen oder meiden, was sie entweder nicht tun sollten, oder zumindest nicht zu dem Zeitpunkt und nicht auf die Art, wie sie es [39]tun, oder wie immer man das sonst noch durch Überlegung unterscheiden mag. Darum bestimmt man auch die Tugenden als eine Art Leidenschaftslosigkeit oder [25] Ruhe,36 allerdings nicht zu Recht, weil man das nur ganz allgemein behauptet und nicht hinzufügt, wie man soll, wie man nicht soll, wann man soll und so weiter. Unsere Voraussetzung ist also, dass eine derartige Tugend sich auf Lust und Unlust bei den besten Handlungen bezieht, das Laster aber genau das Gegenteil tut. Auch aus dem Folgenden dürfte uns klar werden, dass Tugend und Laster sich auf dieselben Dinge beziehen. [30] Es gibt drei Dinge, die wir erstreben, und drei, die wir meiden: das Werthafte, das Nützliche und das Angenehme, und als deren Gegenteil das Schändliche, das Schädliche und das Unangenehme;37 in Bezug auf all das trifft der gute Mensch das Richtige, der schlechte aber verfehlt es, besonders was die Lust betrifft. Diese ist nämlich allen [35] Lebewesen gemeinsam38 und begleitet alles, was zur Wahl steht; [1105a] denn auch das Werthafte und Nützliche erscheint angenehm. Ferner sind wir alle von Kindheit an mit der Lust groß geworden; daher ist es auch schwierig, diese Empfindung wieder loszuwerden, hat sie doch das ganze Leben durchtränkt.39 Auch unsere Handlungen beurteilen wir, die einen mehr, die anderen weniger, [5] nach Lust und Unlust.40 Daher muss sich unsere ganze Untersuchung darauf beziehen. Denn es ist für die Handlungen nicht unerheblich, ob man in guter oder in schlechter Weise Freude und Unlust empfindet. Ferner ist es, wie Heraklit sagt,41 schwieriger, mit der Lust zu kämpfen als mit dem Zorn; praktisches Können und Tugend beziehen sich aber immer auf das Schwierigere; [10] denn der Erfolg gilt auch dabei als besser. Folglich dreht [40]sich auch deshalb die ganze Untersuchung sowohl der Tugend als auch der Politik um Lust und Unlust. Wer diese gut gebraucht, wird gut sein, wer sie schlecht gebraucht, aber schlecht. Dass die Tugend sich auf Lust und Unlust42 bezieht, dass sie durch eben das wächst, woraus sie entsteht, [15] und zugrunde geht, wenn das nicht mehr in derselben Weise vorhanden ist, und dass sie in demselben tätig ist, woraus sie entstanden ist, das sei also hier festgestellt.

3 Es könnte aber jemand die Frage aufwerfen, wie wir das meinen, dass die, die Gerechtes tun, notwendigerweise gerecht werden, und besonnen die, die Besonnenes tun.43 Wenn sie nämlich tun, was gerecht und besonnen ist, [20]