Nixen - Mathias Schwappach - E-Book

Nixen E-Book

Mathias Schwappach

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Beschreibung

Ein unheimliches Erlebnis im kalifornischen „Sea Fun Park“ reißt die siebzehnjährige Maya abrupt aus ihrem Alltag: Fremdartige Gefühle ergreifen Besitz von ihr. Und als sie mit ihrer US-Junioren-Mannschaft zur Schwimm-Meisterschaft in die australische Stadt Darwin fliegt, wird alles noch viel schlimmer. Ihr Körper verändert sich. Es kommt zu bizarren Unfällen und beängstigenden Übergriffen. Während ein skrupelloser Manager aus dem Northern Territory in den Tiefen des indischen Ozeans das ganz große Geld wittert, und sogar die CIA unweit der Küste von einer geheimen unterirdischen Station aus eine neue Spezies ins Visier nimmt, beginnt für Maya ein Kampf um ihre neue Existenz.

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Mathias Schwappach

Nixen

Sie kommen aus der Tiefe

MATHIAS SCHWAPPACH

Nixen

Sie kommen aus der Tiefe

Mystery-Thriller

SWB MEDIA ENTERTAINMENT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die über die

Grenzen des Urheberrechtsgesetzes hinausgeht, ist unzulässig und strafbar.

Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen

sowie die Speicherung in elektronischen Systemen.

Veröffentlicht im Südwestbuch Verlag, einem Unternehmen der

SWB Media Entertainment Jürgen Wagner, Waiblingen, August 2020

1. Auflage 2020

ISBN 978-3-96438-032-8

© 2020 swb media entertainment, Gewerbestraße 2, 71332 Waiblingen

Lektorat: Johanna Ziwich, Waiblingen

Titelgestaltung: Dieter Borrmann, Kleve

Satz: swb media entertainment

Druck, Verarbeitung: PRINT GROUP, Szczecin

Für den Druck des Buches wurde chlor- und säurefreies Papier verwendet.

www.suedwestbuch.de

Prolog

Der Alarm hallt durch die Gänge. Gleich den Posaunen des jüngsten Tages, den Schreien einer wilden Bestie, dem japsenden Stöhnen einer todgeweihten Kreatur. Ein lauter, eindringlicher Ton, im Rhythmus eines Herzschlags – doch schlagen den 153 Besatzungsmitgliedern des Atomunterseebootes Alabama die Herzen längst in einem penetranten Stakkato von weitaus höherer Frequenz.

Nach einigen mutlosen Versuchen hat die Beleuchtung aufgegeben und wird ersetzt durch das hilflos flackernde Notlicht, das Gefahr verkündet und sich dem Takt des Alarmtons widersetzt. Einige rot aufleuchtende Schilder weisen im Halbdunkel auf Auswege hin, wo längst keine mehr sind. Es gibt keinen Ausweg.

In die ständig wiederaufbereitete Luft in 300 Metern Tiefe mischt sich der Geruch von Angstschweiß. In die metallisch dröhnende Sirene stimmen schreiende Kommandos mit ein, ängstliches Tuscheln als zischelnder Grundtenor – und Schmerzensschreie.

Eine routinemäßige Patrouillenfahrt sollte es werden. Bereithalten, lauschen, zuschlagen falls nötig. Dafür hat das Boot 24 Raketen des Typs Trident II D5 an Bord – inklusive der W88-Atomsprengköpfe. Bestens geeignet, um jeden Feind der Vereinigten Staaten binnen kürzester Zeit in seine Schranken zu weisen. Trotzdem ist es nun die Alabama selbst, der ihre Grenzen aufgezeigt werden. Nichts ist zu hören von der dramatischen Musik, die in Filmen oft derlei Szenarien untermalt. Hier wird nichts gespielt, nichts dramatisiert und nichts inszeniert – es ist bitterer Ernst.

„Wir haben Deck drei verloren!“

„Kein Kontakt zum Waffenraum.“

„Sherwood Forest sichern, die Raketen entschärfen!“

„Schotten dicht, sofort!“

Ein beständiges Summen und Rauschen setzt ein. Während der Ausbildung bei der Navy gehörten solche Szenarien zum Übungsstandard der Offiziere: Schnelle Entscheidungen sind gefragt, harte Gangart, nüchternes Kalkül. Der Simulator war gnadenlos, aber niemals tödlich. Die Sirene, das Licht, alles scheint seltsam vertraut. Und doch mischt sich Panik in die Abläufe, die so oft geübt wurden und auf deren bedingungsloses Gelingen es nun ankommt.

So sehr. Auf Gedeih und Verderb. Es muss gelingen!

„Da unten sind noch Männer!“

„Spielt keine Rolle, Schotten dicht, Matrose!“

„Wir sollen sie sterben lassen, Sir?“

Solche Argumente sind jetzt so hilfreich wie Mutters Anruf während des Blowjobs.

„Die sind tot, verdammt! Und wir gleich auch, wenn Sie weiter rumheulen! Schließt die Schotten! Sofort! Das ist ein Befehl!“

Weitere Widerworte gehen unter in einem bestialischen Schlag gegen den Rumpf der SSBN 1210, ein über 30 Jahre altes U-Boot der Ohio-Klasse, das seit 1981 die See befährt und nun in deren Schoß sein Ende finden soll. Ächzendes Metall. Wieder Schreie, wieder Kommandos, unterlegt mit dem kalten Kreischen des Alarms.

„Schadensbericht!“

„Die Außenhülle hält. Fragt sich allerdings, wie lange noch, Captain!“

„Funkspruch an die Admiralität: Mayday. Stehen unter Feindbeschuss. Sonar ist blind, keine Sichtung. Wir tappen im Dunkeln, wir sehen die Bastarde nicht!“

„Der Funk streikt, Sir. Wir haben den Kontakt verloren.“

„Wir müssen auftauchen! Schnell, schnell, hoch die alte Lady, sonst sind wir verloren!“

Der nächste Schlag bringt das Unterseeboot zum Zittern. Kein leichtes Beben, sondern ein richtiggehender Druck, als ob sich die 170 Meter lange Konstruktion plötzlich in eine durchdrehende Zentrifuge verwandelt hätte. Mitten in diesem Tremor scheint der Kommandoraum leicht abzusacken. Der Boden neigt sich. Offiziere, die eben noch hektisch auf Konsolen herumgehackt haben, fallen von ihren Sitzen, prallen gegen die Wände, Schaltpulte und Rohre. Ausrüstungsgegenstände und einstmals feste Installationen werden durch den Raum katapultiert oder brechen in der Mitte durch wie Streichhölzer.

Schreie, Sirenen, rotes Licht.

Es ist das Ende. Das traurige Ende der Alabama.

Noch bevor es die Marines begriffen haben, hat sich ihr letztes Refugium in der Tiefe des Indischen Ozeans mit dem eiskalten Wasser gefüllt. Die todbringenden Massen brechen durch Schotten, durch Wände, durch Decks. Die äußere Hülle ist überwunden, der Panzer durchstoßen; erst mal im Inneren, ist die Wut des Wassers nicht mehr zu bremsen und es ergießt sich unaufhaltsam über die Matrosen. Mit ungeheurem Druck drängt das Meer in das invasive Stückchen Luftraum unter Wasser, das der Mensch ihm abzutrotzen versucht hat. Wer nicht längst durch Metall oder elektrische Schläge zu Tode gekommen ist, dem bleiben nur noch Sekunden, um seinen inneren Frieden zu machen, bevor der Körper dem Druck des Salzwassers nachgibt und die brennenden und schreienden Lungen endgültig der entfesselten Macht erliegen.

Es kehrt wieder Stille ein in den Tiefen des Ozeans.

Keine Sirenen mehr, keine Schreie und kein ängstliches Flüstern.

Das Metall kreischt nicht mehr, sondern sinkt in zwei großen Stücken und vielen kleinen Splittern hinab in die dunkle Schwärze. Kleine Blasen steigen auf. Sie kommen aus einigen der Raketenschächte, die sich im Tosen des Überlebenskampfes einer todgeweihten Schar geöffnet haben, aber nicht wieder geschlossen wurden.

Es liegt wieder eine große Ruhe in allem.

Ein blauer Schein, friedlich und sanft, taucht die Szenerie in ein mystisches Licht.

Wale singen.

Es ist getan.

1

Ein blaues Licht erfüllte den Raum. Es hatte etwas Mystisches, etwas Sinnliches, es verlieh der Szenerie eine geheimnisvolle Atmosphäre. Gleich einem Blick in eine andere Welt, tief hinab in die verborgenen Abgründe der Ozeane. Die Besucher sollten glauben, selbst in diese unbekannte Unterwasserwelt einzutauchen – und auf eigene Faust vielerlei fremdartige Lebewesen zu entdecken. Eine unheimliche Begegnung der dritten Art, wenngleich von dieser Welt und absolut real.

Tatsächlich mochte sie diese Form der Unterhaltung gar nicht. Manchen Menschen galten Fische und Meerestiere oftmals nicht wirklich als Lebewesen. Sie waren ihnen zu fremd, zu andersartig, zu weit entfernt von ihrer eigenen, der trockenen Welt als landgebundene Säugetiere. Maya konnte das nicht nachvollziehen: Sie liebte Tiere. Jede Art, jede Ordnung, in jedem Lebensraum. Jedes auf seine Weise.

Fische, so anders und schuppig die Gesellen auch sein mochten; auch Schildkröten, Robben, Haie oder Wale – alles, was sich da draußen in den Weltmeeren und Gewässern tummelte, war ihr genauso wertvoll wie ein Pferd, ein Hund oder eine Katze. All diese Tiere hatten deshalb, ihrer Ansicht nach, ein Recht auf ein Leben in Freiheit. Nicht eingesperrt in kleine gläserne Kästen, die von den Menschen mit Blubberblasen und Spongebob-Figuren zu seltsamen Gestaltungen eines schrägen Humors dekoriert worden waren – und zur besonderen Heraushebung dieser skurrilen Inszenierung noch blau angestrahlt wurden. Sie sollten frei sein, in Schwärmen durch die Meere paddeln, die Riffe besiedeln, planschen und glücklich sein. Weit weg von hier. Unerreichbar und unzähmbar für die menschliche Lust am Schauen.

Maya schämte sich nicht für solcherlei Gedanken, wenngleich sie wusste, dass es eine recht kindliche, vielleicht sogar naive Fantasie war. Und sie fühlte sich in dieser Meinung mit jeder Sekunde bestätigt, da sie diese armen Kreaturen hinter den dicken Glasscheiben im bläulich durchbrochenen Halbdunkel des Aquariums betrachtete.

Sie legte eine Hand an das Glas, spürte die Kälte und fantasierte sich hinein in die dahinterliegende Miniaturwelt. Die Dekorateure hatten eine winzige Landschaft geschaffen, die auf 80 mal 40 Zentimetern wohl tatsächlich eine Art Meeresboden darstellen sollte. Da war beispielsweise so etwas wie ein Fels mit vielen Löchern und Höhlen, es gab Seeanemonen, der Boden war von rotem Sand bedeckt. Irgend ein Witzbold hatte obendrein noch eine Schatztruhe mit herausquellenden „Juwelen“ in der Mitte abgestellt. Die Fische waren eher klein: Clownfische, Diskusfische, Skalare und verschiedene kleine Buntbarsche tummelten sich in dieser Kulisse – einer menschlichen Fantasie vom Leben unter dem Meer.

Einer der Fische kam ganz nahe an die Scheibe heran und schien auf der anderen Seite an dem Glas zu nuckeln. Genau dort, wo Maya ihre Hand angelegt hatte. Sie betrachtete ihn eingehend. Die Augen des kleinen Clownfisches schienen kaum einer echten Wahrnehmung fähig. Unverwandt glotzte er in die Gegend. Die Schwanzflosse paddelte heftig, um den kleinen, kaum zehn Zentimeter langen Körper an Ort und Stelle zu halten. Das Maul ging direkt an der Scheibe auf und zu, er schien etwas zu suchen.

Maya betrachtete ihn eine Weile, versank in Gedanken. Woher mochte er wohl kommen? War er aus einer Zucht oder war er vielleicht schon einmal im Ozean geschwommen? Suchte er die Nähe zu ihr, oder wollte er nur einen vermeintlichen Eindringling vertreiben? Was anderen Menschen vermutlich ein Lachen, Mädchen ihres Alters mit Sicherheit ein verlegenes Kichern entlockt hätte, löste in diesem Moment bei ihr etwas ganz anderes aus: ein unbestimmtes Gefühl der Traurigkeit. Sie konnte nicht anders, es war einfach da.

„Er spürt die Wärme“, wurde sie von einer Stimme aus ihren Gedanken gerissen.

Sie drehte sich um. Hinter ihr stand ein Junge, kaum älter als sie selbst, jedoch gekleidet in der blaugelben Uniform der Sea Fun Park-Angestellten, die den Betrachter wohl an die Kluft eines Offiziers auf einem Kreuzfahrtschiff erinnern sollte. Sie hatte ihn nicht kommen hören, wusste nicht, wie lange er schon dagestanden hatte; hinter ihr, wartend, beobachtend. Er blickte in Richtung ihrer Hand an der Scheibe, wo der kleine Fisch auf der anderen Seite noch immer am Glas zu saugen schien. „Er spürt die Wärme deiner Hand an der Scheibe und hält diesen Anstieg der Temperatur für ein Lebewesen, vielleicht für Futter“, ergänzte der ungebetene Zuschauer seinen soeben angefangenen Satz und trat etwas näher an Maya heran.

Jene war allerdings nicht in der Stimmung für biologische Lektionen über Wasserbewohner. Sie schauderte, als der Junge direkt neben ihr war und seine Hand neben die ihre auf die Scheibe legte. Der kleine Clownfisch war nun ganz außer sich vor Aufregung.

„Ganz schön dämlich, findest du nicht?“, der Junge sprach einfach weiter, als sie ihm nicht antwortete, und lachte sie dabei an. „Er bekommt mehrmals am Tag etwas zu fressen und trotzdem folgt er ständig seinem Instinkt, schwimmt jeder Wärmequelle nach, aus reiner Panik, er könnte eine wichtige Nahrungsaufnahme verpassen. Reiner Instinkt.“

Er lachte noch einmal. Vermutlich darauf ausgelegt, auch Maya ein Lachen zu entlocken. Die Ermunterung verfehlte jedoch ihre Wirkung. Maya wandte ihren Blick kaum ab von dem Fisch auf der anderen Seite der Scheibe.

„Wie soll er es denn auch anders wissen?“, entgegnete sie nach einer Weile, mehr zu sich selbst als in Reaktion auf die plumpe Anmache. „Er hat vermutlich sein ganzes Leben dort drinnen verbracht. Und falls nicht, dann erinnert er sich ganz sicher nicht mehr an ein Leben in Freiheit.“ Nun sah sie zu dem Jungen hinüber und fuhr fort: „Er erkennt eben kein Muster darin, wann er etwas zu essen bekommt und von wem. Es ist immer dunkel, immer dieselbe Temperatur, immer dasselbe Umfeld. Er weiß nur, wann auch immer ein Mensch kommt, dann ist es soweit. Und eine solche Gelegenheit darf man einfach nicht verpassen.“

„Wow“, sagte der Junge und nahm seine Hand von der Scheibe. Das Grinsen auf seinem Gesicht war verschwunden. „Dir ist aber schon klar, dass es einfach nur ein Fisch ist. Wir sind hier bei Sea Fun, nicht in Guantanamo …?“

„Eigentlich ist die Vorstellung ziemlich traurig, wenn du es dir einmal genau überlegst“, sagte Maya, ohne auf den Einwurf des Jungen einzugehen. Sie blickte weiterhin in die kleinen schwarzen Augen und auf den orange und weiß gestreiften Körper, der sich nun wieder ganz auf ihre Hand konzentrierte. „Er kennt nichts anderes als diese kleine Welt dort drinnen. Seine Instinkte sagen ihm, er muss um Futter kämpfen, muss ständig danach suchen und erfolgreich sein, er muss jede Chance nutzen, denn in der Natur ist es keine Selbstverständlichkeit, etwas zu finden.“ Dann nahm auch sie die Hand von der Scheibe und blickte den Jungen direkt an. „Er schwimmt also da drinnen herum in dieser kargen, einengend kleinen Welt. Und den einzigen Vorteil, den der Verlust seiner Freiheit mit sich bringt, nämlich das ständige Angebot von Nahrung, den begreift er im Grunde gar nicht. Er spürt die Wärme, er schwimmt ihr entgegen, ernährt sich – und dann beginnt seine Suche von neuem.“

Der Junge schüttelte den Kopf. Er lachte noch mal, aber nicht mehr so fröhlich wie vorher. Es war mehr ein Lachen aus Verlegenheit, weil er nicht wusste, wie er reagieren sollte. Das Gespräch lief nicht ganz in die Richtung, die er sich eigentlich erhofft hatte. Normalerweise hätte er bereits mit dem ersten Satz bei einer Besucherin Pluspunkte sammeln können. Eine solche Reaktion war er nicht gewöhnt.

„Wow“, sagte er deshalb noch einmal und bemühte sich, freundlich und offen zu bleiben. „Wenn man dir so zuhört, bin ich mir nicht so ganz sicher, ob der Sea Fun Park der richtige Ort für dich ist, um Spaß zu haben. Du denkst ein bisschen zu viel nach. Es sind doch nur Fische und es macht Spaß, ihnen zuzusehen. Denen geht's schon ziemlich gut hier. Glaub mir!“

Auch dieser neuerliche Versuch ging nach hinten los.

Maya sah ihn kampflustig an.

„Da bin ich jetzt aber beruhigt“, sagte sie etwas schnippisch. „Wunderbar, dass du gerade noch mit ihnen gesprochen hast und sie dir versichert haben, dass es ihnen da drinnen total gut geht. Dass sie es lieben, zwischen Felsen, Anemonen und Pflanzen immer ein paar Zentimeter hin und wieder zurück zu schwimmen. Die Bewegungsfreiheit im Ozean wird ja auch gerne mal überschätzt.“

Der Junge wirkte nun wirklich verzweifelt.

„Ach komm schon“, entfuhr es ihm, im Tonfall etwas aggressiver, als er es eigentlich vorgehabt hatte. Langsam war er von diesem Mädchen tatsächlich ein wenig genervt. Dennoch kam er nicht los, dennoch wollte er ihr nicht diesen Sieg gönnen. Sie hatte etwas an sich, das ihn faszinierte.

Er räusperte sich und setzte neu an: „Es fehlt ihnen doch an nichts, sie haben Platz, sie bekommen Futter, unsere Biologen sind tipptopp und gestalten ihnen in den Becken alles so lebensecht wie nur irgend möglich“, referierte er weiter, fast wie ein Autoverkäufer, ziemlich stolz auf seine Argumente. „Man kann es mit seiner Kritik auch wirklich übertreiben.“

„Entschuldige bitte, wenn ich dir mit meinem Plädoyer für den Fisch, das übertriebene Bedürfnis nach Freiheit und das Zwangsverhalten einer Kreatur in Gefangenschaft den Tag versaut haben“, sagte Maya, ebenfalls leid, diese Diskussion noch weiterzuführen. Deshalb setzte sie an zum argumentativen Todesstoß: „Aber weißt du, vielleicht braucht man ja diese Einstellung, wenn man hier arbeitet und mit dem Vortäuschen von Wissen über Fische verzweifelt neue Freunde sucht.“

Der Junge seufzte und zuckte mit den Schultern. „Wenn du meinst.“

Er sah sich um. Keine anderen gut aussehenden Mädchen in Sichtweite, die anzusprechen sich lohnen würde. Die meisten der Besucher waren schon wesentlich weiter vorangekommen in der Beckenausstellung und beeilten sich, um den Rundgang noch vor Beginn der großen Show zu schaffen und sich in der Arena gute Plätze zu sichern. Nur dieses Mädchen war noch hier. Und ein paar vereinzelte ältere Ehepaare, die hin und wieder an ihnen vorbeiliefen und die beiden jungen Leute im Vorbeigehen abschätzig musterten.

„Können wir bitte noch mal von vorne anfangen?“, sagte der Junge an Maya gewandt und nun wieder ganz fröhlich, er streckte aufmunternd seine Hand aus. „Ich bin übrigens Fynn“, erklärte er und wackelte mit der Hand, wie zur Aufforderung, dass sie sie ergreifen sollte.

Maya seufzte und tat ihm schließlich den Gefallen. Ihre schnippische Art tat ihr schon fast wieder ein wenig leid. Eigentlich hatte Fynn ja lediglich ein Gespräch beginnen wollen, hatte vielleicht auf einen kleinen Flirt gehofft. Vielleicht war es unfair, ihn für den ersten Eindruck gleich zu verurteilen. Und eigentlich wusste sie ja selbst nicht so genau, weshalb sie der Anblick des kleinen Fisches in diesem Moment so traurig gemacht hatte.

„Maya“, sagte sie knapp und nahm seine Hand. Eine Geste, die ihr zwar fürchterlich altbacken und deplatziert vorkam. Aber vielleicht brauchte es solch ein Ritual, um in diesem misslungenen Kennenlernen doch noch die Kurve zu kriegen.

„Bist du mit einer Gruppe hier?“ fragte Fynn, dankbar für den Themenwechsel, und schaute sich demonstrativ um, wobei er ihre Hand etwas länger festhielt, als es sich für eine Begrüßung eigentlich gehörte.

„Ja, ich bin mit einigen Freundinnen hier“, erwiderte Maya und machte sich vorsichtig aus seinem Griff los. „Es ist ein Ausflug unseres Schwimmerteams. Wir haben uns für einen größeren Wettkampf in Australien qualifiziert und absolvieren derzeit ein Trainingscamp. Dieser Ausflug ist so eine Art Belohnung. Oder eine Stärkung der Gruppenmoral. Irgend so was halt.“

Fynn lachte wieder. „An deiner Moral müssen wir aber noch etwas arbeiten, wenn du die Gesellschaft eines Clownfisches der deines Teams vorziehst“, scherzte er. „Ich vermute mal, es war nicht unbedingt deine Idee, ausgerechnet in den Sea Fun Park zu kommen?“

Maya verzog keine Miene.

„Oh, meiner Moral geht es eigentlich ganz gut“, versetzte sie. „Ich mag es nur einfach nicht, wenn sich Menschen an gefangenen Tieren erfreuen.“ Als sie merkte, dass das Thema schon wieder aus dem Ruder lief, relativierte sie schnell: „Das hat aber nicht unbedingt etwas mit dem Park hier zu tun, es ist einfach nicht meine Art, Spaß zu haben. Sea Fun würde für mich eigentlich bedeuten, wirklich das Meer zu sehen und die Tiere dort zu betrachten, wo sie glücklich sind. Alles andere ist eben nicht so mein Ding.“

„Das ist sehr schade“, sagt Fynn, der erneut in einer Sackgasse steckte. Ganz so schwer hatte er sich das nicht vorgestellt. „Weißt du, ich bin eigentlich sehr gerne hier, ich mag die Atmosphäre“, wechselte er noch einmal das Thema und machte eine große Geste in die Runde. „Als Kind bin ich oft mit meinen Eltern hierhergekommen, mindestens fünf oder sechs Mal im Jahr. Seit vier Monaten habe ich nun sogar einen Job bei Sea Fun bekommen. Bringt zwar nicht viel Kohle, aber ich darf jeden Tag hier sein. Ich darf alles sehen, was ich früher schon immer mal sehen wollte. Die Welt hinter den Kulissen. Das, was die Besucher sonst nicht sehen dürfen.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu und ergänzte nach einer kleinen Pause: „Und ich darf es meinen Freunden zeigen, wenn sie das wollen.“

Er streckte ihr wieder die Hand entgegen. Maya betrachtete ihn kurz, erwiderte die Geste diesmal aber nicht.

„Klappt diese Masche oft?“, fragte sie dann keck.

Fynn ließ enttäuscht die Hand sinken.

„Was willst du mir denn zeigen, da hinter den Kulissen?“, fuhr sie dann fort. „Habt ihr da noch ein paar von diesen gefakten Schatztruhen, die nicht mehr in die Ausstellungsbecken gepasst haben?“

Fynns Miene verfinsterte sich.

„Oder zeigst du mir vielleicht eine stille, dunkle Ecke, wo keiner uns stören kann? Und dort dann noch irgendwelche anderen Sachen?“, fuhr Maya ihn an. „Weißt du, ich könnte mir vorstellen, mich ganz nett mit dir zu unterhalten, etwas über dich zu erfahren und dich vielleicht sogar sympathisch zu finden. Aber nach diesem Start, den wir hatten, gleich wieder auf den Backstage-Verführer umzuschalten, das ist nicht gerade ein Kompliment. Du musst mich für ziemlich verzweifelt halten.“

Der Tonfall der letzten Sätze war äußerst scharf und sehr direkt. Jetzt blickte sich Fynn nicht mehr heimlich nach anderen Mädchen um, sondern ganz starr in Mayas Gesicht. Vielleicht war es aber auch nur der Versuch, dem bohrenden Blick aus den tiefbraunen Augen seines Gegenübers standzuhalten. Was als ein Flirtversuch begonnen hatte, war längst zu einem verbalen Machtkampf geworden, den Fynn unter keinen Umständen verlieren wollte.

„Ich sage dir lieber nicht, wofür ich dich halte“, sagte er kalt, um dann sogleich sein Gegenüber zu entwaffnen: „Du musst nicht gleich so fies werden. Es war doch nicht böse gemeint. Ich wollte nur ein bisschen quatschen und jemanden kennenlernen. Nichts für ungut.“

Er trat ein wenig nervös von einem Fuß auf den anderen.

„Man sieht sich“, sagte er dann. Er wollte sich umdrehen und davongehen.

Maya griff nach seiner Hand, hielt sie fest, weshalb er wieder kehrtmachte. Sie seufzte.

„Es tut mir leid“, sagte sie dann. „Aber ich glaube, ich bin vielleicht nicht ganz die Art von Bekanntschaft, nach der du gesucht hast. Oder die Art Mädchen, die du sonst hier triffst. Ich bin von all dem hier nicht beeindruckt, eher etwas abgeschreckt. Oder sogar wütend. Das habe ich vielleicht ein ganz kleines bisschen an dir ausgelassen. Sorry.“

Fynn rang sich ein zaghaftes Lächeln ab. „Ja, denselben Gedanken hatte ich irgendwie auch gerade.“

Maya fasste einen Entschluss: „Was tust du denn so, wenn du nicht gerade mit ganz exklusiven Einblicken im Aquarium nach willigen Weibchen angelst?“, fragte sie aufmunternd, wandte sich von dem Schaubecken ab und bedeutete ihm, sie zu begleiten.

Fynn war dankbar für den Orts- und Themenwechsel.

Waffenstillstand.

Fynn und Maya schlenderten nebeneinander her, die schummrigen Gänge der Aquarienausstellung entlang. Alle Wände waren hier mit Becken versehen, in denen sich die verschiedensten Fische tummelten. Davor standen Besucher, beobachteten das Gewimmel und lasen die beleuchteten Inschriften auf den Tafeln neben jedem Becken. Welche Fische sich darin befanden, deren lateinische Fachbezeichnungen, woher sie stammten, was diese Art Besonderes auszeichnete und vieles mehr. Es herrschte ein permanentes Gemurmel unter den Besuchern, die entweder die Texte laut vorlasen oder über das soeben Gelernte diskutierten. Manche von ihnen schienen allerdings auch die Unterhaltung mit den Fischen hinter den Scheiben zu suchen. „Ja, was bist denn du für einer? Du bist ja ein ganz ein Hübscher! Guck mal, ich glaube, der mag mich!“ Solche und ähnliche Sätze hörte man immer wieder.

Maya und Fynn nahmen davon kaum Notiz, weder von den Fischen, noch von den Besuchern. Und sie vermieden es, in ein weiteres Becken zu schauen, um nicht ihren Disput vom Beginn der Begegnung wieder zu starten.

Mehrmals blickte Fynn zu seiner Begleiterin hinüber. Er wusste nicht so richtig, ob er mit seiner Tour bei dem Mädchen nun doch noch erfolgreich gewesen war, oder ob sie nur zufällig dieselbe Richtung hatten und sie deshalb seine Gegenwart duldete.

Nach wenigen Metern brach Maya das Schweigen: „Ich hätte einen Tipp für dich, wie du heute vielleicht zu deinem Erfolgserlebnis kommst“, sagte sie. „Wenn du hier drei Blondinen rumlaufen siehst, die so eng aufeinander hocken, dass sie fast siamesische Drillinge sein könnten, dann geh zu denen hin und zeig ihnen mal deine Show. Da wirst du bestimmt Glück haben“, empfahl Maya und lachte ihn aufmunternd an. Das Signal war deutlich: Kumpels, nicht mehr. Fynn schien es zu begreifen, denn er erwiderte ihr Lächeln. Es war ein offenes und ehrliches Lächeln, inzwischen völlig unverkrampft.

Mayas Feindseligkeit war verflogen und sie war sogar irgendwie froh, dass sie sich von den deprimierenden Gedanken über die Fische hinter Glas ein wenig ablenken konnte. Die Traurigkeit fühlte sie allerdings noch immer. Was war heute nur los mit ihr? Sie war doch sonst nicht so melancholisch.

„Sind das Freundinnen von dir?“

„Freundinnen nicht wirklich. Aber Kameradinnen aus meinem Team“, sagte sie.

„Was ist denn das genau für ein Team?“, wollte Fynn wissen.

„Die Landesauswahl für die U18-Weltmeisterschaft im Schwimmen“, erklärte Maya, völlig ohne Pathos in der Stimme. Fynn allerdings bekam große Augen.

„Echt jetzt? Ihr seid alle Profisportler?“

„So professionell, wie man das mit 17 Jahren halt sein kann“, sagte Maya und schlenkerte mit den Armen. „Wir gehen ganz normal zur Schule. Ansonsten wird aber viel trainiert. Da hockt man ständig aufeinander. Vielleicht sind sie ja tatsächlich so etwas wie meine Freundinnen. Andere gibt‘s jedenfalls nicht.“

„Du hast vorhin gesagt, der Besuch im Sea Fun Park sei eine Belohnung für einen gewonnenen Wettbewerb“, fuhr Fynn mit seinem Verhör fort. „Welcher war das denn?“

„Das war die Landesmeisterschaft, bei der die Auswahl für die Meisterschaft in Darwin festgelegt wurde“, erklärte Maya. „Die Plätze eins bis zwölf sind weitergekommen. Daraus haben sie dann das Team gebildet, womit wir in Darwin hoffentlich irgendeinen Titel holen. Zumindest in einer oder zwei Disziplinen.“

„Und was sind deine Disziplinen?“, wollte Fynn wissen.

„Ich mache bei allem so ein bisschen mit“, sagte Maya und lachte. „100 Meter, 200 Meter, 400 Meter, 2.000 Meter oder Staffel. Man muss ja schauen, dass man nicht gerade dann eine Pause einlegt, wenn vielleicht ein Titel drin gewesen wäre.“

„Dann spreche ich also gerade mit der Weltmeisterin aller Klassen im Schwimmen?“, versuchte sich Fynn noch einmal an einer Charme-Offensive.

„Du sprichst mit der möglichen U18-Weltmeisterin in bestenfalls einer der Klassen“, ließ Maya die Schmeichelei verpuffen. „Die anderen sind auch ganz gut. Vor allem die drei Blondinen, von denen ich dir eben erzählt habe.“ Sie zwinkerte.

Fynn verstand den erneuten Wink. „Dann werde ich mich mal auf die Suche machen. Ich möchte ja möglichst viele Weltmeisterinnen kennenlernen, bevor ihr alle berühmt werdet und kleine Parkangestellte wie mich gar nicht mehr beachtet.“

„Klingt nach einem guten Plan“, sagte Maya und war fast ein wenig erleichtert, dass sich die Unterhaltung sowie auch der Rundgang ihrem Ende zuneigten.

„Sehe ich denn unsere neue skeptischste Besucherin des Jahres vielleicht noch später in der Orca-Show?“, fügte Fynn an. „Es ist wirklich fantastisch, du wirst es lieben!“

Ob er wirklich glaubte, was er da gerade gesagt hatte?

Maya spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie wollte das Gespräch aber positiv beenden und nicht erneut in eine fruchtlose Diskussion über Gefangenschaft von Meerestieren einsteigen. Dafür war Fynn offensichtlich der falsche Zuhörer – und der Sea Fun Park in Kalifornien mit seinen zahlreichen Shows und Aquarien vermutlich der falsche Ort.

„Mal sehen“, sagte sie deshalb und lächelte Fynn zaghaft an.

„Klasse!“, rief jener sogleich. „Ich bin mir sicher, es wird dir gefallen. Big Skull ist atemberaubend – und was der alles kann, das glaubt man gar nicht.“ Mit stolzgeschwellter Brust fügte er hinzu: „Ich habe sogar auch einen kleinen Part in der Show!“

Maya seufzte. „Na, dann kann ich mir das natürlich auf keinen Fall entgehen lassen!“

Fynn ignorierte entweder den sarkastischen Unterton in ihrer Stimme – oder er bemerkte ihn gar nicht. Jedenfalls grinste er jetzt übers ganze Gesicht. „Abgemacht! Ich seh dich dann dort. Ich suche einfach mal nach einem kritischen Blick im Publikum.“

Maya fand das nicht wirklich lustig. Als sich ihre Miene wieder verfinsterte, fügte Fynn schnell beschwichtigend hinzu: „Es ist wirklich großartig. Du wirst sehen, den Tieren geht es gut. Sie sind gezähmt, fühlen sich wohl und folgen dennoch ihrer Natur, ihrem Instinkt. Ganz so, wie man sich das als Orca-Liebhaber wünscht, gell!“

Er knuffte sie neckisch in die Seite. Maya fühlte eine erneute Welle der Traurigkeit.

Jubel. Die Ränge des Arenatheaters mit dem großen Becken in der Mitte – dem absoluten Zentrum des Sea Fun Parks – waren bis auf den letzten Platz besetzt. Maya hatte sich einen Platz neben ihrer Freundin Peyton relativ mittig in der fünften Reihe gesichert. Da die kreisförmigen Sitzreihen wie in einem Amphitheater leicht anstiegen, hatte sie so dicht am Becken eine hervorragende Sicht auf das Geschehen. Sie konnte über die gläserne Absperrung rund um den Beckenrand hinweg schauen, überblickte das halbkreisförmige Becken, an dessen hinterem Ende eine schmale Bühne für die Tiertrainer gebaut worden war. Und Maya sah auch die zwei Orcas, die in dem rund fünf Meter tiefen Becken ihre Runden schwammen, immer wieder aus dem Wasser sprangen und wieder abtauchten. Die Menge war bereits jetzt begeistert.

Es war eine ganz besondere Faszination, die von diesen riesigen Killerwalen ausging. Rund fünf Tonnen wog ein erwachsenes Tier und wurde bis zu neun Meter lang. Maya überlegte, wie es den beiden in diesem Becken wohl gehen mochte, das kaum so tief war, wie die beiden lang waren – wodurch ihnen das naturgemäße tiefe Tauchen unmöglich gemacht wurde. Sie dachte an die Worte ihrer Bekanntschaft vom Nachmittag, dass es den Tieren an nichts fehle, dass sie glücklich seien, dass es ihnen gut gehe. Natürlich sahen sie so aus, als ob sie lachten, wann immer sie ihren Kopf aus den Wogen streckten und bei leicht geöffnetem Maul die Zähne zeigten. Doch was hinter den Stirnen dieser erhabenen Wesen vorgehen mochte, das wollte Maya sich gar nicht vorstellen.

Sie überkam wieder dieses Gefühl der Traurigkeit, das sie schon am Nachmittag verspürt hatte. Aber diesmal war da noch etwas anderes, das sie allerdings nicht in Worte fassen konnte. Eine Unruhe, ein Kribbeln und eine Aufregung, die sehr diffus und ohne konkretes Ziel blieb.

Maya rief sich zur Ordnung. Immerhin hatte sie Fynn versprochen zuzusehen, das wollte sie jetzt auch tun. Danach war ja immer noch genug Zeit, das Gesehene zu beurteilen und zu verdammen. Da ihre ganze Gruppe hier in der Arena saß, gab es bis nach der Show ohnehin keinen Ort, wo sie hätte hingehen können, wenn sie nicht später mit tausend Fragen gelöchert werden wollte.

Maya hielt Ausschau nach Fynn. Am Beckenrand im Zuschauerrund konnte sie ihn nicht entdecken. Kurz vor Beginn der Show bemerkte sie aber plötzlich eine Gestalt ganz hinten auf der anderen Seite des Beckens, die zu ihr herüberwinkte. Sie war sich zunächst nicht ganz sicher, winkte aber vorsorglich einmal kurz zurück, woraufhin die Gestalt begeistert noch die zweite Hand dazunahm und wild in der Luft herumfuchtelte.

„Sag mal, winkt dir der Typ dahinten etwa gerade zu?“, fragte Peyton, die das Ganze beobachtet hatte und Maya jetzt ungläubig anstarrte.

„Kann schon sein“, sagte Maya beiläufig, legte demonstrativ ihre Hände wieder in den Schoß, konnte sich aber ein verlegenes Lächeln nicht verkneifen.

„Kennst du den?“, fragte Peyton nochmals mit mehr Nachdruck.

„Ach, wir haben uns nur vorher im Aquarium kurz unterhalten.“

„Soso!“, tönte ihre Nebensitzerin und zwinkerte verschwörerisch.

„Nichts soso, er hat mir nur etwas erklärt.“

„Krass, ich würde echt auch gerne mal so schnell einen Typen klarmachen“, bemerkte Peyton mit etwas Neid in der Stimme. „Und, küsst er denn gut?“

Maya knuffte ihre Freundin in die Seite. „Das weiß ich doch nicht. Ich stecke doch nicht jedem Bademeister in einem Freizeitpark gleich meine Zunge in den Hals.“

„Schade“, meinte Peyton enttäuscht. „Dieser Ausflug fing gerade an, ein bisschen interessant zu werden. So viele kalte Fische, da hätte ein toller Hecht doch ganz gut reingepasst!“ Sie lachte.

Weiter kamen die beiden allerdings nicht, denn die Show begann.

Fynn hatte offensichtlich vor allem den Part, den Trainern ihre Hilfsmittel für den Umgang mit den Orcas im Becken zu reichen. Eimer mit Futter, eine Hupe, verschiedene Ringe und anderen Kram. Einer der Trainer hielt ein Mikrofon in der Hand, stand am vorderen Rande der Bühne, direkt vor dem Becken, und erklärte den Menschen allerlei Wissenswertes über die Orcas.

Die großen Schwertwale bewohnten vor allem küstennahe Gewässer. Sie lebten stets in Verbänden von bis zu 70 Tieren, selten sogar bis zu 150. Sie seien deshalb sehr soziale Tiere. Ihren wenig schmeichelhaften Zusatznamen des Killer- oder Mörderwales hätten sie wegen ihrer außerordentlich durchdachten und brutal anmutenden Jagdmethoden, womit sie unter anderem Fische, Meeressäuger wie Robben und gelegentlich sogar andere Wale effektiv zur Strecke brachten. Im Sea Fun Park lebten die beiden Wale Big Skull, ein Bulle mit dem stolzen Gewicht von über sechs Tonnen und einer Länge von gut sieben Metern, und sein Weibchen Melody – sie brachte immerhin noch rund fünf Tonnen auf die Waage und war sechseinhalb Meter lang.

Maya versuchte sich vorzustellen, welche Dimensionen dies waren – im Vergleich zu einem Menschen. Diese riesigen Vertreter der Gattung der Delfine waren wahrhaftig eine Gewichtsklasse für sich. Die aus dem Wasser ragende schwertförmige Finne des Männchens war etwas größer als jene des Weibchens; das ließ sich gut erkennen, obwohl sie beide abgeknickt waren. Weshalb das so war, darüber klärte der Trainer sein Publikum leider nicht auf. Anhand ihrer Finnen ließen sich die beiden Wale während ihrer Kunststücke im Becken jedenfalls ganz gut auseinander halten.

„Was die Wale hier tun, wird ihnen nicht aufgezwungen“, verkündete der Trainer über die Lautsprecheranlage. „Die Kunststücke sind an das natürliche Verhalten der Tiere angelehnt. Sie tun das alles sehr gerne, weil sie eine enge Beziehung zu ihren Trainern haben und weil sie das selbst machen wollen.“ Die Menge jubelte und applaudierte begeistert. Untermalt von bisweilen fetziger, dann wieder getragener und romantischer Musik, einer ausgeklügelten Lichtshow und kleinen Effekten gehorchten die beiden Meeressäuger den Kommandos der drei Trainer aufs Wort.

Einmal tanzte eine Trainerin am Beckenrand: Sie sprang auf der Stelle und drehte sich im Kreis, woraufhin Melody es ihr im Becken gleichtat. Als Höhepunkt des Tänzchens sprang die Trainerin zu der Orcadame ins Becken, hielt sie an den beiden vorderen Flossen, was wie eine Tanzhaltung aussah, und zu den Klängen eines klassischen Walzers drehten sich dann die beiden wie ein Tanzpaar im Kreis.

Der Trainer Big Skulls surfte indes auf dessen Rücken durchs Becken, gleich mehrere Runden. Dann sprang er mit einem Kopfsprung direkt vor dem Orcabullen ins Wasser, wurde von Big Skull noch ein gutes Stück vorangeschoben, dann wieder aufgenommen, und schließlich surfte er auf dessen Schnauze weiter zum Beckenrand.

Das Publikum war hingerissen und spendete jedem einzelnen Trick begeisterten Beifall; die Menge jubelte den Trainern zu und konnte gar nicht genug bekommen. Die Souvenirverkäufer, die mit Bauchläden voller Stofftiere, Kappen, T-Shirts und Programmhefte zwischen den Reihen umherliefen, brachten reichlich überteuerte Plüschorcas unters Volk – von denen einige sogleich auch Bekanntschaft mit dem feuchten Element ihrer lebendigen Vorbilder machten. Und zwar immer dann, wenn Melody und Big Skull mit ihren Schwanzflossen Wasser in die Zuschauer spritzten. Auch Maya und Peyton bekamen einiges ab.

„Meinst du, die pinkeln in das Wasser?“, fragte Peyton, die soeben einen riesigen Schwall abbekommen hatte und nun heftig prustete.

„Nein, nein“, beruhigte Maya ihre Begleiterin, „die haben ein Becken nebenan, wo sie austreten können.“ Erst nach ein paar Sekunden verzog sie ihre Miene zu einem breiten Grinsen.

„Du bist echt doof !“, rief Peyton und schüttelte sich angewidert.

Die Show näherte sich ihrem Höhepunkt. Der Trainer des Orcabullen war in der Mitte des Beckens. Big Skull nahm Anlauf, schwamm von unten an ihn heran, sprang in voller Länge senkrecht aus dem Wasser und katapultierte dabei den Mann mit seiner Schnauze gleichfalls in die Höhe. Jener stand für einige Sekunden senkrecht auf dem geschlossenen Maul des Orcas, sprang dann aus rund zehn Metern Höhe ab und landete mit einem Kopfsprung im Wasser. Die Zuschauer tobten vor Begeisterung, auch wenn der Aufprall beim Fall des Killerwals zurück ins Wasser noch mal gefühlt das halbe Becken ins Publikum gespritzt hatte.

Maya spürte jemanden auf ihre Schulter tippen. Sie wollte sich gerade zu Peyton umdrehen, als sie Fynn hinter sich entdeckte. Er hatte den Taucheranzug, mit dem er eben noch auf der Bühne des Beckens gestanden hatte, gegen eine kurze Hose und ein Sea Fun-Shirt eingetauscht. Nun saß er auf einem Platz hinter den Mädchen.

„Na, wie findest du sie?“, fragte er begeistert, ohne den Blick vom Becken abzuwenden, und wartete gar nicht erst Mayas Antwort ab. „Sind sie nicht atemberaubend?“

„Warum bist du denn nicht mit ihnen geschwommen?“, wollte Peyton wissen und ignorierte dabei den genervten Blick von Maya.

„Die Wale haben ihre festen Trainer und Bezugspersonen, nur die dürfen mit ihnen ins Wasser“, erklärte Fynn. „Alles andere wäre zu gefährlich. Es sind eben immer noch Raubtiere.“

Die beiden Mädchen nickten verständig und sahen zu, wie Big Skull eine letzte Runde durchs Becken drehte. Dabei lag er auf der Seite, eine seiner Brustflossen ragte aus dem Wasser und es schien, als würde er damit seinem Publikum zum Abschied zuwinken.

Maya fühlte Fynns Hände an ihren Schultern, die sie leicht zu massieren begannen. Es war ihr unangenehm, sie wollte aber hier unter all den Leuten keinen Mitarbeiter des Parks in Verlegenheit bringen. Peyton grinste verschwörerisch zu ihr herüber.

„Sie drehen nun ihre Abschiedsrunde, erst Skull, dann Melody“, erklärte Fynn überflüssigerweise. „Wenn sie ihre Sache gut gemacht haben, dann gibt der dritte Trainer dort hinten an der Bühne, der nicht im Wasser war, ein Signal mit einer Art Hundepfeife, was für die Wale bedeutet, sie dürfen sich ihre Belohnung abholen.“

Maya versuchte sich aus der allzu vertraulichen Berührung Fynns herauszuwinden. Aber er ließ nicht locker. Ihr Unwohlsein stieg mit jeder Sekunde. Warum musste er es nur wieder und wieder probieren? Sie hatte ihm doch ihren Standpunkt klar gemacht. Weshalb konnte er das nicht einfach begreifen?

Big Skull und Melody mimten im Wechsel den Abschied. Als Skull eine Runde beendet hatte und die Pfeife gepustet wurde – man hörte es nicht, konnte aber den Trainer dabei beobachten, wenn man davon wusste – unterbrach er jedoch seine Darbietung nicht, sondern schwamm winkend weiter.

Fynn lachte: „Das passiert manchmal“, erklärte er erneut in dem dozierenden Tonfall, mit dem er Maya vor knapp drei Stunden angesprochen hatte. „Er wird jetzt gemaßregelt, indem er etwas weniger von seiner Belohnung bekommt als sonst. Er muss sofort auf die Pfeife reagieren und das Kunststück abbrechen, nur dann gibt es die volle Ration.“

„Oh ja, den Tieren geht es ja so gut hier!“, brach es nun aus Maya heraus. Fynn hatte endgültig eine rote Linie erreicht. „Er macht doch alles, was man ihm sagt. Wieso soll er dann weniger zu fressen bekommen?“ Das undefinierbare Gefühl in ihr nahm immer mehr zu. Sie wurde immer unruhiger, aufgeregter, es fühlte sich fast schon so an wie Wut. Es lag an Fynn, seiner Aufdringlichkeit, den unerlaubten Berührungen, an dieser Situation mit den Tieren und der Ungerechtigkeit, die ihnen widerfuhr. Oder … war da noch etwas anderes?

„Nicht schon wieder!“, seufzte Fynn. „Entspann dich doch endlich mal“, meinte er und intensivierte dabei seinen Massagegriff an ihren Schultern. „Sie bekommen nachher noch mal was. Hier in der Arena muss er aber lernen, dass er auf das Signal immer zu gehorchen hat. Sonst tanzen uns die Orcas irgendwann auf der Nase herum. Und dann wird es gefährlich.“

Big Skull hatte seine zusätzliche Ehrenrunde beendet, war nun wieder vor der Bühne und streckte erwartungsvoll den Kopf aus dem Wasser. Er schien sich so richtig auf seine Belohnung zu freuen. Es kam aber kaum etwas. Ein lumpiger Fisch flog in sein Maul, das war alles.

„Och, nun ist er bestimmt frustriert!“, sagte Fynn und lachte. Derweil glitten seine Hände über Mayas Schultern, dann sanft und streichelnd ihre Arme hinab. Es lag eine gewisse Zärtlichkeit darin, die den Bogen endgültig überspannte – mit ungeahnten Folgen. Der Umschwung kam so plötzlich und unerwartet, dass später niemand mehr sagen oder erklären konnte, was eigentlich der Auslöser gewesen war, was den Ausschlag gegeben hatte, wodurch die ganze Situation so plötzlich diese dramatische Wendung nahm. Maya erfuhr es am eigenen Leibe.

Sie fühlte Wogen einer bisher nie gekannten Wut, die heiß und lodernd ihren Körper durchliefen. Gleichzeitig eine Anspannung aller ihrer Muskeln, eine Welle von Adrenalin und eine geradezu wilde Aggression, die mit Macht an die Oberfläche drängte. Sie schrieb es Fynn zu; woher sonst sollte das kommen? Sie schüttelte energisch seine Hände ab, fuhr zu ihm herum und funkelte ihn zornig an. „Lass das jetzt, verdammt, ich mag das nicht! Sieh es ein und erspar mir das Gegrapsche!“, zischte sie ihn an.

Fynn allerdings beachtete sie gar nicht mehr wirklich. Er hörte auch nicht, was sie zu ihm sagte. Seine Hände waren bereits, in der Bewegung verharrend, auf ihren Oberarmen liegengeblieben, noch bevor sie sie ganz abgeschüttelt hatte. Derweil starrte er mit einer Mischung aus Schreck und Faszination zum Becken hinüber.

Als Maya begriff, dass auch sämtliche Zuschauer um sie herum – einige waren sogar von ihren Plätzen aufgesprungen – fassungslos in Richtung des Beckens blickten, drehte sie sich wieder um und glaubte kurz, ihr Herz würde stillstehen.

Big Skull sah sie an.

Der Orca hatte sich im Wasser leicht gedreht, den Kopf über die Oberfläche gehoben und seine kaum sichtbaren Augen genau auf sie gerichtet. Nicht irgendwo in die Menge, nicht auf den Beckenrand oder die Absperrung, nicht auf einen ihm bekannten Aufseher oder vielleicht einen imaginären Punkt in seiner eigenen Welt. Nein, der Blick haftete direkt auf Maya. Dass er ihr galt, nur ihr ganz allein, das wusste sie im selben Moment, da sie den Blick des Orcas erwiderte – und ihm auch standhielt. Sie starrte zu dem Tier und der Wal blickte zurück, keiner unterbrach den Kontakt, der vom Raunen der Zuschauermenge begleitet wurde.

Sekunden vergingen, die Maya wie Stunden vorkamen. Derweil tobte in ihrem Inneren ein nie gekanntes emotionales Inferno. Der Blick berührte etwas in ihr. Oder nein, mehr noch, er war das letzte Puzzleteil einer Gefühlswelt, die sich ihrer bemächtigt hatte schon vom allerersten Moment an, als sie den Sea Fun Park betreten hatte. Schon seit Stunden versuchte sie es einzuordnen, es sich zu erklären. Die Melancholie, die unterschwellige Aggression, nun diese Wut – und zum ersten Mal seit deren Auftreten war sie sich sicher, all das waren nicht ihre eigenen Gefühle.

Maya atmete tief durch, ohne den Blickkontakt zu dem Orca zu unterbrechen. Sie spürte eine tiefe Verbundenheit. Und da war noch sehr viel mehr. Ohne es genau begreifen oder gar in Worte fassen zu können, spürte sie diese Emotionen, die nicht ihre eigenen waren. Sehr viel heftiger, sehr viel einnehmender und mit Sicherheit überwältigender als ihr der kleine Clownfisch am Nachmittag wohl jemals hätte vermitteln können. Eine tiefe, resignierende Melancholie wurde für Sekundenbruchteile von der Freude eines Wiedersehens, einer innigen Liebe, einem Beschützerinstinkt, fast schon einer Anbetung überlagert – bevor das Ganze genauso schnell in Verwirrung und Angst mündete.

Das Letzte, was Maya erkennen konnte, war die Wildheit, die Aggression, die Entschlossenheit, welche sie eigentlich sich selbst und dem Annäherungsversuch Fynns zugeschrieben hatte, die sie nun aber eindeutig einem anderen Ursprung zuordnen konnte. Denn in diese Gefühle mischte sich nun noch etwas ganz anderes, was ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte: Rachedurst – und die Lust zu töten.

„Was zum Teufel …“, entfuhr es Fynn.

Und dann ging plötzlich alles sehr schnell.

Noch bevor die Trainer wirklich wussten, wie ihnen geschah, war ihr Schicksal bereits besiegelt. Big Skull unterbrach den Blick, wandte sich um und tauchte ab. Er vollführte mit Melody unter Wasser eine Art Tanz, sie wirbelten in weiten Kreisen umeinander herum, nutzten das gesamte Ausmaß ihres Beckens, wurden schneller und immer schneller.

Während das Publikum jubelte und offenbar erwartete, eine Zugabe zu erleben, standen die drei Trainer weiterhin am Beckenrand und starrten ungläubig auf das unheimliche Schauspiel vor ihnen im Becken. Sie wussten dieses Verhalten nicht einzuordnen – wie sollten sie auch? Noch nie hatten die beiden Orcas so etwas getan. Sie ließen sich nun weder mit der Pfeife noch mit Futter rufen. Sie schwammen, gewannen immer mehr an Fahrt, das Wasser schwappte schon an den Seiten über den Rand, viel mehr als üblich. Das Publikum lachte noch immer, sobald es von einem Spritzer getroffen wurde. Die Sicherheitskräfte, die während der Show rund um das Becken gestanden hatten, waren längst zurückgewichen. Nicht so die Trainer. Sie standen da, diskutierten miteinander und versuchten das Verhalten der Orcas zu verstehen.

Als sie sich endlich der Tatsache bewusst wurden, wie schutzlos, wie ausgeliefert sie dort auf ihrem Podium – unmittelbar am Becken und völlig ohne jeden Schutzwall – standen, da war es auch schon zu spät. Mit einem gewaltigen Sprung erhob sich Big Skull aus dem Becken, als er gerade den linken Rand der Bühne erreichte hatte. Der mächtige, über sechs Tonnen schwere Leib schnellte aus dem Wasser, schlitterte in einem ungeheuren Tempo über die Bühne hinweg, wischte dabei die drei dort stehenden Menschen von der Plattform ins Wasser und glitt sodann auf der anderen Seite des Podiums selbst wieder hinein.

Erst jetzt begriffen langsam die ersten Zeugen der Szene, dass es sich hier keineswegs um ein Kunststück handelte. Die Jubelrufe blieben den Zuschauern im Halse stecken, wurden binnen weniger Sekunden von Tuscheln, von ersten ängstlichen Schreien und dem Weinen einiger Kinder abgelöst. Erste Zuschauer rannten zu den Ausgängen der Arena. Peytons und Mayas Teamkameraden waren einige von ihnen.

Fynn saß kreidebleich auf seinem Platz und konnte nicht glauben, was seine Augen ihm da zeigten. In Maya kochte indes ein Gemisch aus wilder Wut, ausgeflippter Aufregung und etwas, das sie nicht anders einordnen konnte als Ergebenheit. Sie traute ihren Gefühlen nicht mehr, hatte aber auch keine Zeit, weiter über sie nachzudenken oder sie gar zu ordnen. Denn die beiden Killerwale waren mit den Menschen im Wasser längst noch nicht fertig.

Während Melody noch in der Kreisbewegung ihre Trainerin gepackt und unter Wasser geschleift hatte, begann sich Big Skull mit den beiden Männern unbarmherzig zu vergnügen. Was vorher noch Kunststück gewesen war, wurde nun zum grausamen Spiel eines Orcas mit seiner Beute, wie man es in freier Wildbahn bisweilen auch mit Robben oder Pinguinen beobachten konnte. Er katapultierte die Männer abwechselnd meterhoch in die Luft, wo sie im Flug einen Bogen beschrieben. An dessen Ende wartete bereits wieder der Orca, um sie im Sprung mit den Zähnen aufzufangen. Allzu deutlich konnte man das Grauen in den Gesichtern ablesen, wann immer sie zwischen die Kiefer des Killerwals stürzten. Ihre panischen Schmerzensschreie erstickten im Wasser. Man hörte ihre Knochen brechen zwischen den mächtigen Zahnreihen des Raubtiers. Wann immer einer der beiden versuchte, schwimmend an eines der Beckenränder zu entkommen, schnappte sich der Orca sein Opfer erneut – und fuhr fort in seinem tödlichen Spiel.

Rasch erlahmten die Kräfte der Männer. Schon bald hörte man nur noch ein verzweifeltes, ein gepeinigtes Gurgeln und Röcheln, wenn sie für Sekunden noch einmal an die Wasseroberfläche gelangten. Das Wasser war stellenweise trübe von ihrem Blut, ihre Gliedmaßen hingen größtenteils nur noch in Fetzen am Rumpf. Schwimmen war nicht mehr möglich, entkommen ebenfalls nicht. Sie hatten beide begriffen, dass sie sterben würden.

Das Publikum drängte mittlerweile hektisch, schreiend und zeternd zu den Ausgängen. Eine Lautsprecherdurchsage rief permanent zur Ruhe auf. Kleinen Kindern wurden die Augen zugehalten. Hysterie und Unglaube paarten sich mit blankem Entsetzen und elementarer Furcht. Die Menschen wollten weg, einfach nur weg von diesem unbegreiflichen Massaker.

Melody hatte ihre mitgeschleifte Trainerin inzwischen längst ertränkt. Der leblose Körper der Frau trieb im Wasser. Sie widmete sich nun mit ihrem Partner dem fortwährenden Spiel, das auf sein grausames Finale zusteuerte. Im Vorbeischwimmen schnappte sich die Orcadame den Körper des einen Mannes und schmetterte ihn gegen den Beckenrand. Das Knacken seiner Knochen war bis in die hinterste Reihe des Auditoriums zu hören, der Laut ging durch Mark und Bein – der Mann wurde regelrecht zermalmt und war augenblicklich tot.

Derweil holte Big Skull erneut Schwung, warf den Körper seines eigenen Trainers mit einem mächtigen Sprung meterhoch in die Luft, genauso wie vorher beim Kunststück, nur noch etwas höher. In dessen Sturz sprang Melody aus dem Wasser in die Höhe, beschrieb einen Bogen, packte mit ihren mächtigen Kiefern zu und brach den Menschen mit einem martialischen Biss mitten entzwei. Die beiden Hälften klatschten unten wieder ins Wasser und färbten die unmittelbare Umgebung dunkel ein.

Im letzten Akt dieser regelrechten Hinrichtung schwammen sodann die beiden Orcas dicht an der toten Tiertrainerin im Wasser vorbei, packten deren Leiche jeweils an verschiedenen Stellen – Skull am Kopf und Melody an den Beinen – und rissen die Frau auseinander. Bevor sich schließlich beide Wale wieder auf die Seite drehten und winkend weitere Runden drehten.

In der Arena regierte längst das Chaos. Es herrschte die blanke Panik. Die Menschenmassen schrien und tobten, sie zeterten und schluchzten, sie trampelten noch etliche andere Besucher auf ihrer Flucht zu den Ausgängen nieder. Die Parkangestellten hatten alle Hände voll damit zu tun, die Situation irgendwie in den Griff zu bekommen – und versagten kläglich. Rasch leerte sich die Arena, die Panik verlagerte sich nach draußen, wo die Menschenmassen in Richtung der Ausgänge des Parks stoben. Nur noch vereinzelt saßen Menschen weinend auf ihren Sitzen in den verwaisten Reihen, quasi in Schockstarre, fassungslos über das soeben gesehene Unglück.

Als die ersten Kollegen von außerhalb der Arena endlich mit Gewehren bewaffnet an das Becken heraneilten, um einzugreifen, war das tödliche Theater längst vorüber. Big Skull und Melody schwammen gemächlich auf der Seite; und im Wasser trieben menschliche Überreste, die kaum mehr als solche erkennbar waren. Die Leichenteile ihrer einstigen Betreuer, die teils an der Wasseroberfläche dümpelten, teils auch schon auf den Boden des Beckens hinabsanken, ignorierten die Tiere völlig. Ruhig und ermattet drehten die Orcas ihre Runden. Die Parkangestellten standen fassungslos jenseits der gläsernen Barrikade rings um das Becken, starrten auf das schaurige Schlachtfeld, die blutigen Schlieren und die Stücke von Menschen im Wasser. Einer übergab sich. Die Schusswaffen kamen nicht mehr zum Einsatz.

Auch Fynn saß noch immer fassungslos und bleich auf seinem Platz und rührte sich nicht. „Was zur Hölle war das?“, flüsterte er immer wieder. „Was zur Hölle ... was zur Hölle war das?“

Maya war ebenfalls geblieben, während Peyton und der Rest des Teams sich längst der Flucht vor den entsetzlichen Szenen angeschlossen hatten. Das emotionale Chaos in ihr hatte sich gelegt. Sie fühlte jetzt nur noch eine unergründliche innere Leere. Was immer sie da soeben überkommen hatte, es war verschwunden. Zurück blieb ein junges Mädchen, das nunmehr zur Ruhe kam, beinahe erschöpft war – und wieder ganz bei sich selbst.

„Nahrung … Wärme … Futter … Es geht ihnen gut … Sie folgen ihrer Natur … ihrem Instinkt.“

Eine weitere Welle der Traurigkeit.

2

Die Gegensprechanlage auf dem Schreibtisch gab einen langanhaltenden Piepton von sich. Kurz darauf war die leicht verzerrte Stimme einer jungen Frau zu hören. Zaghaft und vorsichtig, die Worte mit größtem Bedacht gewählt.

„Mr. Crane, entschuldigen Sie bitte die Störung. Aber Mr. Beetle ist hier und möchte Sie sehen. Er sagt, es sei dringend.“

Castus Crane stand am Fenster seines Büros. Seine Nase berührte fast die Scheibe der mannshohen Panzerglasscheibe, die sein stattliches Büro in der obersten Etage des Crane-Towers in Darwin an drei Seiten von einem 47 Stockwerke tiefen Abgrund abgrenzte. Jenseits der Scheiben ging es steil abwärts in das Zentrum der australischen Großstadt. Es tummelten sich die Menschen, es floss der Verkehr. Im Stadtteil Nightcliff, dem sogenannten Tor der Hauptstadt des Northern Territory, das jene zum Indischen Ozean hin abschloss, war heute ein Markttag. Umso geschäftiger wuselte das Leben an den Fassaden der Bürogebäude vorüber. Weit entfernt von Castus Crane. Weit unter ihm. So denkbar weit unter ihm.

Erneut der Piepton. „Mr. Crane?“

Castus Crane kehrte zurück in die Realität. Er löste sich von der Scheibe, ging gemächlichen Schrittes zurück zu seinem Schreibtisch. Während er sich ruhig auf den maßgefertigten großen schwarzen Ledersessel gleiten ließ, betätigte er den Knopf seiner Sprechanlage.

„Soll reinkommen“, sagte er knapp.

Mit dem Stuhl drehte er sich nun in Richtung der Scheibe hinter seinem Rücken, so dass sein Besucher beim Eintreten zunächst nur die wuchtige Rückenlehne des Sessels wahrnehmen könnte. Crane liebte diese Auftritte. Nicht allein der Theatralik wegen, sondern auch hinsichtlich ihres einschüchternden Effektes auf das Gegenüber. Er wartete auf niemanden, er zollte keinem Gast auch nur den Hauch von Respekt, er allein gab den Takt an.

Während er auf das Geräusch der Türklinke der gleichfalls mit Leder verkleideten Doppeltür wartete, schweifte sein Blick noch einmal hinaus, durch die Scheibe, diesmal über die Grenzen seiner Stadt hinaus und weit über das Meer. Lediglich der Horizont begrenzte seine Aussicht. Ein Universum schier endloser Möglichkeiten, die er allesamt auszuschöpfen gedachte.

„Mr. Crane! Vielen Dank, dass Sie mich empfangen!“

Castus lauschte den Geräuschen hinter sich. Sein ungebetener Besucher hatte das Büro inzwischen betreten, die Tür hinter sich geschlossen und war nun bis kurz vor seinen Schreibtisch herangetreten. Kurz nach der Begrüßung – und einigen Sekunden Pause für den dramatischen Effekt – drehte sich Crane im Stuhl herum und blickte in die Augen eines leicht ergrauten Mannes im billigen beigen Anzug. Die zwischen den Knopfleisten des Sakkos baumelnde schlecht gebundene Krawatte war mit kleinen Kiwis verziert; das sollte wohl lustig wirken, war aber der Position seines Gastes gänzlich unangemessen. Mit minderwertigen Kunstlederschuhen scharrte er nervös auf dem edlen Parkett, womit das Penthousebüro des Firmeninhabers ausgelegt war. Eher zaghaft als selbstsicher stand Beetle vor dem Pult seines Chefs und schwitzte schon allein bei dessen Anblick. Er hatte schlechte Neuigkeiten, das ließ die Dringlichkeit seines unerwarteten Auftauchens schon erahnen. Und er wusste, dass dies Crane gleichfalls klar sein würde.

Crane musterte ihn einige Sekunden wortlos. Kostete die Nervosität seines Lakaien genüsslich aus.

Erst dann löste er die Spannung.

„Mr. Beetle“, erwiderte er, bewusst auf jegliche Begrüßung verzichtend, geschweige denn, dass er sich für einen Handschlag aus seinem Sessel erhoben hätte. „Was verschafft mir die Freude Ihres unangekündigten Besuches? Ich hoffe, es gibt gute Neuigkeiten!“

Er nahm einen Brieföffner in Form eines Dolches von seinem Schreibtisch, spielte damit herum und fixierte sein Gegenüber, während Beetle sich sammelte und zu seiner Rede ansetzte.

„Leider sind es keine so guten Neuigkeiten, Sir“, versuchte er es mit der offenen Taktik. „Wir haben auf unseren Antrag auf Revision und erneute Prüfung eine endgültige Antwort vom Ministerium erhalten. Man wird uns keine Genehmigung erteilen, Mr. Crane. Das wurde nun in letzter Instanz und ohne die Möglichkeit einer erneuten Prüfung entschieden. Es tut … es tut mir ...“

Beetle kippte die Stimme weg.

Er räusperte sich und setzte erneut an, ohne jedoch dem bohrenden Blick seines Bosses standhalten zu können, welcher ihn bis dahin keine einzige Sekunde lang aus dem Blickkontakt entlassen hatte.

„Unsere Quelle sagt, die ausgearbeitete Lösung sei zu invasiv“, fügte Beetle hinzu. „Das Ministerium befürchtet gravierende Folgeschäden, die auf lange Sicht kaum abschätzbar seien und deren Effekte auf das Outback man noch nicht einmal ansatzweise erörtern könne.“ Kurz streifte er die starren Augen Cranes und blickte dann rasch wieder zu Boden. „Der Eingriff in die Flora und Fauna vor Ort stünde in keinem Verhältnis zu der möglichen Ausbeute“, versuchte er dann seinen Bericht zu einem raschen Ende zu bringen. „Kurz und knapp: Es ist noch nicht offiziell, aber das Northern Territory wird uns keine Genehmigung erteilen, Sir. Jetzt nicht und auch in Zukunft nicht.“ Nach einer kurzen Pause fügte er kleinlaut und in einem weniger sachlichen Ton hinzu: „Es tut mir wirklich sehr leid.“

Cranes Blick haftete starr und kalt auf dem Häufchen Elend, das mal sein Abteilungsleiter im Claiming gewesen war. So nannte die Firma die undankbare Arbeit, die kurz zusammengefasst vor allem darin bestand, neue Gebiete mit guter Aussicht auf ein hohes Vorkommen von Bodenschätzen und fossilen Brennstoffen zunächst zu finden, dann oftmals auf verschlungenen Wegen zu erwerben und – für die spätere Nutzbarkeit am wichtigsten – die Rechte zur Gewinnung des vorhandenen Schatzes zu beschaffen. Übrigens nicht unbedingt zwingend in dieser Reihenfolge.

Letzteres war meistens die schwerste der drei Aufgaben. Besonders an Orten wie hier, in Australien, im Northern Territory, wo die Menschen ein geradezu krankhaft inniges Verhältnis zu einer im Gegenzug menschenfeindlichen Natur zu pflegen schienen. So kam es Crane und vielen anderen Investoren oftmals vor. Naturschutz war hier nicht nur eine bloße Worthülse im Wahlkampf regionaler Verwaltungen, sondern ganz im Gegenteil ein ganzer Wirtschaftszweig. Gespeist wurde er aus den Kassen, die vor allem von den zahlreichen Touristen in dieser Gegend reichlich gefüllt wurden. Sämtliche Einnahmen flossen wiederum auf direktem Wege zurück in den Erhalt der Natur, um damit dann noch mehr Touristen anzulocken. Und manchmal, so hatte man in Cranes Kreisen den Eindruck, schoss man damit in Down Under über jedes erträgliche Ziel hinaus.

Grund genug für die Etablierung einer entsprechenden Abteilung, wie Lucius Beetle sie seit Kurzem für Crane Industries führte. Diese Abteilung hatte im Grunde nichts anderes zu tun, als den dritten Schritt, die Genehmigung zur Ausbeutung eines Gebietes, dem zweiten Schritt, also dem Erwerb eines Gebietes, vorzuziehen. Legal war das nicht, aber umso einträglicher. Bedeutete es doch im Grunde nichts anderes, als dass Crane und seine Firma nur auf solche Gebiete ein Gebot abgaben, von denen sie im Vorfeld bereits wussten, dass sich dort Bodenschätze befanden, die später dann auch gefördert werden dürften. Dieses Wissen war alles andere als offiziell, weshalb die Grundstücke oftmals für kleines Geld und ohne nennenswerte Konkurrenz durch lästige Mitbieter den Besitzer wechselten. Danach musste nur noch die offizielle Genehmigung für den Abbau eingeholt werden. Eine formelle Nebensache, kaum der Rede wert, zumal jeder Beteiligte wusste – selbst jene auf behördlicher Seite – es sollte sein Schaden nicht sein. Da sah auch ein eingefleischter Politiker des Northern Territory gelegentlich ganz gerne mal über zerstörte Lebensräume oder Folgeschäden für Mensch und Tier hinweg, sofern auf dessen Konto eine mysteriöse Erbschaft, ein Lotteriegewinn oder dergleichen gutgeschrieben wurde.

Das System war von Crane Industries inzwischen perfektioniert worden. Die zuständige Abteilung Claiming, welche in den offiziellen Büchern des Konzerns zwar mit einem umfangreichen Budget auftauchte, jedoch mit völlig anderen als den dort beschiedenen Aufgaben betraut war, wechselte in regelmäßigen Abständen ihre Leiter. Genau genommen bestand diese Abteilung tatsächlich nur aus diesem Leiter, der keine weiteren Angestellten unter sich hatte. Höchstens freie Mitarbeiter – aber auch jene tauchten in keiner Auflistung im Zusammenhang mit Crane Industries auf. Diese schmale Besetzung barg eine Menge Vorteile, blieb sie doch stets anonym und garantierte einen minimalen Kreis von Eingeweihten.

Immer dann, wenn sich ein Abteilungsleiter möglicherweise etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte, wenn er ausnahmsweise doch auf einen allzu tugendhaften Vertreter der Politik, der Verwaltung oder von Recht und Ordnung getroffen war, schaffte man jene im Visier der Justiz befindlichen Ziele rasch beiseite, und stellte gleichzeitig neue Männer bereit, welche die Lage weiter betreuten. Und bereinigten. Ganz wie es die Situation erforderte.

Die Abteilung Claiming, die Castus Crane direkt unterstellt war, leistete ganze Arbeit. Die Kosten für die Akquise neuer Territorien ließen sich dank deren unermüdlicher Anstrengungen auf ein Minimum zurückfahren. Die Erträge hingegen stiegen in ungeahnte Höhen. Das System war sicher und – durch den permanenten Wechsel der Ausführenden, das Verschwinden und Stillschweigen ehemaliger Abteilungsleiter – kaum zurückzuverfolgen. Wer auf diesen Posten berufen wurde, der durfte sich auf dreierlei Vorteile freuen: ein schier unbegrenztes Budget, eine sehr überschaubare Dienstzeit von nur wenigen Jahren – und danach ein Leben in Saus und Braus bei bester finanzieller Versorgung, irgendwo in einem Staat ohne Auslieferungsabkommen.

Nur eines verkraftete die Absprache- und Bestechungspraxis der Abteilung Claiming so rein gar nicht: inoffizielle Förder„genehmigungen“ auf Grundstücke nämlich, worauf der Konzern letztere rasch erwarb, um dann zu erfahren, dass erstere nicht eingehalten wurden. Es war auch extrem selten, dass ein amtierender Abteilungsleiter mit einer solchen, äußerst bedauerlichen Nachricht im Büro seines Vorgesetzten vorstellig wurde. Denn es war ebenso klar, wem dieser Fehlschlag anzulasten war.

„Keine Genehmigung“, wiederholte Crane knapp und leise.

Es war totenstill im Raum.

„Richtig, Sir. Unsere Quelle ist sich so gut wie sicher“, wiederholte Beetle.

Crane wendete weiterhin den Brieföffner in seiner Hand hin und her.

„Und welche Maßnahmen haben Sie unternommen, Mr. Beetle?“

„Ich verstehe nicht, Sir“, sagte sein Besucher unsicher. „Wir haben, wie ich bereits sagte, das Ende aller möglichen Revisionen erreicht. Es gibt keine Maßnahmen mehr, die uns an diesem Punkt noch weiterbringen könnten.“ Er schluckte deutlich hörbar.

Crane ignorierte die Belehrung des Mannes: „Welche Maßnahmen haben Sie ergriffen, um den Entscheidungsprozess neu aufzurollen und zu unseren Gunsten umzukehren, Mister Head of Claiming?“

Beetle schaute drein wie eine Maus, die in das Terrarium einer Schlange gesetzt worden war. Er wusste, dass es keinen Ausweg gab. Was genau wollte sein Chef von ihm?

„Wir haben alles ausgeschöpft, was sich hier angeboten hat, Mr. Crane“, hob er an. Nach dem fragenden Blick seines Chefs fügte er rasch hinzu: „Natürlich ist nichts davon zu uns zurückzuverfolgen. Es gab Autos, kleine Gefälligkeiten, und die stillschweigenden Dienste diskreter Damen wurden bis ins Vorzimmer des Ministers dankend angenommen. All dies wurde mit positiven Rückmeldungen beschieden bezüglich der hervorragenden Aussichten auf den Erfolg unseres Anliegens. Wir waren wirklich äußerst zuversichtlich und optimistisch, dass der Umfang der von uns ergriffenen Maßnahmen ausreichen würde, Sir.“

Crane beobachtete den Tanz des Brieföffners in seinen Händen. Dann blickte er wieder auf.

„Sie waren also zuversichtlich und optimistisch, Mr. Beetle.“

Sein Abteilungsleiter blieb stumm.

„Zuversichtlich?“

Immer noch keine Antwort.

„Ist Ihnen klar, welche Summe wir bereits in dieses Gebiet investiert haben, allein um es zu erschließen?“, holte er dann aus. „Sofort nach der Überschreibung des Territoriums haben wir mit der Arbeit begonnen. Wir haben Unsummen in Straßen, in Rohrleitungen, in Infrastruktur investiert, was die lokale Administration immer wohlwollend lächelnd abgenickt hat – zumal ja auch die hiesigen Siedlungen von den privaten Investitionen profitieren. Anders ausgedrückt: Wir haben noch nicht einmal an der Oberfläche gekratzt, trotzdem im wahrsten Sinne des Wortes schon Hunderttausende in den Sand gesetzt.“

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort.

„Und jetzt, da wir den Punkt erreichen, dass Crane Industries endlich seinen Profit aus der Sache ziehen könnte – ein im Übrigen längst sicher geglaubter Profit – da besucht mich der Head of Claiming, liefert Niederlagen anstatt Ergebnisse. Und Sie sagen mir, Sie waren zuversichtlich, Mr. Beetle?“

Der Abteilungsleiter druckste herum, brachte aber kein Wort heraus.