No Way, Mr. Heartbreaker - Daniela Felbermayr - E-Book
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No Way, Mr. Heartbreaker E-Book

Daniela Felbermayr

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Beschreibung

Die Anwältin Victoria Williams arbeitet am Fall ihres Lebens, der ihr einen ordentlichen Sprung auf der Karriereleiter verschaffen soll, als in das Appartement gegenüber der attraktive Arzt und Womanizer Dr. Mark Turner einzieht. Er feiert wilde Parties, Frauen geben sich bei ihm die Klinke in die Hand und er provoziert Vicky bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Als Vicky dann auch noch ausgerechnet mit ihm bei ihrem aktuellen Fall zusammenarbeiten soll, fällt sie aus allen Wolken und kann ihr Unglück nicht fassen. Schon bald stellt sie fest, dass hinter dem provokanten, oberflächlichen Macho ein ganz anderer Mann steckt, als zunächst angenommen. Doch ... alte Gewohnheiten wird man nicht los und Vicky schwört sich selbst, nicht auf Mark hereinzufallen ... wenn das nur nicht so verdammt schwer wäre ...

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No Way, Mr. Heartbreaker

 

 

 

 

 

 

Impressum

© 2016 by Daniela Felbermayr

Cover: Daniela Felbermayr unter Verwendung von Depositphotos

Korrektorat: 2016 durch S.W. Korrekturen e.U.

 

Kontaktieren Sie mich unter [email protected]      

 

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Personen und Handlungen aus diesem Roman sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit oder Bezüge zu real existieren Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen und Warenzeichen, die in diesem Buch vorkommen, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Besitzer.

 

1

 

Mit einem sanften, kaum merklichen Ruck kam der Lift zum Stehen, und mit einem dumpfen „Pling“ öffneten sich seine massiven, aus glänzendem, kühl wirkendem Edelstahl gefertigten Türen so leichtläufig, als wären sie aus Seidenpapier. Victoria Williams, die Zeit ihres Lebens eigentlich immer nur Vicky genannt wurde, trat aus dem mit ruhigen Jazzklängen (dieses Mal war es Norah Jones gewesen) beschallten Lift heraus in den einladenden, mit hellbeige und braun gemustertem Teppich ausgelegten Flur, dessen taupefarbene Wände mit ansprechenden Kunstdrucken und attraktiven Pflanzen dekoriert war. Eine sanfte, kühle Brise wehte ihr aus der Klimaanlage entgegen und kühlte angenehm ihre Stirn und ihre Wangen, die gerade eben noch draußen auf der Straße von Manhattans Sommertemperaturen aufgeheizt worden waren.

 

Sie bewohnte jetzt seit etwas über acht Monaten eines der beiden Penthouse-Appartements eines neuen Appartementhauskomplexes an der zweiundsiebzigsten Straße direkt am Central Park und sie liebte ihr Zuhause. Jedes Mal, wenn sie aus dem Lift kam, kribbelte es ein klein wenig in ihrem Bauch. Immer war sie ein kleines bisschen aufgeregt, in dieses wunderschöne Luxusappartement zu kommen, in ihr wunderschönes Luxusappartement. Sie hatte lange hin und her überlegt, ob sie so unglaublich viel Geld für ein Appartement ausgeben sollte, noch dazu, wo sie Single war und gar nicht so viel Platz gebraucht hätte. Doch es schien, als gäbe es nirgendwo die perfekte Bleibe für sie. Nachdem sie sich von ihrem Exfreund getrennt hatte, war sie vorübergehend bei ihren Eltern eingezogen und hatte sich am Tag darauf auf die Suche nach einem neuen Zuhause gemacht. Sie hatte geschlagene zehn Monate gesucht und war irgendwann zu dem Schluss gekommen, wohl jede freie Rumpelkammer in New York schon mindestens einmal besichtigt zu haben. Hatte sich mit dem Gedanken abgefunden, wohl den Rest ihres Lebens in ihrem alten Kinderzimmer im Haus ihrer Eltern verbringen zu müssen, als sie eines Morgens im Internet auf die unscheinbare Anzeige einer Maklerin namens Valetta Tornson gestoßen war, die zwei Penthousewohnungen mit direktem Blick auf den Central Park bewarb. Vickys Herz hatte begonnen, schneller zu schlagen. Am Central Park zu wohnen, hatte sie sich schon immer gewünscht. Ihr war natürlich klar, dass sie sich auf ein kostspieliges Unterfangen einlassen würde. Immerhin waren grundsätzlich alle Wohnungen direkt in Manhattan unglaublich teuer. Und ein Penthouse am Central Park … doch dann hatte sie Valetta Tornson doch angerufen und sich überlegt, dass es bestimmt Sinn machte, in eine Immobilie zu investieren. Sie war zwar nicht gerade bewandert, wenn es um Geldanlage und Investment ging, aber sie wusste, dass es niemals falsch war, Geld in ein Haus, eine Wohnung oder ein Grundstück zu investieren. Außerdem … sie verdiente nicht schlecht, hatte einiges angespart und es war bestimmt kein Problem, den Rest über eine Hypothek zu finanzieren, wenn das Appartement ihr so zusagte, dass sie es haben wollte. Sie hatte sich die Anzeige noch einmal genau angesehen und sich darüber gewundert, dass sie so unauffällig gestaltet war. Es war lediglich ein kleiner, ca. drei mal fünf Zentimeter großer, schwarz umrahmter Kasten mit Namen der Maklerin, Kurzbeschreibung der Appartements und Telefonnummer. Noch nicht einmal eine E-Mail-Adresse oder eine Website war angegeben worden. Sie hatte sich die Nummer in schlampigen Zahlen auf dem oberen Rand der New York Times notiert, die vor ihr lag, und den Streifen abgerissen. Noch am selben Abend hatte sie einen Besichtigungstermin vereinbart. Und sich in der ersten Sekunde, als sie das Appartement betrat, verliebt.

 

Anfangs war es ihr merkwürdig und oft auch gespenstisch vorgekommen, ganz allein im Penthouse zu leben und noch nicht einmal Nachbarn zu haben. Vor allem nachts war es ziemlich gruselig, den langen und stillen Gang entlangzulaufen und sich dessen bewusst zu sein, dass niemand außer ihr selbst hier war. Doch mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, die oberste Etage mehr oder weniger für sich allein zu haben. Hier oben fühlte man sich wie im Paradies, auch wenn man mitten in der Großstadt war. Das Penthouse lag im zweiundfünfzigsten Stockwerk und war mit der Dachterrasse direkt zum Central Park ausgerichtet, sodass nur eine schmale Straße unten vorbeiführte, von der jedoch nur selten Verkehrslärm zu ihr herauf drang. Schon allein der Flur des Penthouse-Stockwerkes vermittelte exquisites, luxuriöses Flair. Sie erinnerte sich, dass sie sich sofort in das Haus und das Appartement verliebt hatte, als sie nur diesen Flur gesehen hatte. Alles hier vermittelte ein so unglaubliches Wohlgefühl, dass sie am liebsten sofort eingezogen wäre. Ihr war völlig bewusst, dass dies ihr neues Zuhause werden würde, und dass sie es jeden Tag ihres restlichen Lebens bedauern sollte, würde sie jetzt nicht zuschlagen. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie war mit der Maklerin aus dem Lift gestiegen und hatte sich zu Hause gefühlt. So, als würde sie nicht hier sein, um ein Appartement zu kaufen, sondern als hätte sie schon immer hier gelebt.

 

Vicky hatte sich für das linksseitige Appartement entschieden, was aber keinen besonderen Grund hatte. Beide Wohnungen waren absolut identisch errichtet worden und keine hatte der anderen gegenüber einen Nachteil. Als sie das Appartement gekauft hatte, war sie sicher gewesen, dass bald jemand neben ihr einziehen würde. Auch die Maklerin hatte ihr erzählt, dass es jede Menge Interessenten für dieses und das Nachbarappartement gab und dass sie sich wohl besser schnell entschied, wenn sie es wirklich haben wollte, ehe es ihr jemand vor der Nase wegschnappte. Vermutlich aber war das nur eine Taktik gewesen, um sie schneller zum Kauf zu überreden. Immerhin hatte das Appartement eine wirklich stolze Summe gekostet, die nicht jeder bereit war, zu bezahlen und die sich kaum jemand leisten konnte. Nach einer schlaflosen Nacht, einem Gespräch mit ihren Eltern und ihrem Bankberater hatte sie sich schließlich entschieden. Und kurze Zeit später war sie in ihr perfektes, neues Zuhause eingezogen.

 

Vicky Williams war vor drei Monaten dreiunddreißig geworden und arbeitete seit ihrem Abschluss an der juristischen Fakultät von Yale im Jahre Zweitausenddreizehn als Anwältin bei Kleinman & Stevens Lawyers an der Upper East Side. Ihr Spezialgebiet war das Strafrecht und in ihrer Kanzlei hatte sie sich auf diesem Terrain bereits ziemlich gut etabliert. Ihr Leben war fast so verlaufen, wie sie es als junges Mädchen immer geplant hatte. Abschluss in Yale, Job bei einer angesehenen Kanzlei. Sich bis fünfunddreißig dort zur Juniorpartnerin hocharbeiten und bis fünfundvierzig Seniorpartnerin werden. Und obwohl sie gerade erst dreiunddreißig geworden war, schien der Aufstieg zur Juniorpartnerin fast schon in greifbarer Nähe. Vor wenigen Wochen hatte sie den Fall des Immobilienmoguls Jay Kagan übernommen, dessen Frau seit einem verpatzten Facelift im Koma lag. Die Kagan-Group war ein großer Kunde der Kanzlei, allerdings mit der Tendenz zur Sprunghaftigkeit, was ihre Geschäftspartner anging, und gerade dieser prekäre Fall war es, der der Kanzlei die Zusammenarbeit mit der Kagan-Group für die nächsten Jahre sichern würde. Zumindest hatte Mr. Stevens, einer der Seniorpartner der Kanzlei ihr gesagt, als sie ihn gemeinsam durchgegangen waren. Don Stevens war sicher, würde Kleinman & Stevens den privaten, höchst persönlichen Fall des Eigentümers der Kagan-Group gewinnen, so würde einer der größten Mandanten des Unternehmens für die nächsten Jahre fixiert sein – und dem Anwalt, der den Fall gewann, würden nette Boni und vermutlich auch eine Beförderung zufallen. Vicky war sich darüber bewusst, dass sie sich bei diesem Fall auf eine harte Nuss einließ, doch wenn sie sich ins Zeug legte und in gewann, wäre sie ihrem nächsten beruflichen Ziel einen großen Schritt nähergekommen.

 

Vicky war eine hübsche junge Frau, mittelgroß und schlank, mit langem, dunkelbraunem Haar, das in sanften, großen Locken über ihre Schultern fiel. Ihr Gesicht war von hellem Teint und ihre Augen so blau wie das Karibische Meer. An diesem Tag trug sie einen grauen Bleistiftrock, eine weiße Bluse und Heels von Manolo Blahnik; über die Schulter hatte sie sich ihre große Tasche von Louis Vuitton gehängt, in der sich einige Akten befanden, die sie zu Hause überarbeiten wollte. Der Tag in der Kanzlei war anstrengend gewesen. Zuerst hatte sie am Vormittag einer Verhandlung beigewohnt und anschließend hatte sich ihr Mandant bei ihr seinen Kummer von der Seele geweint, weil er ab sofort geschieden war und tief in seinem Herzen wusste, dass er seine Frau, die ihn betrogen hatte, immer noch liebte. Sie war nie einer dieser Anwälte gewesen, die ihre Mandanten nach der Verhandlung im Regen stehen ließen. Viel eher kam sie hinterher einem Psychologen gleich, der tröstend zur Seite stand und einem sagte, dass das Leben nicht „fürn Arsch“ war und es sehr wohl Sinn machte, weiterzumachen. Der Mandant, der ihre Seelenheildienste an diesem Tag in Anspruch genommen hatte, war gerade geschieden worden, und Vicky hatte ihm einen beachtlichen Teil seines noch beachtlicheren Vermögens gesichert, da sie beweisen konnte, dass seine nunmehrige Exfrau ihn bereits mehrere Jahre hindurch finanziell wie auch physisch betrogen hatte. Doch Mr. Stanley, der gehörnte Ehemann, versicherte ihr wieder und wieder, dass er lieber sein gesamtes Vermögen und seinen linken Arm dazu verloren hätte, anstelle seiner geliebten Ehefrau, die es nicht nur ganz klassisch mit dem Gärtner, dem Pizzaboten und dem Kerl, der den Stromzähler ablas, getrieben hatte, sondern auch mit Studenten, die sie anschließend finanziell unterstützte, ebenso wie mit unzähligen Internetbekanntschaften, die sie alle auf Tinder kennengelernt hatte. Außerdem hatte sie während Mr. Stanleys Abwesenheit Sexpartys in seinem Hause im großen Stil organisiert und dabei Einnahmen erzielt, ohne sie dem Staate New York, der ebenfalls daran verdienen wollte und für den kostenpflichtige Sexpartys in den Zugehörigkeitsbereich der „Vergnügungssteuer“ fielen, zu melden, und war damit auch noch zur Steuersünderin geworden. Vicky hatte oft Mitleid mit ihren Mandanten. Während der Fall lief, hatten diese meist keine Zeit, sich ihrer Gefühle klar zu werden. Sie waren angespannt und standen unter Druck, mussten sich auf Aussagen und Verhandlung vorbereiten und spielten in Gedanken alle möglichen Ausgangsszenarien durch. Dann, wenn die Hauptverhandlung vorbei war, fiel all dieser Druck von den Mandanten ab, und ihnen wurde klar, dass ab dem jetzigen Zeitpunkt ihr Leben in komplett anderen Bahnen laufen würde wie bisher. Gerade bei Scheidungen war die Hauptverhandlung ein Wendepunkt im Leben. Alles würde sich ändern. Viele Mandanten feierten den Tag ihrer Scheidung, doch eine ganze Menge reagierte so wie Mr. Stanley – todtraurig und unglücklich, die Schuld bei sich selbst suchend und Ausflüchte findend, warum der Partner denn betrogen hatte. Vicky hatte Mitleid mit dem Mann, der Anfang fünfzig war, leicht untersetzt und auf dessen Kopf sich langsam, aber sicher eine Glatze abzeichnete. Und sie hoffte, selbst niemals in so eine scheinbar ausweglose Situation zu kommen. Situationen wie diese waren es, die sie darin bestätigten, Single zu bleiben. Wenn sie Mr. Stanley betrachtete, der vor den Scherben seiner Beziehung stand und keine Möglichkeit hatte, sie auf irgendeine Weise zu kitten, der sein halbes Leben lang eine Frau geliebt und mit ihr gelebt hatte, die ihn betrogen und belogen hatte, so war sie froh, abends nach Hause zu ihren Katzen zu kommen und die Füße hochlegen zu können. Kein Mann, der sie betrog. Kein Mann, der sie belog, und kein Mann, der ihr das Herz brach. Die paar Dates, die sie vor einiger Zeit auf Tinder gehabt hatte, hatten ihre Einstellung nur noch untermauert. In Zeiten wie diesen war es die bessere Lösung, Single zu bleiben. Alle jagten einem Optimalpartner hinterher, der online zwar verfügbar, im echten Leben aber nicht existent war.

 

Den Nachmittag hatte Vicky damit verbracht, sich auf einige Fälle vorzubereiten, die in den nächsten Tagen verhandelt werden sollten, und da es sich bei keinem um etwas wahnsinnig Brenzliges handelte und sie auch keinen Mandantentermin mehr wahrnehmen musste, beschloss sie, ausnahmsweise einmal pünktlich Feierabend zu machen und das Büro um halb fünf zu verlassen. Ein paar Akten hatten es dann aber doch noch in ihre Tasche geschafft, sodass von Feierabend im herkömmlichen Sinne wohl keine Rede sein konnte. Sie wollte den Abend auf ihrer Terrasse verbringen und die paar Fälle durchgehen, die sie mitgenommen hatte. Das sollte nicht länger als zwei, drei Stunden dauern. Dann würde sie sich vor dem Fernseher eine Pizza oder etwas vom Chinesen gönnen und den Abend gemütlich ausklingen lassen.

 

Für die Terrassen-Überstunden hatte sie sich selbst belohnt und auf dem Rückweg vom Büro nach Hause einen kleinen Abstecher zu Macys gemacht, sodass sich in den Tüten, die sie trug, ein Paar schwarze Stiefel, ein dazu passendes Kleid und zwei Hosen befanden.

 

Vicky bog um die Ecke zu ihrem Appartement, spürte einen stechenden, brennenden Schmerz in ihrem rechten Schienbein und fiel der Länge nach hin. Die Macys-Tüte krachte gegen die Eingangstür zu ihrer Linken, sodass die Schachtel mit den Stiefeln herauskatapultiert wurde, der Deckel der Schachtel sich öffnete und ein Stiefel herausfiel. Ihre Louis-Vuitton-Tasche flog in hohem Bogen nach vorne in Richtung Terrassentüre, und auch ihr Inhalt, der zum größten Teil aus Make-up, Notizblock, Kugelschreibern, aber auch ihrem Handy, zahlreichen Visitenkarten und ihrer Brieftasche bestand, bedeckte den Boden. Ihre Knie schmerzten und ihre Handgelenke, die auf dem Teppichboden entlang geschrammt waren, schrien vor Schmerz auf.

„Scheiße“, fluchte sie und rappelte sich so schnell wie möglich wieder auf. Sie fischte die Louis Vuitton heran, schaufelte den Inhalt hinein, hob sie auf, strich Rock und Bluse glatt und sah sich peinlich berührt um, um sicherzugehen, dass niemand sie beobachtet hatte. Ihr Schienbein pochte, und die Strumpfhose, die sie trug, hatte eine dicke Laufmasche, fast so, als wäre sie durch Stacheldraht geklettert.

 

Auf dem Flur, der direkt in ihr Appartement führte, herrschte ein heilloses Durcheinander aus Kisten, Kartons, Möbelstücken und Handwerkszeug. Die Holzkiste, über die sie gestolpert war, war mit einem Kartonschild beklebt, auf dem „Küchenkram“ stand. Von den Besitzern der Gegenstände fehlte hingegen jede Spur.

Helles Licht fiel durch die Glasschiebetür, die vom Flur hinaus auf die große Dachterrasse führte, auf der es einen Pool, einen Whirlpool, Liegestühle, eine Hollywoodschaukel und eine Grillmöglichkeit gab, und die einen außergewöhnlichen Blick auf Manhattan gewährte. Man konnte bis hinunter zum Hudson sehen. Besonders abends liebte sie den Ausblick von ihrer Terrasse.

 

Vicky kletterte über eine breite, fast kniehohe Schachtel, die direkt vor ihrer Eingangstür abgestellt worden war und die mit dem Wort „Kram“ beschriftet war, zog ihren rechten Zeigefinger über den Scanner neben ihrer Tür, die sich mit einem kaum hörbaren Klick öffnete. So würde nun endlich jemand in das zweite Appartement einziehen. Zwar war es nicht unbedingt ein idealer Start mit den neuen Nachbarn gewesen, aber … vielleicht hatten die Nachbarn das Chaos da draußen ja nicht selbst angerichtet, sondern unmotivierte Möbelpacker. Eigentlich freute Vicky sich darüber, dass endlich jemand in das andere Appartement einzog. Es waren schon mehrmals Interessenten für das rechtsseitige Appartement da gewesen, doch bei allen war es letztlich am Preis gescheitert. Zweihundertundzehn neue Quadratmeter mitten in Manhattan mit Blick auf den Central Park und den Hudson hatten eben ihren Preis. Ihre Freunde hatten sie bereits geneckt und sie „Die Glöcknerin von New York“ genannt, weil sie ganz allein oben im Penthouse wohnte und sich bislang niemand gefunden hatte, der nebenan einzog. Jetzt war sie ein kleines bisschen aufgeregt, was die neuen Nachbarn betraf, und hoffte, dass es nette Leute sein würden. Oft hatte sie, wenn sie abends allein draußen auf der Dachterrasse gesessen hatte, überlegt, wie schön es doch wäre, Nachbarn zu haben, mit denen sie sich gut verstand. Mit denen sie abends einen Drink draußen nahm, und die sie auch mal zum Essen oder zu einem Filmeabend einladen konnte. Sie war sich sicher, dass die Leute, die das andere Appartement gekauft hatten, bestimmt großartig sein würden und dass sie mit ihren neuen Nachbarn eine gute Zeit haben würde. Als Vicky damals eingezogen war, hatte ihr die Maklerin erklärt, dass die Dachterrasse, wenn dies gewünscht war, in zwei separate Teile getrennt werden konnte, sobald ein neuer Eigentümer einzog. Eigentlich war die Terrasse als Gemeinschaftsbereich geplant, aber viele Menschen bevorzugten es, einen privaten Rückzugsort zu haben. Solange Vicky aber die einzige Bewohnerin auf der Penthouseetage war, würde die Terrasse ihr ganz allein zur Verfügung stehen. Sie hoffte, dass die Terrasse nicht getrennt werden musste. Es war zwar für beide Appartements ein jeweils sehr großer Anteil geplant, doch es wirkte offener und leichter, wenn die Terrasse nicht durch einen Zaun abgetrennt war.

Am besten wäre, so dachte Vicky, jemand in ihrem Alter, mit dem sie sich gut verstand, würde einziehen. Außerdem konnte es nie schaden, Nachbarn zu haben, mit denen man sich nicht auf Kriegsfuß befand und mit denen sie auf einer Wellenlänge war, zum Beispiel, wenn sie jemanden brauchte, der ihre Katzen hütete, wenn sie auf Geschäftsreise war. Dies kam zwar nicht allzu oft vor, aber bislang hatte sie immer den Hausmeister gebeten, ihre drei Katzen Rambo, Rocky und Electra zu versorgen, wenn sie nicht da war. Al, der Hausmeister führte zwar genau aus, was Vicky ihm auftrug, jedoch hatte er beim allerersten Mal erwähnt, dass er mit Katzen nicht allzu viel anfangen konnte, sodass er, außer sie zu füttern und ihr Katzenklo zu reinigen, weder mit ihnen spielte noch sie sonst irgendwie beschäftigte.

 

Vicky betrat das helle Vorzimmer ihres Appartements. Electra kam miauend auf ihr Frauchen zu und schmiegte sich um deren Beine. Dicht hinten ihr kamen die beiden Kater Rocky, ein roter Tiger, und Rambo, ein Brauntiger.

„Hey, meine Prinzessin! Na, hast du einen schönen Tag gehabt“, fragte Vicky das getigerte Katzenmädchen mit dem hübschen weißen Latz und den weißen Pfoten, als würde sie tatsächlich auf eine Antwort warten, und nahm sie hoch, während sie in die Hocke ging und auch die beiden Kater ausgiebig begrüßte. Nachdem Electra nach etwa fünf Sekunden beschlossen hatte, ihr Schmusetierpensum für den heutigen Tag aufgebraucht zu haben und hinter Rocky und Rambo her quer durchs Wohnzimmer jagte, hängte Vicky ihre Tasche an die Garderobe, zog ihr Handy heraus und sah ihre Post durch. Ein Brief von New York City Homes, der Hausverwaltung, der der Appartementkomplex gehörte, war dabei. Sie öffnete ihn und wurde darüber informiert, dass mit dem Monat Mai das zweite Penthouseappartement verkauft war, dass die Hausverwaltung eine gute Nachbarschaft wünschte und sicher war, dass es mit dem neuen Eigentümer keine Probleme gab, da dieser optimal in die Eigentümergemeinschaft des Komplexes passte.

„Na ja, von Ordnung hält er ja schon mal nicht viel“, murmelte sie in den Raum hinein und rieb sich ihr Handgelenk, das immer noch von dem Sturz beleidigt schien, den es vor Kurzem auffangen musste.

 

Der Abend verlief genau so, wie sie ihn geplant hatte. Sie hatte sich mit ihrem Laptop hinaus auf die Terrasse gesetzt, Pfirsich-Eistee getrunken und zwei Schriftsätze vorbereitet. Dann hatte sie eine Mail an die Staatsanwaltschaft geschrieben und um eine vorherige Besprechung zur Verhandlung von Davis Cutter gebeten, einem jungen Mann, der auf dem Weg zum College war, als die Benzinpumpe seines Wagens kaputt ging. Da er seinen Eltern, die ohnehin nicht mit Reichtum gesegnet waren, nicht auf der Tasche liegen wollte, hatte er nach langem Hin und Her beschlossen, vor einem teuer aussehenden Restaurant zu warten, einem Gast zu folgen und ihn auszurauben. Für dieses Vorhaben hatte er sich William Torrance ausgesucht, den Vorstand eines Technologiekonzerns, dem er bis zu seinem Wagen, der sich in einer Seitenstraße befand, folgte, ihn mit einer Spielzeugpistole, die er in einem Minimarkt für drei Dollar gekauft hatte, bedrohte und ihm siebenhundertdreiundfünfzig Dollar abnahm. Davis floh, bezahlte seine Werkstattrechnung und fuhr weiter Richtung City College. Dummerweise hatte einer der ermittelnden Polizisten, dem der exakte Betrag von siebenhundertdreiundfünfzig Dollar merkwürdig vorkam, die Idee, bei sämtlichen Handwerkern und Autowerkstätten im Umkreis von fünf Meilen um das Lokal, aus dem William Torrance gekommen war, nachzufragen, ob in den vergangenen Tagen eine Rechnung von exakt diesem Betrag fällig geworden war und ob der Kunde ein schlanker junger Mann von etwa zwanzig Jahren mit kurzen braunen Haaren, einer Brille und einigen Pickeln gewesen war. Der zweite Fehler, den Davis Cutter begangen hatte, war, bei der Werkstatt seinen richtigen Namen anzugeben. Obendrein seine richtige Adresse in New Jersey. Außerdem hatte er Hal Jennings, dem Betreiber der Werkstatt, erzählt, er sei auf dem Weg zum City College und freue sich schon auf die Sommerferien. So war es für die Cops ein Leichtes, den armen Davis aufzuspüren und ihn zu verhaften. Vicky fand den Jungen sympathisch und war sich sicher, dass er niemand war, der ein Gewohnheitstäter wurde. Er hatte sich zum Tatzeitpunkt in einer Ausnahmesituation befunden und lediglich einen dummen Einfall in die Tat umgesetzt. Der Junge wurde vom gegnerischen Anwalt dargestellt, als wäre er ein mordendes Monster, dabei hatte er sich bei William Torrance entschuldigt, als er ihm das Geld abgenommen hatte, und ihn sogar gebeten, ihm seine Adresse zu geben, damit er es ihm irgendwann anonym wieder zurückzahlen konnte. Davis war ein armer Kerl, der in eine Situation geraten war, die ihn kurz überforderte und aus der heraus er eine Dummheit beging, sodass Vicky ihm das Gefängnis ersparen wollte. Sie war sicher, eine Bewährungsstrafe für ihn heraushauen zu können, indem sie versuchte, den ihm vorgeworfenen Raubüberfall in „normalen“ Raub abzuwandeln. Außerdem würden die Ausnahmesituation, die bisherige Unbescholtenheit des Täters sowie dessen Wille zur Wiedergutmachung – immerhin hatte er nach der Adresse des Opfers gefragt, um das Geld eines Tages zurückschicken zu können – strafmildernd wirken. Eine Bewährungsstrafe und Sozialstunden waren zwar auch nicht gerade ein Sommerausflug und obendrein mit jeder Menge unangenehmer Auflagen verbunden, doch wenigstens würde er weiterstudieren können und musste nicht ins Gefängnis.

 

Als sie ihren Laptop ausschaltete, fragte sie sich kurz, was wohl aus den neuen Nachbarn geworden war. Sie hatten zwar ihre Möbel und ihre Kartons im Flur abgestellt, aber seither war nichts von ihnen zu hören oder zu sehen gewesen. Sie fand es merkwürdig, dass jemand seinen ganzen Kram hier mitten am Flur stehen ließ, anstatt ihn wenigstens in die Wohnung zu schaffen, und ärgerte sich ein klein wenig darüber. Okay, nichts würde abhandenkommen, denn die Lage des Appartements war ziemlich exklusiv, aber sich einfach so breit zu machen und dann abzuhauen … schmeckte Vicky auch nicht. Immerhin lebte sie auch auf dieser Etage, und das schon eine ganze Weile länger als die neuen Nachbarn, die sich einfach ausbreiteten, als würde ihnen der ganze Block gehören. Vicky ging durch ihre Terrassentür, stellte ihren Laptop auf dem Schreibtisch gleich hinter der Schiebetür ab und holte sich dann aus der Schublade in der Küche die Speisekarte ihrer Lieblingspizzeria Hells Kitchen. Sie bestellte eine große Salamipizza mit Ei, pflanzte sich vor den Fernseher und sah ein paar Folgen Friends auf Comedy Central, bevor sie zu Bett ging.

 

2

 

 

Um kurz nach Mitternacht wurde sie aus dem Schlaf gerissen. Ihre Katzen, mit denen sie sich das Bett teilte, seit sie Single war, waren ebenfalls aufgewacht und blickten starr, den Geräuschen lauschend, in Alarmbereitschaft und irgendwie fast ängstlich wirkend, in die Nacht. Vicky schaltete benommen ihre Nachttischlampe ein, kniff die Augen wegen der plötzlichen Helligkeit zu und sah auf ihre Uhr. Zwanzig nach zwölf. Das Appartement war an und für sich wunderbar isoliert, und man hörte für gewöhnlich niemanden, der sich draußen am Flur oder im Stockwerk unter ihr bewegte. Doch dieses Mal schien es anders. Es hörte sich an, als würde jemand Kisten rücken … oder … Kisten treten. Verärgert warf Vicky ihre Bettdecke zur Seite und krabbelte aus dem Bett. Auch wenn die neuen Nachbarn alle Hände voll zu tun hatten, sich ihr Domizil einzurichten, so war es doch wohl etwas übertrieben, dieser Aktion mitten in der Nacht nachzugehen, vor allem, nachdem sie den ganzen Tag damit zugebracht hatten, etwas anderes zu tun, und ihr Mobiliar auf dem Flur sich selbst überlassen hatten.

 

Sie ging durch ihr in der Dunkelheit liegendes Wohnzimmer, das durch das Mondlicht in einen hellen, fahlen Ton getaucht wurde, hinaus in ihre Vorhalle und bemerkte, dass draußen am Flur Licht brannte.

„Was zum Teufel …“, begann sie, doch als sie aus ihrem Türspion blickte, blieben ihr die Worte im Hals stecken. Sie hatte erwartet, die neuen Nachbarn dabei zu erwischen, wie sie ihre Umzugskartons durch den Flur rückten und in ihr Appartement bugsierten, doch stattdessen waren sie dabei, Sex zu haben. Vicky machte einen Satz zurück vom Spion, lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und fühlte ihr Herz klopfen. Das war doch wohl eine Ungeheuerlichkeit. Die stellten ihr Zeug hier einfach so vor die Tür, ließen sich den ganzen lieben langen Tag nicht blicken, tauchten mitten in der Nacht auf, und anstelle das zu tun, was man normalerweise tat, wenn man umzog, nämlich seinen Kram einzuräumen und zu sortieren, hatten sie Sex. Kurz dachte sie darüber nach, den Sicherheitsdienst zu rufen, doch dann besann sie sich eines Besseren. Sie wollte nicht schon am Anfang als die ewig nörgelnde, sich beklagende Nachbarin gelten, die wegen jeder Kleinigkeit den Sicherheitsdienst holte. Wahrscheinlich war es sie einfach überkommen, nachdem sie realisiert hatten, dass sie eines der begehrtesten Appartements im ganzen Bundesstaat gekauft hatten. Außerdem war es unbezahlbar, eine funktionierende Nachbarschaft zu haben. Vielleicht sollte sie einfach etwas lockerer sein und versuchen, weiterzuschlafen. Immerhin konnte das hier ja nicht mehr ewig andauern. Andererseits – die vögelten verdammt noch mal auf dem Flur, den auch Vicky zu benutzen gedachte. Was, wenn zum Beispiel ihre Großmutter zu Besuch war und die neuen Nachbarn bei ihren mitternächtlichen Aktivitäten erwischen würde. Oder wenn nicht sie hier wohnen würde, sondern eine Familie mit kleinen Kindern. Sie schüttelte den Kopf und beschloss, erst einmal Ruhe zu bewahren. Sie konnte ohnehin nicht einfach die Tür aufreißen und die beiden inflagranti erwischen. Bestimmt war es ihnen auch unsagbar peinlich, wenn Vicky jetzt plötzlich in ihre kleines tête-à-tête platzte. Sie beschloss, dieses Mal darüber hinwegszusehen und sich wieder schlafen zu legen.

 

Entnervt ging sie zurück in ihr Wohnzimmer und bog zur Küche ab, wo sie sich erst einmal ein Glas Wasser aus dem Kühlschrank holte. Sie hatte die Tür zum Vorzimmer geschlossen, sodass die Rück-Geräusche und das Stöhnen, Japsen und Keuchen, das mittlerweile hinzugekommen war, etwas leiser geworden, aber immer noch vorhanden waren. Sie nahm, an die Spüle gelehnt, einen tiefen Zug, kippte den Rest in den Ausguss und lief dann noch einmal ins Vorzimmer, wo sie ihren iPod aus ihrer Sporttasche holte. Den Geräuschen nach zu urteilen, waren die Nachbarn immer noch … aktiv.

„Leider gibt’s weder iPods noch Kopfhörer für Katzen“, sagte sie fast entschuldigend, als sie sich, wieder im Schlafzimmer, die Ohrhörer in die Ohren stöpselte, während ihre drei Katzen sie neugierig anschauten. Dann kroch sie zurück unter ihre Bettdecke und schlief zu den Klängen von Jamie Cullum ein.

 

 

3

 

Als der Wecker sie am nächsten Morgen um sieben aus dem Traumland holte, war sie fit und ausgeschlafen. Noch nicht einmal ihre nächtliche Bekanntschaft mit ihren neuen Nachbarn hatte dem Abbruch tun können und mittlerweile konnte sie über die Angelegenheit schmunzeln. Sie war froh, nicht den Sicherheitsdienst gerufen, oder die beiden selbst zurechtgewiesen zu haben. Der Vorfall würde eine nette Anekdote im Büro geben und – wer weiß, vielleicht würden sich auch die Nachbarn eines Tages darüber amüsieren, wenn sich zwischen ihnen und Vicky eine Freundschaft entwickelt hatte. Zumindest schienen es … aufgeschlossene … Menschen zu sein. Das war doch immerhin schon etwas. Die Sonne strahlte hell durch das große Panoramafenster zu ihrer Linken herein, und schon bei den ersten Pieptönen des Weckers war sie hellwach. Sie drückte den Aus-Knopf und der Wecker verstummte. Dann streckte sie sich unter der Decke aus und setzte sich auf. Sie wickelte die Ohrhörer, die sich gemeinsam mit dem iPod am unteren Ende des Bettes befanden, um das Gerät, legte es auf ihren Nachttisch neben einen Roman von Richard Laymon, eine Tube Handcreme und die aktuelle Ausgabe der Cosmopolitan, schlug die Decke auf und begann ihren Tag.

 

Zwanzig Minuten später hatte sie eine Dusche genommen, die Katzen gefüttert, sich angezogen, war gerade dabei, ein Glas Orangensaft zu trinken und die Times zu lesen, als es an der Tür klingelte. Verwirrt sah sie auf, überlegte, wer das sein konnte und ob sie eine Verabredung oder einen Termin vergessen hatte, doch ihr fiel nichts ein. Vermutlich war es ein Bote, der ein Päckchen brachte, oder der Briefträger, der eine Eilsendung hatte, oder … wer auch immer. Sie stellte ihr Glas auf den Frühstückstresen in ihrer Küche und ging hinaus in die Vorhalle. Vielleicht waren es auch die neuen Nachbarn, die gekommen waren, um sich vorzustellen … in aller Herrgottsfrühe.

 

Sie öffnete die Tür. Davor stand eine merkwürdig aussehende Dame, die man eher in einem Stripclub oder in einer dunklen, zwielichtigen Seitenstraße vermutet hätte, als morgens in einem Appartementkomplex, in dem gut situierte Familien mit Kindern lebten. Sie trug schwarze Stiefel aus Lack, die bis über ihre Knie hinauf reichten, eine schwarze Netzstrumpfhose, einen Rock aus lila Taft und ein schwarzes, geripptes Shirt, das viel zu weit ausgeschnitten war. Ihre schwarzen Haare waren hochtoupiert und Vicky musste kurz an Peggy Bundy denken.

„Hy, ich bin Kitty“, sagte die Dame und kaute penetrant auf einem Kaugummi herum.

„Hello … Kitty?“, entgegnete Vicky und kam sich in dem Moment unsagbar dämlich vor, fand ihre Begrüßung allerdings witzig.

„Soll das so ‘ne Art Dreier werden? Kostet aber extra“, raunte Kitty kaugummikauend und musterte Vicky von oben bis unten.

„Wie bitte? Ich verstehe nicht … haben Sie sich vielleicht im Stadtteil geirrt?“ Vicky wollte sich auf die Zunge beißen, doch die sarkastischen Aussagen flutschten nur so aus ihr heraus.

„Was meinst du?“ Kitty schien den Wink nicht verstanden zu haben.

„Ich … Miss, ich weiß nicht, was Sie hier wollen“, versuchte Vicky es noch einmal. “Ich glaube, sie sind hier an der falschen Adresse.”

„Na, du oder dein Typ habt mich auf der Internetseite meiner Agentur gebucht – Love Escort?“

Ihr Kauen verursachte schmatzende Geräusche.

„Tut mir leid, ich habe bestimmt niemanden gebucht, und einen ‚Typen‘, der dies getan haben könnte, habe ich auch nicht!“

„Auch gut, aber irgendjemand schuldet mir fünfhundert Dollar“, sagte Kitty gereizt und setzte dann hinzu: „In bar!“

„Fünfhundert Dollar“, wiederholte Vicky und war über den Stundensatz der Dame überrascht.

 

Noch bevor sie etwas erwidern konnte, wurde die Tür des Appartements gegenüber geöffnet und Vickys neuer Nachbar trat heraus. Ihr verschlug es die Sprache. Ihr Herz begann, etwas schneller zu schlagen und ganz automatisch richtete sie sich auf und zog ihren Bauch ein. Mein Gott. So einen gutaussehenden Mann hatte sie lange nicht mehr gesehen. Kein Wunder, dass seine Frau oder seine Freundin mitten in der Nacht auf dem Flur über ihn hergefallen war. Vicky würden von diesem Kerl ebenso wenig die Finger lassen können. Er war unglaublich attraktiv. Ende dreißig bis Anfang vierzig. Sportlich, mit kantigem Gesicht und dunklen Haaren und blauen Augen. Ein Bartschatten zierte sein Kinn. Es war Vicky peinlich, dass der Mann sie mit dieser seltsamen Kitty ertappte. Wenn er nun dachte, das wäre eine Freundin von ihr … oder, dass sie selbst in diesem Gewerbe arbeitete ...

„Schätzchen, Schätzchen, Schätzchen, du hast dich in der Tür geirrt – die Party ist hier!“

Mit diesen Worten nahm er Kitty am Arm und zog sie in sein Appartement.

Kitty sah ihn an und auch sie schien angenehm überrascht zu sein. Ein beites Grinsen hatte sich auf ihren Lippen ausgebreitet. Sie raunte wieder: „Ist das ein Dreier? Macht die da auch mit?“, und blickte auf Vicky. „Das kostet nämlich extra!“

„Nein, die macht nicht mit, wir sind zu zweit. Nur du und ich, Schätzchen!“

Mit diesen Worten schob er Kitty sanft in sein Appartement, wandte sich noch einmal zu Vicky um, zwinkerte ihr zu und sagte „Guten Morgen“. Dann schloss er die Tür hinter sich.

 

Perplex verharrte Vicky noch einige Augenblicke im Türrahmen und verarbeitete die letzte Minute. Nach ihrer Begegnung mit den neuen Nachbarn heute Nacht war sie davon ausgegangen, dass es sich um ein Pärchen handelte, das gegenüber einzog. Sie hatte angenommen, die Blondine, mit der der dunkelhaarige Typ mitternachts auf seinen Umzugskartons beschäftigt gewesen war, wäre seine Freundin/Verlobte/Frau. Doch so wie es schien, hatte sie sich getäuscht. Oder er war einfach nur ein Arsch, der seine Frau betrog, während sie bei der Arbeit war. Am Ende war sie vielleicht Alleinverdienerin und hielt ihn sich als … Toyboy. In der einen Sekunde, die sie die beiden in der letzten Nacht in Aktion gesehen hatte, hatte sie rein gar nichts erkennen können. Es war also gut möglich, dass die Blondine eine Sugarmummy war, die sich den Schönling gegenüber für ein paar nette Stunden hielt und ihm dafür … so einige Freiheiten erlaubte. Das war zwar alles ziemlich verrückt, aber immerhin hatte Vicky jeden Tag mit genau diesen Menschen im Büro zu tun.

 

 

 

„Ach komm, bist du dir sicher, dass du das nicht geträumt hast?“

Vicky saß mit ihren Freundinnen Kelly und Gloria im Little Tonys Pastahouse und gönnte sich eine Portion Spaghetti Aglio Olio als Lunch. Sie war eine der wenigen Frauen, die keine Panik davor hatten, Knoblauch zu Mittag zu essen. Erstens existierten Zahnbürste und Zahnpasta, die man auch im Büro verwenden konnte, und es gab Kaugummi. Zweitens gab es ohnehin niemanden, der sie küssen würde, also schmeckten die Spaghetti gleich noch mal so gut.

Kelly McQueen und Gloria Radcliff waren neben ihren Kolleginnen im Büro auch ihre beiden besten Freundinnen. Mit Gloria war Vicky am College gewesen und Kelly hatte mit den beiden gemeinsam ihren ersten Arbeitstag bei Kleinman & Stevens gehabt. Die ersten beiden Jahre, als sie alle noch kleinere Fälle bearbeiteten und die dicken Fische den anderen Anwälten überlassen mussten, teilten sich die drei jungen Frauen ein Büro im dritten Stock des Gebäudes und wuchsen so noch enger zusammen. Schon von Anfang an stand fest, dass die drei sich gut verstehen würden. Kelly war seit eineinhalb Jahren verheiratet und äußerst glücklich in ihrer Ehe. Gloria war so wie Vicky Single, hatte aber vor einigen Monaten einen Typen vom CSI kennengelernt, der dann jedoch nach Miami abgezogen worden war und erst im Herbst wieder zurück nach Manhattan kommen sollte.

„Ja, da bin ich mir ganz sicher“, entgegnete Vicky, während sie sich eine Gabel voll Nudeln in den Mund stopfte. “Ich weiß, wie Sex funktioniert. Auch, wenn ich schon lange keinen mehr gehabt habe.”

„Mitten in der Nacht und mitten auf dem Flur“, sinnierte Kelly. „Schön, dass wenigstens andere ein Sexleben haben, das noch nicht so eingeschlafen ist wie meines … Aber nach zehn Jahren Beziehung und einem Jahr Ehe muss man wohl froh sein, noch nicht geschieden oder betrogen worden zu sein!“

„Du hast wenigstens ein Sexleben“, meinte Gloria in Kellys Richtung und stocherte lustlos in ihren Penne Arrabbiata herum. Mein Sexleben mit Eric ist praktisch inexistent.

„Ist immer noch nichts gelaufen?“, fragte Vicky.

„Wann denn auch“, seufzte Gloria. “Wir hätten es einmal mit Telefonsex versucht, aber dann sind wir beide in solche Lachanfälle gestürzt, dass es alles andere als sexy war. Aber … er hat im Juli für zwei Wochen Ferien. Ich werde ihn dann besuchen fahren. Und ich werde mir mit Sicherheit kein Hotelzimmer nehmen!“

Sie schmunzelte.

„Jedenfalls ist es ziemlich nervig mit diesem Gigolo von nebenan.“ Vicky kam wieder auf ihre nächtliche Begegnung zurück. „Ich meine, stellt euch mal vor, meine Mum oder meine Großmutter … oder sonst irgendjemand wäre zu Besuch; was wäre, wenn jemand mit Kindern auf dem Stockwerk leben würde … Es ist doch keine Art … einfach so auf dem Flur herumzuvögeln!“

„Und was hast du vor? Hast du dem Sicherheitsdienst Bescheid gesagt?“

Kelly nahm einen Schluck ihres Sprudelwassers.

„Um ehrlich zu sein, hab ich daran gedacht. Andererseits möchte ich nicht gleich zu Anfang die ständig nörgelnde Kuh von nebenan sein. Immerhin ist der Typ noch nicht einmal eingezogen, da kann ich ihm doch nicht gleich den Sicherheitsdienst an den Hals hetzen.“ Vicky wirkte ratlos.

„Ladys, ich muss los – ich hab in zwanzig Minuten eine neue Mandantin im Büro. Sie will ihren Exmann auf mehr Unterhalt verklagen – ganz aufregend!“

Gloria stand vom Tisch auf und rollte mit den Augen.

„Vicky, du könntest deinem Nachbarn ja mal klarmachen, wo du arbeitest. Vielleicht reißt er sich dann am sprichwörtlichen Riemen!“

Sie kicherte, legte fünfzehn Dollar auf den Tisch, winkte ihren beiden Freundinnen zu und verließ das Restaurant.

 

An diesem Abend kam Vicky erst gegen halb neun nach Hause. Nach dem Büro war sie mit einigen Kollegen im Ryders, einer Cocktailbar ganz in der Nähe der Kanzlei, gewesen. Den unangenehmen Vorfall mit dem neuen Nachbarn hatte sie längst vergessen. Als sie auf dem Weg zu ihrem Appartement um die Ecke bog, waren dumpfe Geräusche aus seinem Appartement zu hören. Je weiter sie den Flur entlangging, umso verständlicher wurden sie.

„Nicht schon wieder …“, begann Vicky entnervt, als sie vor ihrer Appartementtür angekommen war und die Geräusche aus der Nachbarwohnung dem Quieken eines Schweins, das sich gerade in einer Schmutzlache suhlte, zum Verwechseln ähnlich waren. Sie betrat ihr Appartement und konnte das Gestöhne aus der Nachbarwohnung immer noch gedämpft, aber doch viel zu deutlich, hören. Sie nahm den Hörer der Gegensprechanlage ab und wollte den roten Knopf drücken, der automatisch eine Verbindung mit dem Portier herstellte, doch dann verwarf sie den Gedanken. Was sollte sie ihm denn sagen? Dass der neue Nachbar zu laut Sex hatte? Sie war dreiunddreißig und nicht neunzig, sie sollte das Ganze viel lockerer sehen. Es war doch … schön … wenn der Neue in seinen Liebesbeziehungen so sehr aufging. Okay – das war vielleicht etwas zu enthusiastisch. Er war ein Playboy, so viel war klar. Aber immerhin war es seine Sache und dieses Mal hatte sie ihn ja nicht auf dem Flur erwischt. Es war schlicht und einfach seine Angelegenheit, mit wem er was in seiner Wohnung tat.

 

Nachdem sie ihre Katzen gefüttert und sich selbst eine Tiefkühllasagne in den Ofen geschoben hatte, schaltete sie ihre Soundbar ein und hörte Bon Jovi, der mit seinem neuen Album die Sexgeräusche aus der Nachbarwohnung perfekt übertönte. Aber eine Dauerlösung war das Ganze natürlich auch nicht. Sie konnte doch nicht ständig mit Ohrstöpseln herumlaufen, nur weil der Typ nebenan zu viel und zu lauten Sex hatte. Sie überlegte kurz und kam zu dem Entschluss, in ein, zwei Wochen, wenn der Kerl den Umzugsstress hinter sich hatte, das Gespräch mit ihm zu suchen. Vermutlich wusste er selbst gar nicht, wie störend die Geräusche waren. Außerdem war er ihr am Vortag, als diese Kitty bei ihr geläutet hatte, ziemlich offen und umgänglich vorgekommen – und er würde bestimmt auch nicht gleich nach seinem Einzug auf Ärger aus sein.

 

4

 

Der nächste Tag war ein wunderschöner Frühsommerfreitag. Vicky hatte nur einen einzigen Termin bei Gericht, der erst um elf Uhr stattfand und bestimmt nicht länger als eine halbe Stunde dauern würde. Gleich nachdem sie aufgestanden war, hatte sie in der Kanzlei angerufen und Bescheid gegeben, dass sie an diesem Tag von zu Hause aus arbeiten würde und dass sie bis drei Uhr nachmittags erreichbar war, nicht aber zwischen elf und zwölf, da um diese Zeit der Gerichtstermin stattfinden sollte. Während sie eine Dusche nahm, hatte sie sich die letzten Aussagen ihrer Mandantin, einer wohlhabenden geschiedenen Dame, ausgedruckt, die von ihrem Exmann ein Grundstück in den Hamptons haben wollte, von dem sie meinte, es würde ihr zustehen, da sie es am Tag ihrer Eheschließung von ihren mittlerweile verstorbenen Eltern geschenkt bekommen hatten.

 

Bewaffnet mit einem großen Glas Orangensaft, zwei Schokoladendonuts und der acht Seiten umfassenden Aussage trat sie hinaus auf die Dachterrasse. Es war ein wunderschöner Morgen und einmal mehr war sie froh darüber, dass sie sich für dieses Appartement entschieden hatte. Sie war sich sicher, dass ihre Dachterrasse mit einer der schönsten Plätze Manhattans war. Die Sonne strahlte hell vom Himmel und hatte den Tag bereits jetzt mit angenehmer Wärme aufgeheizt. Sie steuerte auf die Sitzgruppe aus dunklen Rattan- Gartenmöbeln, die ganz im Loungestil gehalten waren, zu, die an der Vorderseite stand und auf der sie schon so manche sternenklare Nacht verbracht hatte. Den Tag hier draußen zu starten, zu sehen, wie Manhattan erwachte und wie die Sonne hoch über die Wolkenkratzer stieg, schien der perfekte Anfang für diesen Freitag zu sein.

 

Fast hätte sie vor Schreck ihr Glas fallen lassen, als sie sah, was sich hinter der Lehne der Rattancouch abspielte. Ein kurzer Schrei entwich ihr, als Nächstes landete eine ordentliche Portion Saft auf ihrer Bluse und auf der Aussage.

 

Der neue Nachbar lag – nackt, wie Gott ihn geschaffen hatte – auf der Couch. Zwischen seinen Beinen tummelte sich eine junge, brünette Frau.

„Hi“, sagte er, als er die Augen, die er bislang geschlossen hatte, öffnete und Vicky bemerkte, so als würde er nur hier sitzen und Zeitung lesen. Er grinste sie an und fixierte sie.

Vicky war drauf und dran, ein ganzes Repertoire an Schimpfwörtern und Beleidigungen auf ihren neuen Nachbarn niederprasseln zu lassen, doch dazu war sie im Moment nicht fähig. Nicht ein einziges Wort würde sie herausbringen, so … ja fast schockiert war sie. Sie war eine der letzten, die sexuell nicht aufgeschlossen war oder gar prüde, aber … so etwas musste nun wirklich nicht sein. Sie machte auf dem Absatz kehrt und eilte zurück nach drinnen.

 

Wieder in ihrem Appartement schloss sie die Glasschiebetür mit einem Ruck und lehnte sich erst mal daran. Dann betätigte sie den Knopf für die Jalousien und verdunkelte ihr Wohnzimmer. Von diesem Knilch da draußen hatte sie wirklich genug gesehen. Ihr Gesicht musste so rot wie eine überreife Tomate sein, so heiß fühlte es sich an. Jetzt war er endgültig zu weit gegangen. Es war seine Sache, was und mit wem er es in seinen eigenen vier Wänden trieb, aber in aller Herrgottsfrühe auf der Gemeinschaftsdachterrasse splitternackt Oralsex zu haben, war selbst für Vicky zu viel. Sie überlegte, wie man die Terrasse am besten teilen und einen Sichtschutz anbringen konnte. Sie wollte nicht noch einmal mit so einer Situation konfrontiert werden und war sich sicher, dass es bestimmt nicht das letzte Mal gewesen war, dass sie ihren Nachbarn dermaßen überraschte. Im Sommer wollten ihre Eltern aus Los Angeles sie für eine Woche besuchen kommen. Nicht auszudenken, was los sein würde, wenn sie diesen Verrückten bei seinen Aktivitäten überraschte. Vickys Mutter und ihre Großmutter waren New York gegenüber schon immer etwas skeptisch gewesen. Ihre Mutter hatte erst kürzlich gemeint, dass die Stadt ihr einfach viel zu schnelllebig war und sie es sich wünschen würde, wenn Vicky irgendwo anders in den Vereinigten Staaten leben würde als ausgerechnet in New York. Eine Begegnung mit diesem Typen würde ihre Meinung der Stadt gegenüber wohl nur noch verstärken.

 

Außerdem war es wieder eine andere Frau gewesen, fiel ihr ein, als sie ihre schmutzige Bluse in den Wäschekorb warf und ins Schlafzimmer ging, um sich etwas Sauberes zum Anziehen zu holen. Bei jeder Begegnung mit dem neuen Nachbarn war er mit einer anderen Frau zugange. Was war mit diesem Typen nur los? War er sexsüchtig? Vicky überlegte, ob es möglich war, dass der Typ vielleicht irgendein Playboy war, doch dann ergab die Sache mit dieser Kitty keinen Sinn, die er von einer Escort-Seite „bestellt“ hatte. Warum sollte sich ein Playboy eine Nutte ordern? Dann verwarf sie diese Gedanken, schlüpfte in eines ihrer Bürooutfits und fuhr doch in die Kanzlei.

 

Der Nachmittag war wie im Flug vergangen. Nach der Verhandlung – die recht erfolgreich verlaufen war – war Vicky erst kurz zurück in die Kanzlei, hatte noch etwas Papierkram abgearbeitet und war danach mit Gloria in die City gefahren, um etwas zu shoppen und dann Lebensmittel einzukaufen. Shoppen war jetzt gerade das Richtige, um ihrer Aufgewühltheit Herr zu werden. Sie würde allerdings ihren begehbaren Kleiderschrank erweitern lassen müssen, wenn sie jedes Mal zum Shoppen ging, wenn der Verrückte von nebenan sie in den Wahnsinn trieb.

 

An diesem Abend wollte sie nichts anderes unternehmen, als bei einer DVD und einem Glas Wein auf der Couch zu lümmeln, etwas vom Chinesen zu bestellen, die kühle Abendluft durch die Terrassentür hereinzulassen und sich auf ein entspanntes Wochenende zu freuen. Sie hoffte inständig, dass der Typ von nebenan an einem Freitagabend nicht zu Hause herumsaß, war sich aber sicher, dass er das nicht tun würde. Immerhin ließ er es schon wochentags und in aller Herrgottsfrühe dermaßen krachen, dass einem Hören und Sehen verging. Er würde freitags bestimmt nicht zu Hause sein. Schlimmstenfalls würde er wieder Damenbesuch bekommen, doch Vickys iPod war komplett aufgeladen und bat ein Repertoire an weit über tausend Titeln.

 

Voll bepackt mit Tüten von Saks, Ralph Lauren und Macy’s kam sie aus dem Aufzug und hörte Lärm. Dieses Mal war es kein Lärm, wie sie ihn in den letzten Tagen aus der Nachbarwohnung vernommen hatte, sondern richtiger Lärm. Auf dem langen Flur, der vom Lift aus zu ihrem Appartement führte, standen einige Männer und Frauen, unterhielten sich angeregt und nahmen kaum Notiz von ihr. Ihr schwante Böses, als sie um die Ecke bog und einen Mob aus jungen, leicht bekleideten Frauen erblickte. Auf dem Flur, der die beiden Penthousewohnungen trennte, waren vier Stehtische aufgestellt worden, auf jedem standen mehrere Eimer voll mit Eiswürfeln und einigen Flaschen Champagner darin und einige zum Teil volle und leere Gläser, die Tür zur Dachterrasse stand sperrangelweit offen und draußen tummelte sich noch einmal eine große Menge junger, leicht bekleideter Frauen. Vicky quetschte sich durch die Meute hindurch und gelangte endlich in ihr Appartement.

 

Die Musik, die durch mehrere Lautsprecher gleichzeitig aus der Nachbarwohnung bzw. von der Dachterrasse kam, machte jeglichen Wunsch auf einen ruhigen Abend zunichte. Dieser Mistkerl hatte tatsächlich einen DJ engagiert, der halb Manhattan mit seiner Musik beglückte. Daran zu denken, einen Film bei offener Terrassentür anzusehen und ein Glas Wein zu trinken, war lächerlich. Vicky wunderte sich, warum niemand von den Menschen, die unter ihnen wohnten, sich beschwerte. Immerhin war es unmöglich, dass nur sie diesen Lärm hörte. Die Leute unter ihr mussten das Treiben hier oben doch auch mitbekommen. Verdammt, ganz New York musste diesen Lärm vernehmen. Draußen auf der Dachterrasse war die Feier zu einer ausgewachsenen Party angewachsen. Immer und immer wieder liefen junge Frauen in Bikinis oder gar oben ohne an Vickys Fenstern vorbei, die sich gegenseitig jagten oder denen irgendwelche Schnösel hinterherliefen. Alle paar Sekunden hörte Vicky, wie jemand in den Pool sprang oder geworfen wurde und einmal drückte sich ein Paar in einem heißen Kuss an Vickys Terrassentür. Schließlich ließ sie die Jalousien an der gesamten Westfront ihres Appartements herunter. Zwar dämmte dies den Lärm kein Fünkchen, aber wenigstens musste sie diesen Sodom-und-Gomorrha-Szenen da draußen nicht auch noch zusehen.

 

An Fernsehen war ebenfalls nicht zu denken. Die Musik und das Gelächter waren viel zu laut, um sich auch nur halbwegs auf einen Film zu konzentrieren. Kurz nach halb neun, als sie ihr Appartement abgedunkelt hatte, tappte sie genervt in ihr Badezimmer, nahm eine Dusche und verzog sich dann mit ihren Katzen ins Schlafzimmer, wo der Lärmpegel zwar auch immer noch deutlich hörbar, aber wenigstens nicht ganz so intensiv wie im Wohnzimmer war. Sie setzte ihre Airpods ein und sah ein paar Folgen King of Queens auf Comedy Central. Irgendwann später fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

 

Früh am nächsten Morgen erwachte sie und fühlte sich wie gerädert. Die Kopfhörer waren aus ihren Ohren geglitten und lagen jeweils an einem Ende des Bettes. Verschlafen taumelte sie wenige Augenblicke, nachdem sie sich aufgerappelt hatte, durch ihren Flur ins Wohnzimmer, das immer noch im Dunkeln, aber dafür auch im Stillen lag. Der Lärm von gestern Abend schien niemals existiert zu haben. Das Appartement lag verdunkelt und ruhig da, als wäre die ganze Welt zum Stillstand gekommen. Vicky genoss die Ruhe, atmete einmal tief durch, drückte den silbernen Schalter an der Säule neben der Küche, und mit einem monotonen Summen begannen die Jalousien langsam, sich aufzurollen. Helles Morgenlicht drang von draußen ins Wohnzimmer, doch dieses Licht war auch schon das einzig „Schöne“, das von draußen kam.

 

Vicky traute ihren Augen nicht, als sie langsam auf die Terrasse zuging. Draußen war es menschenleer, doch von der wunderbaren Oase der Ruhe, von ihrem Rückzugsort hoch über den Dächern Manhattans, den sie so sehr geliebt hatte, war nichts mehr übrig. Es sah aus, als hätte auf der Terrasse die Schlacht von Watergate stattgefunden. Überall lagen leere Flaschen und zerdrückte Dosen, Essensreste vermischt mit Kleidungsstücken und Papierfetzen, herum, die Sitzgruppe am Ende der Veranda war umgeworfen und ein Rattansessel schwamm gemeinsam mit weiteren Flaschen, Dosen und einem aufgeweichten Pizzakarton im Pool. Die Buchsbäume, die in erdfarbenen Terrakottatöpfen überall auf der Dachterrasse standen, waren mit Toilettenpapier umwickelt und teilweise waren Plastikgabeln und -messer hineingesteckt, die Pflanzen waren umgeworfen oder gerupft worden. Diese wunderschöne Terrasse, die für Vicky immer so eine Art Erholungsparadies gewesen war, glich jetzt einer ekelhaften Müllkippe, die sie nicht betreten wollte.

 

Jetzt reichte es ihr endgültig. Sie hatte wirklich nicht die meckernde, ständig nörgelnde Nachbarin sein wollen, hatte darüber hinwegsehen wollen, dass der neue Typ scheinbar ein frauenverbrauchender Playboy war, doch dieses Fiasko, das er dort draußen hinterlassen hatte, und die Tatsache, dass es noch niemand für nötig befunden hatte, wenigstens mit den Aufräumarbeiten zu beginnen, trieben sie beinahe zur Weißglut.

 

Barfuß, in ihren Shorts und einem weißen Shirt mit einem Bären darauf, der „Wake me up“ sagte, das sie zum Schlafen getragen hatte, stapfte sie wutentbrannt zur Tür hinaus und klopfte unsanft mehrere Male gegen die Tür des neuen Nachbarn. Auf dem Flur sah es nicht besser aus als auf der Terrasse. Überall lagen leere Becher, leere Flaschen und Pizzareste herum, Kartoffelchips und Zigarettenasche waren in den Teppichboden eingetreten, die Glasschiebetür zur Dachterrasse war mit einem braungelben Brei beschmiert, von dem Vicky nicht einmal wissen wollte, worum es sich dabei handelte.

 

„Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“

Der Nachbar hatte die Tür geöffnet und grinste sie breit an, so als wäre da draußen kein Schlachtfeld, das er verursacht hatte.

„Warum sind Sie übrigens gestern nicht zu meiner Party erschienen – ich hätte mich gefreut, wenn wir ein bisschen hätten plaudern können!“

„Sparen Sie sich Ihr Gesülze“, begann Vicky, die so wütend war wie noch nie zuvor, und fuhr sich entnervt durchs Haar. „Ich weiß zwar nicht, welcher Teufel Sie geritten hat, diesen Schweinestall hier zu veranstalten, aber …“

„O ja, sie war ein Teufel.“ Der Nachbar grinste und Vicky blendete aus, dass er wirklich verdammt gut aussah. Allerdings wollte sie nichts an ihm auch nur annähernd gut finden. Sie hasste diesen Menschen durch und durch.

„Was?“, fuhr sie ihn an.

„Na, die Teufelsbraut, die mich gestern Nacht geritten hat, Sie hatten doch gefragt!

---ENDE DER LESEPROBE---