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Eine Atomkatastrophe hat einen Teil Deutschlands unbewohnbar gemacht. Gudrun Pausewang lässt die 16-jährige Heldin Vida vom Leben nach dieser Katastrophe berichten. Ein berührender und verstörender Text, eine eindrückliche Warnung.
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Seitenzahl: 87
Als Ravensburger E-Book erschienen 2012 Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH © 2012 Ravensburger Verlag GmbH Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbHISBN 978-3-473-38469-3www.ravensburger.de
Manchmal wundert es mich, dass es mich gibt.
Dass ich gezeugt worden bin.
Dass ich nicht abgetrieben wurde.
Obwohl das doch nahe gelegen hätte,
in so einer Zeit, unter solchen Umständen.
Dass ich ohne verkrüppelte Glieder,
Wasserkopf oder lebensbedrohlichen Herzfehler
zur Welt gekommen bin.
Dass ich meine Geburt überlebt habe!
Dass ich nicht schon als Kleinkind gestorben bin.
Und dass ich auch jetzt noch gesund bin,
wie es scheint – obwohl ich schon sechzehn Jahre
erreicht habe.
Ich habe wirklich Glück gehabt!
1
Guten Morgen. Ich bin Vida Bornwald, 16, zehnte Klasse Gymnasium.
Ihr seid hier in der südwestlichen Ecke von Baden-Württemberg, wo Deutschland an Frankreich und die Schweiz grenzt. Aber das wisst ihr ja sicher.
Wie mir gesagt wurde, kommt ihr aus Südamerika. Schüler aus den Abiturklassen deutscher Schulen in Chile auf einer Europa-Informationsreise. Vor allem interessieren euch die Folgen der großen Reaktorkatastrophe im Jahr 2020, die hier in Deutschland stattfand. Deshalb habt ihr unter anderem auch eine Besichtigung unserer Schule im Programm. Denn die wird überwiegend von Enkeln und Urenkeln der Menschen besucht, die damals aus der Sperrzone evakuiert wurden.
Auch ein Interview mit einer Schülerin oder einem Schüler unserer Schule habt ihr euch gewünscht. Diese Schülerin bin ich.
Und nun erst mal: willkommen!
Das Ausgefragtwerden, das kenne ich schon. Oft kommen Zeitungs- und Radioleute in unsere Schule, um sich zu informieren. Wenn sie ein Interview mit Schülern haben wollen, übernehme das meistens ich. Auch wenn die Leute aus anderen Ländern stammen.
Weil ich mich traue. Und weil ich die meisten Fragen beantworten kann. Mit euch kann ich Deutsch sprechen. Aber oft geht’s auch nur in Englisch, die Leute kommen ja aus der ganzen Welt zu uns. Ich mache das so oft, dass ich inzwischen schon Englisch spreche, ohne nachdenken zu müssen.
Die anderen aus meiner Klasse? Die meisten trauen sich das nicht zu.
Oder sie wollen einfach nicht darüber reden.
Es haben auch nicht alle so viel Glück gehabt wie ich, müsst ihr wissen.
Und der Hauptgrund, warum meistens ich hier stehe, um mit den Leuten zu reden, ist der: Ich fehle selten. In unserer Schule wird oft gefehlt, weil viele Schüler krank sind oder sich daheim um Kranke in ihren Familien kümmern müssen.
Na, Krebs, was sonst?
2
Ich werde zu den Gesunden gezählt. Das kann sich aber jeden Tag ändern. In meiner Klasse gehöre ich zu denen, die fast immer aufgerufen werden, wenn es etwas zu tun gibt.
Ach, eine Menge. Zum Beispiel den Kleinen bei den Hausaufgaben helfen. Oder Fenster putzen. Oder Essen austeilen in der Schulkantine. Oder Einbinden von Büchern in der Schulbücherei. Die Bücher müssen bei uns ja lange halten. Wenn sich jemand übergibt, renne ich, hole Eimer und Lappen und putze es weg. Und wenn Regenwasser von der Decke tropft, stelle ich alte Eimer drunter.
Reparieren? Dafür ist kein Geld da. Oft nicht mal genug zum Putzen. In manchen Schulen haben die Eltern das Saubermachen übernommen. Bei uns machen die das nur vor Beginn des neuen Schuljahres. Dann aber ganz gründlich. Da bleibt keine Spinnwebe hängen! Den Rest des Jahres, immer an den Samstagen, putzen die Schüler – natürlich nur die gesunden. In jeder Klasse fallen da immer schon ein paar aus. Ansonsten muss jeder mithelfen.
Klar! Bei der Arbeitseinteilung wird auf das Alter Rücksicht genommen. Die Unterstufenschüler putzen nur ihr eigenes Klassenzimmer. Die Mittelstufe erst mal den eigenen Raum, dann – gemeinsam – noch das Treppenhaus und die Flure. Wir von der Oberstufe auch noch das Sekretariat, danach Turnhalle oder Lehrerzimmer, je nachdem, wie wir uns mit unserer Parallelklasse einigen.
Wir sind auch für die Klassenzimmer der Erst- und Zweitklässler zuständig. Die sind noch zu klein zum Eimerschleppen, Kehren und Wischen. Erst ab der dritten Klasse werden sie auch zu Arbeiten eingesetzt, für die man mehr Kraft braucht.
Die Kleinen? Die müssen den Schulhof sauber halten. Deshalb gehen sie am Ende jeder großen Pause, wenn es nicht regnet, mit Papierkörben über den Schulhof und sammeln ein, was da herumliegt. Viel ist es nicht. Ihr wisst ja: Deutschland ist ein armes Land und Essen ist kostbar.
Klar, davor war das anders.
3
Langsam, langsam – eine Frage nach der anderen! Was mit davor gemeint ist? Das weiß doch jeder: vor der Katastrophe! Und danach ist eben nach der Katastrophe.
Meine Omi hat mal gesagt, wenn diese beiden Wörter davor und danach aus Metall wären, müssten sie jetzt vom vielen Gebrauch glänzen.
Für uns besteht das ganze Leben aus Davor und Danach.
Stimmt schon, das Davor kenne ich nur aus zweiter Hand. Denn es hat ja mit dem Reaktorunfall vor 41 Jahren aufgehört. Wir Jüngeren erfahren das Leben im Davor vor allem von unseren Großeltern und Urgroßeltern und anderen Alten, die die Katastrophe noch bewusst miterlebt haben. Ihr könnt mir glauben, wir alle haben diese Geschichte tausendmal erzählt bekommen! Mit erhobenem Zeigefinger!
Mit solchen Berichten wurden wir zum Beispiel zu Respekt vor allem Essbaren erzogen. Jeder von uns hat sich das unzählige Male anhören müssen: dass davor nach jeder großen Pause auf dem Schulhof immer Reste von belegten Broten zu finden gewesen seien. Oder Obst. Oft noch gar nicht angebissen. Noch nicht mal ausgepackt. Einfach in den Müll geworfen! Der Hausmeister der Schule habe kaum Futter für seinen Hund kaufen müssen …
Davor soll es hier auch viele Dicke gegeben haben. Sogar dicke Kinder!
In meiner Klasse ist niemand übergewichtig.
Euch interessiert mehr das Leben im Danach? Das habe ich gründlich kennengelernt. Ich bin mittendrin. Zum Beispiel, wenn ich Mama, die meistens nicht aufstehen mag, die Steppdecke aufschüttle. Oder wenn ich fast eine halbe Stunde für den Weg von der Schule bis nach Hause brauche, weil es im Danach keine Schulbusse mehr gibt.
Omi fuhr noch im Bus zur Schule.
Unterwegs begegne ich nur sehr wenigen Autos. Hier in Deutschland kann sich fast keiner mehr ein Auto leisten. Von Omi weiß ich, dass früher fast jeder ein Auto hatte, manche Familien sogar zwei oder drei!
Danach heißt auch vor allem eines: Krankheit. Dazu fällt mir Emma ein, Emma aus der 6b. Die hat keinen linken Arm. Nur ein paar Fingerchen an der linken Schulter. Ob sie diese schlimme Missbildung auch ohne die Reaktorkatastrophe hätte, weiß ich nicht. Jedenfalls gibt es im Danach, wie Omi sagt, viel mehr Missgebildete als im Davor. Das liegt an den Genen. Die sind bei vielen zu stark verstrahlt worden.
Und wenn in meiner Klasse der Platz von Ronny oft leer bleibt, weil er an Schilddrüsenkrebs leidet, hat das auch mit dem Danach zu tun. Auch in Zukunft werde ich im Danach sein. Bis an mein Lebensende.
4
Die Reaktorkatastrophe hat uns von heute auf morgen arm gemacht. Ihr braucht euch ja nur umzuschauen, wie es hier aussieht. Die Straßen sind voller Schlaglöcher. Die Autobahnen können an manchen Stellen nicht mehr befahren werden, weil sie abgesackt oder halb weggeschwemmt sind oder tiefe Risse haben. Eine Brücke hier in der Nähe ist kürzlich zusammengestürzt. Sie hätte längst abgestützt werden müssen. Ein Bus aus der Schweiz war gerade darunter. Neun Tote.
Klar gibt es hier Supermärkte. Aber Nahrungsmittel sind teuer. Obst oder Joghurt können wir uns nur selten leisten. Fisch? Nein. Das Gesundheitsministerium rät ab, Fisch oder Muscheln zu essen. Denn es heißt, die Atomindustrie soll anfangs ihren Atommüll ins Meer geworfen haben. In stabilen Fässern. Inzwischen sind aber viele Fässer kaputt und der Müll ist ins Meer gelangt. Viele Fische sind schwer verstrahlt. Aber welche Fische und wo? Das weiß man nicht. Inzwischen ist die Entsorgung des Atommülls im Meer streng verboten worden. Trotzdem bleibt es riskant, Fisch zu essen.
Und Fleisch habe ich schon seit Jahren nur noch zu Weihnachten gegessen.
In Deutschland gibt es seit der Reaktorkatastrophe so gut wie keine Landwirtschaft mehr. Alles verstrahlt. Man hätte fast überall die ganze obere Erdschicht auswechseln müssen, wenn man wieder deutsche Kartoffeln, deutschen Roggen und Weizen, deutsches Gemüse ohne Gefahr hätte anbauen und essen wollen! Das war natürlich nicht möglich. So muss seitdem fast alle Nahrung, die wir brauchen, importiert werden.
Oder schaut euch unser Schulgebäude an: Alles ist alt, vieles kaputt. Rohre sind durchgerostet, Schrauben sind verschwunden, Ersatzteile bekommt man nicht. Fensterscheiben, die zu Bruch gehen, können wir nicht ersetzen. Es regnet durchs Dach. Und die Hälfte der WCs funktioniert nicht mehr. Warmes und kaltes Wasser? Das war einmal. Fast alle Schulen und Kindergärten haben nur noch kaltes Wasser.
Wer es sich leisten kann, kauft Waren, die aus unverstrahlten Ländern eingeführt werden. Für die anderen von uns – und das sind die meisten! – gilt eben: aus Alt mach Neu.
Omi hat Mama und mich immer, wenn wir etwas unbedingt nötig hatten, mit Neuem versorgt: Mal strickte sie einen Schal aus aufgeribbelter Wolle, die im Davor vielleicht ein Kinderpullover war, mal kümmerte sie sich um eine bettlägerige Nachbarin und erbte dafür nach ihrem Tod ihre Kleidung. Aus irgendeiner Sammlung besorgte sie mir ein Paar Schuhe, die ich dringend brauchte. Oder sie nähte mir lange Hosen aus Opas Hosen, nachdem er sie nicht mehr brauchte, weil er auf dem Friedhof lag. Aber ich konnte sie nur ein Jahr lang tragen. Ich bin damals so schnell gewachsen.
Nein, nicht mit der Hand. Seit der Katastrophe gibt es Nähstuben. Für eine geringe Summe pro Stunde kann man dort gespendete Nähmaschinen benutzen.
Wenn ich Modezeitungen aus dem Davor durchblättere, kann ich nur staunen: So eine Auswahl von tollen Sachen hatte man hier! Zwar nach dem, was man heute bei euch oder in den Staaten oder in China trägt, ziemlich altmodisch. Trotzdem schick!
Eine namibische Journalistin war neulich hier und hat sich von mir auch alles erklären und zeigen lassen. Unsere Schule war die letzte Station auf ihrer Reise. Am nächsten Tag wollte sie heimfliegen. Da hat sie mir eine ihrer beiden Jeans geschenkt.
Ja, die, die ich anhabe. Toll, nicht wahr? Ich trage sie nur in der Schule. Sie ist so gut wie neu! Wenn mir die jemand klauen wollte – ich würde sie mit Kratzen und Beißen verteidigen!
Ach ja, der Müll: Der bleibt liegen. Die Stadt hat kein Geld mehr, um ihn abzuholen. Zum Glück ist es nicht viel. Man kann ja fast alles noch irgendwie gebrauchen. Kinder wühlen oft darin herum. Sie hoffen wahrscheinlich, irgendetwas zu finden, was sich noch verwenden lässt. Müllsucher kannte man davor